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Selbstmord ist keine Lösung......oder?

von

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Unangenehme Gespräche

Carina fühlte sich vollkommen schwerelos, als ihr Bewusstsein langsam zu ihrem Körper zurückkehrte. Als hätte man sie in Watte gepackt, hörte und spürte sie alles um sich herum nur sehr gedämpft, ein Teil von ihr schien immer noch nicht ganz wieder aus der Ohnmacht erwacht zu sein. Die junge Frau vernahm Geschrei, was sofort dafür sorgte, dass sie sich verspannte. Was war los? Was hatte sie verpasst? War dieser Samael vielleicht urplötzlich aufgetaucht und kämpfte nun mit Cedric und Grell? Das Geschrei wurde lauter und urplötzlich spürte sie ein Gewicht auf ihrem Brustkorb. Kein unangenehmes Gewicht, gerade einmal spürbar. Jetzt wurde das Schreien mit einem Mal leiser, stufte sich zu einem leisen Quengeln herab. Das Gehirn der jungen Mutter schaltete sich träge wieder ein. Sie kannte dieses Geräusch doch!
 

„Lily!“
 

Flatternd öffneten sich ihre Augen. Sogleich verursachte das einfallende Licht ihr Kopfschmerzen, doch sie zwang sich dazu zu blinzeln und nach und nach wurde die Umgebung schärfer. Als erstes erkannte sie Grell, der sich über sie gebeugt hatte und mit beiden Händen ihre Tochter festhielt, die auf ihrer Brust lag. „Lily“, krächzte sie mit einer Stimme, die sie kaum als ihre eigene registrierte, doch das war jetzt nicht von Bedeutung. Reflexartig schlang sie die Arme um das kleine Baby, sodass Grell zurücktreten und sich auf einen Stuhl neben ihrem Bett setzen konnte. Abgrundtiefe Erleichterung stand ihr ins Gesicht geschrieben. „Oh Gott sei Dank. Gott sei Dank“, murmelte die 19-Jährige erstickt und drückte ihrer Tochter einen Kuss auf die Stirn, wodurch auch das Quengeln schließlich verstummte. Ihrer kleinen Maus ging es gut, ihr war nichts passiert!
 

Einige Sekunden herrschte friedliche Stille, dann schaute Carina zu dem rothaarigen Shinigami, der mehr als nur erleichtert lächelte. „Wie lange war ich-“ „Drei Tage“, beantwortete Grell ihre Frage, woraufhin die Blondine ihn mit geweiteten Augen ansah. „Jetzt schau nicht so, dein Körper hatte es bitter nötig.“ Er seufzte langgezogen. „Die meisten deiner Verletzungen hast du auskuriert, bis auf die vielen Kratzer und Blutergüsse bist du quasi wie neu. Aber dein Rücken…“, er schluckte einmal. „Es tut mir leid, aber wir haben die Schnittwunde zu lange unbehandelt gelassen. Das wird eine Narbe bleiben.“ „Grell“, meinte die Schnitterin, als sie die leidende Miene ihres besten Freundes sah. „es ist doch nur eine Narbe. Ich hätte genauso gut tot sein können. Das ist ein kleiner Preis, den ich jetzt zahlen muss. Also schau nicht so traurig, es gibt weitaus Schlimmeres.“ Außerdem war sie nicht so oberflächlich zu glauben, dass diese Narbe sie entstellen würde. Immerhin kannte sie da jemanden, dessen Narben sie überhaupt nicht störten…
 

„Hilfst du mir, mich aufzusetzen?“, fragte sie und wurde sogleich von Grells Händen vorsichtig in eine aufrecht sitzende Position gezogen. Kurz zuckte sie zusammen, als sie spürte wie die neue Narbe an ihrem Rücken spannte. Scheinbar war sie noch nicht ganz verheilt und würde noch einige Tage schmerzen. Aber das konnte sie ertragen. Es lenkte sie von den Dingen ab, über die sie momentan einfach nicht nachdenken wollte.
 

Der Rothaarige stopfte ihr ein zusätzliches Kissen in den Rücken und als Carina sich in ihrer neuen Haltung halbwegs sicher fühlte, hob sie Lily hoch und drehte sie, sodass das Baby in der üblichen Wiegenhaltung in ihren Armen lag. Die Kleine wandte suchend den Kopf hin und her und Carina verstand das subtile Zeichen sofort. „Hast du ein Problem damit, wenn ich…“, begann sie und deutete zwischen sich und dem Baby hin und her. Der Reaper grinste. „Natürlich nicht. Mach du nur, eine Lady wie ich kann das voll und ganz nachvollziehen.“ Carina konnte nicht anders, sie lachte leise. „Warum frage ich überhaupt?“, gab sie amüsiert von sich und knöpfe sich die Knopfleiste des langen weißes Hemdes auf, das sie derzeit trug.
 

Gierig begann das Mädchen gleich darauf an ihrer Brustwarze zu saugen und wurde automatisch noch ruhiger. „Die Zofe hat sich gut um sie gekümmert, aber sie hat oft geschrien und wollte die Säuglingsmilch nicht so richtig annehmen“, teilte Grell ihr mit, woraufhin sich Carinas Gesichtsausdruck verdüsterte. „Kein Wunder, normalerweise lässt man ein Baby, das noch keine 2 Wochen alt ist, auch nicht von jetzt auf gleich einfach allein.“ Sie strich Lily kurz über das Köpfchen und stieß einen schweren Seufzer hervor. „Es tut mir so leid, kleine Maus.“ „Mach dir keine Vorwürfe. Es ist ja nicht so, als ob du eine Wahl gehabt hättest“, erzürnte sich nun auch Grell. „Ganz ehrlich, hättest du den Mistkerl nicht umgebracht, dann hätte ich es getan.“
 

Erneut schwiegen sie beide, schließlich fragte Carina: „Was hab ich verpasst?“ Grell zuckte mit den Schultern. „Eigentlich nicht viel. Sebas-chan war natürlich alles andere als begeistert davon, dass Uriel ihn außer Gefecht gesetzt hat. Er wollte von uns ganz genau wissen, worüber wir gesprochen haben. Undy hat es ihm grob erklärt, alles was die Zeitreisen angeht aber außen vor gelassen. Er weiß jetzt nur, dass Samael sich mit ziemlich großer Wahrscheinlichkeit an uns rächen will, weil wir seine Pläne mit der Ordnungsabteilung durchkreuzt haben.“ „Er scheint nicht sonderlich gut auf seinen Vater zu sprechen zu sein. Das spielt uns in die Karten, so wird er ihm wahrscheinlich nicht zu Hilfe kommen“, dachte Carina laut nach und zuckte kurz zusammen, als ihre Tochter einmal besonders hart an ihrer Brustwarze zog.
 

„Das würde er ohnehin nicht, er untersteht schließlich immer noch den Befehlen des Phantomhive Jungen. Solange er es ihm also nicht befiehlt, haben wir nichts zu befürchten.“ Carina lachte trocken auf. „Außer einem rachsüchtigen Dämonen, der mal ein Erzengel war und uns jetzt auf seine Abschussliste gesetzt hat.“ „Außer das“, bestätigte Grell mit einem Grinsen, welches die Blondine für vollkommen unangebracht hielt. Manchmal vergaß sie doch wirklich, wie sorglos Grell in Bezug auf seine Gegner war. „Mach dir mal keinen Kopf, Carina. Wir bekommen das schon irgendwie hin. Engel und Dämonen mögen stark sein, aber uns Todesgötter sollte man besser auch niemals unterschätzen.“ Da hatte er wohl auch irgendwie wieder Recht, befand Carina und nickte ihm einmal zu.
 

Allerdings war da noch eine weitere Frage, die sie ihm unbedingt stellen wollte. Eine Frage, von der sie aber nicht wusste, ob sie die Antwort darauf wirklich hören wollte. „Ist… er… also… ist er noch hier?“ Die gelbgrünen Augen ihres Gegenübers beobachteten sie aufmerksam. „Ja, ist er“, antwortete er schließlich und Carina wusste nicht so recht, was sie nun empfinden sollte. Erleichterung oder doch eher Beunruhigung?
 

Lily gab ihr eine gute Gelegenheit, um den Blick zu senken und sich einer Antwort für eine Weile zu entziehen, denn das Baby hatte nun von ihr abgelassen und wirkte so, als würde sie bald wieder einschlafen. Mit zwei geschickten Handgriffen knöpfte sie ihr Hemd wieder zu und legte sich ihr Kind, zusammen mit einem Tuch, über die Schulter, streichelte anschließend sanft den kleinen Rücken. „Früher oder später wirst du mit ihm reden müssen, Carina“, sagte Grell nun sanft, nicht mehr als eine eindeutige Feststellung aussprechend. „Und da du ihn bereits vor drei Tagen ziemlich unschön ignoriert hast, sollte dieses Gespräch definitiv früher anstatt später stattfinden.“
 

Die 19-Jährige wurde ein wenig bleich, als sie sich daran erinnerte, was sie dem Vater ihres Kindes an den Kopf geworfen hatte. „Ich bin dir keine Rechenschaft schuldig…“ Gott, das dürfte einfach nicht wahr sein! Mit diesem Satz hatte sie das Ganze bewusst auf die Spitze getrieben und dabei stimmte er noch nicht einmal. Natürlich war sie ihm Rechenschaft schuldig. Wenn nicht ihm, wem denn sonst?
 

„Scheiße“, fluchte sie leise und kniff die Augen zusammen. Sie hatte absolut keine Ahnung, was sie ihm sagen sollte. „Mach doch nicht so ein Gesicht. Er wird dir schon nicht den Kopf abreißen“, versuchte Grell die Schnitterin zu beruhigen, was diese allerdings nur mit einem Blick konterte, der deutlich ausdrückte, dass sie sich da bei dem Bestatter nicht ganz so sicher war.
 

„Ich habe Angst vor diesem Gespräch, Grell“, gab sie schließlich ehrlich zu und nahm ihre Tochter wieder nach vorne, als diese ihr Bäuerchen gemacht hatte. „Ich habe seit Monaten nicht mehr richtig mit ihm gesprochen und ich weiß nicht, was ich ihm sagen soll.“ „Die Wahrheit“, antwortete Grell ernst und seufzte. „Ehrlich Carina, sei einfach du selbst und antworte das, was dir gerade in den Sinn kommt. Damit bist du meiner Meinung nach bisher immer am besten durchgekommen.“ Er legte ihr eine Hand auf die Schulter und lächelte. „Es ist nicht immer nötig, sich bereits alles vorher im Kopf auszumalen. Manchmal ist es besser, wenn man Dinge bzw. in diesem Fall Gespräche einfach auf sich zukommen lässt.“
 

„Vermutlich hast du Recht“, seufzte sie. Ihr blieb sowieso nichts anderes übrig. Dieses Gespräch war unausweichlich, ob sie es nun führen wollte oder nicht. Weglaufen hatte keinen Sinn mehr. Und das würde Cedric auch nicht zulassen, dafür kannte sie ihn zu gut. Nein, eher würde er sie an diesem Bett festketten, als das er zuließ, dass sie sich ihm ein weiteres Mal entzog.
 

„Carina“, meinte Grell plötzlich mit einer Ernsthaftigkeit, die die Angesprochene direkt nervös machte. „Ich weiß, du möchtest nicht darüber reden und ich würde es dir auch ersparen, wenn ich wüsste, dass dir das helfen würde. Aber irgendwann wirst du darüber sprechen müssen und ich würde eigentlich gerne jetzt wissen, was in deiner Abwesenheit alles passiert ist.“ Ihr Körper verspannte sich automatisch, doch bevor sie auch nur Luft holen konnte, erklang von der Tür eine ihr bekannte Stimme. „Das würde ich allerdings auch gerne wissen.“
 

Ihre gesamte Muskulatur verkrampfte sich nun erst recht, als der silberhaarige Shinigami den Raum betrat, zu ihrer größten Erleichterung jedoch nicht noch näher kam, sondern mit verschränkten Armen im Türrahmen stehen blieb. Sein Blick glitt kurz über sie und das nun wieder schlafende Baby, das sie in den Armen hielt. Kurz huschte eine Emotion durch seine Augen, verschwand jedoch wieder so schnell, dass die Blondine nicht genau wusste, wie sie sie zuordnen sollte. Überhaupt war es komisch für sie, dass er plötzlich hier war und alles wusste. Fast schon bedauerte sie, dass sie nicht dabei gewesen war, als er Lily zum ersten Mal gesehen hatte. Sobald sie mit Grell allein war und sich der passende Zeitpunkt ergab, würde sie ihn unbedingt danach fragen müssen.
 

„…Na gut“, gab sie sich schließlich geschlagen und ihre Schultern sackten automatisch ein wenig herab. Carina wusste, dass sie darüber sprechen musste, aber allein der Gedanke daran schnürte ihr die Kehle zu. „Wo soll ich anfangen?“
 

Nach einigen Sekunden Stille fragte Grell schließlich: „Wie hat er es überhaupt geschafft dich zu entführen? Es gab keinerlei Kampfspuren am See.“ „Es kam gar nicht zu einem Kampf. Er hat mir das Genick gebrochen, bevor ich in der Hinsicht irgendetwas versuchen konnte“, entgegnete Carina monoton und zuckte einmal kurz mit den Schultern. „Hat gar nicht mal wirklich wehgetan, bis auf die Nackenschmerzen beim Aufwachen vielleicht.“ Beide Männer hoben jeweils eine Augenbraue, denn beide hatten sie das Gefühl, dass die junge Frau versuchte das Ganze herunterzuspielen. „Und dann bist du in diesem Bunker aufgewacht?“
 

„Ja“, begann Carina langsam, während ihr die passenden Bilder dazu durch den Kopf geisterten. „In einer Zelle, gefesselt an eine Art Liege. Crow hat auch nicht lange auf sich warten lassen und ist reingekommen, um sich über meinen fassungslosen Gesichtsausdruck lustig zu machen, als ich ihn erkannt habe. Und dann…“, sie ging die Erinnerung Stück für Stück durch, „dann hat er mich geohrfeigt. Zweimal. Anschließend-“ Grell zog scharf die Luft ein, doch Carina ließ sich nicht unterbrechen. Je schneller sie das hier hinter sich bringen würde, desto besser! „-hat er angefangen mir die ganze Geschichte zu erzählen. Dass er ebenfalls aus der Zukunft kommt und seit Jahrhunderten versucht wieder in seine eigene Zeit zurückzukehren. Allerdings hatte er – ebenso wenig wie ich – eine Ahnung, wie er das anstellen soll. Also kam er auf die dämliche Idee andere Zeitreisende, die sich ebenfalls das Leben genommen hatten, zu entführen und in ihren Cinematic Records nachzuschauen, wie sie in diese Zeit gelangt sind. Um so vielleicht herausfinden zu können, wie man im Umkehrschluss wieder zurückkehren kann.“
 

„Das frage ich mich schon die ganze Zeit. Wie hat er es denn bitteschön geschafft, die Cinematic Records von einem Shinigami zu lesen?“, fragte Grell und auch Cedric schien mehr als nur interessiert an dieser Information zu sein. „Er meinte, dass die Seele eines Shinigami einen instinktiven Abwehrmechanismus hat, weil sie wesentlich robuster ist als die eines Menschen. Um diesen Abwehrmechanismus außer Kraft zu setzen, muss man den Geist desjenigen brechen, dessen Erinnerungen man haben will.“ Den zwei Todesgöttern schien plötzlich ein Licht aufzugehen. „Deswegen hat er Alice getötet?“, flüsterte der Rothaarige leise, woraufhin Carina lediglich nicken konnte. Der Schmerz, der daraufhin in ihrer Brust aufflackerte, raubte ihr den Atem. Erneut schob sie den Gedanken weit von sich.
 

„Aber er hat es zuerst auf andere Weise versucht, nicht wahr?“, äußerte Cedric und fixierte die 19-Jährige mit seinen gelbgrünen Augen. „Ja“, murmelte sie. Jede einzelne seiner Methoden konnte Carina deutlich vor ihrem inneren Auge sehen. Es war, als könnte sie die Schläge und Schnitte wieder auf ihrer Haut spüren. „Er hat dich gefoltert?“, fragte der Bestatter, obwohl es eigentlich keine Frage war, sondern eine Feststellung. „Ja“, gab sie leise von sich. Cedrics Kiefer verkrampfte sich vor Zorn, als er noch an etwas ganz anderes dachte. „Er hat dich angefasst?“, meinte er weiterhin mit mühsam kontrollierter Stimme, woraufhin Grell sich ebenfalls anspannte. Carina schluckte, als sie die Erinnerung mit voller Wucht traf. Ihr wurde übel.
 

„Ja“, presste sie hervor und drückte sich ihre geschlossene Faust seitlich gegen den Mund, um die aufsteigende Magensäure zu unterdrücken. Es schien glücklicherweise zu funktionieren, denn Carina hätte sich nur ungern vor Cedric und Grell übergeben und außerdem hatte sie immer noch Lily auf dem Arm.
 

Grell öffnete langsam den Mund, traute sich kaum die Worte auszusprechen, doch Carina unterbrach ihn mit einem Kopfschütteln. „Nein, hat er nicht“, beantwortete sie die unausgesprochene Frage und konnte genau sehen, wie die Spannung aus den Schultern der beiden Männer wich. Sie lächelte schwach. „Im Nachhinein wäre mir das tatsächlich lieber gewesen als das, was er dann schlussendlich gemacht hat“, wisperte die Schnitterin, gab den anderen Todesgöttern aber keine Gelegenheit das eben Gesagte zu kommentieren. „Na ja, jedenfalls hat er es schlussendlich geschafft und meine Cinematic Records eingescannt. Der Rest ist schnell erzählt. Ich hab es geschafft mich zu befreien, hab Elizabeth mit mir genommen, wir haben meine Cinematic Records zurückgeholt und haben dann gegen die Bizarre Dolls gekämpft, woraufhin ihr gekommen seid. Ende der Geschichte.“
 

Cedric und Grell bezweifelten stark, dass das das Ende der Geschichte war, sagten aber nichts dazu. Wenn Carina Zeit brauchte, um das Ganze zu verarbeiten, dann sollte sie diese auch bekommen.
 

„Mal eine ganz andere Frage. Warum hat der Kerl eigentlich auch Elizabeth Midford entführt?“ Grells Frage warf Carina völlig aus der Bahn. Scheiße, daran hatte sie überhaupt nicht mehr gedacht! Crow hatte Elizabeth schließlich nur entführt, um nachweisen zu können, dass sie tatsächlich die Vorfahrin von Carina war. Aber das konnte sie jetzt schlecht sagen, vor allem Cedric nicht. Andererseits hatte sie so überhaupt keine Lust, sich jetzt noch eine Ausrede einfallen zu lassen. Die hatte es in der Vergangenheit mittlerweile genug gegeben. „Nehmt es mir nicht übel, aber… darüber würde ich gerne ein anderes Mal sprechen“, erwiderte sie vorsichtig und senkte ihren Blick auf Lily herab, um Cedric nicht ansehen zu müssen.
 

Dieser hob eine Augenbraue und schaute Grell an, der aber lediglich mit den Schultern zuckte. „In Ordnung“, antwortete der Silberhaarige schließlich. Immerhin hatte sie ihn nicht wieder angelogen und früher oder später würde sie schon mit der Sprache rausrücken. Sowieso gab es für ihn momentan viel wichtigere Dinge zu klären als die Frage, was Elizabeth Midford nun für eine Rolle bei dem Ganzen gespielt hatte.
 

„Ich habe deine Freundin in der Nähe des Sees beigesetzt“, meinte er, woraufhin Carina ihn das erste Mal wieder richtig ansah. „…Danke“, flüsterte sie und schloss kurz die Augen, um die nun aufsteigenden Tränen zu unterdrücken. Weinen wollte sie gerade ebenso wenig wie sich übergeben.
 

Durch ihre geschlossenen Augen bekam die Shinigami daher nicht mit, wie der Totengräber Grell einen eindeutigen Blick zuwarf, den man definitiv nicht falsch verstehen konnte. Der Rothaarige erhob sich und trat näher an seine beste Freundin heran. „Lily sieht so aus, als könnte sie frische Luft vertragen. Ich entführe sie dir mal für einen kleinen Spaziergang, ja?“ Carina – vollkommen verblüfft – nickte irritiert und ließ sich das Kind abnehmen, bemerkte aber sogleich ihren Fehler. Wenn Grell und Lily nach draußen gingen, dann wären nur noch sie hier und…
 

Grell konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen, als sie ihm einen teils geschockten, teils einen „Du-mieser-Verräter“ Blick zuwarf. Bevor sie auch nur ein weiteres Wort sagen konnte, war der Schnitter bereits aus dem Raum verschwunden. Wenige Sekunden später fiel auch die Haustür hörbar ins Schloss.
 

Die Stille, die daraufhin folgte, war – um es freundlich auszudrücken – ohrenbetäubend.
 

Carina hatte keine Ahnung, wo sie hingucken sollte, also starrte sie ihre schneeweiße Bettdecke nieder und konnte ihren eigenen Fingern dabei zusehen, wie sie sich verkrampft in der Bettwäsche vergruben. Langsame Schritte ertönten und aus den Augenwinkeln konnte die junge Mutter sehen, wie Cedric sich auf den Stuhl neben ihrem Bett niederließ, jedoch den gebührenden Abstand einhielt. Ihr Hals wurde mit einem Mal furchtbar trocken. So musste sich wohl ein in die Enge getriebenes Tier fühlen…
 

Cedric hingegen erinnerte diese Situation stark an das letzte, richtige Gespräch, das er mit Carina geführt hatte. Auch in dem Café hatte sie nicht von sich aus gesprochen, sondern immer nur auf seine Fragen reagiert. Das hier würde wohl ähnlich ablaufen, aber ihm sollte es nur recht sein. Solange er endlich mal ein paar Antworten bekam! Allerdings überraschte Carina ihn – wie so oft – in der Hinsicht ein weiteres Mal.
 

„Also, leg los“, sagte sie plötzlich und schaute vorsichtig auf. Er hob eine Augenbraue. „Leg los?“, fragte er verständnislos, woraufhin die junge Frau mit den Schultern zuckte. „Na ja, du willst Antworten, oder etwa nicht? Dann solltest du mir Fragen stellen. Ich kann mir denken, dass du nicht sonderlich gut auf mich zu sprechen bist, also sollten wir das Ganze so schnell wie möglich-“ „Wundert dich das etwa?“, unterbrach er sie und sein ruhiger Ton strahlte etwas Bedrohliches aus, was sie kurz zusammenzucken ließ. „Nach allem, was du mir verschwiegen hast?“ „Ich hatte meine Gründe“, entgegnete sie verteidigend. „Schön, fangen wir doch damit an“, schleuderte er ihr entgegen, seine schönen Augen funkelten sie an.
 

Carina starrte ihn an, brachte auf einmal kein Wort mehr heraus. Wo sollte sie anfangen? Wie sollte sie es ihm irgendwie begreiflich machen? „Ich… ich konnte es dir einfach nicht sagen“, antwortete sie überfordert und wandte ihren Blick erneut der Bettdecke zu. „Und wieso nicht? Du bist den gesamten Weg nach Baden-Baden gekommen, um es mir zu sagen, richtig? Und als du mich dann endlich gefunden hattest, hast du einen Rückzieher gemacht. Warum?“ „Hat Grell dir nichts gesagt?“, antwortete sie ihm mit einer Gegenfrage, doch der Silberhaarige ließ sich nicht ablenken. „Nur, dass du über Vincent Bescheid weißt. Was ich allerdings auch gerne von dir selbst erfahren hätte. Genauso wie die bloße Tatsache, dass wir ein gemeinsames Kind haben.“ Nun schwang offener Zorn in seiner Stimme mit und Carina konnte es ihm nicht einmal übel nehmen.
 

Ihre Fingernägel bohrten sich mittlerweile fast schmerzhaft in ihre Handinnenflächen. „Nachdem ich dein Gespräch mit diesem Diederich belauscht hatte – guck nicht so, du hättest genau das Gleiche getan – kam in mir so ein Verdacht auf, dass es eine Verbindung zwischen Claudia und Vincent Phantomhive geben könnte. Und, dass Vincent möglicherweise mehr für dich war, als nur der vorherige Wachhund der Königin. Da habe ich Grell gebeten mir das Stammbuch der Familie Phantomhive zu bringen. Ich schätze mal, du kannst dir denken, was da drin stand.“ Er nickte. „Das erklärt aber immer noch nicht, warum diese Erkenntnisse dazu geführt haben, dass du deine Meinung geändert hast.“
 

„Verdammt Cedric, willst du mich denn nicht verstehen?“, zischte sie ihm aufgebracht entgegen, denn er gab ihr das Gefühl sich für ihre Taten rechtfertigen zu müssen. Also schleuderte sie ihm dieselben Worte entgegen, die sie damals bereits Grell gesagt hatte. „Ich habe gesehen, wie du geweint hast. Um deinen toten Sohn.“ Angesprochener verkrampfte sich ein wenig. Diesen einen Moment der Schwäche hätte sie nicht sehen dürfen. Aber sie hatte es gesehen und ihre Schlüsse daraus gezogen.
 

„Selbst jetzt noch hast du mit dem Schmerz über seinen Tod zu kämpfen, das konnte ich in deinen Augen sehen. Glaubst du tatsächlich, ich wollte dir das nochmal antun? Lily ist ein Mensch und selbst, wenn sie ein langes und glückliches Leben führen sollte, wird irgendwann der Zeitpunkt kommen, wo sie sterben wird. Wie hätte ich dir diese Bürde ein weiteres Mal auferlegen können?“
 

Cedric starrte sie stumm an, war schlichtweg sprachlos. Mit solchen Gedanken ihrerseits hatte er nicht gerechnet. Wobei er nun wenigstens einige ihrer Handlungen besser nachvollziehen konnte.
 

„Außerdem“, fügte Carina plötzlich noch hinzu und schaute ihn erneut nicht an, „wollte ich nicht, dass du dich verpflichtet fühlst wegen dem Baby bei mir zu bleiben. Oder deine Pläne aufzugeben.“ Die Sorge, dass er sie deswegen irgendwann hassen könnte, sprach sie bewusst nicht aus. Dieses Gespräch hier war schon peinlich genug, da würde sie ihm garantiert nicht ein zweites Mal auf die Nase binden, dass sie ihn liebte. Obwohl das inzwischen wohl mehr als offensichtlich sein dürfte.
 

„Das, was du sagst, mag alles stimmen“, bekannte er ruhig, was die 19-Jährige irgendwie erleichterte. „Dennoch, du hättest es mir sagen müssen. Es ist meine Entscheidung, ob ich mich um meine Tochter kümmern möchte. Nicht deine.“ Carina kniff die Lippen zusammen. „Das ist mir inzwischen auch klar geworden“, gestand sie ihre Schuld ein und nahm all ihren Mut zusammen, um im nächsten Moment über ihren eigenen Schatten zu springen. „Es tut mir leid. Damals schien es mir das Richtige zu sein.“ Kurz herrschte Schweigen, dann antwortete er: „Fehler zu machen ist menschlich und du bist noch jung. Selbst in meinem Alter kann man noch genügend Fehler machen, das habe ich im Umgang mit dir wohl auch schon bewiesen, nicht wahr?“
 

Ein schwaches Lächeln legte sich auf ihre Lippen. „Ja, kann man so sagen“, erwiderte sie und wusste erneut nicht so recht, was sie jetzt sagen sollte. Obwohl sie über das Meiste jetzt endlich gesprochen hatten, war da immer noch eine gewisse Distanz zwischen ihnen. Wahrscheinlich war das etwas, was nur mit der Zeit vergehen würde.
 

„Hör mal“, begann sie schließlich vorsichtig und holte tief Luft; wappnete sich auf das Folgende. „Du kannst Lily jederzeit sehen. Ich möchte, dass sie einen Vater hat und dich kennenlernt.“ Die Schnitterin machte eine kurze Kunstpause, ließ ihre Worte auf ihren Gegenüber wirken. „Aber ich möchte nicht, dass sie mit deinen Plänen in irgendeiner Form in Berührung kommt. Weder mit deinen Bizarre Dolls, noch mit sonstigen Experimenten. Sobald ich merke, dass sie irgendetwas davon mitbekommt, bekommen wir beide Probleme miteinander.“ Sie sprach in einem ruhigen Tonfall, aber er konnte klar und deutlich erkennen, wie ernst es ihr damit war. Trotzdem gab es da etwas, was sie noch nicht wusste.
 

„Es wird keine Experimente und Pläne mehr geben.“
 

Carina runzelte sogleich irritiert die Stirn, ihre Augen wurden merklich weiter. „Wie bitte?“, fragte sie komplett überfordert nach, konnte nicht glauben, was sie da soeben gehört hatte. Ihr Gehirn musste ihr einen Streich spielen. Oder er meinte mit seinen Worten etwas vollkommen anderes; etwas, auf das sie momentan nicht kam. Nie und nimmer konnte er das gemeint haben, was sie darunter verstanden hatte.
 

Cedrics Blick wurde eine Spur weicher. „Du bist nicht die Einzige, die sich ihre Gedanken zu der Zukunft gemacht hat.“ Tatsächlich hatte er in den letzten drei Tagen ständig an die Worte denken müssen, die Carina an den Erzengel gerichtet hatte.
 

„Ich habe mit meinem Schicksal Frieden geschlossen. Mein Körper sollte nun endlich in Frieden ruhen dürfen.“
 

Es war ihm einfach nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Genauso wenig wie die Erkenntnis, dass er sich tatsächlich in sie verliebt hatte. Hieß es nicht eigentlich, dass Menschen – und auch Todesgötter – aus ihren Fehlern lernten? Wie hatte es ihm dann erneut passieren können? Nach all dem Schmerz und der Trauer, wie hatte er nach Claudias Tod erneut solche Gefühle für eine Frau entwickeln können? Sein Verstand sträubte sich gegen die bloße Tatsache, aber sein ganzer Körper reagierte automatisch auf ihre Nähe. Es war sinnlos es noch länger zu leugnen. Und er sollte verdammt sein, aber Carina liebte ihn auch und sie hatten ein Kind und er wollte verflucht nochmal mit ihr zusammen sein…
 

„Ich werde meine Forschungen einstellen. Und bevor du dir jetzt Sorgen machst, dass ich das nur mache, weil ich jetzt von Lily weiß und mich verantwortlich fühle: Ich habe schon seit einiger Zeit Zweifel“, gestand er und dachte an seinen Aufenthalt in Frankreich zurück. „Mittlerweile bin ich mir ziemlich sicher, dass es nicht möglich ist Tote wieder zurückzuholen. Jedenfalls nicht so, wie sie einmal waren. Sicherlich, ich könnte ihren Körper wiederherstellen, mit ihren Erinnerungen und es vielleicht auch so weit bringen, dass sie sich verhält wie ein ganz normaler Mensch. Aber ohne die Seele, ohne die richtige Seele, wäre es trotzdem nicht meine Claudia.“ In den letzten Jahrzehnten hatte er bereits so viele seiner Ideen in die Tat umgesetzt, doch hatte es nie gereicht. Vielleicht hatte Carina Recht. Vielleicht waren Tote wirklich nicht dazu bestimmt ins Leben zurückzukehren. Vielleicht… sollte er Claudia auch endlich in Frieden ruhen lassen.
 

Und als er in den letzten Tagen darüber nachgedacht hatte, hatte er sich selbst dabei ertappt, wie der Gedanke daran ihn nicht wie früher in einen endlosen Abgrund voller Leere und Trauer zog. Natürlich, Claudias Tod tat immer noch weh, furchtbar weh und würde vermutlich auch immer wehtun. Aber er merkte selbst – und auch hier hatte leugnen keinen Zweck – dass es jetzt etwas anderes gab, was sein ganzes Bewusstsein einnahm. Ohne, dass er es selbst gemerkt hatte, hatte Carina langsam immer mehr Platz in seinem Kopf beansprucht. Und der klägliche Rest, der nicht an sie gedacht hatte, war dann mit einem Schlag von seiner Tochter eingenommen worden, seitdem er sie das erste Mal gesehen hatte.
 

Carina starrte ihn nach wie vor an, konnte nicht verhindern, dass ihr Herz schneller in ihrer Brust schlug. Vor ein paar Monaten wäre sie bei diesen Worten von ihm in Tränen ausgebrochen, hätte sich nichts sehnlicher gewünscht. Es hatte Zeiten gegeben, da hatte sie sogar davon geträumt. Doch jetzt fühlte sie lediglich unendliche Verwirrung und Fassungslosigkeit. „Dabei ist diese Entwicklung doch gut… oder nicht?“ Natürlich, für Lily war das großartig. Sie würde einen Vater haben. Etwas, an das Carina nie richtig geglaubt hatte, und es freute sie unheimlich. Ein Kind sollte beide Elternteile kennenlernen dürfen. Aber für sie selbst machte es schlussendlich doch keinen Unterschied. Nur, weil er Claudia endlich loslassen konnte, hieß das noch lange nicht, dass sie sich plötzlich Hoffnungen auf eine Beziehung mit ihm zu machen brauchte. Und das tat sie auch nicht. Nicht nach alldem, was zwischen ihnen passiert war.
 

„Das… ist gut“, sagte sie schließlich und bemerkte sogleich, dass das nicht die Reaktion gewesen war, die er erwartet hatte. Was sie allerdings nicht bemerkte, war die Enttäuschung in seinen Augen. Der Silberhaarige hätte sich für diese Emotion schlagen können. Was hatte er denn erwartet? Dass sie ihm freudestrahlend um den Hals fallen würde? Nicht, dass er es sich nicht insgeheim gewünscht hätte, aber der Gedanke war schlichtweg naiv. Carina hatte immer noch mit den Auswirkungen der letzten Tage zu kämpfen und würde wohl kaum damit rechnen, dass er endlich begriffen hatte, was er für sie empfand. Was sie für ihn war. Und der Bestatter würde den Teufel tun und ihr dies genau jetzt auf die Nase binden. Nicht, wenn sie noch nicht ganz bei sich war. Er wollte, dass sie in Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte war, wenn er es ihr sagte. Bestand nur noch die Frage, wie er es ihr sagen sollte. Aber darüber würde er sich später Gedanken machen.
 

„Da gibt es noch eine Sache, die du wissen solltest“, begann er, um die unangenehme Stille zu beenden. „Ich habe gestern mit dem Earl gesprochen und ihm die Situation geschildert. Nun ja, nicht den Teil mit Claudia, aber zumindest die groben Umstände, was es mit meinen Bizarre Dolls auf sich hat.“ Carina hob eine Augenbraue. „Er hat dich zu Wort kommen lassen?“ „Nun ja“, er grinste ein wenig, „nachdem seine Verlobte ihm über den Mund gefahren ist, schon. Du scheinst einen bleibenden Eindruck bei ihr hinterlassen zu haben und da sie gesehen hat, wie wir beide uns geküsst haben-“ „Schon gut, sprich weiter“, unterbrach die Blondine ihn und wandte den Kopf in Richtung Fenster, um den leichten Rotschimmer auf ihren Wangen zu verbergen. Gott, den Kuss hatte sie ja beinahe schon wieder vergessen gehabt. Musste er jetzt davon anfangen?
 

„Jedenfalls haben wir einen dauerhaften Waffenstillstand ausgehandelt. Er verrät mich nicht an die Königin und lässt mich wieder zurück in mein Bestattungsinstitut, wenn ich im Gegenzug wieder als sein Informant arbeite und ihm in dem ein oder anderen Fall zu Diensten bin.“ „Mehr nicht? Das ist alles?“, fragte die 19-Jährige misstrauisch. Der Junge war immerhin der Wachhund der Königin. Würde er wirklich jemanden einfach so davon kommen lassen?
 

„Du unterschätzt ihn“, bemerkte der Todesgott. „Er arbeitet zwar für die Königin, ist aber nicht so dumm ihr zu vertrauen. Er weiß, dass sie nicht immer nur Gutes im Sinn hat. Und sie war eine Spur zu sehr an meinen bizarren Puppen interessiert.“ „Wenn man ihren Ruf bei den Shinigami bedenkt, wundert mich das nicht sonderlich“, gab Carina zurück. „Vielleicht will sie schon einmal aufrüsten? Vollkommen unnötig, sie wird ihn sowieso nicht mehr erleben“, sagte sie gedankenverloren. „Einen Krieg?“, fragte der Undertaker interessiert, woraufhin Angesprochene lediglich nickte, aber nicht mehr dazu sagte. Und der Totengräber fragte auch nicht weiter nach. Er wollte sich von der Zukunft viel lieber überraschen lassen.
 

Carina hingegen dachte zum ersten Mal an den ersten Weltkrieg, der in 24 Jahren beginnen würde. Für Queen Victoria würde es zwar keine Rolle mehr spielen, aber für Lily schon. Endlich zahlte es sich einmal aus im Geschichtsunterricht in der Schule aufgepasst zu haben. So konnte sie immerhin rechtzeitig dafür sorgen, dass ihre Tochter in Sicherheit sein würde. Doch vorerst schob sie die Überlegungen dazu in den Hintergrund. Darüber konnte sie sich in zwei Jahrzehnten noch genug Gedanken machen.
 

„Das heißt also, du kehrst nach London zurück“, stellte sie fest und bekam das komische Gefühl nicht los, dass hinter seiner Aussage noch etwas anderes steckte. Das sollte sie allerdings schneller erfahren, als ihr lieb war. „Wir“, korrigierte Cedric sie nämlich in diesem Moment. „Wir kehren nach London zurück.“
 

Carina blinzelte. „Wie bitte?“, fragte sie zum zweiten Mal am heutigen Tage, klang aber nun weitaus schockierter. Der Totengräber seufzte. Vor dieser Reaktion hatte Grell ihn schon gewarnt. „Dieser Samael wird sich an dir rächen wollen. Es ist viel zu gefährlich, dich und Lily hier alleine zu lassen. Grell kann nicht rund um die Uhr hier sein, genauso wenig wie ich. Was ist also, wenn dich dieser Dämon hier aufspürt, wenn du gerade in diesem Moment allein bist? Daher habe ich die Entscheidung getroffen, dass ihr beide mit mir nach London kommt. Ich kann euch zwar dort auch nicht immer im Auge behalten, aber das ist allemal besser als hier.“
 

Carinas Miene hatte sich bei seinem vorletzten Satz merklich verfinstert. „Ach, triffst du jetzt neuerdings die Entscheidungen für mich?“, äußerte sie genervt ihre Meinung, was unmittelbar dazu führte, dass sich die Augen des Undertakers verengten. „Das muss ich anscheinend, denn deine Entscheidungen waren in letzter Zeit nicht gerade die besten. Ich sage nur Schalter.“ Die junge Frau verzog kurz die Mundwinkel. Zugegeben, im Nachhinein nicht eine ihrer besten Entscheidungen, aber- Sie wurde abrupt aus ihren Gedanken gerissen, als sich sein Daumen und Zeigefinger fest um ihr Kinn schlossen und er sich auf dem Stuhl weiter nach vorne beugte, näher an ihr Gesicht heran. Der Schnitterin wich ein wenig die Farbe aus den Wangen, als sie in seine bedrohlich glitzernden Augen schaute. „Mach so etwas Dummes… ja nie wieder, verstanden?“, raunte er ihr entgegen und der Befehl war unmissverständlich. Klugerweise hielt sie den Mund und nickte, soweit es seine Finger zuließen. „Gut“, antwortete er und ließ sogleich ihr Kinn los, um sich im nächsten Augenblick zu erheben. „Sobald dieser ehemalige Erzengel tot ist, kannst du gerne hierhin zurückkehren. Ich werde schon einmal anfangen im Institut für Ordnung zu sorgen. Du solltest dich noch ein wenig ausruhen und dann vielleicht schon einmal anfangen zu packen. Grell wird dich dann morgen früh nach London bringen.“ Mit diesen Worten verschwand er durch die Tür und ließ die 19-Jährige ein wenig eingeschüchtert im Bett sitzend zurück.
 

Carina stieß die Luft aus, von der sie gar nicht gewusst hatte, dass sie sie angehalten hatte. Natürlich wusste sie, dass er mit seinen Worten Recht hatte. Es war wirklich viel zu gefährlich hier zu bleiben, das sah sie ja ein. Aber es passte ihr nun einmal überhaupt nicht in den Kram, dass er gerade so getan hatte, als hätte er die Befehlsgewalt über sie. Sie war weder sein Hund, noch seine Frau und selbst wenn sie seine Frau wäre, würde sie bestimmt nicht nach seiner Pfeife tanzen.
 

„Ich werde wieder mit ihm zusammenwohnen. Genauso wie damals“, dachte sie angespannt und wurde bei der bloßen Vorstellung nervös. Eigentlich sollte sie das glücklich machen, aber irgendwie… Ach, sie wusste doch auch nicht! Die ganze Situation überforderte sie total.
 

Seufzend ließ Carina sich ins Bett zurücksinken, versuchte irgendwie Schlaf zu finden. Doch die Ereignisse kreisten in ihrem Kopf, ließen ihr keine Ruhe. Mehr als nur gefrustet erhob sie sich schließlich nach einer halben Stunde vorsichtig und stand aus dem Bett auf. Sofort schoss ein scharfer Schmerz durch ihr Kreuz. „Das ist wohl der Preis, den ich jetzt zahlen muss“, dachte sie und zog sich unendlich langsam an. Es dauerte wirklich eine gefühlte Ewigkeit und auf Socken musste sie sogar ganz verzichten, da sie den Rücken noch nicht richtig krümmen konnte. Am Ende trug sie eine bequeme Pyjamahose und eine locker sitzende weiße Bluse, über die sie sich noch eine weiche, graue Wolljacke zog.
 

5 Sekunden, nachdem sie fertig geworden war, streckte Grell vorsichtig den Kopf zur Tür herein. „Alles in Ordnung?“, fragte er, woraufhin Carina ihn mit einem eindeutig genervten Blick bedachte. „Ach, traust du Verräter dich etwa doch noch nach hier?“ Er grinste entschuldigend. „Jetzt komm schon, sei nicht sauer. Ich wollte euch beiden nur die Gelegenheit einräumen ungestört miteinander zu reden.“ Carina verdrehte die Augen. „Ja, und was hab ich nun davon? Einen Mann, der meint mir Befehle erteilen zu können.“ Jetzt grinste Grell noch breiter. „Liebe Carina, das ist normal in dieser Zeit“, belehrte er sie belustigt. Angesprochene schnaubte nur einmal laut auf und ging dann an dem Rothaarigen vorbei in die Küche, um nach den letzten Tagen endlich noch einmal etwas in den Magen zu bekommen.
 

„Wo ist Lily?“, fragte sie beiläufig und schmierte Butter auf eine Scheibe Weißbrot. „In ihrem Zimmer und schläft tief und fest. Die frische Luft scheint ihr gut getan zu haben.“ „Das werde ich später auch mal in Angriff nehmen“, murmelte sie, legte eine Scheibe Käse auf das Brot und biss hinein. Es schmeckte nach gar nichts.
 

„Willst du ihr Grab besuchen?“, fragte Grell vorsichtig und Carina spürte, dass er sie von der Seite aus ansah. „… Ja“, erwiderte sie leise und kaute weiter auf ihrem Brot herum, obwohl sie plötzlich überhaupt keinen Hunger mehr hatte. Der Rothaarige seufzte leise. Er würde es niemals zugeben, aber auch er trauerte um die kleine Schwarzhaarige. Sie war ihm zwar immer auf die Nerven gegangen, aber er hatte sie trotzdem irgendwie gerne gehabt. Außerdem war es mit ihr nie langweilig geworden, was bei Grell schon etwas heißen sollte.
 

„Du findest die Idee also gut, dass ich nach London gehen soll?“, meinte sie plötzlich, um das Thema zu wechseln. Der Schnitter zuckte mit den Schultern. „Was heißt gefallen? Natürlich fände ich es wesentlich besser, wenn du und Lily hier bleiben würdet, aber es ist einfach zu riskant. Und vielleicht ist es ja auch nur vorübergehend. Vielleicht dauert es gar nicht so lange diesen Samael unschädlich zu machen.“ „Ja, vielleicht“, antwortete Carina, allerdings mit deutlich hörbarem Zweifel in der Stimme. „Jetzt stell dich doch nicht so an, Carina. Ihr habt doch schon mal zusammen gewohnt.“ Sie schenkte ihm einen verärgerten Blick. „Das kannst du doch gar nicht vergleichen. Damals war es noch nicht so… so… kompliziert zwischen uns. Ich war weder in ihn verliebt, noch hatte ich mit ihm geschlafen. Geschweige denn ein Kind von ihm, von dem er erst nach der Geburt erfahren hat. Tze, und dabei dachte ich vor 3 ½ Jahren es wäre eine schwierige Situation gewesen. Weit gefehlt, es geht scheinbar tatsächlich immer schlimmer.“
 

Die 19-Jährige raufte sich die Haare. „Noch dazu kommt, dass er jetzt den ganzen Mist mit den Bizarre Dolls sein lässt. Scheinbar bin ich mittlerweile die Einzige, die immer weiter Fehler-“ „Er tut was?“, stieß Grell ungläubig hervor und als Carina ihm in einer kurzen Zusammenfassung erzählte, was Cedric ihr gesagt hatte, konnte der Rothaarige nicht anders. Er verfiel in seinen Divenmodus.
 

„Aber Carina, das ist doch großartig. Er scheint es endlich begriffen zu haben.“ Angesprochene runzelte die Stirn. „Was begriffen?“, fragte sie vollkommen ahnungslos nach. „Na, dass er dich liebt“, schwärmte der Reaper und tänzelte fröhlich durch den Raum. „Ach Grell, nicht das schon wieder“, jammerte sie, doch ihr bester Freund ließ sich nicht beirren. „Papperlapapp. Du hättest ihn mal sehen sollen, als ich ihm von deiner Entführung erzählt habe. Er war definitiv total in Sorge und als ich ihn darauf angesprochen habe-“ „Du hast was?“, war Carina nun diejenige, die ihn unterbrach und schaute ihn starr an, mit einer unguten Vorahnung im Hinterkopf.
 

„Na, ich habe ihm gesagt, dass ich es überhaupt nicht ausstehen kann, wenn ein Mann die Frau im Stich lässt, die er liebt. Und das ich bin mir ziemlich sicher bin, dass er dich liebt, obwohl er das anscheinend selbst noch nicht begriffen hat.“
 

Carina schlug sich beide Hände vors Gesicht, wollte nun am liebsten im Erdboden versinken. Verflucht sei Grell und verflucht sei seine verdammte Ehrlichkeit. Mit hochrotem Kopf fragte sie: „Und was hat er darauf geantwortet?“ „Gar nichts, aber er ist mit mir gekommen. Manchmal sagen Taten mehr als Worte.“ Die junge Frau seufzte. „Du interpretierst da zu viel rein. Nur, weil er endlich Claudias Tod akzeptiert, bedeutet das nicht automatisch, dass er mich liebt.“ Grell seufzte. „Euch beiden ist echt nicht mehr zu helfen. Aber bitteschön, ich mische mich da nicht mehr ein. Ihr seid beide erwachsen, ihr solltet das alleine hinbekommen. Und ich freue mich jetzt schon darauf, wenn ich sagen kann „Ich habe es doch gewusst“. So, und jetzt muss ich zur Arbeit. Wir sehen uns morgen früh.“ Er drückte ihr einen kurzen Kuss auf die Wange und verschwand bereits in der nächsten Sekunde.
 

Carina kniff sich kurz in den Nasenrücken. Wenn Grell sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann konnte man wirklich machen, was man wollte, er hielt daran fest. Sie lächelte. „Aber das ist ja auch das, was ihn ausmacht“, dachte sie schmunzelnd.
 

In den nächsten Stunden begann sie die wichtigsten Dinge einzupacken, was eigentlich nicht viel war. Zum größten Teil waren es nur Kleidungsstücke und Lilys Babysachen, sowie das Bilderalbum, ein paar Bücher und ihre Waffen. Falls sie etwas vergessen haben sollte, würde Grell sie ihr bestimmt nachträglich besorgen. Zwischen der Packerei schaute sie immer mal wieder nach ihrer Tochter, um sie zu wickeln oder zu füttern, aber ansonsten blieb es den restlichen Tag ganz ruhig.
 

Am späten Nachmittag traute sie sich dann tatsächlich endlich nach draußen und stand bereits nach wenigen Sekunden vor dem Grab ihrer besten Freundin. Und wie sie es von ihm gewohnt war, hatte Cedric seinem Beruf alle Ehre gemacht. Der Grabstein war aus hellem Granit gefertigt, um ihn herum lagen wunderschöne, weiße Lilien. Alice‘ Name stand mittig auf dem Stein, das Geburts- und Sterbedatum war jedoch weggelassen worden. Wie auch, der Bestatter hatte sie nicht gekannt. Stattdessen aber standen die Worte
 

Bis wir uns wiedersehen


 


 

darunter, hinterließen eine stumme Botschaft. Carina spürte sogleich einen drückenden Kloß in ihrer Kehle. Die Tränen kamen ganz automatisch und jetzt, wo sie alleine war, ließ sie ihnen freien Lauf. Doch die volle Wucht ihrer Trauer unterdrückte sie nach wie vor. Es war noch zu früh…
 

„Ach Alice“, flüsterte sie und kniete sich zu dem Grab hinunter, ihre Handfläche gegen den Namen der Verstorbenen gedrückt. „Ich wünschte, du könntest jetzt bei mir sein.“ Lange Minuten blieb sie einfach in dieser Position hocken, erlaubte es sich nicht aufzustehen und wieder wehzugehen. Ihre Tränen versiegten mit der Zeit, was ihr schon fast ein schlechtes Gewissen bescherte. Alice hatte es verdient, dass sie sie betrauerte, dass sie richtig um sie weinte. Doch sie konnte es nicht. Es war beinahe so, als würde sie etwas von innen heraus blockieren, als würde ihr Körper aus reinem Selbstschutz gegen die Trauer ankämpfen.
 

Als es schließlich dunkel wurde, erhob die Shinigami sich und ging zu der kleinen Hütte zurück, um dort auf unbestimmte Zeit die letzte Nacht zu verbringen. Dabei hatte sie bei ihrem Einzug wirklich daran geglaubt, dass sie jetzt endlich einmal irgendwo angekommen war. Dass sie ein Zuhause gefunden hatte. „Ich werde hierher zurückkehren. Irgendwann werde ich hierher zurückkehren“, schwor sie sich in diesem Moment. Egal, wie lange es auch dauern würde.
 

Carina wäre es lieber gewesen, wenn der nächste Morgen nicht so schnell gekommen wäre. Sie war kaum angezogen, da stand Grell bereits in der Tür und bedachte ihre zwei gepackten Taschen mit einem kritischen Blick. „Das ist alles?“, fragte er, woraufhin die Blondine mit den Augen rollte. „Kann ja nicht jeder so viel Kram haben wie du. Sei doch froh, dann musst du nicht mehrere Male zwischen London und hier hin- und herspringen.“ „Ist ja schon gut, war nur eine Frage. Ich wusste ja, dass du schlechte Laune haben würdest, aber du tust ja gerade so, als würde ich dich zu deiner eigenen Hinrichtung führen.“ „Es kommt dem schon sehr nahe“, entgegnete sie trocken und erhob sich vom Bett. „Wollen wir also?“
 

„Moment noch“, antwortete der Rothaarige, plötzlich ganz ernst, und warf ihr im nächsten Augenblick eine kleine Dose zu, die Carina irritiert auffing. „Was soll ich damit?“, fragte sie verwirrt und beschaute sich das kleine Gefäß, das bis zum Rand mit kleinen, weißen Tabletten gefüllt war. „Ich denke, das weißt du ganz genau“, sagte er, doch bei Carina klopfte die Erkenntnis immer noch nicht an. Grell seufzte. „Ich liebe Lily, das weißt du, aber ich denke mal nicht, dass du in nächster Zeit noch ein Geschwisterchen für sie geplant hast, oder etwa doch?“
 

Er konnte ganz genau sehen, wie bei Carina endlich der Groschen fiel. Sie wurde feuerrot im Gesicht. „Das ist doch nicht… wir haben nicht…“ „Ist mir ganz egal. Du wirst diese Tabletten ab heute täglich nehmen, ob ihr jetzt Sex habt oder nicht. Vorsicht ist besser als Nachsicht.“ Er schenkte ihr einen auffordernden Blick, der keinen Widerspruch duldete, und hörte damit erst auf, als die junge Mutter – immer noch hochrot im ganzen Gesicht – eine der Tabletten aus der Dose nahm und sie ohne ein einziges Wort runterschluckte. „Na geht doch!“ Der Todesgott wandte sich um in Richtung Tür. „Kommst du dann bitte ins Wohnzimmer, ich würde jetzt gerne los.“ Er schritt hinaus und ließ eine fassungslose Carina zurück, die nur peinlich berührt weiterhin auf die Medikamentendose starren konnte.
 

War das gerade ernsthaft passiert?



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von:  Luzie_
2018-09-22T12:10:58+00:00 22.09.2018 14:10
Klasse Kapitel bin wirklich auf das Zusammenleben der drei und auf das was passieren wird gespannt. Schreib bitte schnell weiter
LG
Luzie_
Von:  SakuraHatake90
2018-09-12T16:23:33+00:00 12.09.2018 18:23
Endlich ein neues Kapitel habe mich schon gefragt wann es weiter geht ich bekomme einfach nicht genug von der Story ich liebe diese ff

Von:  lula-chan
2018-09-12T15:11:54+00:00 12.09.2018 17:11
Tolles Kapitel. Gut geschrieben.
Oh Mann. Na das kann ja heiter werden. Da ist Ärger doch vorprogrammiert.
Ich bin schon gespannt, wie das weitergeht, und freue mich auf das nächste Kapitel.

LG


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