Juli 1970 von Erzsebet (Pathologie eines Philologen) ================================================================================ Kapitel 21: Der Ring der Macht ------------------------------ Nach dem opulenten Frühstück erkundigte Michael sich beim Portier nach dem nächstgelegenen Polizeirevier und erfuhr, daß sich das Präsidium der Protektoratspolizei nur eine Straßenecke weiter befand. Er machte sich dorthin auf den Weg, und noch bevor er den Haupteingang des riesigen neogotischen Gebäudekomplexes erreichte, den das Police-HQ einnahm, lief ihm Anwar Hawke, der für den Fall Theodorou zuständige Coroner, über den Weg. Im Licht der an diesem Vormittag von einer Herde kleiner Schäfchenwolken umgebenen Sommersonne war die Ähnlichkeit mit Nefut noch augenfälliger, aber diesmal kam es wenigstens nicht so überraschend, also beruhigte Michael sich schnell wieder. Er grüßte den Pathologen höflich, suchte in den Jackentaschen nach dem Brief und erklärte dabei: "Ich habe gestern morgen bei meiner Ankunft im Hotel einen Brief erhalten, in dem davon die Rede ist, daß die Frau am Strand ihrer Vertrauensseligkeit wegen in einem heidnischen Ritus geopfert worden sei... wo ist der Umschlag denn nur abgeblieben?" Doch auch die dreimalige Durchsuchung aller Jacken- und schließlich auch der Hosentaschen brachten weder den Umschlag noch den Brief selber zutage. "Das verstehe ich nicht! Ich bin sicher, daß ich ihn gestern nacht noch in der Tasche hatte, bevor ich schlafen ging. Und ich habe ihn nicht herausgenommen." Durch seine erfolglose Sucherei war Michael so in Anspruch genommen, daß er den mehr als skeptischen Blick des Pathologen zunächst nicht bemerkte. Doch als Hawke schließlich fragte: "Wer sind sie eigentlich?" hörte Michael mit dem Suchen auf, sah den Coroner an. "Michael Drake. Aber wir haben uns doch gestern morgen kennengelernt... sie kamen zu Max Hiller und mir an den Tisch... beim Frühstück im O'Sullivan'S... wir haben über keltische Opferriten gesprochen." Die Erinnerung schien Hawke zu dämmern, aber sein Blick blieb skeptisch. "Ich kann mich nicht daran erinnern, daß sie mit am Tisch saßen, ich erinnere mich nur an ihren Vater - vor allem weil er mir so bekannt vorkam." "Aber...", begann Michael, brach dann jedoch ab. Wie sollte er die innerhalb von vierundzwanzig Stunden verlorenen dreißig Jahre erklären? Und zu allem Überfluß war auch noch der Brief verschwunden. "Merkwürdig", sagte Michael leise. "In der Tat merkwürdig", pflichtete Hawke ihm bei. "Sie begleiten also ihren Vater zur Tagung? Sind sie auch Philologe?" "Ich bin ich selbst, nicht mein Sohn!" protestierte Michael jetzt doch und ignorierte vorsätzlich den verstörten Gesichtsausdruck seines Gesprächspartners. "Und der Brief ist verschwunden." Hawke versuchte es jetzt mit logischen Argumenten. "Der Mann, mit dem ich gestern sprach, war um die sechzig. Sie dagegen sind bestimmt kein Jahr älter als ich, also allenfalls dreiunddreißig. Sie können folglich nicht der Mann sein, mit dem ich gestern sprach." "Papperlapapp", entgegnete Michael, der zur Zeit gar keinen Sinn für zweiwertige Logik hatte. "Ich bin achtundfünfzig. Ich seh' zur Zeit nur nicht danach aus. Und sie habe ich das erste Mal in der vorletzten Nacht in einem Traum getroffen und ihnen das Leben gerettet. Erklären sie mir das doch bitte mal unmittelbar einsichtig!" Nun hatte Michael anscheinend einen wunden Punkt getroffen. "Sie haben dafür gesorgt, daß ich die Granatapfelkerne wieder aus der Kehle bekam", flüsterte Hawke erschrocken. "Und dann waren wir gemeinsam bei meinen Freunden essen." Michael nickte zu Allem. "Haben sie einen Moment Zeit?" fragte Hawke dann. "Wir können in mein Büro gehen und alles noch einmal durchsprechen... einschließlich des verschwundenen Briefes." "Ich stehe zu ihrer Verfügung", antwortete Michael und folgte dem Pathologen dann in das HQ und durch die Gänge bis in ein Souterrain-Büro, das sein Tageslicht durch schmale Fenster knapp unter der Decke erhielt. Hawke und Michael stellten während ihres Gespräches fest, daß sie ganz offensichtlich den Traum von Berresh geteilt hatten, denn der Pathologe hatte dasselbe erlebt wie Michael, nur eben aus seiner Perspektive. Bei Hawke hatte es damit begonnen, daß er einen Granatapfel aus dem Gewandbausch zog, einen Teil der Schale abzog und anfing, die Frucht zu essen - bis er sich an ein paar Kernen böse verschluckte. Und auch sein Traum endete während des Gastmahles, allerdings bevor Hamarem mit seinen Provokationen begann. Hawke war von einem Anruf, der ihn zum Fundort der Frauenleiche rief, geweckt worden. Michael versuchte, sich den genauen Wortlaut des verlorenen Schreibens ins Gedächtnis zurückzurufen. "Sie vertraute dem Druiden, deswegen wurde sie von ihrem sogenannten Verbündeten in einem heidnischen Ritus geopfert... ach, der Schreiber nannte die Frau 'die Griechin'... denke immer daran, wenn du deine Seite wählst... und noch irgendwas von Welt retten, oder so." Noch während er sprach, fiel Michael ein, daß er selbst - den Worten des Schreibens nach - gar keine Wahlmöglichkeit hatte, sondern ermahnt worden war zu bedenken, daß die Wahl einer Seite für ihn eine moralische Verpflichtung sei. Doch das behielt er für sich und sah schweigend zu, wie Hawke die aus dem Gedächtnis rekonstruierte Botschaft niederschrieb. "Und sie ist mir gestern morgen im Zug erschienen", setzte Michael noch hinzu, als Hawke den Stift beiseite legen wollte, "die Griechin meine ich - Maria Theodorou -, aber sie nannte sich sofia kai fronesis, Weisheit und Vernunft." Hawke zitierte flüsternd irgendeinen arabischen Spruch, von dem Michael nur verstand, daß es um Engel und sprechende Tote ging. Als der Pathologe Michaels neugierigen Gesichtsausdruck sah, erklärte er: "Meine Großmutter hat mich gestern abend das erste Mal seit... ach ich weiß nicht wie vielen Jahren angerufen und zitierte mir diese Sure. Sie sagte, sie hätte davon geträumt, daß ich in tödlicher Gefahr schwebe, mich aber ein Engel retten würde, wenn ich die Prüfung meines Glaubens bestehe. Vielleicht bezog sie sich damit ja sogar auf meinen Traum, immerhin tragen sie den Namen eines Engels und sind noch dazu, wenn ich mich recht erinnere, Sohn eines Gabriel." Michael nickte. Die Frage, ob die Toten auch zu dem Pathologen gesprochen hatten, konnte Michael allerdings nicht loswerden, denn in dem Moment ging die verglaste Bürotür auf und ein Mann in einem braunfleckigen weißen Kittel kam herein, in der Hand ein Klemmbrett voller Notizen. Er warf Michael nur einen kurzen Blick zu und kam dann gleich zur Sache. "Die Glasscherben aus dem Haar der Toten sind sicher Fensterglas - auch die Splitter, die wir in den Schnittwunden an Armen und Beinen gefunden haben. Jetzt müssen wir nur noch das dazugehörige Fenster finden. Und sehr weit kann es vom Tatort nicht entfernt sein, der Frische der Schnitte nach zu urteilen." Hawke nahm das Klemmbrett entgegen und warf einen Blick auf die Papiere, nickte dann. "Ich werde seiner Lordschaft Bescheid sagen. Vielleicht findet man ja einen Glaser, der ein Fenster in Tatortnähe ersetzt hat." Er griff nach dem Telefonhörer, warf dabei Michael einen entschuldigenden Blick zu. "Es tut mir leid, daß wir unser Gespräch nicht fortsetzen können. Aber vielleicht können wir uns ja heute abend... ach nein, heute ist ja die Engelsnacht. Vielleicht sehe ich sie ja bei ihrem Namenspatron." Und er wählte eine dreistellige Nummer, meldete sich gleich mit "Hawke." Michael verabschiedene sich stumm und verließ Büro und Police-HQ. * Als Michael den Freesthingh erreichte, hatte er noch eine halbe Stunde Zeit, bis die Rubrik Jenseitige Gewalten begann. Also entschied er sich, noch einmal das Museum zu erkunden. Diesmal würdigte er den gipsernen Antinoos kaum eines Blickes, denn mit einem jungen Mann aus Fleisch und Blut konnte der es bei aller Schönheit nicht aufnehmen. Ein Blick auf den aushängenden Plan des Museums zeigte ihm, daß unter der Grotta im ehemaligen Weinkeller des Schlosses nicht nur die Schatzkammer untergebracht war, sondern auch die Reste der Glasfenster aus St.Michael ausgestellt wurden. Die Glasfenster waren jedoch eine Enttäuschung. Vom neutestamentlichen Bildzyklus waren nur noch wenige Reste, nämlich Szenen aus dem Totenreich, zu sehen, alles andere war kaum mehr als eine Ansammlung farbiger Glassplitter. Vom alttestamentlichen Zyklus war noch ein halbes Fenster von der Beseelung des Menschen und größere Teile der Versuchung Evas vorhanden, doch diese Teile waren - obwohl deutlich wurde, daß der gleiche Künstler sie entworfen hatte - lange nicht so eindrucksvoll wie der Engel mit dem Flammenschwert. Neben den an den Wänden aufgestellten und von hinten beleuchteten Resten der Kirchenfenster wurden auch die Entwurfzeichnungen von Kamm und Miserone ausgestellt, sowie die Kartons, die als Vorlage für die Anfertigung der Fenster durch die Glashütte gedient hatten. Aber die brilliant leuchtenden Farben der Fenster waren selbst als Fragmente noch interessanter als die vergilbten Kartons. Michael ging also in die Schatzkammer, um sich dort das silberne Tafelgeschirr der Merburger Häuptlinge anzusehen. Dort lag auch die Münzsammlung derselben Häuplinge und Teile des St.Michael-Kirchenschatzes: eine ganze Reihe von romanischen und gotischen Kelchen und Patenen, sowie die edelsteingeschmückten Einbände der im Handschriftensaal ausgestellten Bücher. Und dann war da noch eine Vitrine mit antikem Schmuck, angekauft aus dem Besitz der kunstsinnigen Herzöge der Nordmark durch einen Förderverein des Historischen Museums und seit etwa 1900 regelmäßig durch weitere Ankäufe und Spenden ergänzt. Da hingen nun filigrane Ohrgeschmeide aus Gold; Ketten, die aus kleinen goldenen Amphoren zusammengesetzt schienen; ein Diadem wie aus Lorbeerlaub, dessen elastisch befestigten goldenen Blättchen wippten, wenn ein Besucher die Holzdielen durch Gewichtsverlagerung in Schwingungen brachte. Und dann lagen da noch eine Reihe von antiken Siegelringen, einige mit einem Gipsabdruck der in Gold oder Silber gefaßten Gemme daneben. Ein Ring mit einem dunkelgrünen Stein zog Michaels Blick magisch an. Es war - ganz ohne jeden Zweifel - genau der Ring, den er in jener anderen Wirklichkeit in seinem Schreibtisch gefunden hatte; der Ring, den ihm im Traum Nefuts Vater geschenkt hatte; der Ring seines Großvaters mit dem auffliegenden Pegasus. 'Sog. Ring des Polykrates', stand auf dem Täfelchen in der Vitrine. 'Griechisch, um 400 v.u.Z., grüner Granat in Goldfassung. Angeblich 1883 im Magen eines vor Merburg gefangenen Fisches gefunden. Geschenk eines Privatsammlers 1948.' Da lag also sein Ring - als Geschenk eines ungenannten Privatsammlers - in einer Museumsvitrine. Und Michael war sicher, daß es keiner seiner Altvorderen gewesen war, der dem Merburger Museum diesen Ring geschenkt hatte. Irgendjemand hatte also zu Unrecht Zugang zu diesem Schmuckstück gehabt... immerhin hatte er es nicht behalten. Durch die Ausstellung wußte Michael nun, daß der Ring tatsächlich existierte, und vielleicht ergab sich irgendwie die Chance, daß er sich in seinen Besitz brachte. Michael schlich um die Vitrine wie eine gierige Katze um ein Aquarium. Eine Möglichkeit war, die Scheibe, die sicher mit einer Alarmanlage gesichert war, einzuschlagen. Der Zugang zur Schatzkammer wurde allerdings durch eine zur Zeit offenstehende Tresortür gesichert, vermutlich waren die Wände rund herum ebenfalls aus Stahl hinter ihrer schwarzsamtenen Verkleidung und unter dem Holzfußboden. Wenn er einen Alarm auslöste, würde sicher diese Tür automatisch geschlossen werden, und er saß in der Falle. Und noch einmal umrundete er den Glaskasten, die goldenen Lorbeerblätter wippten. Eine Vitrinenscheibe war allerdings auch nichts anderes als eine Wand. Und er mußte ja nicht ganz hindurchgehen, es reichte ja schon, die Hand hindurchzustecken und den Ring zu nehmen. Neben dem leeren Ständer für ein Paar Ohrringe lag ein Kärtchen: 'Entnommen zur Restaurierung' mit einer unleserlichen Krakelunterschrift. Die konnte er ja einfach an die Stelle des Ringes legen, so würde das Fehlen des prominent austellten Schmuckstückes zunächst gar nicht auffallen. Und er war völlig allein hier unten im Keller. Jeden Schritt eines anderen Besuchers hätte er durch das Knarren des Holzbohlen-Fußbodens schon lange gehört. Auch Überwachungskameras konnte Michael an dieser Stelle der Schatzkammer keine entdecken. Er atmete tief ein, um sich zu sammeln, dann streckte er die Rechte aus, beschrieb die bekannte Schleifenlinie mit der Hand, flüsterte: "Tu dich auf", und ein gut handgroßes Loch tat sich auf in der Glasscheibe. Falls damit ein Alarm ausgelöst worden war, bemerkte Michael zumindest nichts davon. Er griff nach dem Kärtchen, legte es neben den durchsichtigen Plexiglasständer, auf dem der Ring ruhte, nahm seinen Ring in die Hand, zog den Arm zurück und die Glasscheibe verschloß sich, als sei sie nie offen gewesen. Erstaunlich warm war der Ring in seiner Hand. Für einen Moment war Michael versucht, ihn sich über den Finger zu streifen, aber das wäre wohl zu unvorsichtig gewesen, wollte er sein Eigentum behalten. Also ließ er ihn schweren Herzens in die Hosentasche gleiten. Er warf noch einen abschließenden kritischen Blick in die Vitrine, aber wirklich sah es durch das Schild an seiner neuen Stelle aus, als habe man den 'Ring des Polykrates' zur Restaurierung entnommen. Wenn er Glück hatte, war er schon wieder in Hohenheim, bevor man den Diebstahl bemerkte. Michael verließ rasch die Schatzkammer, ging, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinauf ins Erdgeschoß und weiter nach oben zur Gemäldesammlung im ersten Stock. Der erste Saal, die Decke prächtig mit Stuck geschmückt, die Wände mit handgemalten Tapeten bekleidet, der Parkettfußboden sternengemustert, beherbergte die Portraits der verschiedenen Häuptlinge, deren sterblichen Überresten Michael bereits in der Krypta von St.Michael begegnet war. Rasch ging er durch die Räume mit Renaissance- und Barock-Bildnissen der hier einstmals herrschenden Häuptlinge, der sechs Herzöge der Nordmark, die Merburg zu ihrem Herrschaftsgebiet zählen konnten, bemerkte sogar das von 1890 stammende Portrait des ersten britischen Protektoratsverwalters, seiner Gnaden des Herzogs von Lanchaster. Und dann kamen die Historienbilder aus dem 18. und 19.Jahrhundert. Im letzten Raum der enfilade, gerade gegenüber der Tür, hing ein riesiges Bild, ein antik und kostbar gewandeter Mann, mit überraschtem Gesicht über einen aufgeschnittenen Speisefisch auf einem Silberteller gebeugt, und im Gedärm des noch rohen Fisches blitzte es golden. 'Der Ring des Polykrates' von Eduard Pauli aus dem Jahre 1859. Der Hintergrund der Szene kam Michael sehr bekannt vor. Es war ein antikes Speisezimmer, die Wände reich bemalt mit Marmormuster und Girlanden, vor den Wänden breite Speisesofas, auf denen Gäste lagerten, die in unterschiedlichen Graden der Aufmerksamkeit - von Nachdenklichkeit bis zu freudiger Erregung - zu der von einem jugendlichen Diener gehaltenen Platte mit dem Fisch schauten. Und sogar der mosaikgeschmückte Fußboden zeigte das Teppichmuster und die verstreuten Blumen und Früchte, die Michael in seinem Traum von Berresh erstmals gesehen hatte. Auf der neben dem riesigen Bild angebrachten Tafel hieß es: 'Der samische Tyrann Polykrates (6.Jh.v.Chr.) war stets vom Glück begünstigt und fürchtete, dadurch den Neid der Götter zu erwecken. Also warf er, um sich Unglück zu verschaffen, sein kostbarstes Kleinod, einen goldenen Siegelring mit einem geschnittenen Smaragd, ins Meer. Es war letztlich ein Zeichen der Ungunst der Götter, daß sein Opfer unversehrt wieder zu ihm zurückkam, es ihm also nicht gelungen war, sein dauerndes Glück zu wandeln und die Eifersucht der Götter abzuwenden. Der damals 32-jährige Pauli schuf diese Illustration der von Herodot überlieferten Geschichte 1859/60 für den ersten Künstlersalon in Merburg und provozierte dadurch einen erheblichen Skandal, da er dem Samischen Monarchen das Antlitz des regierenden Herzogs Christian Peter zu Bannstedt verlieh. Auch die Männer im Hintergrund zeigen führenden Persönlichkeiten Merburgs der damaligen Zeit. Nach dem Regierungsantritt Christian Edwards 1868 wurde das Bild allerdings von der Stadt für den Speisesaal des Rathauses angekauft und hing dort bis zum verheerenden Brand des Rathauses, der 1948 durch einen Blitzschlag ausgelöst wurde.' Vielleicht hatte nicht der Pathologe seinen, sondern Michael den Traum des Pathologen geteilt. Als Merburger kannte Hawke dieses Bild sicher und vermutlich gab es deswegen eine solch auffällige Ähnlichkeit zwischen dieser vorgestellten Antike und der von ihm geträumten Welt. Hatte Hawke mit der Darstellung der Auseinandersetzung zwischen Hannai und Berresh in jenem Traum vielleicht auch die Machtkämpfe in Merburg geschildert? Aber warum sollte das Michael etwas angehen? Er stammte doch aus Hohenheim und würde in einigen Tagen dorthin zurückkehren. Das Bild war so detailliert gemalt, daß Michael bei der müßigen Betrachtung plötzlich Einzelheiten des dargestellten Ringes ins Auge fielen: ein auffliegender Pegasus war in den Stein geschnitten. Der Ring in der Hosentasche schien ein Loch in Michaels Bein brennen zu wollen. Michael eilte weiter, durch zwei weitere vornehme Räume mit Bildern einheimischer Künstler und gelangte schließlich zur ehemaligen Dienstbotentreppe. An den Wänden dieses Treppenhauses waren auf jedem Absatz stark vergrößerte Fotos von Denkwürdigkeiten aus der Geschichte der Stadt aufgehängt. Und als Michael auf dem ersten Absatz den er beim Abstieg erreichte einen Moment innehielt, sah er auf 'Die Verleihung des 'order pour le merite' durch seine königliche Hoheit den Prince of Wales im Jahre 1948 an Merburger, die sich bei der Rettung der durch das Märzunwetter gefährdeten historischen Gebäude und Kunstschätze hervorgetan hatten'. Der Mann, der gerade vom britischen Thronfolger den Orden in einem Kästchen entgegennahm, war niemand anderes als der Tiarna-na-Sidhe, da bestand für Michael ebensowenig Zweifel wie über die Natur des Ringes in seiner Hosentasche. Er blieb wie angewurzelt vor dem Fotoplakat stehen. 'Das ist der Druide', fuhr ihm durch den Kopf, 'und Ginger ist sein Enkel.' Aber noch im gleichen Augenblick schüttelte er den Kopf über seine lebhafte Phantasie. Tatsächlich war eine vage Ähnlichkeit 'Oberons' mit Ginger festzustellen, obwohl der Mann auf dem Foto natürlich den Prinzen ansah und nicht in die Kamera blickte. 'Oberon' war 1948 wohl in seinen 40ern, daß hieß, nun - gut 20 Jahre später - mußte er an die 70, konnte demnach also durchaus Gingers Großvater Cedric O'Sullivan sein. Aber das war auch alles, was die plötzliche Eingebung stützte. Andererseits war die Balkontür in Gingers Schlafzimmer zerstört. Es war nicht unmöglich, eine Indizienkette zusammenzustellen, nach der Ginger zunächst die Griechin auf seine Lustwiese gelockt und Theodorou dann - als ihr klar wurde, daß sie nur Opferfleisch sein sollte - versucht hatte, durch die geschlossene Balkontür zu fliehen, ohne damit der ihr zugedachten Rolle zu entkommen. Und der den Druiden anklagende Brief war aus Michaels Jackentasche verschwunden, als er erschöpft in Gingers Gegenwart geschlafen hatte. Aber es widerstrebte Michael zutiefst, Ginger irgendwelcher finsteren Machenschaften zu verdächtigen. Das würde gar nicht zu dessen liebevollem und zärtlichem Wesen passen. David O'Sullivan war ein Sänger, kein Schlächter. Als Michael zu diesem beruhigenden Schluß gekommen war, hörte er das leise ping-ping-ping seiner Taschenuhr, deren Wecker er gestellt hatte, um wenigstens die Rubrik Jenseitige Gewalten nicht zu verpassen. * * * Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)