Drachenseele von Hrafna (Das Herz einer Priesterin) ================================================================================ Kapitel 44: *~Otsuge~* ---------------------- "Die Gefühle offenbaren sich umso weniger, je tiefer sie sind." – Honoré de Balzac Kapitel 44 – Otsuge -Offenbarung- *Wie verhalten sich Egoismus und Nächstenliebe im Anbetracht eines Individuums zueinander, das eine folgenschwere Entscheidung zu fällen hat? Siegt der selbstsüchtige Überlebenstrieb, der in unser aller Instinkt eingeprägt ist? Oder behauptet sich der soziale Aspekt, da wir von unseren Artgenossen eine ähnliche Einstellung erwarten? Und wer oder was ist verantwortlich dafür, welche Wahl wir im Eifer des Gefechtes letztendlich treffen?* ּ›~ • ~‹ּ Er offenbarte ihm bedingungslos seine Seele, legte schlichtweg alles vor ihm bar – ähnlich dem, was er Midoriko ermöglicht hatte, nur mit dem Unterschied, dass diese selbstlose Tat dem Erhalten seines Lebens diente. Sein Youki löste die letalen Blockaden auf, die durch die Gier des Feuers entstanden waren, sein Youki heilte den Schaden, der dadurch bereits verursacht worden war, und sein Youki half ihm, währenddessen jedwede essentiellen Lebensfunktionen zu stabilisieren. „Bitte…“ Woher kam das Gefühl von Geborgenheit und Wärme auf einmal? Wieso zahlte er aus freiem Willen einen solch hohen Preis für das Leben eines anderen? Für ihn? War die Meinung, die er sich über die Jahrzehnte hinweg gebildet hatte dermaßen abwegig und einfach falsch? Hatte er sich so geirrt…? Wie blind musste er gewesen sein, es nicht zu erkennen? Faðir… Obwohl seine Wahrnehmung stark eingeschränkt war, und er ihn lediglich durch den körperlichen Kontakt - die Fingerspitzen und Handballen, die zum einen direkt über seinem Herzen und zum anderen auf seiner Stirn ruhten – wahrnehmen konnte, vermochte er mit Sicherheit zu sagen, dass sein Vater dicht neben ihm kniete, in Meditation verfallen, um die Möglichkeit zu erlangen, seine Dämonenenergie unbegrenzt an ihn weiterzugeben. Mit dem wiederkehrenden Bewusstsein für seinen Leib ging das Aufwallen des Schmerzes einher, der ihm in seiner vorherigen Verfassung erspart geblieben war – dafür suchte es ihn in diesem Moment umso rücksichtsloser heim. Súnnanvindur nahm erleichtert zur Kenntnis, dass seine Bemühungen sichtlich Erfolg verzeichneten und sein Sohn die zuvor vollkommen verloschene Körperspannung zurück gewann. Wie er den Göttern für die Fügung des Schicksals dankte… Matt und vor Erschöpfung keuchend erhielt er seine Anstrengungen aufrecht, transferierte das Maximum an für ihn zu entbehrender Energie auf Flúgar. Eine Weile verstrich, ehe sich der junge Loftsdreki zu rühren begann, und Súnnanvindur mit einem ausdrücklichen Widerstand konfrontiert wurde. „Hör auf.“ Aus den Augenwinkeln heraus erhaschte er einen vagen Blick auf das bittere Lächeln, das sich auf die Lippen des älteren Drachen stahl. „Denkst du allen Ernstes, ich lasse noch einmal zu, dass vor meinen Augen eines meiner Familienmitglieder stirbt?“ Zerrbilder der Vergangenheit, und die damit verknüpften Emotionen durchzuckten ihn wie einen Blitz, und veranlassten ihn dazu, kurzzeitig davon überwältigt das Gesicht zu verziehen. Den Tod seines Bruder hat er bis heute nicht überwunden… Noch nie hatte er Súnnanvindur so zermürbt und verletzlich erlebt. Vorsichtig fasste er die Hand auf seiner Brust mit seiner linken, strich unbewusst mit dem Daumen über die Innenfläche. „Ich bin in Ordnung, es reicht. Bitte…“ Die untypische Geste irritierte das ClanOberhaupt; dunkle Iriden studierten einige Augenblicke die blasse Miene des Jüngeren, aus der er tatsächlich Anteilnahme und den Hauch einer Trost spendenden Absicht abzulesen vermochte. Einsichtig senkte er den Kopf, und entspannte letztendlich seinen überanstrengten, leidenden Körper – erst jetzt wurde ihm bewusst, wie ausgelaugt er wahrhaft war, wie sehr er schwitzte und zitterte. Diese Technik hatte ihm wahrlich mehr abverlangt, als er kalkuliert hatte, er war an sein persönliches Limit gestoßen, doch gleichgültig, wie hoch die Strapazen gewesen waren, mit dem Resultat schätzte er sich durchaus zufrieden. Leugnen würde er trotz dessen nicht, dass er ohne zu zögern weiter gegangen wäre, hätte es die Situation verlangt… Nach Atem schöpfend, verlagerte er sein Gewicht, wechselte in eine bequemere Sitzposition, während er die Finger der rechten Hand abwesend im Haar seines Sohnes vergrub und dabei in kosender Manier über seine Schläfe streichelte, die linke geflissentlich in Flúgars Griff verweilend. „Es tut mir Leid…“ Ihn traf die Schuld nicht alleine, das war ihnen beiden einsichtlich, und ohnehin gab es vieles, eine Unmenge an Feststellungen, Fragen und Phrasen, die unausgesprochen zwischen ihnen verblieben waren und es auch weiterhin würden. „Das muss es nicht.“ Zwischen ihnen dreht es sich um Anerkennung, Distanz und Nähe, Respekt, Autorität und Dominanz, Liebe, und Fehler, die beiden Fraktionen unterlaufen sind… Bei alledem, was sich bis zu jenem Tag ereignet hatte, galt es nicht zu vergessen, sondern zu verzeihen. Akzeptanz fügte sich schweigsam, in Súnnanvindurs Fall… „Ich war nicht derjenige, den er sehen wollte, als er starb…“ …in Flúgars äußerte es sich als überfälliges Zugeständnis. „Hríðarbylur hat nach dir gerufen.“ Verständnis klang sacht schwingend in seinem Flüstern nach, sowie aufmerksame Zuwendung und Mitgefühl… Mehrere Stunden waren verstrichen, seitdem Flúgars Vater sich dem bewusstlosen Luftdrachen angenommen hatte, und die Sonne stand bereits in ihrem Zenit am Himmel, als die abnormen Youkischwingungen aus dem Nebenzimmer abebbten und in ihre ruhigen, gleichmäßigen Zirkulationsbahnen zurückfielen. Eine derartig abstrakte Manipulation von Dämonenenergie war mir bis dato noch nicht untergekommen – bestand darin der Unterschied zwischen einem Dämonenfürsten und dem niederen Youkaigesinde, welches seine begrenzten Fähigkeiten primär für destruktive Zwecke gebrauchte? Aber lag in jener Macht, die den überdurchschnittlich starken Vertretern einer Rasse innewohnten, nicht gleichzeitig ein gewisser Anteil Verantwortung verborgen? Ja, richtig, und die galt es zu tragen. Nicht bloß von Flúgar und mir, sondern auch vom Inu no Taishou, Súnnanvindur und dem Tennô… Seufzend zog ich die Beine an, und lehnte den Kopf gegen die hinter mir befindliche Wand, schloss die Augen. Obgleich ich deutlich spüren konnte, dass er nicht mehr in Lebensgefahr schwebte und das Gröbste überstanden hatte, wollte das flaue Gefühl in meinem Magen nicht weichen. Eine befremdliche Unsicherheit nagte an meinem Unterbewusstsein, doch es ließ sich nicht erfassen oder gar benennen. Bizarr, denn auch von dem Feuerherd ging keinerlei Gefahr mehr aus; das Quartiergebäude mochte bis auf seine Grundmauern niedergebrannt sein, den Bediensteten und einigen Loftdrekar jedoch war eine Eindämmung geglückt, die das Übergreifen der Flammen auf die umliegenden Gebäuden geflissentlich verhindert hatte. Allerdings beschäftigte meinen Verstand abermals die Frage, was die mysteriöse Agglomeration von Salamandern zu bedeuten hatte. Warum waren sie hier? Was hatte sie hierher gelockt? „Ne… darf ich dich etwas fragen…?“ Ich blinzelte, suchte Blickkontakt zu dem jungen Luftdrachen, der zusammengesunken in der hintersten Ecke des Raumes saß und vergeblich versuchte, seine Nervosität und Unruhe zu kaschieren. „Blævar, ich heiße Blævar.“ Jetzt erkannte ich seine Stimme wieder; natürlich, er war damals in dem kleinen Bambushain aufgetaucht und hatte mit Flúgar gesprochen, der mich daraufhin zum Orakelberg geschickt hatte – um von dem nächtlichen Zwischenfall nach der Konversation mit dem Inu no Taishou und seinem wohlmeinenden Rat einmal abzusehen… Mühselig unterdrückte ich einen säuerlichen Ausdruck, biss mir absichtlich auf die Zunge. „Blævar… ich weiß, dass es eigenartig klingt, aber… haben Drachen und Salamander irgendwelche Auswirkungen auf das Verhalten des jeweils anderen?“ Für einen Augenblick entgleisten seine Gesichtszüge in die vollkommene Ungläubigkeit, dann runzelte er die Stirn. „Das meinst du nicht ernst.“ Also eher nicht. Nachdenklich fuhr ich mir durch das pechschwarze Haar, begegnete Kanekos von Neugier geprägter Contenance mit einem Achselzucken. Vermutlich stufte ich dieses Ereignis in seiner verdrehten Eigenheit als zu denkwürdig ein… „Warte. Auf dem Kontinent, in den westlichen Gebieten, gibt es Theorien über Elementarwesen. Salamander sind dem Feuer zugehörig…“ Er verstummte, warf mir scheu einen kritischen Seitenblick zu. „Wieso fragst du mich das?“ Guter Einwand. Wollte ich mir selbst die ungewisse Mutmaßung, was eine Abhängigkeit all dieser Geschehnisse voneinander anbelangte, unbedingt bestätigen? Verzehrte ich mich nicht geradezu danach, eine unantastbare Verknüpfung aufzudecken, die letztlich beim Tennô als Verantwortlicher endete? Konnte es sich dabei nicht schlicht und einfach um einen Zufall handeln? „Tut mir leid. Meine Gedanken gehen wohl etwas mit mir durch…“ Mit einem erzwungenen, unbeholfenen Lächeln auf den Lippen brachte ich meine Knie gen Boden, in eine geeignete Haltung, um eine entschuldigende Verneigung anzudeuten. Blævars Miene driftete ins Skeptische ab, ehe er sich betont abwendete und einen fiktiven Punkt auf – oder gar hinter – dem Shouji anstarrte. Welch ein trotziges Kind. Apropos, man sollte schlafende Hunde nicht wecken, im wahrsten Sinne des Wortes, und um deretwegen untersagte ich mir eine Bemerkung; besagter diabolischer Welpe schlummerte glücklicherweise tief und fest, und ich intendierte beileibe nicht, ihn aufzuwecken. Von seinem Vater fehlte weiterhin jede Spur, der Inu no Taishou blieb verschwunden. Deutete das auf ein bekräftigendes Indiz bezüglich meiner Hypothese hin…? Oder verfolgte ich damit nichts als ein einfältiges Hirngespinst? Bevor sich mir die Gelegenheit bot, in gewichtige Überlegungen hinsichtlich dessen zu verfallen, forderte eine vernehmliche Regung im angrenzenden Quartier meine Aufmerksamkeit ein. Blævar schaute ebenfalls auf – angespannt, besorgt, und ein wenig… verwirrt? Das mürrische Schmollen wich einem hellen Hoffnungsschimmer. Eine Schiebetür wurde geöffnet, in gedämpften Ton knapp und unverständlich Worte gewechselt und die Tür wieder geschlossen, dann hörte man die leichten Schritte auf dem Flur alsbald verklingen. Für den jungen Luftdrachen gab es nun kein Halten mehr; ungeduldig sprang er auf und verließ das beengte Quartier über die Veranda. Ich befand mich derweil in der Bredouille, ob ich mir an ihm ein Beispiel nahm und Flúgar gleich besuchte, oder aber meine Fassung wahrte und aus respektvoller Höflichkeit abwartete, bis es mir durch eine Erlaubnis gestattet wurde. Wollte er mich in seiner miserablen Lage überhaupt um sich haben…? Kurzum warf ich meine Bedenken und Zweifel sprichwörtlich über Bord und schlüpfte auf leisen Sohlen aus dem Zimmer, um Sesshoumarus friedlichen Schlaf, der aus dem neutralen Antlitz des Kleinkindes den vermeintlich unschuldigen, süßen Engel, dem der Speichel aus dem Mundwinkel lief, hervorkehrte, nicht zu stören. Wolf im Schafspelz… trotzdem niedlich… Mental vermerkend, dies zukünftig – falls es erforderlich sein sollte – einzubinden, trat ich zögerlich vor, spähte verstohlen durch den Spalt zwischen Rahmen und Fassung des aufgeschobenen Shouji in den Nebenraum. Flúgar saß bereits wieder aufrecht auf dem mittig platzierten Futon, die dünne Decke nachlässig zurückgeschlagen, und ordnete gerade das weiße Baumwolluntergewand, das er trug, als ich mit den Fingerknöcheln zurückhaltend gegen das dunkle Holz klopfte. Den vernichtenden Blick, mit dem Blævar mich aus den Augenwinkeln heraus bedachte, ignorierte ich gekonnt, anstatt dessen fokussierte ich den älteren Drachen, ging langsam, wie psychisch abwesend, auf ihn zu. Ich wagte kaum, es gedanklich zu artikulieren, aber… ich war glücklich. Und dankbar. Mein Herz quoll förmlich über vor der unendlichen Freude und Glückseligkeit jenes Momentes, und schenkte meiner Seele eine Erfüllung, wie ich sie seit einer halben Ewigkeit nicht mehr verspürt hatte. Dieses Gefühl eines inneren Friedens… ich hatte es vermisst und herbeigesehnt, jedoch hatte ich es niemals zuvor so intensiv und betörend erlebt. Nicht imstande, mich auf verbaler Ebene kundzugeben, fiel ich ihm stumm um den Hals und drückte mich fest, regelrecht unnachgiebig, an ihn, als wäre ich auf einen handfesten Beweis seiner physikalischen Existenz aus. „Midoriko.“ Ein angenehmer Schauer durchströmte meinen Körper bis ins letzte Glied, Gänsehaut breitete sich von meinem Nacken über meine Arme bis zu meinen Beinen aus. Die Umarmung währte nicht allzu lange, Flúgar brach sie bereits nach der Dauer von acht oder neun Herzschlägen, und sah mir direkt in die Augen. „Spürst du es?“ Sogar Blævar horchte angesichts dessen auf. Überfragt erwiderte ich Flúgars durchdringenden Blick, stetig bemüht, mich nicht in den reinweißen, blanken Iriden zu verlieren. „Schwarze Wolken… der Geruch von Asche und Schwefel – Faðir erwähnte das, ehe er sich verabschiedete.“ Plötzlich hellwach schüttelte ich meinen paralyseartigen Rausch ab, und entfloh erfolgreich der wonnigen Benommenheit, die mich wie dichter Nebel in trübe Schleier der Realität gehüllt hatte. Ich konzentrierte mich unwillkürlich, ließ meine Wahrnehmung augenblicklich schweifen; er musste mich vor seinem jüngeren Bruder nicht darum bitten, ich verstand sein Anliegen auch ohne eine explizite Aufforderung seinerseits. Routiniert sammelte ich meine spirituellen Kräfte im Zentrum meines Leibes, faltete die Hände vor der Brust und verhakte die Finger ineinander, die Zeigefinger ausgenommen. Zunächst eröffnete sich mir nichts, das ich als neu oder außergewöhnlich wertete, sodass ich meinen gewöhnlich limitierten Aufmerksamkeitsradius widerrief und aufs Äußerste ausdehnte. Normalerweise regulierte ich dadurch meinen Energieverbrauch, denn jene Art des erspürenden Sehens benötigte viel an körperlicher und geistiger Kraft. Der erste Impuls erreichte mich überraschend und vergleichsweise schwach, doch das minderte meine Beunruhigung keineswegs. „Sou’unga…“ Seine Aura war unverkennbar, die maliziöse, böse Drachenseele, die einstmals darin versiegelt worden war, rebellierte mit aller Macht gegen ihren Träger, den Inu no Taishou. Er kämpfte voller Entschlossenheit dagegen an, drängte Sou’unga mithilfe seines unglaublich gewaltigen Youkis zurück, doch irgendetwas in mir ahnte, dass sich die Bemühungen des Hundegenerals unter Umständen als aussichtslos herausstellen würden. Sou’unga reagierte auf etwas… Die nächste Affektwelle traf mich ungemein hart, und zeitgleich schoss ein heftiger Schmerz durch meine Schläfen. Ich zuckte zusammen, stöhnte gequält auf, und als es mich ein zweites Mal eiskalt durchfuhr, realisierte ich, was da über mich hinweg gespült war wie eine aufgewühlte Flutwoge. Das Youki eines Dämons – und zwar das eines verdammt mächtigen Exemplars, das sich beständig näherte. Das war es! Am gestrigen Abend hatte ich es nicht recht beurteilen können, jetzt leuchtete mir ein, dass das Sinn ergab; dieses unheilvolle Youki speiste Sou’ungas finsteres Wesen und bestärkte die destruktive Aura der blutdurstigen Klinge. Der grauenvolle Druck, der damit einherging, bereitete mir Schwierigkeiten. Übelkeit stieg in mir auf, und mir wurde schwindlig zumute, das mentale Bild des Youkai zerbarst in der Eiseskälte, die um mich herum zu kristallisieren schien. Für den Bruchteil einer Sekunde klarten die Sichtverhältnisse auf, und die Furcht überwältigte mich blitzartig: Drachen. Und in ihnen lag eine unbeschreiblich gefährliche Macht verborgen… Schwarze Wolken und der Geruch von Asche und Schwefel… „Midoriko, es reicht.“ Nach Atem ringend kam ich wieder zu mir, zitternd und in kaltem Schweiß gebadet. „Es stimmt also.“ Ich nickte matt. „Wie viele?“ Schwer schluckend wischte ich mir mit dem Ärmel meines Yukatas über die nasse Stirn. „Zwei. Drachen, und sie sind stark…“ Schweigsamkeit prägte die gespannte Atmosphäre, lediglich mein abflauendes Keuchen durchdrang die starre, alarmierte Ruhe. Während ich den Versuch unternahm, meine vollkommen durcheinander geratenen Gedanken zu sortieren, und sich mein Puls zu beruhigen begann, ergriff Flúgar meine beiden Handgelenke, drehte die Innenflächen nach oben. „Deine Hände…“ Mir schwante dabei nichts Gutes. Der signifikante Unterton, der sicherlich auf einen Vorwurf hinwies, bezeugte, dass sich in seinem verqueren Hirn jüngst eine Idee entwickelt haben musste, die er in die Tat umzusetzen gedachte. „Es ist nichts, ich…“ Sinnlos zu behaupten oder gar zu beteuern, die kaum erwähnenswerten Verbrennungen wären unerhebliche Schrammen. In der Aufregung um Flúgar hatte ich mich nicht darum gekümmert und weitestgehend verdrängen können, dass sie mich schmerzlich am Gebrauch meiner Hände hinderten. Und ja, ich behielt Recht. Blut sickerte aus den feinen Wunden in seinen Handflächen, die er sich mit den eigenen Klauen zufügte, ehe sich eine verbittende Silbe aus meinem Munde löste. Erschrocken und gleichermaßen bestürzt schaute ich ihn an. Was sollte das werden? „Was?“ Gelassen drückte er seine Hände auf die meinen, wodurch mir erstmals auffiel, um wie viel kleiner und schmaler sie im Vergleich wirkten. Die Hände eines Kriegers, von Schwielen durch das Führen eines Schwertes geziert, rau, kräftig, und sanft zugleich… Das stechende Pochen erstarb, und ich hob verdutzt die Hände vor mein Gesicht, ballte sie ungläubig mehrmals zur Faust. Nichts. „Wie… was hast du…?“ Unmöglich, das… Die Fassungslosigkeit übermannte mich erbarmungslos, raubte mir die Stimme. „Drachenblut mag nicht unsterblich machen, aber es heilt. Uns selbst, und andere, vorausgesetzt, das Blut ist frisch und kommt nicht mit Luft in Kontakt.“ Fasziniert studierte ich das makellose Gesicht des Loftsdreki. Ob die Drachentöter, die schonungslos und unerbittlich Jagd auf sie machten, davon wussten? Blævar grummelte im Hintergrund, und presste die Kiefer aufeinander – ich neigte lächelnd den Kopf. „Danke, Flúgar.“ Faðirs Youki beschrieb sanfte, kreisförmige Bahnen in meinem Innersten, bekannte sich jedoch weicher und nachgiebiger als das meinige, das sich gelegentlich meinem Griff entwand und sich – mitsamt seiner scharfen, widerspenstigen Ecken und Kanten - verselbstständigte. Es strengte an, ein solch hitziges Temperament zu bändigen und dauerhaft im Zaum zu halten; eben darum eignete es sich perfekt zum Kämpfen, es geriet aus der geringsten Provokation, manchmal aus sich selbst heraus in Wallung. Wahrscheinlich distanzierte sich Vater aus diesem Grund von seinem eigentlichen Kriegerdasein, seine Dämonenenergie taugte von ihrer Natur aus nicht für die Offensive eines Gefechtes. Dafür barg sie offensichtlich Heilungsfertigkeiten, die einem Soldaten anderweitig zugute kommen konnten. Faðir… Die Hälfte seiner Reserven hatte er für meine Rettung geopfert, selbstlos, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, ob er sie nicht für sich und die Verfechtung seiner Ideale, seines konkreten Bestrebens mit dem Tennô brauchen würde. Nun drohte ihm das eigene Verhängnis, wegen mir… Ich kann ihn nicht sterben lassen… Ich zweifelte Midorikos Prognose nicht an, ich vertraute ihr. Die Angst, die sich in ihren braunen Augen spiegelte, entsprach der ihres wahren Empfindens, und dass sie eventuell log, war ausgeschlossen. Es vertrug sich weder mit ihrer Einstellung noch mit ihrem Charakter; eine andere Begebenheit war es, wenn sie sich von einer cleveren Illusion hatte täuschen lassen, obwohl ich mich mit dieser Possibilität schwer tat. Wem sollte das bei ihr gelingen? Dem Faktum zum Trotz, dass sie wohl Dämonen eines niveauvolleren Status sein sollten, handelte es sich ihrem Urteilsvermögen nach um Drachen, und die bedienten sich für gewöhnlich nicht feiger Bannsprüche. Überdies befanden sie sich auf dem zielstrebigen Weg hierher, einer aus dem Clan der Eldursdrekar und ein Unbekannter, und wenn Midoriko sich ernstlich vor ihnen fürchtete, blühte uns eine herbe Auseinandersetzung, und kein harmloses Versteckspielchen. Súnnanvindur würde seinem Beschützerinstinkt gehorchen und sich ihnen entgegenstellen, wohlwissend, dass er keine Chance auf einen Sieg verzeichnete. In meiner angeschlagenen Verfassung wäre eine Konfrontation in jener Größenordnung der selbst gewählte Freitod. Dann war da noch der Inu no Taishou, doch auch er würde nicht gegen beide bestehen. Midoriko mangelte es an Erfahrung und dem Willen, den Gegner zu töten, und Blævar war ebenso wenig ein Kämpfertalent wie Vater. Kali… Ich fuhr zusammen, blickte instinktiv durch den geöffneten Shouji nach draußen. Súnnanvindurs weiße Raben, die bis eben entspannt auf der Brüstung der Veranda gesessen und Wache gehalten hatten, stoben im nächsten Moment verschreckt auseinander, flogen, hektisch mit den silbrigen Schwingen schlagend, in Richtung Meer davon. Merkwürdig… Dort, am Strand glomm gerade Kalis Youki auf. „Sie sind hier.“ Jetzt konnte ich mir keinerlei Sentimentalitäten mehr leisten, ich musste handeln, jetzt. „Pass auf Blævar auf, Midoriko.“ Flugs streifte ich den Hakama und Haori über, die Faðir mir in weiser Voraussicht bereit gelegt hatte, band den Obi um meine Hüften und griff schließlich nach Skýdis. Den empörten Protestlaut aus Blævars Kehle überhörte ich bewusst. „Broðir, ich…“ Ich hatte keine Wahl, die Zeit rann mir förmlich wie Sand durch die Finger. „Keine Widerworte. Und beeilt euch.“ Faðir hatte mir in seine Lebensenergie geliehen, damit ich fortexistieren konnte, um die, die mir geblieben waren, meine Familie, zu beschützen, und die Versprechen, die ich denen, die mir wichtig waren, gegeben hatte, einzuhalten… ּ›~ • ~‹ּ ***>>>Kapitel 45: >“Die Umstände haben sich gewendet, und der Wind birgt die Signalbotschaft einer Bedrohung – den Wächter auf verlorenem Posten erreicht sie spät. Am Strand kollidieren die Mächte der Drachen, und bald zeichnen sich Gewinner und Verlierer vor dem Hintergrund eines wolkenlosen Firmamentes ab…“ *» Árekstur Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)