Selbstmord ist keine Lösung......oder? von LadyShihoin ================================================================================ Kapitel 71: Die ganze Wahrheit ------------------------------ „Nicht das auch noch“, war alles, was Carina momentan denken konnte, als sie geschockt zu dem geflügelten Wesen aufsah, das unmittelbar vor ihr stand. Was tat ein Engel hier? Ächzend versuchte sie hochzukommen, doch ihr geschundener Körper blockierte sogleich jegliche Bewegung. Am ganzen Leib zitternd fiel sie zurück auf ihren Po, schaffte es gerade noch so sich mit den Händen am Boden abzufangen. Gleich darauf erstarrte sie zu Stein, als der Engel – nach wie vor stumm – seine rechte Hand hob. Was würde er tun? Sie schlagen? Seine Macht auf sie schleudern? Verzweifelt versuchte die Schnitterin sich an die Worte in ihren Lehrbüchern zu erinnern, an das Wissen über die Kräfte und Fähigkeiten verschiedener Engel. Doch ihr Kopf war plötzlich wie leergefegt, die Erinnerungen verschwammen vor ihrem geistigen Auge. In ihrer derzeitigen Situation konnte Carina lediglich hilflos dabei zusehen, wie die Hand schließlich auf mittlerer Höhe innehielt. Die goldenen Augen starrten ausdruckslos auf sie herab und dann… schnippte er einmal. Die nachfolgenden Sekunden passierten zu schnell für die junge Shinigami. Ein Knacken war zu hören, ähnlich dem Zersplittern von Glas, und im nächsten Augenblick spürte Carina bereits, wie sich zwei Hände fest auf ihre Schultern legten und sie stützten. Die 19-Jährige hob den Kopf und riss sogleich ungläubig die Augen auf. Grell und Cedric standen links und rechts von ihr, jeweils eine Hand auf ihr Schulterblatt gelegt. In der anderen Hand hielten sie ihre Death Scythe, beide in Richtung des weißgekleideten Mannes gerichtet, und ihre Blicke sprachen eine deutliche Sprache. Wenn es erforderlich sein sollte, würden sie sich mit dem himmlischen Krieger anlegen, ungeachtet der nachfolgenden Konsequenzen. Carina drehte ihren Kopf leicht, als rechts von ihr Schritte ertönten. Sebastian kaum ohne jegliche Eile zu ihnen rüber geschlendert, doch ein für ihn eher untypisch ernster Gesichtsausdruck schmückte seine schön geschnittenen Züge. Der Engel schaute dem Teufel entgegen und öffnete den Mund, setzte zum Sprechen an. Als seine Stimme das erste Mal erklang, zuckte Carina vor Schreck zusammen. Wenn seine Augen aussahen wie flüssiges Gold, dann hörte sich seine Stimme an wie die melodischen Klänge eines Klaviers. Und sie kam ihr irgendwie bekannt vor… „Ich hätte nicht gedacht, dass wir uns jemals über den Weg laufen“, sprach er und behielt seinen Blick auf Sebastian, der die Lippen nun zu einem leichten Lächeln verzog. Etwas, das Carina nach wie vor nicht an ihm mochte. „Diese Annahme beruhte auf Gegenseitigkeit“, antwortete der Butler Ciel Phantomhives ruhig. „Was hat das alles zu bedeuten?“, fragte Carina schwach und lehnte sich mittlerweile mit ihrem gesamten Gewicht gegen die Hände der Männer, die ihr die Wichtigsten auf dieser Welt waren. Erneut schaute der Engel sie an und dieses Mal zeichnete sich ein schmales Lächeln auf seinen Lippen ab. Er ging auf ein Knie, um halbwegs mit ihr auf einer Augenhöhe zu sein. Seltsamerweise bekam die Schnitterin das Gefühl, dass dieser Mann nicht hier war, um ihnen weiteren Schaden zuzufügen. „Senkt eure Sensen“, murmelte sie. Grell schaute sie ungläubig an, während Cedric sich nicht um einen Millimeter bewegte. Sein Blick blieb durchgehend auf das übernatürliche Wesen vor ihm gerichtet. „Bitte“, setzte sie leise nach. Beide Todesgötter warfen sich gegenseitig einen kurzen Blick zu, kamen der Bitte dann aber schlussendlich nach. „Danke“, sagte der Engel, allerdings nicht an die Männer gerichtet, sondern an die einzige Frau in der Runde. „Danke, dass du dem ein Ende gesetzt hast.“ Carina runzelte die Stirn. Er sprach sie so vertraut an, als würden sie sich bereits Jahre kennen. „Wovon sprichst du?“, erwiderte sie, duzte ihn nun ebenfalls. „Das Töten von Menschen, die auf dem ein oder anderen Weg durch die Zeit gereist sind, hat bereits viel zu lange angedauert. Jetzt wird zumindest das ein Ende haben.“ „Zumindest?“, dachte Carina, kam aber nicht dazu ihre Frage zu stellen, denn Cedric erhob jetzt ebenfalls die Stimme. Und wie immer, wenn jeglicher Spaß und jegliches Kichern aus seiner Stimme verschwunden waren, überlief es Carina bei seiner Ernsthaftigkeit heiß und kalt zugleich. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Engel ohne jeglichen Grund hier auftaucht.“ „Genau“, warf Grell dazwischen und deutete mit seinem Zeigefinger auf den Fremden. „Wer bist du und was willst du von Carina?“ „Mein Name lautet Uriel“, begann der Engel, woraufhin alle außer Carina erstarrten. Nervös spähte sie zu Grell. „Sollte mir der Name was sagen?“, flüsterte sie fragend, woraufhin der Rothaarige ihr einen beinahe schon empörten Blick zuwarf. „Da hat wohl jemand nur die Bücher über Dämonen gelesen und nicht die über Engel“, meinte er trocken und traf mit dieser Aussage tatsächlich direkt ins Schwarze. Carinas Wangen färbten sich leicht rosa. „Schon möglich“, meinte sie abwehrend, ein wenig peinlich berührt über die Wissenslücke. Cedric kam ihr unerwarteterweise zur Hilfe. „Uriel ist der Name eines Engels, der in vielen Religionen als Erzengel spezifiziert wird.“ Nun erstarrte auch Carina. „E…Erzengel? Wie in Michael, Gabriel und Raphael?“ Der Silberhaarige nickte. Selbst er war bisher niemals einem solch hochrangigen Engel begegnet und war dementsprechend auf der Hut. „Du hast meine letzte Frage nicht beantwortet“, sagte Grell in diesem Moment. „Was willst du von Carina?“ „Ich habe keinerlei Intentionen ihr Schaden zuzufügen, falls es das ist, was Sie meinen, Mr. Sutcliff“, antwortete der Blonde ruhig und sorgte mit seinen letzten Worten dafür, dass Grell jegliche Worte fehlten. Woher kannte der Erzengel seinen Namen? Als hätte er seine Gedanken gelesen, antwortete Uriel: „Ich kenne Ihren Namen, weil ich bereits seit langer Zeit Carinas Situation überwache. Und somit zwangsläufig natürlich auch ihre Freunde kenne.“ Und genau in diesem Augenblick ging Carina ein Licht auf. Sie wusste, wo sie diese Stimme schon einmal gehört hatte. „Du warst das“, flüsterte sie und räusperte sich einmal, was aber nicht viel brachte. Ihre Stimme war von dem vielen Schreien in den letzten Stunden völlig erschöpft. „Du hast mir verraten, welche Abzweigungen ich nehmen muss, um Crow zu finden.“ Der Mann fixierte sie mit seinem Blick und nickte. „Hä?“, gab Grell von sich, mehr als nur verwirrt. „Ich habe seine Stimme gehört“, murmelte sie als Antwort, wandte ihre Augen aber nicht von dem Fremden ab. „Okay“, stellte sie fest. „Erzähl mir bitte, was das zu bedeuten hat. Ich habe dieses ganze Hin und Her so satt.“ „Sagt die Richtige“, dachte Cedric, hielt aber den Mund. Denn auch er erwartete endlich eine Erklärung. „Ich sollte ganz am Anfang beginnen. Möglicherweise könnte es vorerst ein wenig verwirrend für dich sein, Carina, weil die Verbindung zu deiner Geschichte nicht sofort klar wird. Aber ich bitte dich mir bis zum Ende zuzuhören.“ Seine Stimme war freundlich, beinahe schon sanft. Allein das war der Grund, warum die 19-Jährige nicht zögerte, sondern sofort nickte. „Dann will ich dir zuerst eine Frage stellen. Sagt dir der Begriff „Höllensturz“ etwas?“ Dieses Mal konnte Carina erleichtert nicken, über dieses Thema wusste sie bestens Bescheid. „Ja, allerdings kann man unter diesem Begriff mehrerlei Dinge verstehen, oder? Der Fall eines Engels, der Sieg über den Teufel in der Apokalypse oder die Verdammung der Sünder beim Jüngsten Gericht. Aber ich nehme jetzt mal einfach an, dass du Höllensturz in Bezug auf einen Engel meinst?“ Uriel nickte. „Ja, allerdings. Der betroffene Engel wird für seine Auflehnung mit der Vertreibung aus dem Himmel bestraft. Der wohl bekannteste Fall diesbezüglich stellt Luzifer dar.“ Carina nickte stumm. Auch sie hatte gleich an diesen Namen denken müssen. „Aber hier geht es nicht um Luzifer“, fuhr der Engel fort, was Grell erleichtert aufseufzen ließ. Allein der Name an sich sorgte schon dafür, dass es ihm eiskalt den Rücken herunterlief. „Und um welchen Engel geht es im Zusammenhang mit meiner Geschichte?“, fragte Carina leise, der die Entwicklung dieses Gesprächs immer weniger gefiel, dabei hatte Uriel gerade erst angefangen. „Im Laufe der Zeit hat er sich viele Namen angeeignet, aber der wohl Bekannteste unter den Menschen dürfte Samael sein.“ Und tatsächlich, auch dieser Name sagte Carina etwas. „Auch er ist in manchen Religionen als Erzengel bekannt, wenn auch nicht so ranghoch wie die anderen Vier“, bemerkte der Bestatter und entlockte Uriel damit ein weiteres Nicken. „Steht er nicht auf der Liste der Engel, die gegen Gott rebelliert haben?“, versuchte Grell sich zu erinnern und erntete mit diesen Worten ebenfalls ein Nicken des Erzengels. Aus den Augenwinkeln fiel Carina auf, dass sich Sebastians blutrote Augen leicht verengten. Das Gesprächsthema schien ihm ganz und gar nicht zu gefallen. „Es gibt viele Gründe, warum Engel aus dem Himmel vertrieben werden. Sexuelle Lust, das Ausnutzen der Willensfreiheit gegenüber Gott oder auch die Weigerung, dem Menschen – Gottes Werk – Respekt zu bezeugen. Samael jedoch wurde aus dem schlimmsten aller Gründe aus dem Himmelsreich verbannt.“ „Das Streben nach Gottgleichheit“, murmelte Cedric wissend und anhand von Uriels bitterem Gesichtsausdruck wusste Carina, dass der Silberhaarige mit seinen Worten den Nagel auf den Kopf getroffen hatte. „Was für ein unsinniger Grund“, warf Sebastian ausdruckslos in die Runde und fasste sich mit seiner weiß behandschuhten Hand kurz an die Stirn. Die Schnitterin machte sein seltsames Verhalten erneut stutzig. Kannte er diesen abtrünnigen Engel etwa? „Und was passiert mit Engeln, die aus dem Himmel verbannt wurden?“, wisperte Carina, nun doch ein wenig neugierig. „Die meisten sterben recht schnell. Meist durch Dämonen, denn nach ihrer Verbannung büßen sie einen Großteil ihrer himmlischen Kräfte ein und können sich dementsprechend nicht verteidigen. Die wenigen, die trotz aller Schwierigkeiten überleben, ziehen sich ihr restliches Leben lang zurück, um für ihre begangenen Sünden zu büßen. Aber natürlich“, er seufzte kurz, „gibt es auch hier wieder Ausnahmen von der Regel. Und eine dieser Ausnahmen ist Samael.“ „Das war damals ein harter Schlag für euch, nicht wahr?“, erhob der einzige Teufel in der Runde die Stimme, ein wissendes Grinsen auf den Lippen. „Dass einer von euch in die Hölle gegangen ist, um beiden Schicksalen zu entgehen, nicht wahr?“ „In die Hölle?“, erschauderte Grell und schlug sich eine Hand vor den Mund. Der Totengräber verengte leicht die Augen, während sich Carina in ihrer Annahme bestätigt fühlte. Sebastian kannte Samael tatsächlich. „Er ist selbst zu einem Teufel geworden“, stellte Cedric fest, woraufhin Uriel schweren Herzens nickte. „Ja. Engel können in der Hölle auf Dauer nicht überleben. Ich habe Samael nach seinem Sturz nur noch ein einziges Mal zu Gesicht bekommen. Und zu diesem Zeitpunkt hatten sich seine Augen bereits blutrot verfärbt und seine ursprünglich weißen Flügel hatten sich in schwarze Schwingen verwandelt.“ Carina schluckte. Sowohl Engel, als auch Teufel waren an und für sich schon mächtige Kreaturen. Wie stand es wohl mit einem Wesen, das Fähigkeiten beider Rassen in sich vereinigte? „Ich nehme mal an“, begann sie und richtete sich mithilfe der beiden Hände in ihrem Rücken in eine aufrechtere sitzende Position auf, „dass dieser Samael seitdem nicht sonderlich gut auf seine Außenwelt zu sprechen ist, richtig?“ Uriel nickte. „Als ich ihn zuletzt sah schwor er mir, dass er seinen Plan ein gottgleiches Wesen zu werden nicht aufgegeben habe. Dass er Rache für die Demütigungen nehmen würde, die er durch die Verbannung erfahren musste.“ Carina seufzte. Es war doch immer das Gleiche. Immer ging es um Macht und um die Verbrechen derjenigen, die sie bekommen wollten. „Ein durchgedrehter Engel, der zum Teufel geworden ist. Na super“, stöhnte Grell. „Das hat uns gerade noch gefehlt.“ Die Augen des Undertakers bohrten sich währenddessen in die Sebastians. „Und welche Verbindung besteht zwischen dir und ihm, Teufel?“ Scheinbar war auch dem Bestatter dieses Detail nicht entgangen. Sebastian richtete seinen Blick gen Decke und ließ einen schwermütigen Seufzer entweichen, der die anwesenden Todesgötter irritiert blinzeln ließ. Für einen Moment hatte der Butler beinahe menschliche Züge an den Tag gelegt. „Keine sonderlich gute, wie ich zu meinem eigenen Bedauern gestehen muss“, antwortete Sebastian, legte dieses fürchterlich falsche Lächeln auf seine Lippen und sah wieder geradeaus. „Er ist mein Vater.“ Einen furchtbar langen Augenblick herrschte ungläubige Stille. Dann sprach Carina das aus, was alle dachten. „Wie bitte?“ Einzig und allein Uriel wirkte nicht überrascht. Natürlich, als Erzengel blieben ihm wohl nur die wenigsten Dinge so wirklich verborgen. „D…dein Vater?“, schrie Grell geschockt und sah so aus, als würde er sich jeden Moment bekreuzigen. „Oh mein Gott!“ „Hehe~ Das erklärt einiges, möchte ich meinen“, grinste der Silberhaarige, fast schon ein wenig provokant, und es funktionierte. Der Blick des Teufels verfinsterte sich schlagartig. „Vergleiche mich niemals mit meinem Vater, Shinigami“, knurrte er bedrohlich und seine schönen Züge wandelten sich kurzzeitig in eine gefährliche Fratze um. Die rotglühenden Augen wirkten bei diesem Gesicht noch am einladendsten und Carina fühlte sich auf unangenehme Weise an den Moment auf der Campania erinnert, als Undertaker Ciel am Kragen gepackt hatte. Auch dort hatte der Dämon für wenige Sekunden seine komplette Maskerade fallen lassen. Sogleich versuchte Grell die Situation zu entspannen, indem er erneut das Wort ergriff. „Also wurdest du damit beauftragt ein Auge auf die Aktivitäten dieses Samaels zu haben?“ Der Erzengel nickte. „Schön und gut“, sagte Carina und hustete kurz, da sich ihre Kehle inzwischen anfühlte wie Schmirgelpapier, „aber was hat das alles mit mir zu tun?“ „Ich werde dir die ganze Wahrheit sagen“, entgegnete der Entsandte des Himmels ernst. „Aber zuerst…“, er schnippte zum zweiten Mal am heutigen Tage mit den Fingern und auf einmal sank Sebastians Kopf nach vorne. Alle Anwesenden starrten ihn erschrocken an. Der Teufel wirkte jetzt beinahe so, als ob er im Stehen eingeschlafen wäre, aber natürlich war ihnen allen bewusst, dass das nicht der Fall war. „Ich habe ihn in eine Art Dämmerschlaf versetzt. Nicht alles, was ich jetzt erzähle, ist für seine Ohren bestimmt“, begann Uriel und ließ seine Hand langsam wieder sinken. Carina schluckte kurz. Erzengel waren mächtige Wesen, das war ihr nun definitiv klar… „Wie ich bereits sagte, war es Samaels oberstes Ziel gottgleich zu werden. Die Macht dazu hat er mittlerweile bereits erlangt, aber es bedarf mehr. Kannst du dir vorstellen, was ich damit meine, Carina?“, fragte er sie, forderte die Schnitterin auf aktiv mitzudenken. Die junge Frau zuckte kurz mit beiden Schultern, was sofort einen rasenden Schmerz durch ihren Rücken jagte. „Ich weiß nicht“, erwiderte sie gepresst. „Weisheit? Moral? Perfektion?“ Jetzt mischte sich auch Cedric in das Gespräch ein. „Kein Wesen ist perfekt. Nicht einmal Gott“, entgegnete er. „Wir beide sind das beste Beispiel, findest du nicht? Wir haben beide Fehler gemacht.“ Erstaunt schaute Carina ihn an. Was meinte er denn jetzt damit? Natürlich, welche Fehler er ihrerseits meinte, das war glasklar, aber welche Fehler hatte er denn bei sich entdeckt? Am liebsten hätte sie ihn danach gefragt, aber das war weder der richtige Ort dafür, noch der richtige Zeitpunkt. „Ich schätze“, fuhr der Silberhaarige fort und starrte den Engel wieder an, „dass wir von der Kontrolle über den Tod sprechen?“ Grell und Carina zuckten beide zusammen. „Nein, das… das kann nicht sein“, entfuhr es Grell, doch Uriels Schweigen war bereits Antwort genug. Carinas Augen wurden größer, je länger sie über die Bedeutung dieses Satzes nachdachte. Erst jetzt machte es in ihrem Kopf laut und deutlich Klick. „Die Shinigami. Er wollte sie unter seine Kontrolle bringen“, flüsterte sie tonlos. „Ja“, gab der Engel zu. „In Crow hatte er den perfekten Verbündeten gefunden. Er versprach ihm Macht und Schutz, sodass dieser ohne Probleme die Ordnungsabteilung gründen konnte, um noch mehr Shinigami auf die Suche nach Zeitreisenden schicken zu können. Dabei wusste selbst Crow nicht, dass er mit dieser Aktion Samael direkt in die Karten spielte und nur noch mehr Todesgötter unter seinem Kommando versammelte. Bis zum Schluss hat er nicht verstanden, dass auch er nur Mittel zum Zweck war.“ „Warum?“, warf Carina plötzlich scharf in den Raum, sodass alle sie verwundert ansahen. Der Zorn stand ihr ins Gesicht geschrieben. „Du hast ihn und die Shinigami doch die ganze Zeit beobachtet. Du wusstest, was mit den Zeitreisenden geschehen ist, die Crow in die Finger bekommen hat. Er hat sie alle umgebracht, nachdem sie ihm nicht die Wahrheit über seine Zeitreise geben konnten. Jeder einzelne musste sterben, von der vorherigen Folter will ich gar nicht erst anfangen. Wie konntest du das zulassen? Ich weiß, dass Engel nicht die Geschöpfe sind, wie die Menschen sie sich gerne ausmalen, aber die reine Existenz von diesem Samael in seiner jetzigen Form habt ihr allein zu verantworten. Warum setzen die Engel dem kein Ende?“ Grell schaute auf seine beste Freundin hinab und fragte sich unwillkürlich, wann das ehemalige kleine Mädchen, das damals in seine Obhut gekommen war, so erwachsen geworden war. Natürlich hatte er es schon lange gewusst, aber noch nie war es so deutlich hervorgetreten wie jetzt. Ein gequälter Ausdruck trat auf die himmlischen Züge des Boten Gottes. „Auch unter uns Engeln herrschen Regeln. Wie die Shinigami dürfen auch wir uns nicht in die Angelegenheiten der Menschen einmischen. Zudem dürfen wir nicht einfach so gegen andere übernatürliche Wesen vorgehen. Wenn Samael noch ein Engel gewesen wäre, dann hätte ich etwas unternehmen können, aber seit seinem Wandel zum Teufel waren mir die Hände gebunden. Ich hätte erst ab dem Zeitpunkt eingreifen dürfen, ab dem er direkt gegen den Himmel vorgegangen wäre. Aber das ist bis heute nicht passiert. Er hat sich bisher nur in die Angelegenheiten von euch Todesgöttern eingemischt, also fällt das nach unseren Regeln in euren Zuständigkeitsbereich.“ Grell verdrehte genervt die Augen. „William wäre von dieser Wortwahl sicherlich mehr als nur begeistert“, murrte er sarkastisch und stellte sich unbewusst eine bürokratische Diskussion zwischen dem Shinigami und dem Erzengel vor, in der sie über die Zuständigkeit debattierten. Uriel senkte leicht den Kopf. „Ich weiß, das ist keine Entschuldigung. Jedes Mal, wenn er seiner Sache einen weiteren Zeitreisenden geopfert hatte, habe ich mir die Macht gewünscht, um einschreiten zu können.“ Er biss die Zähne zusammen und ballte die Hände zu Fäusten. „Es tut mir leid!“ Carina schwieg. Nicht etwa, weil die Wut in ihrem Inneren nachgelassen hatte. Sondern weil sie einfach nicht wusste, was sie darauf erwidern sollte. Sie konnte Uriel ansehen, dass er unter seiner Hilflosigkeit gelitten hatte. Die 19-Jährige wusste selbst ziemlich genau, wie beschissen es sich anfühlte zur Tatenlosigkeit verdammt zu sein. Aber all das änderte nichts daran, dass vor ihr Dutzende hatten sterben müssen. Und dass auch sie knapp davor gewesen war. Allein bei dem Gedanken wurde ihr ein wenig übel. „Beruhige dich“, dachte sie und atmete einmal tief ein und anschließend wieder aus. „Er ist tot, er kann dir nichts mehr tun, nie wieder. Dafür hast du selbst gesorgt.“ „Es spielt keine Rolle mehr. Jetzt ist es für Reue ohnehin zu spät“, sagte sie schließlich, um das Thema abzuhaken. „Doch, es spielt eine Rolle. Denn auch in Zukunft werde ich nicht eingreifen dürfen.“ „In Zukunft?“, fragte Carina verblüfft, während Cedrics Griff um ihre Schulter etwas fester wurde. Uriels Flügel zuckten kurz. Scheinbar drückte das seine Nervosität aus. „Durch Crows Tod wird der Dispatch sicherlich eine umfassende Untersuchung in der Ordnungsabteilung durchführen. Spätestens dann wird rauskommen, was all die Jahre hinter dem Rücken des Rates gelaufen ist“, sagte Grell. Uriel nickte. „Samael wird euch die Schuld daran geben. Und wenn ich sage, dass er ziemlich nachtragend ist, dann ist das noch nett ausgedrückt. Deswegen bin ich hier. Um euch zu warnen.“ „Soll er doch kommen“, meinte der Bestatter in diesem Moment mit einer so eiskalten Stimme, dass Carina und Grell eine Gänsehaut bekamen. Der Blick des Silberhaarigen war hart, als er den Himmelswächter ansah. „Es ist mir egal, was dieser Teufel von uns will. Es ist mir egal, was er sich von alldem erhofft. Mit Carinas Entführung hat er den größten Fehler seines Lebens gemacht. Und auch den letzten.“ Der Erzengel blinzelte. „Samael ist mächtig“, warnte er den ehemaligen Schnitter. „Das interessiert mich nicht. Wenn er sie verletzt, zerfetze ich ihn mit bloßen Händen.“ Seine gelbgrünen Augen wurden dunkler. „Wenn er sie auch nur anrührt, reiße ich ihm die Eingeweide raus.“ Carina starrte den Mann neben sich fassungslos an. Gleich darauf spürte sie, wie ihr Herz kurz außer Takt geriet und aufgeregt in ihrer Brust hin und her hüpfte. Das klang ja schon beinahe danach, als ob sie ihm etwas bedeuten würde. Die junge Frau wusste nicht so recht, was sie jetzt davon halten sollte. „Ob er sich jetzt so verhält, weil ich die Mutter seines Kindes bin?“, schoss es ihr unwillkürlich durch den Kopf, doch gleich darauf schüttelte sie eben diesen kaum merklich. Dafür war später noch Zeit. Grell hingegen konnte nur schwer an sich halten. Am liebsten wäre er quietschend und mit Herzchenaugen durch die Gegend gesprungen. Wenn das keine Liebeserklärung war, dann wusste er aber auch nicht! „Du weißt doch auch bestimmt, wer hinter meiner Zeitreise steckt, oder?“, stellte Carina die eine Frage, die sie seit ihrer Ankunft in diesem Jahrhundert beschäftigte. Sie konnte sich noch sehr gut darin erinnern, wie sie damals im Bestattungsinstitut Tag und Nacht darüber nachgedacht, darüber nachgegrübelt hatte. Die goldenen Augen fixierten sie erneut. „Willst du es wissen?“ Carina nickte, zögerte nicht eine Sekunde lang. Ein schelmisches Lächeln legte sich auf die geschwungenen Lippen Uriels und mit dem Zeigefinger seiner linken Hand deutete er auf etwas außerhalb ihres Sichtfeldes. „Warum findest du es nicht selbst heraus?“ Die Blondine wandte den Kopf nach hinten und starrte auf die pechschwarze Filmdose, die vergessen am anderen Ende des Raumes auf dem Boden lag. Unwillkürlich musste sie schlucken. „Grell… würdest du…?“, flüsterte sie rau und sofort setzte sich der Rothaarige in Bewegung. Als er wenige Sekunden später wieder an ihrer Seite stand und das Döschen in ihre Hände drückte, schluckte die Schnitterin zum zweiten Mal. Plötzlich fragte sie sich, ob sie die Wahrheit überhaupt wissen wollte. Manchmal konnte Unwissenheit auch ein Segen sein… „Nein“, dachte sie und verfestigte ihren Griff. Keine Ausflüchte mehr, keine Ausreden und erst recht kein Weglaufen. Sie würde diese verdammte Dose jetzt öffnen und sich anschauen, wer oder besser gesagt was sie damals auf dem Friedhof an der Schulter gepackt hatte. Mit einem Ruck, vergleichsweise mit dem schnellen Abreißen eines Pflasters, drehte sie den Deckel und ließ ihn von der Dose wegschnippen. Sogleich strömten ihre Cinematic Records hinaus, nun nicht mehr gelbgrün, sondern ganz normal lesbar. Die Qualität war nicht die Beste, wirkte leicht unscharf, dennoch konnte man die Bilder deutlich erkennen. Die drei Todesgötter beugten sich näher heran, verfolgten neugierig das Geschehen. Carina war es fast schon ein wenig unangenehm, dass sie die Bilder von ihrer Kindheit im Schnelldurchlauf sehen konnten. Wenige Aufnahmen zeigten sie als Baby, dann folgte bereits das Kleinkindalter. Wie ihr Vater ihr das Fahrradfahren beibrachte, wie sie mit einer riesigen grünen Schultüte vor der Grundschule stand, wie sie lesen lernte und bald darauf jedes Buch beinahe verschlang. Der Wechsel auf die weiterführende Schule, das Kennenlernen neuer Freunde und Auszüge aus der Pubertät, die nach Carinas Meinung auch gerne hätten gestrichen werden dürfen. Weitere Bilder zeigten sie im Badeanzug am Strand, andere wie sie mit rauchendem Kopf über ihrer Mathematik Abschlussprüfung saß. Anschließend folgte ihr Abschluss, der schwere und tränenreiche Abschied von ihren Klassenkameraden und der Wechsel auf die nunmehr dritte Schule, wo sie ihr Abitur machen wollte. Ein kurzes Lächeln legte sich auf Carinas Lippen, als sie sich selbst dabei sah, wie sie eingeschüchtert und nervös in dem riesigen Forum der Schule gestanden hatte, niemanden kennend. Doch das Schicksal hatte es an diesem Tag gut mit ihr gemeint. Denn kurz darauf hatte sie sich in ihrer neuen Klasse neben Bianca gesetzt und es hatte keine 10 Minuten gedauert, da waren sie beide bereits in ein angeregtes Gespräch über Naruto verfallen. Ab dieser Stunde waren sie beide unzertrennlich gewesen… „Kann nicht mehr lange dauern“, murmelte sie und tatsächlich. Wenige Sekunden später erschien der Friedhof und natürlich sie selbst, wie sie sich über das Grab ihrer Großeltern beugte. Cedric neben ihr wirkte kurz verblüfft. Die Gräber des 21. Jahrhunderts schienen wesentlich hübscher und aufwendiger zu sein, als die jetzigen. Er erkannte die Carina von vor 3 Jahren sofort wieder, immerhin trug sie die gleichen Sachen wie damals bei ihrer Ankunft in seinem Bestattungsinstitut. Interessiert beobachtete er, wie das Mädchen sich plötzlich umdrehte und ein wenig unruhig ihre Umgebung betrachtete. „Wer ist da?“, rief sie und für einen kurzen Moment war der Bestatter geschockt darüber, wie schüchtern sie sich anhörte. Er hatte ganz vergessen, wie verängstigt sie damals bei ihrer Ankunft im 19. Jahrhundert gewesen war. Der Grund dafür war einfach. Die jetzige Carina würde nicht so reagieren. Die 19-Jährige hatte mittlerweile genug Selbstbewusstsein, um sich in den meisten Situationen zu helfen zu wissen. Manchmal hatte sie sogar mehr Selbstbewusstsein als gut für sie war, wenn er ehrlich zu sich selbst war. Wie in Zeitlupe sah Carina ihr 16-jähriges Ich losgehen, den Eimer fest mit beiden Händen umklammernd. Oh ja, sie erinnerte sich an diesen Moment, als wäre es gestern gewesen. Wie sehr sie die Geräusche und Schritte um sich herum erschrocken hatten, obwohl sichtlich keiner in der Nähe gewesen war, um sie zu verursachen. Wie sie daraufhin ihre Schritte nur noch beschleunigt hatte, genau wie jetzt in den Cinematic Records. Die Blondine schluckte schwer. Jetzt, jetzt gleich… Carina konnte ein bestürztes Aufkeuchen nicht unterdrücken, als sie die Hand samt Krallen sah, die sich um ihre rechte Schulter legte. Beinahe war ihr so, als könnte sie sie wieder auf ihrer Haut spüren. Neben ihr zuckte Grell furchtbar zusammen und auch Cedric wirkte angespannter als normal, wobei er sich natürlich kaum etwas anmerken ließ. Eine weitere Hand erschien im Bild, schlug sie einmal hart in den Nacken, sodass ihr jüngeres Ich sofort bewusstlos in sich zusammensackte. Carina senkte ihren Blick und lächelte leicht. Irgendwie erleichterte die junge Frau diese Szene. Sie hatte nie eine wirkliche Chance gehabt… „Ist… ist das nicht…“, fragte Grell plötzlich fassungslos und sofort wusste die Schnitterin, dass jetzt der Moment der Wahrheit gekommen war. Mit pochendem Herzen richtete sie ihre Augen wieder nach oben, um noch im gleichen Augenblick ebenso fassungslos zu werden wie Grell. Für eine Sekunde hatte sie sogar das Gefühl, dass ihr Herz einfach aufhörte zu schlagen, um diesen äußerst seltsamen Moment der Erkenntnis noch in die Länge zu ziehen. Die krallenbesetzten Hände hatten sich verändert. An ihre Stelle waren weiße Handschuhe gerückt, die in die pechschwarzen Ärmel eines Fracks übergingen. „Das… das kann doch nicht…“, murmelte sie und starrte voller Entsetzen auf Sebastian, der ihr jüngeres Ich auffing und noch im gleichen Moment leicht den Kopf drehte, um mit irgendjemandem hinter ihm zu reden, der aber nicht mehr im Bild auftauchte. Dieses wurde direkt danach schwarz und setzte erst wieder bei der Szene ein, als sie vollkommen verwirrt in einer der kleinen Gassen Londons aufgewacht war. Sebastian. Ausgerechnet Sebastian! Carinas Atem wurde deutlich schneller, ihre Schultern verkrampften sich. Natürlich hatte sie es damals im Weston College – als sie die Kekse gebacken hatte – einmal in Erwägung gezogen, dass es vielleicht Sebastian gewesen sein könnte, der sie damals auf dem Friedhof überwältigt hatte. Immerhin war da immer noch die ungeklärte Tatsache, dass er sie einmal vor einem Auto gerettet hatte. Dennoch, wirklich daran geglaubt hatte sie nicht. Was sollte der Teufel denn bitteschön für einen Grund haben? In ihrem trance-ähnlichen Zustand bekam sie gar nicht mit, wie Grell ihre Cinematic Records wieder in die Filmdose zurückfließen ließ. Besorgt schaute er seine ehemalige Schülerin an, auf deren Stirn sich kalter Schweiß gebildet hatte. Generell sah sie überhaupt nicht gut aus. „Aber warum… warum hat er…“, begann sie zu stammeln und atmete nun hörbar noch schneller. Es fühlte sich an, als hätte ihr Gehirn Schwierigkeiten damit die ganzen anfallenden Informationen richtig zu verarbeiten. Fühlte sich so ein Nervenzusammenbruch an? Die Seelensammlerin zuckte fürchterlich zusammen, als sich auf einmal eine Hand auf ihre linke Wange legte und sie zwang nach rechts zu sehen, direkt in diese unglaublich gelbgrünen Augen, in die sie sich so verliebt hatte. „Beruhige dich“, meinte er so ruhig, dass sie automatisch langsamer atmete. Ihre Augen schlossen sich und sie nach ein paar tiefe, bewusste Atemzüge. Noch währenddessen spürte Carina, wie Cedrics Hand ihre Wange verließ, was ihr irgendwie so ganz und gar nicht in den Kram passte. Nach einigen Sekunden öffnete sie ihre Augen wieder und widmete ihren Blick sofort Uriel, der sie aufmerksam beobachtete. „Warum sollte Sebastian mich in diese Zeit zurückschicken? Und warum ist er überhaupt dazu in der Lage?“ „Deine zweite Frage lässt sich relativ leicht beantworten“, begann der Engel. „Dämonen sind grundsätzlich nicht dazu in der Lage Menschen in der Zeit zurückzubefördern. Aber Engel eines hohen Ranges schon.“ Carina begriff schnell. „Also hat Sebastian diese Fähigkeit von seinem Vater geerbt?“ Uriel nickte bestätigend. „Zu meinem größten Bedauern ja. Es ist immer gefährlich mit der Zeit zu spielen, daher wäre es mir lieber gewesen, wenn diese Fähigkeit allein bei Samael geblieben wäre.“ „Schön und gut“, antwortete sie, „aber was ist mit meiner ersten Frage? Ich nehme an, sie haben Mittel und Wege um in die Zukunft zu sehen und haben das bezüglich mir bereits getan. Warum also hat dieser Teufel“, sie deutete mit dem Finger auf Sebastian, „mich ins 19. Jahrhundert verfrachtet?“ Ein Lächeln legte sich urplötzlich auf die Lippen des Engels. „Weil du ihn darum gebeten hast.“ Sofort breitete sich eine Stille im ganzen Raum aus, die unangenehmer nicht hätte sein können. „Was?“, stieß Carina schließlich hervor und war sich sicher, noch niemals so entsetzt geklungen zu haben. Jetzt hatte sie endgültig den roten Faden verloren. „Wie soll das bitteschön gehen?“, rief sie aus. „Ich habe Sebastian vor dieser Sache überhaupt nicht gekannt, wie also hätte ich ihn darum bitten sollen?“ „Du verstehst mich falsch. Du wirst ihn noch darum bitten. In der Zukunft.“ „In der–“ Und mit einem Mal verstand Carina. Nicht ihr 16-jähriges Ich hatte Sebastian darum gebeten. Sie selbst würde es tun, zu irgendeinem Zeitpunkt vor dem Jahr 2015. „Aber… warum sollte ich…“, stotterte sie, doch Uriel schüttelte den Kopf. „Ich darf dir nicht mehr dazu sagen. Den Rest musst du selbst herausfinden.“ Die Blondine presste die Lippen zusammen. Langsam gingen ihr die Engel mit ihren dämlichen Regeln auf die Nerven… „Ich verstehe es nicht. Warum sollte ich mir selbst so etwas antun? All das… Das kann ich doch unmöglich gewollt haben. Nein… richtiger wäre wohl: Das kann ich doch nicht wollen. Ich hab’s ja noch nicht getan“, dachte sie und bekam von diesem ganzen Wirrwarr so langsam Kopfschmerzen. „War’s das dann?“, schnappte Grell auf einmal, scheinbar war ihm die Geduld ausgegangen. „Wir wissen jetzt, dass wir uns vor diesem Samael in Acht nehmen müssen. Irgendwie bekommen wir das schon hin, so wie sonst auch immer, aber falls sonst nichts ist würde ich jetzt gerne endlich von hier verschwinden. Carinas Wunden müssen dringend versorgt werden.“ „Ich werde schon nicht sterben, Grell“, murmelte Verletzte augenverdrehend und handelte sich dafür einen bösen Blick des Rothaarigen ein, der sie verstummen ließ. Okay, Grell hatte wohl wirklich keine Geduld mehr… „Da wäre nur noch eine Sache, die ich gerne mit Carina besprechen würde“, entgegnete der Erzengel und ehe irgendjemand im Raum etwas dagegen unternehmen konnte, schnippte er zum nunmehr dritten Mal mit seinen Fingern. Grelles Licht flutete den Raum, sodass sie drei Todesgötter dazu gezwungen waren die Augen zu schließen. Als sie sie wieder öffneten, fielen ihre Reaktionen alle unterschiedlich aus. Grell zog scharf die Luft ein, Cedric stieß ein scharfes „Was zum…“ hervor und Carina? Carina gab keinen Ton von sich, es hatte ihr schier die Sprache verschlagen. Zwischen ihnen und Uriel befand sich eine Säule aus Licht, die Carina an das Gefäß erinnerte, in dem Claudia Phantomhive ruhte. Nur mit dem großen Unterschied, dass sich in dieser Säule nicht die Leiche der toten Phantomhive befand, sondern… „Was soll das?“, kreischte Grell in diesem Moment los und zeigte mit seiner rechten Hand fassungslos auf die Säule. „Warum befindet sich Carinas Körper in deinem Besitz?“ Carina war mehr als froh, dass Grell das Wort „Leiche“ nicht benutzte, aber so war es leider. Geschockt starrte sie auf ihren eigenen leblosen Körper. Sie trug das schwarze Kleid von damals, ebenso die Strumpfhose und die Schnürstiefel. Allerdings war der Stoff auf der linken Seite ihrer Brust zerrissen und blutverschmiert. Automatisch wanderte ihre Hand zu ihrer Brust, wo sich die lange Narbe direkt über ihrem Herzen befand. Die 19-Jährige konnte den Blick nicht von der Säule lösen. Ihr totes Antlitz war bleich, auf ihren Lippen und dem Kinn befand sich ebenfalls Blut. Es gab überhaupt keinen Zweifel. Das war sie, unmittelbar nach ihrem Selbstmord. Das war ihre Leiche! Beim bloßen Gedanken daran wurde ihr schlecht. Auch der Undertaker war gegen seinen Willen ein wenig blass um die Nase geworden. Normalerweise konnte er Toten immer irgendetwas abgewinnen, eine gewisse Schönheit oder sogar ernsthaftes Interesse. Aber nicht hier! Das war ein Bild, das er lieber nicht betrachten wollte. Der Anblick der 16-jährigen Toten behagte ihm ganz und gar nicht. „Jetzt verstehe ich wenigstens endlich, was nach meinem Tod mit meiner Leiche passiert ist“, meinte Carina trocken, aber mit verengten Augen. „Was hat das zu bedeuten? Wozu hast du meinen Körper verwahrt?“ „Für genau diesen Moment. Um Wiedergutmachung zu leisten“, erwiderte Uriel und schaute sie ernst an. „Du musst wissen, dass wir Erzengel die Möglichkeit haben eine Zeitreise rückgängig zu machen, solange wir den Körper des Zeitreisenden haben.“ Carina erstarrte. Die beiden Männer links und rechts von ihr ebenfalls. „Was?“, hauchte sie und konnte die Bedeutung dieser Worte einen Moment lang nicht richtig verarbeiten. „Wenn du es möchtest, kann ich dich zurückschicken. Zurück in deine Zeit“, sagte der Engel ruhig. „Dir muss aber bewusst sein, dass du in diesem Prozess deine kompletten Erinnerungen an diese Zeit verlieren würdest. Du würdest in deinem 16-jährigen Körper erwachen, ohne diese Narbe und ohne die Spur einer Ahnung, was dir geschehen ist. Für dich würde es sich anfühlen, als wärst du nur in eine kurze Ohnmacht gefallen.“ Das Gold in seinen Augen wurde wärmer, freundlicher. „Du wärst wieder ein Mensch und könntest noch einmal ganz von vorne anfangen. Ein normales Leben führen.“ Wie in Trance erhob Carina sich, den explodierenden Schmerz in ihrem Rücken ignorierend. Sie trat näher an die Säule heran, bis nur noch wenige Zentimeter sie von dem Körper darin trennten. Tief einatmend streckte sie die Hand aus und berührte das Licht, das sich unter ihren Fingern wie Glas anfühlte. Ganz von vorne anfangen… Ein normales Leben führen… Hinter ihr biss Grell sich so hart auf die Lippe, dass es wehtat. Natürlich, er wusste, was diese Möglichkeit Carina bedeuten musste. Aber er wollte nicht, dass sie ging. Allein der Gedanke machte ihn halb wahnsinnig. Vielleicht war er einfach nur egoistisch, aber er wollte seine selbsternannte kleine Schwester auf keinen Fall verlieren. Neben ihm dachte der silberhaarige Bestatter haargenau das Gleiche. Er hatte damals hautnah miterlebt, wie sehr das deutsche Mädchen in ihre Zeit zurückkehren wollte, aber keinen Weg gefunden hatte. Ebenso wenig wie Antworten auf all ihre Fragen. Und jetzt… jetzt hatte sie beides. Sein Herz krampfte sich bei der bloßen Vorstellung daran, dass sie nun einfach so verschwinden könnte, schmerzhaft zusammen. Selbst, wenn er sie durch glückliche Umstände im Jahr 2015 wiederfinden sollte, würde sie sich nicht an ihn erinnern. Am liebsten würde er einen Schritt nach vorne treten und sie von der Säule wegziehen, sie an sich drücken und ihr sagen, dass sie nirgendwo hingehen sollte. Dass er sie nicht gehen lassen würde. Aber der Shinigami blieb stumm. Diese Entscheidung gehörte Carina allein, so schwer es ihm auch fiel. Er betrachtete ihr Gesicht aufmerksam, versuchte irgendeine Regung auszumachen, die ihm verriet, was in ihr vorging. Carina hatte die Augen geschlossen, schien über die neuesten Erkenntnisse nachzudenken. Hatte sie etwa schon eine Entscheidung getroffen? Malte sie sich gerade gedanklich aus, wie schön es wäre endlich ins 21. Jahrhundert zurückzukehren? Der Silberhaarige wurde aus seinen eigenen Gedanken gerissen, als sich der Mund der 19-Jährigen plötzlich zu einem Lächeln verzog und sie die Augen langsam wieder öffnete. Was zum… Carina schaute den Engel lächelnd an. „Vielen Dank für das Angebot“, sagte sie und meinte es ehrlich. „Aber ich kann es nicht annehmen.“ „WAS?“, schrie Grell und lenkte die junge Frau dadurch von Uriel ab, der seltsam wenig überrascht wirkte. „Bist du dir da auch wirklich sicher, Carina? Ich meine… natürlich will ich, dass du hierbleibst, aber hast du nicht ewig auf diese Chance gewartet? Wolltest du nicht immer in deine eigene Zeit zurück?“ Als sie ihm antwortete, lag immer noch dieses kleine Lächeln auf ihren Lippen. Es wirkte beinahe so, als wäre sie in irgendeiner Art und Weise erleichtert. „Um ganz ehrlich zu sein, habe ich schon seit 2 Jahren nicht mehr ernsthaft darüber nachgedacht wieder in meine Zeit zurückzureisen, Grell. Einfach aus dem Grund, weil ich es nicht für möglich hielt, immerhin war in der Zwischenzeit so viel passiert. Allein schon durch meinen Selbstmord und die anschließende Ausbildung ist das Ganze irgendwie aus meinem Blickfeld gerückt. Und jetzt, wo es so zum Greifen nahe ist… Ich habe wirklich immer gedacht, dass ich jegliche Chance sofort ergreifen würde, aber so ist es schlichtweg nicht mehr.“ Sie richtete ihren Blick erneut auf den schwebenden Körper in der Säule, ihre Hand nach wie vor dagegen gedrückt. „Wenn ich wieder in meine Zeit zurückkehren würde, wäre ich wieder das 16-jährige Mädchen, das ihr hier seht. Aber das hier“, sie drückte ihre Hand fester gegen das Gefäß, „…das hier bin ich nicht mehr. Ich bin nicht mehr das kleine, verängstigte, naive Mädchen von damals und ich möchte es auch nicht wieder werden. Außerdem… was wäre ich denn für eine Mutter, wenn ich einfach so meine Tochter vergessen würde? Nein, das geht nicht.“ Sie wandte sich erneut an Uriel. „Ich habe mit meinem Schicksal Frieden geschlossen. Mein Körper sollte nun endlich in Frieden ruhen dürfen.“ „Du bist dir sicher?“, fragte er noch ein weiteres Mal nach. „Sobald ich deinen Körper freigebe, kann ich dich nicht wieder zurückschicken.“ Carina nickte. „Ich bin mir sicher“, antwortete sie und ließ ihre Hand an der Säule hinabgleiten. Genau einen Wimpernschlag lang dauerte es, da löste sich das Gebilde vor ihr auf, verschwand ebenso schnell, wie es gekommen war. Carina atmete befreit auf, als eine Last von ihren Schultern verschwand, die sie über die letzten Jahre gar nicht richtig wahrgenommen hatte. Hinter ihr tupfte sich Grell die Augen mit einem rosaroten Taschentuch trocken. Wenn Carina nicht so verletzt wäre, hätte er sich am liebsten laut heulend auf sie geworfen und sie mit einer Umarmung erdrückt. Allerdings störte es ihn gewaltig, dass der Totengräber seit dem Auftauchen der Säule kein einziges Wort mehr gesagt hatte, nicht einmal, um Carina davon abzuhalten zu gehen. Wenn sie erst einmal von hier verschwunden waren und in Sicherheit, dann würde er dem ehemaligen Schnitter noch so einiges in Sachen Romantik erklären müssen… Was der Rothaarige jedoch nicht wusste, war, dass dem Bestatter vor lauter Erleichterung kurz schwindelig geworden war. Er hatte gar nicht bemerkt, wie sehr sich sein ganzer Körper verkrampft hatte. Erst jetzt, wo es unwiderruflich feststand, dass Carina in dieser Zeit bleiben würde, löste sich seine Anspannung und etwas, was er schon lange nicht mehr in so reiner Form verspürt hatte, ergriff von ihm Besitz. Glück. Freude. Hoffnung. „Ich sollte nun gehen“, sprach der Himmelswächter und schnippte noch ein letztes Mal mit den Fingern. Sebastian erwachte abrupt aus seinem Dämmerschlaf und wirkte kurz orientierungslos. Dieser Zustand war allerdings nur von kurzer Dauer. Sobald er sich wieder einigermaßen gefangen hatte, warf er dem Erzengel einen gefährlichen Blick zu und fletschte die Zähne. Scheinbar hatte er eine ziemlich genaue Vorstellung davon, was Uriel mit ihm angestellt hatte. Dieser jedoch beachtete den Sohn seines Zielobjektes nicht, sondern wandte sich erneut an die drei Todesgötter. „Wie ich bereits sagte, nehmt euch vor Samael in Acht. Er wird sich rächen wollen und dabei nicht fair spielen. Bleibt also wachsam.“ Sebastian runzelte die Stirn, hatte aber keine Gelegenheit etwas zu sagen, da nun wieder Carina das Wort ergriff. „Warte. Ich… ich habe noch eine Frage an dich.“ Während sie die nächsten Sätze sprach, wurde ihr Gesicht wieder bleicher, das Zittern ihres Körpers setzte wieder ein. „Ich verstehe nicht, was nach Crows Tod passiert ist. Warum haben die Aufzeichnungen ihn so… zerstört? Alice…“, sie keuchte ihren Namen beinahe, „Alice… ist nicht… bei ihr ist das nicht…“ „Menschen werden zu Todesgöttern, weil sie mit ihrem Selbstmord die natürliche Ordnung hintergangen haben“, unterbrach der Engel sie. „Unter bestimmten Umständen kann ihnen allerdings vergeben werden, dass sie ihr Leben selbst beendet haben. Crow wurde zum Zeitpunkt seines Todes nicht vergeben, daher wurde seine Seele von seinen eigenen Cinematic Records verschlungen.“ Carinas Augen weiteten sich. „Bedeutet das, dass… Alice…“ Uriel lächelte sanft und nickte. „Ja. Sie ist jetzt an einem besseren Ort.“ Die Blondine sank zurück auf ihre Knie. Es war kein Trost, nicht mal annähernd und doch… „Unsere Seelen werden niemals dort landen, wo ihre sind. Durch meinen Selbstmord habe ich mir für immer die Chance genommen sie wiederzusehen.“ Dicke Tränen quollen aus ihren Augen und tropften lautlos auf den kalten Steinboden. Vielleicht gab es ja doch so etwas wie einen barmherzigen Gott. Wenn er Alice an einen besseren Ort geschickt hatte, wenn er sie mit ihrer Familie wiedervereint hatte, dann musste es so etwas wie Gerechtigkeit geben. „Danke“, presste sie hervor, konnte nur schwer ein Schluchzen unterdrücken. Uriel nickte. „Viel Glück“, erwiderte er noch und war im nächsten Moment verschwunden. „Lass uns gehen, Carina“, sprach Grell und legte ihr sanft eine Hand auf die Schulter. Angesprochene nickte, wischte sich die Tränen vom Gesicht und keuchte im nächsten Augenblick überrascht auf, als sie plötzlich im Brautstil hochgehoben wurde. Ungläubig schaute sie Cedric an, der sie mit einem Blick ansah, den sie nicht deuten konnte. „Schlaf jetzt. Wir kümmern uns um den Rest“, sagte er und schaute nun zu Sebastian, der nach wie vor alles andere als glücklich aussah. Als Carina jedoch spürbar ihre Finger in seinen Mantel krallte, wandte er sich wieder ihr zu. „Cedric“, flüsterte sie so schwach und leise, das nur er sie verstehen konnte. „Bitte… Alice… ihre Leiche…“, sie holte zittrig Luft, ihre Unterlippe bebte, „ich möchte sie beerdigen…“ „Ich kümmere mich darum“, flüsterte er ebenso leise zurück, seine Augen nahmen nun einen sanfteren Ausdruck an. Mit ihrer letzten, verbliebenen Kraft nickte Carina, schloss die Augen und erschlaffte gleich darauf in seinen Armen. „Sie ist nur ohnmächtig, keine Sorge“, beruhigte der Bestatter Grell, als dieser besorgt an Carinas Seite erschien. Der Rothaarige nickte. „Ein Wunder, dass sie so lange durchgehalten hat. Komm, bringen wir sie hier raus.“ Ein Räuspern hinter ihnen brachte die beiden Shinigami dazu, sich wieder zu Sebastian herumzudrehen. Die Augen des Teufels leuchteten gefährlich rot. „Also“, begann er langsam und spitzte die Lippen zu einem freundlichen Lächeln, das ihm weder Grell noch Cedric abkauften. „Würde mich endlich jemand aufklären?“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)