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Selbstmord ist keine Lösung......oder?

von

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Sich überschlagende Ereignisse

„Nein!“

„Grell…“

„Nein, auf gar keinen Fall.“
 

„Jetzt reg dich doch nicht so auf“, meinte Carina genervt und verdrehte die Augen, während Alice mit einem breiten Grinsen im Gesicht hinter ihr stand. Sie schien diesen Streit sehr amüsant zu finden. „Wie soll ich mich bei solch einem Thema nicht aufregen, bitteschön? Das ist eine absolute Fehlentscheidung, Carina.“ Angesprochene seufzte tief. „Es sind doch nur Haare.“ „Nur Haare?“ Der Rotschopf schaute seinen Schützling fassungslos an. „Das hast du jetzt gerade nicht ernsthaft gesagt.“ „Mein Gott, wenn es mir nicht gefallen sollte, dann kann ich sie doch wieder wachsen lassen. Und jetzt lass Alice in Ruhe machen, die Haare kommen ab. Ende der Diskussion.“
 

„Du hörst dich schon an wie eine richtige Mutter. Mensch, was freue ich mich, wenn Lily in die Pubertät kommt“, lachte Alice, während Grell beleidigt die Arme vor der Brust verschränkte. „Deine schönen, langen Haare“, klagte er noch einmal und sah mit einem fast leidenden Gesichtsausdruck dabei zu, wie Alice die Schere hob und ein paar Sekunden später bereits die ersten blonden Strähnen zu Boden fielen.
 

„Also, ich finde es sieht großartig aus. Steht dir gut, Carina“, meinte die Schwarzhaarige 15 Minuten später, als die Haare ihrer besten Freundin nur noch ein klein wenig kürzer als schulterlang waren. „Hmpf“, kam es von Grell. „Ich finde es auch nicht schlecht“, antwortete Carina und betrachtete die kürzeren Haare interessiert im Spiegel. „Vor allem viel pflegeleichter. Irgendwie ging mir die Länge schon ne halbe Ewigkeit auf die Nerven. Vor allem jetzt beim Stillen sind sie nur im Weg.“ Sie schaute zu Grell, der immer noch beleidigt woanders hinschaute. „Ach komm, Grell“, meinte sie versöhnlich. „Sieht es denn wirklich so schlimm aus?“
 

Der Reaper spinkste ganz kurz zu ihr hinüber, nur, um dann direkt wieder wegzusehen. Carina grinste. Wenn sie mit Grell fertig wurde, dann musste sie sich um ihren zukünftigen Umgang mit ihrer Tochter nun wirklich keine Sorgen machen. „Ja, mag sein, dass es gut aussieht“, gab er schließlich zu. „Aber lange Haare sehen immer noch besser aus.“ „Ich fürchte von der Überzeugung wirst du ihn niemals abbringen können“, grinste die Rezeptionistin und kehrte die Überbleibsel von Carinas Haaren mit einem kleinen Besen auf.
 

Seit Lilys Geburt am 01. Februar war eine Woche vergangen und Carina hatte sich gut auf die neue Situation umstellen können. Mittlerweile wusste sie ziemlich genau was der Grund war, wenn das kleine Mädchen begann zu quengeln oder zu schreien. Wenn sie beispielsweise Hunger hatte, reichte es schon aus ihr einen Finger an die Lippen zu halten. Entweder begann sie dann sofort gierig daran zu saugen, was ein sehr sicheres Anzeichen für eine erneute Stillrunde war. Oder sie machte gar nichts. Dann war sie in den meisten Fällen müde oder musste gewickelt werden.
 

Inzwischen sah Carina dies eher locker, aber am Anfang war sie manchmal ziemlich schnell in Panik geraten, wenn sie nicht sofort erkannt hatte, was der Säugling denn nun genau von ihr wollte. Ein Glück, dass Alice ihr mit Rat und Tat zur Seite gestanden und ihr einige nützliche Tipps gegeben hatte. Sicherlich würde es wieder um einiges schwerer werden, wenn die junge Frau in einer Woche zum Dispatch zurückkehren musste und sie sich dann nur alle paar Tage sehen konnten, wenn sich die Schichten von ihr und Grell nicht überschnitten. Aber auch das würden sie irgendwie hinbekommen, so wie sie bisher alles irgendwie hinbekommen hatten.
 

Der Schlüssel klickte leise, als er im Schloss einrastete. Bereits im nächsten Moment verschwand er in den Untiefen des schwarzen Mantels des Silberhaarigen, der seine Augen noch einmal über die baufällige Lagerhalle schweifen ließ. In der letzten Woche hatte er sich vorrangig damit beschäftigt dafür zu sorgen, dass er das Gebäude unbeaufsichtigt zurücklassen konnte. Überall waren verstärkte Schlösser angebracht worden. Die Fenster waren nicht länger kaputt, sondern mit besonders dickem Glas ausgestattet worden. Kein menschliches Wesen würde so schnell diese Halle betreten können. Shinigami und Dämonen würden sicherlich einen Weg finden, aber darum würde der Bestatter sich Sorgen machen, wenn es soweit war. Zur Sicherheit befanden sich immerhin seine ganzen Forschungsunterlagen an einem anderen Ort, hier würde man lediglich wenige Exemplare seiner Bizarre Dolls finden, die er im Notfall sicherlich leicht ersetzen konnte. Menschen starben immerhin tagtäglich.
 

Der Grund für seine übereilte Abreise lag einzig und allein darin, dass er bisher neben seinen Forschungen versucht hatte Carina zu finden – bedauerlicherweise erfolglos. Eigentlich war der Todesgott davon ausgegangen, dass es leicht werden würde die junge Frau zu finden und gleichzeitig noch seiner Arbeit nachzugehen. Gut, damals war er auch davon ausgegangen, dass die Blondine zwar untergetaucht war, sich aber dennoch weiterhin in London aufhielt. Wie es schien, hatte der Silberhaarige sich – was das anging – schwer getäuscht!
 

Er hatte seine alten Kontakte aus der Londoner Unterwelt mobilisiert, stets darauf achtend, dass Ciel Phantomhive keinen Wind von der ganzen Angelegenheit bekam. Fehlanzeige. Er hatte selbst einige Orte innerhalb der Großstadt besucht, von denen er wusste, dass dort so schnell niemand nach einer vermissten Person suchen würde. Fehlanzeige. Schlussendlich war er sogar wieder dazu übergegangen einigen Männern seiner eigenen Spezies nachzuspionieren, in der Hoffnung, dass vielleicht doch irgendjemand etwas Neues zu berichten hatte. Fehlanzeige.
 

Wenn er es nicht besser wüsste, dann konnte man glatt auf den Gedanken kommen, dass die Schnitterin nie existiert hatte.
 

„Ich war mir so sicher, dass sie hier bleiben würde.“ Und wenn sie schlussendlich vielleicht in Deutschland geblieben war? Immerhin war dies ihr Geburtsland, sie konnte die Sprache sprechen und nicht zuletzt würde der Dispatch dort nicht vorrangig nach ihr suchen… Aber wenn das der Fall war, wie sollte er sie dann jemals finden? Deutschland war groß und er kannte sich dort nicht halb so gut aus wie in England.
 

Und dann war ihm letzte Nacht mitten im Halbschlaf plötzlich eine neue Idee in den Sinn gekommen. Wenn es eine Person gab, die über Carinas Aufenthaltsort Bescheid wusste, dann konnte es nur dieser aufgedrehte Rotschopf sein. Was hatte Carina damals noch mal zu ihm gesagt?
 

„Halt Grell da raus“

„Ihr steht euch nahe“

„Ja, er ist wie ein Bruder für mich. Also mach dich nicht lustig über ihn.“
 

Er war also derjenige, der den meisten Bezug zu der 19-Jährigen hatte. Derjenige, dem sie ihr Vertrauen während ihrer Zeit im Dispatch geschenkt hatte. Mit ziemlicher Sicherheit hatte sie ihn in ihre Pläne eingeweiht. Außerdem wusste der Undertaker um die Geschichte zwischen dem Shinigami und Madame Red. Es wäre also bei weitem nicht das erste Mal, dass der Rothaarige gegen einige Regeln verstoßen würde.
 

„Jetzt muss ich ihn nur noch finden“, dachte der Totengräber und ein berechnendes Funkeln trat in seine Augen. Er hatte auf der Campania gegen Grell gekämpft, hatte sich somit ein ungefähres Bild von seinen Fähigkeiten machen können. Er war bei weitem nicht schwach, also war er als Seelensammler mit hoher Wahrscheinlichkeit recht aktiv unterwegs. „Ich muss mich nur noch einmal auf die Lauer legen und speziell das Rotkäppchen suchen. Und dann werde ich ihn schon dazu bringen mir zu verraten wo Carina ist, ob er das nun will oder nicht.“
 

Carina summte eine leise Melodie und strich ihrer Tochter sanft über den Rücken, während das Baby an ihrer linken Schulter lag und versuchte die überschüssige Luft im Bauch durch ein Bäuerchen loszuwerden. Als sie die Kleine anschließend wieder nach vorne auf ihre Arme nahm, schaute sie mit ihren Augen – die nach wie vor blau waren – neugierig durch die Gegend. Wobei „Gegend“ mit Sicherheit nicht das passendste Wort war. Alice hatte ihr erklärt, dass Babys im ersten Lebensmonat nicht weiter als 30 Zentimeter schauen konnten, alles andere wirkte für die Säuglinge noch sehr unscharf. „Tja, da haben wir zumindest jetzt noch die schlechten Augen gemeinsam“, murmelte Carina und gluckste, als Lilys Augen in ihre Richtung wanderten. Es war doch immer wieder erstaunlich, wie sehr sie auf ihre Stimme reagierte.
 

„Und, bereit für dein Training?“, fragte Grell, der gerade aus dem Badezimmer hinaustrat. „Ja, jetzt gleich. Ich will nur noch warten, bis sie wieder eingeschlafen ist.“ „Ich kann mich nicht entscheiden, ob sie süßer ist, wenn sie schläft oder wenn sie wach ist“, seufzte Grell und strich seinem Patenkind mit seinem Zeigefinger vorsichtig über die kleine Wange. „Hey, meine Tochter ist immer süß, klar?“, grinste Carina zwinkernd und konnte bereits dabei zu sehen, wie die Augenlider des Babys schwerer und schwerer wurden, bis sie schließlich ganz zufielen.
 

Vollkommen lautlos schlich Carina ins Kinderzimmer und legte das schlafende Kind in die Wiege. „Passt du auf Lily auf, während wir trainieren gehen?“, fragte sie gleich darauf Alice, die mit einem Becher Tee und einem Buch auf dem Sofa lag. „Klar, kein Problem“, antwortete die Schwarzhaarige, woraufhin Grell und Carina hinaus auf die breite Wiese gingen, die direkt vor der Hütte lag.
 

Direkt am zweiten Tag nach Lilys Geburt hatte Carina wieder mit ihrem Training begonnen. Und es fühlte sich einfach großartig an. Die Anstrengung, ihre Death Scythe wieder in den Händen zu halten, das Aufeinanderprallen von Grells Kettensäge und ihrer scharfen Klinge… Sie hatte gar nicht gewusst, wie sehr sie das Kämpfen während der Schwangerschaft vermisst hatte.
 

Außerdem machten sich ihre Anstrengungen endlich bemerkbar. Ihr hartes Training, das sie in den Wochen vor Erkennen ihrer Schwangerschaft durchgeführt hatte, und das Training, das sie nun mit Grell durchzog, zahlten sich spürbar aus. „Nicht schlecht, Carina“, meinte Grell erstaunt, als sie erneut einen besonders harten Hieb seinerseits abgewehrt hatte. „Tja, ich bin eben lernfähig“, rief sie ihm zu und ging nun selbst zum Angriff über. „Ist mir schon klar“, erwiderte der Rothaarige und wich ihrer Klinge nur um Haaresbreite aus. „Aber wenn man bedenkt, dass du gerade einmal 3 ½ Jahre ein Shinigami bist, dann ist deine Verbesserung wirklich bemerkenswert. Ich habe wesentlich länger gebraucht, um auf dein jetziges Level zu kommen.“ Erneut prallten ihre Waffen gegeneinander. „Dann solltest du dich besser anstrengen“, Carina grinste, „sonst hab ich dich bald noch eingeholt.“ „Tze, träum weiter“, spottete der Reaper und legte mehr Kraft in seinen rechten Arm, sodass die 19-Jährige einige Schritte zurückweichen musste und dabei zwei tiefe Furchen im Gras entstanden.
 

„Dir merkt man deinen Abschluss als Jahrgangsbester aber auch noch an“, stichelte sie und legte einen Rückwärtssalto hin, um Grells langes, linkes Bein nicht ins Gesicht zu bekommen. „Darauf kannst du wetten, ich hab mich doch nicht umsonst so angestrengt. Hach, ich erinnere mich bis heute an Williams herrlichen Gesichtsausdruck bei der Verkündung der Noten. Diese steile Falte auf seiner Stirn macht mich immer noch schwach.“
 

„Wohl wahr“, entgegnete Carina und Grell schrie erschrocken auf, als sie ihn mit der stumpfen Seite des Katanas am Unterarm traf. „Hey, das hat wehgetan“, beklagte sich der Rothaarige auch sofort und rieb über die getroffene Stelle. „Wenn das ein blauer Fleck wird, dann hast du ein Problem, Carina“, keifte er, woraufhin die Blondine grinste. „Dann hör auf von William zu schwärmen und konzentrier dich auf den Kampf.“
 

Die beiden Schnitter trainierten noch einige Stunden weiter und legten nur dann Pausen ein, wenn Lily wach wurde und gestillt werden wollte. „Ihr seid ja wohl komplett irre“, gab Alice kopfschüttelnd von sich, als sie dann schließlich bei Einbruch der Dunkelheit vollkommen verschwitzt, verdreckt und erschöpft ins Haus zurückkamen. „Du hast ja überhaupt keine Ahnung“, warf Grell ihr entgegen und schulterte grinsend seine Kettensäge. „So ein ausdauerndes Training kann richtig befreiend sein.“ „Hier muss ich Grell Recht geben. Ich hab mich schon lange nicht mehr so entspannt gefühlt.“ Vor allem, da diese unerträglichen Rückenschmerzen nun endlich weg waren. Alice schüttelte erneut den Kopf. „Keine Ahnung, was an „sich gegenseitig verkloppen“ so toll sein soll. Ich werde es wohl nie verstehen. Aber ihr beide braucht definitiv ein Bad. Wir wollen doch nicht, dass uns der Dispatch wegen eures schlechten Geruchs findet, oder?“
 

Am nächsten Morgen saßen die drei Todesgötter entspannt am gedeckten Frühstückstisch und sprachen über den Verlauf des Tages. Grell hielt sein Patenkind fröhlich grinsend auf dem Arm, das gerade wieder im Begriff war einzuschlafen. „Oh man, ich wünschte ich müsste heute nicht arbeiten“, jammerte er und schob sich eine Gabel Spiegelei in den Mund. „Ach komm, es sind doch nur ein paar Stunden. Wollen wir danach wieder trainieren?“ „Ja, sehr gerne. Aber vorher muss ich dringend noch ein paar Berichte bei William einreichen. Ich konnte mir vorgestern lang und breit anhören, dass ich schon eine Woche im Rückstand bin.“ Er rollte mit den Augen. „Eine Woche ist doch gar nichts. Ich kenne manche Leute, die einen Monat lang keinen einzigen Bericht schreiben.“ „Dann kannst du dir ja vorstellen, was denen blüht“, antwortete Alice und schmierte sich Marmelade auf ihr Weißbrot.
 

„Ist doch nicht schlimm“, entgegnete Carina. „Dann kommst du halt etwas später. Ich wollte ohnehin nachher noch Wäsche machen und sie aufhängen. Dann hab ich danach noch genug Zeit, um einkaufen zu gehen. So lange kann ich dich doch mit Lily allein lassen, oder Alice?“ „Klar, kein Problem. Wenn du sie vorher nochmal stillst, schläft sie sowieso sofort wieder ein und so lange bist du ja ohnehin nicht weg.“ „Alles klar. Dann sehen wir uns später, Grell?“ „In Ordnung“, zwinkerte er, übergab Carina wieder ihre Tochter und verschwand wenige Minuten später aus der Tür, um seine Schicht anzutreten.
 

„Ich kann auch gerne die Wäsche machen, das ist kein Problem“, meinte Alice und nippte an ihrem Kaffee, den sie immer schwarz trank. „Nein, auf gar keinen Fall. Du hast in den letzten Wochen so viel für uns getan, Alice, jetzt bin ich dran. Außerdem kochst du doch schon und hilfst mir mit Lily, das reicht vollkommen. Ich muss ja sowieso bald auch ohne dich zurechtkommen.“ „Na gut“, meinte die Schwarzhaarige schulterzuckend und gähnte. „Dann hau ich mich jetzt noch ein wenig auf’s Ohr, bevor du nachher in die Stadt gehst. Ich hab diese Nacht kaum geschlafen.“ „Tut mir echt leid“, seufzte Carina, der es selbst schließlich nicht anders ergangen war. „Ach, dafür musst du dich doch nicht entschuldigen. Das ist vollkommen normal, wenn man ein kleines Baby im Haus hat. Und es ist auch bei jedem Kind unterschiedlich, wann sich das Ganze einpendelt. Jamie zum Beispiel hat mit 5 Monaten durchgeschlafen, einer meiner Neffen erst mit 2 Jahren und meine jüngste Nichte hat schon nach 6 Wochen die komplette Nacht Ruhe gegeben.“
 

„Also, im Sinne meiner Augenringe hoffe ich, dass es bei ihr keine 2 Jahre dauert“, stöhnte Carina und stand auf, um den Tisch abzudecken. Anschließend nahm sie ein ausgiebiges Bad, trocknete sich in aller Ruhe ab und entschied sich am Ende für ein schlichtes dunkelblaues Kleid, das ihre Augen gut zur Geltung brachte.
 

Mittlerweile machte es ihr überhaupt keine Schwierigkeiten mehr ihre Shinigami Augen auf lange Sicht mit ihren ehemaligen menschlichen Augen zu verschleiern. Außerdem mochte sie ihre marineblauen Augen nun noch mehr, da ihre Tochter diese anscheinend wirklich von ihr geerbt zu haben schien. Und auch die Haarfarbe hatte sich nun eindeutig als silbrig herausgestellt. Ihre anfängliche Befürchtung, dass ihr Kind nach Cedric kommen würde, hatte sich also tatsächlich bewahrheitet. Allerdings stellte Carina fest, dass es ihr weitaus weniger ausmachte, als sie angenommen hatte. Es gab einfach nichts, was ihre Liebe zu dem kleinen Wesen schmälern konnte. So eine Tatsache konnte man wohl wirklich erst begreifen, wenn man selbst Mutter war. Tja, hätte sie das doch nur vorher gewusst, dann hätte sie sich viele Sorgen erspart…
 

Als sie ins Kinderzimmer ging, lag der Säugling bereits wach in seiner Wiege und die blauen Augen wanderten suchend hin und her. „Du hast bestimmt wieder Hunger, hmm?“, redete Carina drauf los und hob das Baby geübt hoch. „Gut, aber zuerst ziehen wir dir mal was Neues an, okay?“ Lily gähnte müde, zeigte aber ansonsten keinerlei Reaktion. Vorsichtig zog die 19-Jährige ihr den Strampler zuerst an den Ärmchen und Beinchen aus, um ihn schlussendlich sanft über den kleinen Kopf zu ziehen. Das Mädchen quengelte währenddessen ein wenig, wollte sie doch viel lieber schlafen oder zumindest gefüttert werden. „Ja, ich beeil mich ja schon“, grinste die junge Mutter und wechselte kurzerhand die Windel.
 

Auch wieder so eine Sache, an die sie nicht gedacht hatte. In ihrer Zeit gab es Wegwerfwindeln wie zum Beispiel Pampers – eine Erfindung, die viel zu wenig Anerkennung bekam, wie sie mittlerweile bemerkt hatte. Hier im 19. Jahrhundert mussten Tücher aus weichem Stoff als Windeln herhalten, die man nicht eben einfach so mal wegwarf und dann ein Neues nahm. Nein, diese hier mussten jedes Mal ausgekocht und wiederverwendet werden. Eine überaus lästige Sache.
 

Nach kurzer Überlegung entschied sich Carina für einen einfachen hellblauen Strampler, den sie selbst gestrickt hatte. „So, kleine Maus, das war’s schon“, sagte sie und stupste ihrer Tochter mit der Nase gegen die Wange, sodass diese ihre Augen auf ihr Gesicht richtete und unkoordiniert die kleinen Händchen auf und zu machte. Die Schnitterin setzte sich mit ihr auf dem Arm in den Schaukelstuhl und begann leise eine Ballade aus ihrer eigenen Zeit zu summen, während sie ihr Kind an die Brust legte. Sie stützte behutsam das Köpfchen, das das Neugeborene noch nicht von allein heben konnte, und hielt die ganze Zeit Augenkontakt. Am liebsten würde sie die Kleine keine Sekunde aus den Augen lassen, aber zu einer Übermutter wollte sie nun auch nicht mutieren.
 

20 Minuten später, als ihr Baby wieder friedlich schlief, nahm sie sich den Wäschekorb von der Anrichte und verließ leise die Hütte, um Alice nicht zu wecken. Würde Lily in den 10 Minuten, wo sie nun weg war, wach werden, dann würde die Schwarzhaarige sie auf jeden Fall hören, immerhin schlief sie direkt im Zimmer nebenan.
 

Carina ging vorsichtig den schmalen Trampelpfad hinab, der nur wenige Meter später am Fluss endete. Dort kniete sie sich auf den Boden und begann nach und nach die einzelnen Kleidungsstücke mithilfe eines zweiten Korbes und Seife zu waschen. Was sehnte sie die Erfindung der Waschmaschine doch herbei…
 

„Na ja, wobei das hier ja auch irgendwie seinen Charme hat. So ist man zumindest an der frischen Luft, kann die Stille des Waldes genießen und hat was zu tun.“ Man konnte über Grells Eltern ja sagen was man wollte – und das wirklich in jeglicher Hinsicht – aber sie hatten sich zum Leben wirklich das perfekte Plätzchen ausgesucht. Die ehemalige Seelensammlerin konnte vor ihrem geistigen Auge sehen, wie Lily in ein paar Jahren auf der Wiese spielte. Schwimmen lernte. Auf Bäume kletterte. Letzteres natürlich nur unter ihrer Aufsicht. Das Lächeln auf ihrem Gesicht wurde breiter. Ja, das war eine schöne Vorstellung.
 

Grinsend wrang sie eine ihrer weißen Blusen aus und wollte diese gerade in den Korb zurücklegen, als sich von hinten urplötzlich ein Arm um ihren Hals schlang. Carina konnte gar nicht so schnell registrieren was passierte, da kam bereits wie aus dem Nichts eine Hand, die sich ebenfalls von hinten über ihren Mund legte.
 

Eine Hand in einem anthrazitfarbenen Handschuh.
 

Ein erstickter Laut entfuhr ihrer Kehle, eiskalte Angst schoss durch jede Zelle ihres Körpers. Reflexartig packte sie seinen Arm mit ihren eigenen Händen, doch der Shinigami hinter ihr hatte erstens einen wesentlich besseren Stand als sie und war ihr zweitens – zumindest rein körperlich – weit überlegen. Keuchend spürte sie, wie er langsam begann seinen Griff um ihren Hals zu festigen. Was hatte er vor? Was wollte er von ihr? Und was würde er tun, wenn er mit ihr fertig war? Blanke Panik breitete sich in ihr aus, als sie an die Hütte dachte, die nur wenige Meter von ihr entfernt war. Die Hütte, in der sich Alice und Lily befanden. Beide schlafend, beide vollkommen schutzlos…
 

Carina zuckte zusammen, als ihr Gegner sich mit einem Mal vorbeugte und seinen Mund an ihr rechtes Ohr drückte. Heißer Atem streifte ihre Ohrmuschel und gleichzeitig auch ihre Wange, was beinahe sofort einen Würgereiz in ihrer Kehle auslöste. „Hab ich dich endlich“, hauchte er und nun erstarrte die Shinigami wirklich komplett. Sie…sie kannte diese Stimme. Irgendwo hatte sie diese Stimme, die eindeutig einem Mann gehörte, schon einmal gehört. Da war sie sich absolut sicher. Aber wo nur? „Dieses Mal entkommst du mir nicht. Nein, heute funkt mir keiner dazwischen, auch dieser Bestatter nicht.“
 

„Verflucht, wer nur? Wer ist das? Wo habe ich diese Stimme schon einmal gehört?“ Ihr Gehirn arbeitete auf Hochtouren. Es war dieses seltsame Gefühl, wenn einem ein Name bereits auf der Zunge lag, man aber einfach nicht auf die Lösung kam. Zum Greifen nahe, aber dennoch zu weit weg. Der Druck auf ihrem Hals und somit auch auf ihrem Nacken wurde langsam stärker. Mit Schrecken stellte Carina fest, dass sich seine Hand auf ihrem Mund in die entgegengesetzte Richtung seines Armes bewegte. Sie krallte ihre Nägel in den schwarzen Stoff, der seinen Arm bedeckte, zerrte und zog daran wie eine Wahnsinnige, doch es war zu spät. Sie hörte das Knacken, noch bevor sie den abrupten Schmerz spürte. Das Letzte, was sie wahrnahm, war das plötzliche Herumschnappen ihres Kopfes in einem mehr als nur unnatürlichen Winkel. Dann wurde ihr Bewusstsein von einer alles umfassenden Schwärze verschlungen, die Carina noch im gleichen Augenblick daran zweifeln ließ, ob sie jemals wieder erwachen würde.
 

„Hey. Hey, Nervensäge! Wach auf.“ Alice öffnete stöhnend die Augen und war im ersten Moment recht orientierungslos. Dann sah sie auf und schaute direkt in Grells gelbgrüne Augen. „Grell? Du bist schon wieder zurück?“ Hatte sie etwa so lange geschlafen? Warum hatte Carina sie denn nicht geweckt? „Wie spät ist es denn?“ „Fast 14:00 Uhr. Ich konnte mich doch etwas früher losreißen. Hab mich extra beeilt, damit wir früher mit dem Training weitermachen können. Weißt du, wo Carina ist?“ Verwundert stand Alice vom Sofa auf. „Wie? Ist sie denn nicht hier?“ „Nein“, antwortete der Rothaarige und verschränkte die Arme vor der Brust. Gleichzeitig erklang ein leises Quengeln aus dem Kinderzimmer. Scheinbar hatte Grells Auftauchen nicht nur sie geweckt.
 

„Seltsam“, murmelte Alice. „Sie wollte die Wäsche machen und dann einkaufen gehen. Hast du am Fluss nachgesehen?“ „Da war ich schon. Da lag zwar der Wäschekorb, aber von Carina weit und breit keine Spur. Ob sie einkaufen gegangen ist?“ Ein ungutes Gefühl machte sich auf einmal in Alice breit und nach Grells Gesichtsausdruck zu schließen, war sie da nicht die Einzige. „Carina würde doch niemals einkaufen gehen, ohne mich vorher zu wecken. Geschweige denn ohne den Wäschekorb wieder reinzubringen. Irgendetwas stimmt hier nicht.“
 

Grell wurde auf einmal fürchterlich blass. „Warte hier“, meinte er – schärfer als beabsichtigt – und stürmte wieder aus der Hütte hinaus zum Fluss. Alice ging währenddessen beunruhigt ins Kinderzimmer und hob ihr Patenkind hoch, das sich nach kurzem Hin- und Herwiegen auch Gott sei Dank wieder einigermaßen beruhigte. 1 Minute später stand Grell wieder in seinem ehemaligen Zuhause, nun noch bleicher als zuvor. „Jemand war hier.“
 

„Wie bitte?“, fragte Alice irritiert nach, während Grell sich fahrig durch die langen Haare fuhr. „Am Fluss waren zwei Energiesignaturen. Die Eine stammt unübersehbar von Carina, die kenne ich immerhin. Aber da war jemand bei ihr. Ein Shinigami.“ Nun wich auch aus Alice’ Gesicht jegliche Farbe. „Vielleicht…vielleicht war es ja ihr–“ „Daran habe ich auch schon gedacht. Aber selbst wenn es dieser Idiot von einem Bestatter war, dann wäre Carina jetzt noch hier. Sie würde ihre Tochter niemals einfach so alleine lassen.“ Einen sehr langgezogenen Moment lang herrschte resolutes Schweigen.
 

„Es gäbe da noch eine andere Möglichkeit“, durchbrach Grell schließlich die Stille und musste gleich darauf schlucken, weil sein Mund staubtrocken war. „Dieser Mistkerl, der sie schon einmal überfallen hat“, führte Alice seine Gedanken weiter und strich Lily sanft durch die kurzen, silbernen Haare – mehr, um sich selbst abzulenken. Grell nickte. „Es gab allerdings keine Kampfspuren. Entweder bilden wir uns hier also nur was ein und Carina ist wirklich nur einkaufen oder“, er stockte und schluckte erneut. „Oder er war so schnell, dass Carina überhaupt keine Zeit hatte sich zu wehren“, beendete er seinen Satz und konnte quasi in Zeitlupe sehen, wie sich die Augen der Schwarzhaarigen langsam mit Tränen füllten.
 

„Ganz ruhig“, entgegnete er und meinte damit nicht nur Alice, sondern auch sich selbst. Denn wenn er ganz ehrlich war, dann stieg ihm selbst die Panik bereits bis in die Kehle. „Ich suche sie. Wenn sie in London ist, dann werde ich sie innerhalb der nächsten Stunde finden, versprochen.“ Er wirbelte herum, überlegte es sich im letzten Moment aber noch einmal anders und drehte sich wieder zu der Rezeptionistin zurück. „Pass du so lange gut auf Lily auf“, meinte er und tätschelte kurz unbeholfen ihre Schulter. Alice nickte und zog ein wenig schniefend die Nase hoch. „Sei vorsichtig“, antwortete sie.
 

Grell nickte und hatte bereits eine Sekunde später das Haus verlassen. Keine 10 Sekunden später flog er bereits über die Dächer Londons und nahm alle Orte in Augenschein, von denen er wusste, dass Carina ab und zu dort hinging. Jegliche Marktstände, kleine Läden, sogar ein paar Blumenhändler und den Friedhof ging er durch, doch die 19-Jährige blieb verschwunden. Selbst ihre Energie konnte er nicht wahrnehmen. Mit zittrigen Händen und dem übergroßen Bedürfnis, sich die Nägel nacheinander komplett abzuknabbern, hielt er schlussendlich auf dem Dach einer Bäckerei inne. „Scheiße“, flüsterte er und atmete versucht ruhig aus, obwohl alles an seinem Körper nach reinem Stress schrie.
 

Was sollte er denn jetzt machen? Was, wenn Carina tatsächlich von diesem mysteriösen Shinigami entführt worden war? Was, wenn sie schon längst…
 

Er schüttelte den Kopf. Nein, daran dürfte er erst überhaupt nicht denken. Natürlich war sein Schützling noch am Leben. Carina war viel zu stur, um einfach so zu sterben. Er musste jetzt einfach nur seinen Kopf zusammenhalten und sich einen Plan zurechtlegen. Es musste doch irgendeine Möglichkeiten geben die Blondine aufzuspüren. Irgendeine verdammte–
 

„Na, wen haben wir denn da?“
 

Grell erstarrte. Langsam, ganz langsam drehte er den Kopf in die Richtung der gerade erklungenen Stimme. Nein, das konnte jetzt wirklich nicht wahr sein! Seine Augen weiteten sich hinter den Brillengläsern entsetzt, als er seinen Gegenüber sofort wiedererkannte. Gut, bei den silbernen Haaren, den Narben und dem Outfit war das auch nicht sonderlich schwer. Der Mund klappte dem Reaper ein Stück auf, als er tief Luft holte. Seit wann war der Todesgott wieder in London? Carina konnte davon nichts gewusst haben, sonst hätte sie ihm das mit Sicherheit gesagt. Und wieso musste er gerade jetzt auftauchen? Hatte Grell nicht gerade wirklich genug Probleme?
 

„Grell, richtig?“, fragte der Undertaker und auf seinen Lippen breitete sich ein Grinsen aus. „Gut, dass ich dich endlich gefunden habe. Wir sollten uns dringend mal unterhalten, findest du nicht auch?“



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  lula-chan
2018-03-11T14:54:36+00:00 11.03.2018 15:54
Ein echt tolles Kapitel. Sehr gut geschrieben.
Na das läuft ja mal gar nicht gut. Wer ist das bloß? Carina ist auf jeden Fall in Gefahr. Ich hoffe, dass Grell sie findet.
Jetzt taucht auch noch Undertaker auf? Das darf doch nicht wahr sein. Mal sehen, wie sich das noch entwickelt.
Ich bin schon gespannt, wie es weitergeht, und freue mich auf das nächste Kapitel.

LG


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