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Selbstmord ist keine Lösung......oder?

von

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Verbindung *zensiert*

Als Carina früh am nächsten Morgen erwachte, fühlte sie sich so ausgeruht wie schon lange nicht mehr. Die Bettseite neben ihr war noch warm, was bedeutete, dass Cedric noch nicht lange weg sein konnte. „Er ist tatsächlich die ganze Zeit hiergeblieben“, dachte sie und spürte, wie ihr Herz plötzlich schneller schlug. Jetzt, wo ihr Gehirn dank des nicht mehr vorhandenen Schlafmangels wieder richtig funktionierte, war ihr die Situation des vorherigen Tages mit einem Mal furchtbar peinlich. „Er hat mich in den Arm genommen“, ging es ihr durch den Kopf, während langsam das Blut in ihre Wangen stieg. Wie lange war es her, dass jemand sie so umarmt hatte? Gut, Grell und Alice hatten es natürlich getan, aber in Carinas Augen konnte man das irgendwie schwerlich vergleichen. Cedrics Umarmung war… anders gewesen. In jenem gestrigen Moment war es ihr wie das Natürlichste der Welt vorgekommen. Und sie hatte sich so behütet gefühlt. So gewollt.
 

„Gott, nein“, murmelte die 19-Jährige, als sich zu ihrem schneller schlagenden Herzen jetzt auch noch ein Kribbeln tief in der Magengrube hinzugesellte. Es war einfach nicht fair. Wie konnte jemand allein nur so eine anziehende Wirkung auf sie haben? Allein schon beim Klang seiner Stimme bekam sie ganz weiche Knie.
 

Seltsamerweise war ihr zum Lachen zumute. Wie hatte sie nur jemals annehmen können, dass sie ein Leben ohne ihn führen wollte? Vollkommener Schwachsinn!
 

Seufzend richtete die Schnitterin sich auf und ging auf direktem Weg ins Badezimmer, um sich die zerzausten Haare zu kämen und sich generell frisch zu machen. Ihre Augenringe waren beinahe restlos verschwunden, dennoch waren ihre Augen immer noch schwach gerötet und angeschwollen. „Wenn ich diese Nacht wieder normal schlafe, müsste das morgen auch weg sein“, murmelte sie und klatschte sich eine Handvoll Wasser ins Gesicht. Vielleicht sollte sie ihn darum bitten, dass er diese Nacht wieder bei ihr schlief… „Auf gar keinen Fall“, dachte sie sogleich und wurde erneut rot. Wie sollte sie ihn das denn fragen? Cedric, könntest du dich bitte wieder zu mir ins Bett legen? Wenn du da bist, habe ich keine Albträume? Nein, dann könnte sie sich auch gleich nackt vor ihm ausziehen, denn diese Worte kämen einer seelischen Entblößung gleich.
 

„Vielleicht kann ich ja jetzt wieder schlafen. Irgendwie hat es doch schon geholfen mit ihm darüber zu reden.“ Dass er ihr dies von vorneherein gesagt hatte und somit schlussendlich Recht behalten hatte, schob sie in diesem Augenblick weit von sich. Bevor sie das Badezimmer wieder verließ, schluckte sie ganz nebenbei noch eine der kleinen Tabletten, die Grell ihr besorgt hatte, und schaute kurz darauf nach ihrer Tochter, die zu ihrer großen Überraschung einen anderen Strampler trug als am vorherigen Tag. Ihre Augenbrauen zogen sich zusammen. „Hat Papa dich etwa umgezogen?“, fragte sie das kleine Mädchen und hob sie aus der Wiege, um sie gleich darauf an ihre Brust zu legen. Lily begann sofort zu trinken und antwortete natürlich nicht, aber das musste sie auch gar nicht. Die Antwort lag klar auf der Hand und zauberte Carina ganz automatisch ein Lächeln ins Gesicht. „Du hast einen guten Papa“, murmelte sie leise und strich dem Baby zärtlich über den silbernen Haarschopf. Jetzt kam es ihr beinahe schon seltsam vor, dass sie diesbezüglich jemals an ihm gezweifelt hatte. Dabei bestand kein Grund zur Sorge. Cedric liebte seine Tochter. Und-
 

„Verdammt, Carina, ich liebe dich.“
 

-sie scheinbar auch. Die Blondine biss sich hart auf ihre Unterlippe. Sie wollte sich keine Hoffnungen machen was ihn anging, aber wem machte sie hier eigentlich etwas vor? Das tat sie bereits!
 

Seufzend legte sie ihre eindösende Tochter wieder in die Wiege, deckte sie sanft zu und hauchte ihr noch einen Kuss auf die Stirn, ehe sie mit lautlosen Schritten ins untere Stockwerk ging. Kurz spähte sie in die Küche, hörte dann aber Geräusche aus dem Keller des Instituts. Scheinbar kümmerte Cedric sich gerade um einen seiner Gäste. Für eine Sekunde hielt sie inne und zögerte, gab sich dann aber innerlich selbst einen Ruck und stieg die Treppenstufen hinunter.
 

Hier war sie tatsächlich noch nie gewesen. Als Mensch hatte sie sich nie getraut auch nur in die Nähe der Leichen zu kommen, daher hatte sie um die Treppe immer einen großen Bogen gemacht. Jetzt bestand dieses Problem definitiv nicht mehr, hatte sie als Shinigami doch mehr Tote und abscheuliche Dinge gesehen, als die meisten Menschen es in ihrem gesamten Leben je taten.
 

Der Keller war relativ übersichtlich. Es gab einen kleinen Flur, der anschließend in einen größeren Raum überging, wo der Totengräber seine Arbeit verrichtete. Carina streckte vorsichtig den Kopf durch die Tür und sah den silberhaarigen Shinigami neben einer langen, silbernen Liege stehen, auf der die Leiche einer jungen Frau aufgebahrt war. „Komm rein“, sagte der Bestatter, ohne von seinem Gast aufzusehen, und winkte Carina zu sich, die langsam näher kam. Neben dem Kopf der Frau, die schätzungsweise gerade einmal die Volljährigkeit erreicht hatte, kam sie zum Stehen und schaute Cedric dabei zu, wie er eine blutverschmierte Zange auf einen kleinen Beistelltisch legte, die sich bis eben noch im Abdomen der Leiche befunden hatte.
 

Sie hob eine Augenbraue. „Du hast ihr Organe entnommen?“ Der Undertaker grinste. „Sie braucht sie ja nicht mehr“, gab er nonchalant zu, was Carina zugegebenermaßen leicht schmunzeln ließ. „Was glaubst du, was war die Todesursache?“, fragte er sie plötzlich, was die ehemalige Schnitterin tatsächlich kurz irritierte. Dennoch beschaute sie sich daraufhin die Dahingeschiedene.
 

„Hmm“, begann sie laut zu überlegen und tippte sich mit dem Zeigefinger gegen das Kinn. „Da sie keine äußeren Verletzungen aufweist – mal ganz abgesehen von ihrem geöffneten Bauch, was definitiv erst nach ihrem Tod passiert ist –“, bei dieser Stelle wurde das Grinsen des Bestatters noch breiter, „nehme ich an, dass es sich um eine natürliche Todesursache handelt. Außerdem scheint sie sehr schnell sehr viel Gewicht verloren zu haben, wenn man die Dehnungsstreifen an Bauch und Beinen in Betracht zieht. Ihre Wangen sind auch ganz eingefallen. Ich würde spontan auf eine der gängigsten Krankheiten tippen, die momentan den Tod verursachen. Influenza? Tuberkulose? Pneumonie?“
 

„Mit letzterem liegst du richtig“, erwiderte er und begann gleichzeitig die Bauchdecke der Verstorbenen mit Nadel und Faden wieder zu verschließen. Carina faszinierte es, wie geschickt er in diesem Zusammenhang seine Hände einsetzte. Generell war es so, dass sie seine Hände mochte. Und was er damit alles anstellen konnte…
 

„Warum hast du mich das gefragt?“, meinte sie, bevor ihre Gedanken noch in eine vollkommen falsche Richtung abdrifteten. „Ich habe mich gerade eben daran erinnert, wie du damals knapp nach deiner Ankunft in diesem Jahrhundert auf den Anblick der jungen Frauenleiche reagiert hast, die zu mir gebracht wurde. Und jetzt sieh dich an.“ Seine gelbgrünen Augen fesselten ihren Blick. „Du zuckst nicht mal mehr mit der Wimper und kennst dich in diesem Bereich sogar richtig gut aus.“
 

„Na ja, das bleibt in meinem Job nicht aus“, entgegnete sie. „Als Schnitterin sieht man so viele Dinge, dass es irgendwann normal wird. Außerdem lernt man die Anzeichen für bestimmte Krankheiten an den Toten zu sehen, deren Seele man einsammelt. Glaub mir, wenn du mir vor 3 Jahren gesagt hättest, dass mir der Anblick von Leichen mal nichts mehr ausmachen würde, dann hätte ich dich für verrückt erklärt.“ „Tun das nicht sowieso fast alle?“, lachte er laut und beobachtete erfreut, wie sich die Mundwinkel der jungen Frau leicht hoben.
 

Gekonnt setzte er einen letzten Stich mit der Nadel und legte das Nähwerkzeug anschließend beiseite.
 

„Warum bist du heruntergekommen?“, stellte er nun seinerseits eine Frage und schlagartig wurde Carina ernst. Er konnte sehen, dass sie kurz schlucken musste. „Cedric, ich…“, begann sie stockend und schluckte erneut. „Danke, dass du gestern da warst“, fügte sie schließlich kleinlaut hinzu und schaute ihm scheu in die Augen. „Ich weiß ehrlich gesagt nicht, was ich ohne dich getan hätte. Das… das wollte ich dir nur sagen.“ Sie machte Anstalten sich wegzudrehen, doch der Silberhaarige packte sie sogleich am Oberarm, woraufhin sie ihn leicht erschrocken musterte. „Ich werde von nun an immer da sein, wenn du mich brauchst. Das verspreche ich“, antwortete er ernst und sah dabei zu, wie sich Carinas Augen weiteten. Dann wurde sie – zu seinem eigenen Vergnügen – rot im Gesicht.
 

Doch bereits im nächsten Moment brachte sie ihn vollkommen aus dem Konzept, als sie sich auf Zehenspitzen nach vorne beugte und ihm einen langen Kuss auf die Wange drückte. Der Bestatter war so perplex, dass er ihren Oberarm losließ und Carina nutzte die Situation sogleich für sich aus, indem sie mit einem leise gemurmelten „Bis später“ den Keller verließ. Der ehemalige Schnitter blinzelte und führte dann langsam seine Hand an die Wange, auf der er immer noch Carinas Lippen spüren konnte. Nicht, dass ihm das nicht gefallen hätte – denn das hatte es, definitiv – aber ihm wäre es doch lieber gewesen, wenn sie ihn auf den Mund geküsst hätte.
 

Seine Augen verdunkelten sich allein bei dem Gedanken daran, wie es sich anfühlen würde. Ihre Lippen auf den seinen, ihr Geschmack auf seiner Zunge und diese süße, prickelnde Hitze auf seinem Mund, wenn er sie fester an sich pressen würde…
 

Er spürte, wie es in seiner Hose enger wurde.
 

Ein Aufstöhnen unterdrückend wandte er sich wieder der toten Frau zu, um sie für ihre letzte Reise schön zu machen. Carina hatte ja absolut keine Ahnung, wie sein Körper auf ihre Nähe reagierte…
 

„Wieso hab ich das nur getan?“, dachte unterdessen Carina, die in der Küche auf und ab ging. Ihn auf die Wange zu küssen, welcher Teufel hatte sie denn da geritten? „Nicht, dass es nicht ein gutes Gefühl gewesen wäre, aber deswegen hätte ich es noch lange nicht tun sollen.“ Automatisch erinnerte sie sich an all die intimen Momente mit ihm zurück. Wie er sie geküsst und berührt und mit ihr geschlafen hatte…
 

Wenn Carina ganz ehrlich zu sich selbst war, dann vermisste sie es.
 

Leise aufstöhnend schnappte sie sich Tinte, Feder und einen Zettel, um gleich darauf eine knappe Nachricht zu formulieren.
 

Bin kurz mit Lily spazieren.
 

Eine Sekunde lang dachte sie darüber nach noch Liebe Grüße darunter zu setzen, verwarf diesen Gedanken dann aber ganz schnell wieder. Nein, das würde so schon ausreichen. Momentan brauchte sie einfach mal frische Luft und ihrer Tochter konnte das ganz gewiss nicht schaden.
 

Innerhalb weniger Minuten hatte sie Lily warm eingepackt, sich selbst ihren schwarzen Mantel angezogen und verließ dann das Bestattungsinstitut in Richtung Friedhof, da das die einzige Gegend in London war, wo sie sich gut auskannte. Es war ein recht nebliger Februarmorgen, doch glücklicherweise blieb es trocken, sodass dem Spaziergang nichts im Wege stand.
 

Carina ging interessiert an den ihr bekannten Geschäften vorbei. In den letzten Jahren hatte sich hier kaum etwas verändert. Einige Läden hatten neue Besitzer, andere schienen in der Zwischenzeit zugemacht und wieder neu eröffnet worden zu sein. Die typischen Entwicklungen einer Stadt eben, die es auch im 21. Jahrhundert nach wie vor gab. „Nur dieses Geschäft hier hat sich natürlich nicht im Geringsten verändert“, dachte die junge Frau verächtlich und blieb vor dem Spielzeugwarenladen der Funtom Corporation stehen, der zu dieser Tageszeit bereits gut besucht war. Was aber eigentlich kein großes Wunder war, wenn man sich die Vielfältigkeit und Qualität der zu verkaufenden Waren besah. Ciel legte hier eine unbestreitbare Kreativität an den Tag.
 

„Wenn er nicht als Earl geboren worden wäre, hätte er auch gut einfach ein eigenes Spielzeugwarengeschäft eröffnen können“, dachte die 19-Jährige und hatte sich schon halb von den Schaufenstern weggedreht, als eine Stimme hinter ihr sie vom Weitergehen abhielt. „Carina?“ Verwundert darüber, dass eine eindeutig weibliche Stimme ihren Namen rief, drehte sich die Angesprochene um und erblickte nur wenige Meter von ihr entfernt Elizabeth Midford.
 

Das junge Mädchen starrte sie zuerst ungläubig an, dann jedoch begannen ihre grünen Augen freudig zu funkeln. „Habe ich mich also doch nicht geirrt“, rief sie erfreut und kam näher, sodass sie gleich darauf vor Carina knicksen konnte. Diese lächelte leicht amüsiert und neigte als Zeichen des Respekts kurz den Kopf. „Hallo Elizabeth“, antwortete sie und konnte sofort sehen, dass es die Adelige freute nicht mehr „Verlobte des Wachhundes der Königin“ genannt zu werden. Carina besah sich die 15-Jährige kurz. Sie trug ein Kleid, das starke Ähnlichkeit zu dem Kleid aufwies, das sie auf der Campania getragen hatte, wirkte aber wesentlich erwachsener als damals. „Aww, die Kleine ist ja total süß. Ist sie deine Tochter?“, fragte die Midford neugierig, während ihre jadegrünen Augen verzückt zu Lily sahen. „Ja, das ist Lily“, erwiderte die 19-Jährige lächelnd und zum ersten Mal fiel ihr auf, dass Lily unter anderem eine Kurzform von dem Namen Elizabeth war.
 

„Was führt dich nach London?“, fragte die Shinigami ein wenig neugierig und spazierte weiter, ihre Vorfahrin folgte ihr sogleich. „Ich wollte mir Ciels neueste Kreationen ansehen und anschließend… na ja, anschließend wollte ich eigentlich zu dir.“ „Zu mir?“, fragte Carina verwirrt und Elizabeth nickte. „Ja, ich wollte mich bei dir bedanken. Du hast in diesem Bunker die ganze Zeit auf mich aufgepasst, dabei kennen wir uns nicht mal richtig.“ Carina konnte nicht anders, sie lachte. „Elizabeth Midford, ich glaube, du kannst auch ziemlich gut auf dich alleine aufpassen. Deine Fechtkünste sind überwältigend.“ „Im wahrsten Sinne des Wortes.“
 

„Das ist lieb von dir, aber mit dir kann ich trotzdem nicht mithalten“, antwortete die Blondine, was Carina schnauben ließ. „Mag sein, aber ich bin auch kein-“ Abrupt hielt sie inne und verfluchte sich kurz darauf gedanklich. Warum sprach sie eigentlich immer zuerst und dachte erst dann nach?
 

„Kein Mensch, sondern ein Shinigami“, vollendete Elizabeth ihren Satz und kicherte, als sie Carinas fassungslosen Gesichtsausdruck bemerkte. „Hast du es schon vergessen? Ciel versprach mir doch dort unten, dass er mir alles erzählen würde, wenn es vorbei ist. Und daran hat er sich auch gehalten. Er hält immer, was er mir verspricht.“ Bei diesen Worten legte sich eine zarte Röte auf ihre Wangen und sie lächelte so verliebt, dass Carina das Herz in der Brust schwer wurde. Wenn all das stimmte, was Crow ihr erzählt hatte, dann würde Elizabeth nicht mit Ciel, sondern mit einem anderen Mann Kinder bekommen. Und das wiederum konnte nur bedeuten, dass sie ihn vermutlich niemals heiraten würde.
 

„Du weißt jetzt also über alles Bescheid? Auch über Sebastian?“ „Ja“, erwiderte die Blondine, was Carina dann doch irritierte. Müsste das Mädchen über dieses neue Wissen nicht eigentlich am Boden zerstört sein? Elizabeth interpretierte ihren Gesichtsausdruck richtig. „Natürlich gefällt es mir nicht, dass mein Verlobter einen Pakt mit einem Dämon geschlossen hat und dass er immer noch so auf Rache aus ist, aber…“, und hierbei lächelte sie plötzlich, „wenn er seine Rache bekommen hat, dann verschwindet Sebastian ja wieder und wir können dann endlich heiraten. Dann wird alles gut.“
 

Carina verschluckte sich beinahe beim Luftholen. Gleich darauf musste sie sich schwer zusammenreißen, um nichts von dem Zorn zu zeigen, der sich am liebsten auf ihrem Gesicht widergespiegelt hätte. Ciel hatte seiner Verlobten natürlich nur die halbe Wahrheit erzählt. Warum wunderte sie das nicht?
 

Ihr Blick fiel auf Elizabeth, die nun bei dem Gedanken an ihre eigene Hochzeit ins Schwärmen geriet und gar nicht mehr aufhören konnte von ihren Vorstellungen und Wünschen zu erzählen. Zweifel stiegen in ihr hoch. Konnte sie es dem 14-Jährigen wirklich verübeln, dass er Elizabeth nichts davon erzählt hatte, dass er sterben würde, sobald er seine Rache vollendet hatte? Nein, noch schlimmer, dass er seine Seele verlieren würde? Der Phantomhive liebte seine Verlobte, das hatte er mehr als nur einmal bewiesen. Sowohl auf der Campania, als auch in dem unterirdischen Bunker. Er wusste, dass die Wahrheit ihr das Herz brechen würde. Selbst Carina wusste das und sie kannte die Midford kaum. Sollte sie ihr wirklich sagen, was mit Ciel geschehen würde? „Nein, das kann ich nicht“, dachte sie. Es war nicht ihre Aufgabe und außerdem wollte nicht sie diejenige sein, die das Glück der jungen Adeligen zerstörte.
 

Und würde es überhaupt einen Unterschied machen? Wenn sie es Elizabeth jetzt erzählen würde, würde die 15-Jährige leiden. Und wenn sie es ihr nicht erzählen würde, dann würde sie ebenfalls leiden, wenn auch erst zu dem Zeitpunkt, an dem Ciels Seele den endgültigen Tod gefunden hatte. Aber vielleicht würden bis dahin noch einige Jahre ins Land ziehen. Vielleicht würde es die Midford besser verkraften, wenn sie ein wenig älter sein würde. „Oder es macht alles noch viel schlimmer, weil sie Ciel dann noch mehr liebt, als ohnehin schon…“
 

Aber es nützte nichts jetzt darüber nachzudenken. Vorerst würde sie ihren Mund halten, aber sie konnte ihre Meinung jederzeit ändern, wenn sich neue Umstände ergeben würden. Und das würde sie auch, sollte es nötig werden.
 

„Aber genug von mir. Wie geht es dir?“, riss Elizabeth sie aus ihren Gedanken, als sie gerade durch einen kleinen Park spazierten. „Mir? Ach, mir geht es soweit ganz gut“, antwortete Carina und setzte sich auf eine hölzerne Parkbank, was ihre Verwandte ihr gleichtat. „Bis auf die Tatsache, dass ein gefallener Erzengel, der zu einem Teufel geworden ist, sich an mir rächen will und ich gleichzeitig mit dem Mann, den ich liebe, zusammenlebe, aber nicht wirklich zusammen bin.“
 

Elizabeth bedachte sie daraufhin mit einem Blick, der deutlich ausdrückte, dass sie ihr nicht glaubte. „Schau mich nicht so an, mir geht’s wirklich gut“, meinte die Schnitterin und bemerkte noch im gleichen Augenblick, dass sie die Anwesenheit der Midford tatsächlich genoss. „Meine Verletzungen sind verheilt, unser Entführer ist tot und-“ „Das meine ich nicht“, flüsterte sie leise und schaute die junge Mutter traurig an. „Die Frau, die er umgebracht hat, war deine Freundin, nicht wahr?“
 

Carina schluckte. Sie hatte vollkommen vergessen, dass Elizabeth bei Alice‘ Tod ebenfalls zugegen gewesen war. „Ja“, sagte sie mit furchtbar rauer Stimme und starrte zu Boden. Einmal tief ein- und wieder ausatmend versuchte sie die aufsteigenden Bilder aus ihrem Gedächtnis zu vertreiben, versuchte sich an Cedrics warme Umarmung zu erinnern und wie er sie festgehalten hatte, als sie kurz davor gewesen war in der Dunkelheit ihrer Erinnerungen zu ertrinken. Es funktionierte überraschenderweise.
 

„Es… es ist nicht leicht, aber es wird besser werden. Mit der Zeit“, fügte sie hinzu und Elizabeth nickte verstehend, legte ihr aber dennoch beruhigend eine Hand auf den Oberarm, die in einem schwarzen, langen Handschuh steckte. „Falls du jemandem zum Reden brauchst, dann bin ich für dich da, okay?“ Carina lächelte sachte und legte nun ihre eigene Hand über die der Adeligen. „Vielen Dank, Lizzy, das weiß ich zu schätzen.“ Komischerweise wurden ihre Wangen aufgrund des Spitznamens heiß, aber Elizabeth strahlte sie lediglich glücklich an. Gott, dieses Mädchen war einfach viel zu gut für diese Welt…
 

„Aber jetzt einmal zu etwas ganz anderem“, meinte Elizabeth plötzlich und hielt sich eine Hand neben den Mund, um die nachfolgenden Worte direkt in Carinas Ohr flüstern zu können. „Undertaker ist wirklich dein Mann?“
 

Carina kratzte sich leicht mit ihrem Zeigefinger an der Wange, während sie leise auflachte. „Ja, das ist er“, antwortete sie notgedrungen und konnte immer noch nicht fassen, dass sie allen um sich herum tatsächlich diese Lüge auftischen musste. Elizabeth kicherte. „Ich meine, es war ja recht offensichtlich nach diesem Kuss im Bunker-“, Carina wurde rot, „-aber so ganz glauben konnte ich es dann doch nicht sofort. Er ist ja schon recht seltsam.“ „Ja, das ist er wohl“, seufzte die 19-Jährige und rieb sich über die Stirn. „Aber er kann auch anders“, konnte sie es sich nicht verkneifen noch hinzuzufügen. „Und das in mehrerlei Hinsicht.“
 

„Das kann ich mir vorstellen“, lachte die Midford. „Ciel ist zu den meisten Menschen auch immer so distanziert und strickt höflich, aber zu mir ist er ganz anders.“ Das Mädchen wurde bei diesen Worten puterrot, ganz so als ob sie über etwas Verbotenes sprechen würde. Doch Carina brachte dies nur zum Grinsen.
 

„Er weiß nicht, dass du dich mit mir triffst, oder?“, fragte sie und Angesprochene schüttelte lediglich stumm den Kopf. „Nein, ich habe ihm nichts davon gesagt. Ich wollte mit dir allein sprechen und hatte die Befürchtung, dass er mich nicht allein gehen lassen würde. Er kann sehr besorgt sein.“ „Das kann ich mir vorstellen, nachdem du vor nicht einmal 2 Wochen entführt wurdest“, entgegnete Carina und zog gedanklich unfassbarerweise eine Verbindung zu Cedric. Auch er würde sie am liebsten auf Schritt und Tritt begleiten, damit ihr nichts mehr passierte.
 

„Du wirst ihm doch nicht erzählen, dass wir uns getroffen haben, oder?“, fragte Elizabeth auf einmal mit einem besorgten Unterton, woraufhin Carina ihr zuzwinkerte. „Keine Sorge, ich werde ihm nichts verraten. Abgesehen davon sehe ich ihn ja kaum.“ „Aber Undertaker ist doch jetzt wieder einer seiner Informanten. Das heißt, du könntest ihn von nun an häufiger sehen, wenn er wieder einen Fall für die Königin bearbeitet“, berichtigte die 15-Jährige sie. „Ach herrje“, dachte die Shinigami. Darüber hatte sie überhaupt nicht nachgedacht. „Ja, da hast du wohl Recht“, meinte sie, kam aber dank Lily um eine ausschweifendere Antwort herum.
 

Das kleine Mädchen hatte ihre blauen Augen aufgeschlagen und bewegte sich nun leicht in den Armen ihrer Mutter. Sofort war die Midford Feuer und Flamme. „Sie ist wirklich goldig. Und sie hat genau die gleichen Augen wie du.“ Kurz hielt sie irritiert inne. „Warum eigentlich? Müsstest du nicht auch diese gelbgrünen Augen haben, wie die anderen Shinigami?“ Ciel schien sie diesbezüglich gut aufgeklärt zu haben, das musste Carina ihm lassen. „Shinigami können ihr Aussehen beliebig verändern. Es erfordert etwas Übung, aber sobald man den Dreh raus hat, ist es ganz leicht.“ Kurzweilig hob Carina die Veränderung ihrer Augen auf und wechselte gleich darauf wieder in ihre ursprüngliche Augenfarbe zurück. „Siehst du?“
 

Elizabeth nickte. „Stimmt, jetzt wo ich so darüber nachdenke… Diese Augen wären in der Öffentlichkeit einfach viel zu auffällig.“ Lily gluckste leise und umschloss mit ihrer rechten Hand Carinas Zeigefinger, als diese ihn ihr hinhielt. Die Adelige beschaute sich das Baby erneut. „Sie hat zwar deine Augen, aber ist ihrem Vater ansonsten wie aus dem Gesicht geschnitten.“ „Ja, glücklicherweise“, entfuhr es der Todesgöttin, bevor sie es verhindern konnte. Prompt erntete sie ein verlegenes Lächeln ihrer Gegenüber. „Er… er sieht wirklich gut aus, nicht? Ich war ganz überrascht, weil er normalerweise ja nie sein Gesicht zeigt. Jetzt ergibt es im Nachhinein natürlich viel mehr Sinn.“ „Weil er ein Shinigami ist oder weil ihn die Frauen sonst nicht mehr in Ruhe lassen würden?“, fragte Carina grinsend und sorgte somit dafür, dass Elizabeth zum nunmehr dritten Mal rot anlief. „Ich sprach jetzt eigentlich von ersterem, aber mit letzterem könntest du ebenfalls Recht haben“, erwiderte sie schüchtern, was die Schnitterin tatsächlich laut auflachen ließ.
 

Die beiden Frauen redeten noch eine ganze Weile miteinander. Carina erfuhr viel über die Vergangenheit der Midford und stellte für sich erneut fest, dass es für Elizabeth besser gewesen wäre, wenn sie im 21. Jahrhundert geboren worden wäre. Dort hätte sie wesentlich mehr aus ihren Fechtkünsten machen können, möglicherweise hätte sie es sogar zu ihrem Beruf gemacht. Hier hingegen versuchte sie ihr Talent zu verstecken, um ihrem Verlobten zu gefallen. Etwas, was Carina in keinerlei Hinsicht nachvollziehen konnte. „Aber so bin ich nun mal“, seufzte sie gedanklich. „Ich könnte mich niemals so für einen Mann verbiegen.“ Sie schluckte, als ihr noch ein weiterer Gedanke kam. Nämlich, dass Cedric sie immer so akzeptiert hatte, wie sie war. Mit all ihren Macken und Fehlern.
 

„Verdammt, Carina, ich liebe dich.“
 

Ihr Herz machte einen kleinen, sachten Hüpfer in ihrer Brust. Vielleicht hatte Grell Recht. Cedric war kein Mann, der so etwas sagen würde, wenn er sich bezüglich seiner Gefühle nicht ganz sicher wäre. Vielleicht… möglicherweise… sollte sie…
 

„Carina? Sehen wir uns bald wieder?“, unterbrach Elizabeth ihre Gedanken und erhob sich von der Bank. Sie hatte länger hier gesessen als geplant und wenn sie nicht bald nach Hause zurückkehren würde, würden ihre Eltern sicherlich anfangen sich Sorgen zu machen und Ciel benachrichtigen. Etwas, was sie unter keinen Umständen riskieren wollte. Carina erhob sich ebenfalls, ihre nun wieder schlafende Tochter fest an sich gedrückt. „Das würde mich freuen“, antwortete sie lächelnd. „Du weißt ja, wo ich wohne. Wenn irgendetwas ist oder du einfach nur mal reden möchtest, dann komm vorbei.“ Elizabeths Augen glänzten leicht, als sie nickte und sich winkend von der Todesgöttin verabschiedete. Diese erwiderte die Geste kurz und ließ sich, sobald das blonde Mädchen aus ihrem Sichtfeld verschwunden war, erneut auf die Parkbank sinken.
 

Das Lächeln glitt ihr langsam von den Lippen, während sie ein paar Minuten lediglich nachdachte und dabei geradeaus ins Leere starrte, ohne wirklich etwas zu sehen. Schließlich straffte sich ihre Miene jedoch, als sie zu einem Entschluss kam.
 

„Uriel?“, fragte sie in die Stille hinein und kam sich dabei ziemlich lächerlich vor. „Wenn du mich hören kannst, dann… komm bitte zu mir. Ich möchte dich etwas fragen.“ Einige lange Sekunden passierte gar nichts, was dafür sorgte, dass Carina sich noch blöder vorkam. Was hatte sie denn auch erwartet? Dass der Erzengel ein Auge auf sie hatte bezüglich Samael? Dass er springen würde, wenn sie ihn rief und neben ihr- „Du hast gerufen?“
 

Carina erlitt einen mehrfachen Herzinfarkt, als neben ihr auf der Bank plötzlich Uriel saß, schön wie eh und je. Seine goldenen Augen blickten zu ihr herab, wanderten kurz zu Lily und dann wieder zu ihr zurück. Die Shinigami fühlte sich erneut von seiner bloßen Gegenwart erschlagen. „Ja, habe ich“, antwortete sie überfordert und deutete ohne darüber nachzudenken auf seine schneeweißen Flügel. „Menschen können sie nicht sehen“, beantwortete er ihre Frage, ohne dass sie sie stellen musste. „Aha“, meinte sie, immer noch ziemlich überrollt von seinem plötzlichen Auftauchen.
 

„Was möchtest du mich fragen?“, sprach er und musste scheinbar kurz über ihre Unbeholfenheit lächeln. „Also…“, begann sie zögerlich und schluckte. „Es geht um Elizabeth Midford, die – wie du sicherlich weißt – meine Vorfahrin ist.“ Er nickte. „Ich… ich möchte gerne wissen, was mit ihr in der Zukunft passiert. Also“, schob sie schnell hinterher, um jegliche Art von Missverständen zu vermeiden, „nicht ihre Zukunft generell, aber im Hinblick auf die Tatsache, dass ich von ihr abstamme, aber nicht von Ciel Phantomhive. Ich kann einfach nicht nachvollziehen, wie das passieren konnte. Ich meine… sie liebt Ciel. Wie konnte sie ein Kind von einem anderen Mann bekommen?“
 

Der Engel stieß ein Seufzen aus und schien erst über ihr Anliegen nachdenken zu müssen. „Ich erzähle es dir, weil es in gewissem Maße auch dich betrifft, aber das ist eine absolute Ausnahme“, sagte er schließlich und Carina nickte erleichtert, gleichzeitig aber war sie angespannt. Elizabeth war so ein liebes Mädchen. Sie wünschte ihr kein Leid, aber vermutlich war das wirklich Wunschdenken ihrerseits.
 

„Ich nehme an“, erwiderte Uriel und schaute die junge Frau interessiert an, „dass du dir bereits deine eigenen Gedanken dazu gemacht hast?“ Carina nickte. „Ja, das habe ich. Ich kann die Möglichkeit ausschließen, dass Lizzy Ciel verlässt. Dafür liebt sie ihn zu sehr. Herrgott, ich glaube sie würde ihn sogar dann noch lieben, wenn sie von seinen üblen Taten erfahren würde.“ Etwas, was Carina nachvollziehen konnte, war sie doch in der Hinsicht kein Stück besser. „Bleiben also eigentlich nur zwei Möglichkeiten. Entweder er verlässt sie aus irgendwelchen Gründen – was ich allerdings auch nicht glaube, er scheint sie nämlich ebenfalls zu lieben – oder…“, sie räusperte sich einmal, „oder er stirbt“, endete sie mit rauer Stimme. Nicht, dass es ihr dabei um Ciel leidtat. Der Phantomhive hatte sich diese ganze Sache selbst eingebrockt und seine Seele an den Teufel verkauft, er wäre es in ihren Augen selbst Schuld. Aber Elizabeth würde das Ganze zerstören.
 

Der Ausdruck in den Augen des Erzengels wurde weicher, als er die Betroffenheit der 19-Jährigen spürte. „Du hast Recht“, sagte er leise, sodass Carina ihn wieder anschaute. „Er wird sterben.“
 

Carina atmete einmal tief ein. „Wann?“, hauchte sie beim Ausatmen und wünschte sich jetzt bereits, sie hätte nicht gefragt. „Wenige Wochen vor seinem 18. Geburtstag.“ „Also bereits in 4 Jahren“, murmelte die Schnitterin. Mitleid für Elizabeth stieg in ihr auf. Die Midford wäre zu diesem Zeitpunkt 19 Jahre alt, also genauso alt wie sie selbst jetzt. Sicherlich würde sie in diesem Alter besser mit dem Tod ihres Verlobten umgehen können als jetzt, aber es würde ihr trotzdem fürchterlich wehtun. Sie selbst hatte die Trennung von Cedric nur schwer verkraftet und er war nicht einmal tot gewesen, sondern nur an einem anderen Ort. Wie würde es sich für Elizabeth anfühlen?
 

„Samaels Sohn“, fuhr Uriel fort, als er sich Carinas Aufmerksamkeit wieder sicher war, „wird ihm die Seele nehmen, sobald er die Rache für den Tod seiner Familie genommen hat und der Vertrag zwischen den beiden somit erfüllt ist.“ Carina schnaubte. „Nehmen ist ein nettes Wort für das, was du eigentlich meinst“, erwiderte sie. Fressen würde der Teufel sie; in den endlosen Abgrund seiner selbst ziehen, wo es nichts anderes gab außer Leere und Schmerz und Dunkelheit…
 

„Durch Ciel Phantomhives Tod endet gleichzeitig sein Nachname und somit auch die lange Linie der Wachhunde der Königin. Allerdings wird sie sich von dem ursprünglichen Konzept des Wachhundes nicht abwenden.“ „Was soll das heißen?“, fragte die Shinigami mit einer unguten Vorahnung und bekam sie im nächsten Moment bereits bestätigt. „Edward Midford wird zu dem Todeszeitpunkt seines Cousins bereits verheiratet sein, somit verblieb nur noch Elizabeth. Die Königin plante sie mit einem einflussreichen Mann zu verheiraten und aus der neu entstehenden Linie, die dann auch das Blut der Phantomhives beinhalten würde, die neuen Wachhunde der Königin zu machen.“
 

Abscheu stieg in Carina hoch. Mittlerweile empfand sie gegenüber der Monarchin die gleiche Abneigung wie Cedric es tat. Diese Frau spielte mit Menschenleben wie mit Schachfiguren und kam damit auch noch durch. Sie wäre nicht einmal vor dem Einsatz der Bizarre Dolls zurückgeschreckt, um die Überlegenheit ihres Landes zu sichern. Warum befanden sich immer Menschen in solchen Machtpositionen, die keine Grenzen kannten? „Wahrscheinlich, weil sie es ohne diese Skrupellosigkeit erst gar nicht dorthin geschafft hätten.“
 

„Allerdings hat deine Vorfahrin bei den Plänen der Königin nicht mitgespielt“, redete der Engel weiter. „Sie hat mit den Jahren gemerkt, was diese Position ihrem Verlobten abverlangt hat und wollte unter allen Umständen verhindern, dass ihren eigenen Kindern dasselbe Schicksal zuteilwird. Also ist sie in einiger nebligen Nacht – kurze Zeit nach dem Bekanntwerden ihrer neuen Verlobung – aus England geflohen.“ Carina lächelte, als Stolz auf ihre Vorfahrin in ihr aufflackerte. Genauso hätte sie selbst es auch getan. Elizabeth würde zu einer jungen Frau heranwachsen, die sich nicht wie eine Marionette benutzen lassen würde. „Lass mich raten. Nach Deutschland?“, fragte sie, woraufhin Uriel nickte. „Sie wird dort ein Jahr später ihren zukünftigen Mann kennenlernen und-“ „Danke, aber das reicht mir schon“, unterbrach die Todesgöttin ihn. Er blinzelte daraufhin verwirrt, hatte doch vermutet, dass die Nachfahrin der Midford die ganze Geschichte hören wollte. „Ich weiß jetzt, dass es Elizabeth in der Zukunft gut gehen wird, wenn auch nach einigen Diskrepanzen. Das zu wissen war mir wichtig, den Rest finde ich schon selbst heraus, wenn es soweit ist.“
 

Sie erhob sich ein weiteres Mal von der Bank und ihr Nebenmann tat es ihr gleich. „Vielen Dank, dass du eine Ausnahme gemacht und es mir erzählt hast, Uriel“, sagte sie und versuchte mit ihm zu sprechen, als wäre er jemand ganz Normales und nicht ein mächtiger Erzengel.
 

Uriels Mundwinkel hoben sich ein kleines Stück. „Das war wohl das Mindeste, was ich für dich tun konnte. Nach allem, was passiert ist.“ Ein trauriger Ausdruck erschien auf seinem Gesicht und die Schnitterin wusste sofort, wovon er sprach. „Ich gebe dir nicht die Schuld an dem, was passiert ist. Du hast dich nur an deine Regeln und Vorschriften gehalten. Wenn jemand Schuld an alldem hat, dann sind es Samael und Crow. Letzterer hat bereits für seine Taten bezahlt. Und um Samael werden wir uns auch irgendwie kümmern, das hoffe ich jedenfalls.“
 

Der Engel wirkte aufgrund ihrer Worte erleichtert. „Ich werde euch so gut es geht unterstützen, das verspreche ich. Bei meiner Ehre als Erzengel.“ Mit diesen Worten neigte er als Abschiedsgeste leicht den Kopf und verschwand im nächsten Augenblick genauso schnell, wie er gekommen war. „Danke“, murmelte Carina leise und war sich trotz seines sichtbaren Verschwindens sicher, dass er sie noch hören konnte.
 

Ihr Blick fiel auf Lily. Bald würde ihr Mädchen wieder aufwachen und dann würde sie sicherlich Hunger haben. „Zeit nach Hause zu gehen“, flüsterte sie und setzte Gesagtes sogleich in die Tat um. Schnell ließ sie den Park und die Einkaufsstraße hinter sich, ehe sie bereits 15 Minuten später in die Gasse einbog, wo sich das Bestattungsinstitut befand. „Es hat wirklich gut getan einfach mal rauszukommen. Und obwohl das Gespräch mit Elizabeth gar nicht geplant war, war es doch irgendwie genau das, was ich gebraucht habe.“ Natürlich, auch mit Grell konnte sie sprechen und sie fühlte sich danach auch meistens wesentlich besser, aber mit einer Außenstehenden zu reden, mit einer anderen Frau, die ihr auf erstaunliche Art und Weise ähnlich war, fühlte sich dennoch anders an. Von den Gesprächen mit Cedric ganz zu schweigen.
 

Die Blondine kam von ihrem Gedankengang ab, als Stimmen im Bestattungsinstitut lauter wurden, je näher sie diesem kam. Zwei Stimmen, die ihr äußerst vertraut waren.
 

„Jetzt beruhige dich doch mal…“

Ich soll mich beruhigen? Ist das dein Ernst, Rotschopf?“

„Vielleicht ist ja überhaupt nichts passiert.“

„Ach ja? Ich darf dich an das letzte Mal erinnern, als du nicht wusstest, wo sie war.“
 

Carina runzelte die Stirn. Was war denn jetzt los? Mit einem seltsamen Gefühl im Bauch ergriff sie die Türklinge, zögerte nicht lange und betrat im nächsten Moment bereits das alte Gebäude. Sofort lagen zwei gelbgrüne Augenpaare auf ihr.
 

Grell und Cedric standen sich mittig im Raum gegenüber und wirkten beide aufgebracht. Doch während ihr bester Freund bei ihrem Anblick merklich erleichtert wirkte, funkelten die Augen des Undertakers vor Wut. „Wo bist du gewesen?“, fuhr er sie an und es kam so unerwartet, dass Carina lediglich der Mund aufklappte. „Muss ich ihm jetzt auch noch darüber Rechenschaft ablegen, wohin ich gehe?“, ging es ihr durch den Kopf, doch sie biss sich auf die Zunge, bevor auch nur ein Wort davon ihren Mund verlassen konnte. Das Wort Rechenschaft sollte sie ihm gegenüber wohl erst einmal nicht mehr erwähnen…
 

„Ich war spazieren. Hast du meinen Zettel nicht gefunden?“, erwiderte sie stattdessen ruhig und sah sich bereits im nächsten Moment mit besagtem Schriftstück konfrontiert, als der Silberhaarige es ihr vor die Nase hielt. „Du hast geschrieben – und ich darf dich an dieser Stelle zitieren – Bin kurz mit Lily spazieren.“ Carina schaute ihn verständnislos an. „Ja und?“, fragte sie, weil sie absolut keine Ahnung hatte, worauf der Todesgott hinauswollte. Daraufhin warf ihr der Bestatter einen Blick zu, als wolle er sie ebenfalls – wie schon zuvor Grell – fragen, ob das ihr Ernst war. „3 Stunden? Das verstehst du also unter „kurz“, ja?“, entgegnete er trocken, aber gleichzeitig auch aufgebracht, und nun machte es bei der 19-Jährigen endlich Klick. Sie spürte, wie ihre Ohren vor Scham ganz heiß wurden. War sie wirklich so lange weg gewesen? Das hatte sie überhaupt nicht gemerkt.
 

„I-ich hab auf meinem Spaziergang Elizabeth getroffen und wir haben miteinander geredet. Ich… ich muss wohl einfach die Zeit vergessen haben“, rechtfertigte sie sich verblüfft, weil sie es selbst gar nicht fassen konnte. Grell lachte kurz auf und warf Cedric einen „Ich-hab‘s-dir-doch-gesagt“ Blick zu. „Siehst du, was habe ich dir gesagt? Es gibt eine ganz einfache Erklärung, sie hat die kleine Midford getroffen und die Mädels haben sich verquatscht, es ist überhaupt nichts passiert.“ Der silberhaarige Todesgott schaute ihn daraufhin mit einem Blick an, der Grell sofort verstummen ließ.
 

Carina seufzte. Da hatte sie ja mal wieder was angerichtet…
 

„Entschuldige, ich wollte wirklich nicht, dass du dir Sorgen machst. So weit habe ich ehrlich gesagt überhaupt nicht gedacht. Es wird nicht wieder vorkommen, in Ordnung?“ Ihre Blicke trafen sich und die junge Frau konnte sehen, wie sich seine Schultern langsam wieder entspannten. Dann stieß er einen leisen, aber tiefen Seufzer aus. „In Ordnung“, gab er zurück. Diese Frau würde ihn irgendwann noch endgültig um den Verstand bringen…
 

„Nun, da das jetzt geklärt ist“, meinte Grell und grinste Carina breit an, „worüber habt ihr beiden denn so gesprochen?“ „Och“, begann Angesprochene wage und zuckte kurz mit den Schultern, um ihre Unsicherheit zu überspielen, „über dies und das. Worüber man halt so spricht. Vorrangig darüber“, fuhr sie schnell fort, da beide Männer fragend die Augenbrauen hochgezogen hatten, „dass sie jetzt über alles Bescheid weiß. Über Dämonen und Todesgötter und Ciels Situation.“ Hoffentlich würde das als Information ausreichen. Sie konnte ihnen ja schlecht die ganze Wahrheit sagen. Denn erstens wussten die beiden ja schließlich noch nicht, in welchem Verwandtschaftsverhältnis sie zu Elizabeth stand und zweitens würde sie ihnen wohl kaum auf die Nase binden, dass sie auch über Cedric gesprochen hatten und wie gut er aussah. „Nein, das hätte seinem Ego gerade noch gefehlt.“
 

„So? Das hätte ich dem Earl gar nicht zugetraut“, kicherte der Bestatter sogleich los und zeigte sein altbekanntes, volles Grinsen. Carinas Laune steigerte sich sofort merklich. „Ja, nicht wahr?“, sagte sie und gluckste kurz. Grells rechte Augenbraue hob sich erneut. Stillschweigend besah er sich die beiden Shinigami. Irgendetwas hatte sich seit seinem letzten Besuch verändert. Carina wirkte plötzlich viel aufgeschlossener in der Gegenwart des Totengräbers. Nur schwer konnte sich der Rothaarige ein aufgeregtes Jauchzen verkneifen. Würden die beiden es vielleicht bald schaffen über ihre Schatten zu springen und endlich ein Paar werden? Wenn es nach ihm selbst ging, dann konnte das gar nicht schnell genug passieren.
 

„Aber er hatte gar keine andere Wahl. Sie hätte ihn so lange genervt, bis er es ihr schließlich gesagt hätte. Und sie kann sehr beharrlich sein, das habe ich inzwischen auf jeden Fall festgestellt.“ „Da kenne ich noch jemanden“, sagten Cedric und Grell – zu ihrem eigenen Erstaunen – vollkommen synchron und grinsten sich gleich darauf gegenseitig an, während Carina lediglich mit den Augen rollte. Gott, hoffentlich entwickelte sich zwischen den beiden nicht so etwas wie eine Männerfreundschaft, denn dann konnte sie sich in Zukunft auf so einiges gefasst machen.
 

„Ich gehe dann mal hoch“, sagte sie und ließ den eben gefallenen Satz vorsichtshalber unkommentiert. „Kommst du mit, Grell?“ Der Rothaarige nickte und folgte ihr die Treppe hoch, während Cedric in der Küche verschwand, um neue Kekse für seine Urne zu backen.
 

„So, und jetzt raus damit“, sagte Grell, als sie im Kinderzimmer standen und Carina gerade Lily stillte, die soeben aufgewacht war. „Was ist in den letzten beiden Tagen passiert, als ich nicht da war?“ „Wovon sprichst du?“, fragte Carina und setzte eine Unschuldsmiene auf. „Dein Ernst?“, rief Grell beleidigt und zog eine Schnute. „Glaubst du etwa, ich bin blind? Irgendetwas ist doch zwischen euch vorgefallen, das merke ich genau.“ Nun schaute ihn die 19-Jährige genervt an. „Echt mal, Grell, das ist wirklich unheimlich, wie du solche Sachen 10 km gegen den Wind riechst.“ „Ich habe eben ein sehr feines Näschen“, erwiderte er und entblößte dabei seine spitzen Zähne. „Ich höre?“
 

Carina seufzte – was ihrem eigenen Geschmack nach zu urteilen heute schon viel zu oft passiert war. „Ich habe letzte Nacht durchgeschlafen.“ „Das hattest du auch bitter nötig. Deine Augenringe sahen zum Weglaufen aus.“ „Na vielen Dank“, murmelte sie und legte nebenbei Lily gegen ihre Schulter. „Ich war aber noch nicht fertig. Ich habe durchgeschlafen, weil“, sie atmete einmal tief durch und sagte das darauffolgende dann ganz schnell; wie ein Pflaster, das abgezogen werden musste, „weil er bei mir geschlafen hat.“
 

Einen furchtbar langen Moment herrschte Stille, nur kurz unterbrochen durch das Bäuerchen, das Lily ausstieß. Dann, nach etwa 10 Sekunden, wurden Grells Augen groß wie Untertassen. „Flipp jetzt bitte nicht aus“, sagte Carina warnend und deutete auf ihre Tochter, die gerade im Inbegriff war wieder einzuschlafen. Man konnte dem Rothaarigen ansehen, wie schwer es ihm fiel die nächsten Worte leise auszusprechen. „Oh mein Gott, er hat was???“ Carina verdrehte erneut die Augen. „Bei mir geschlafen, Grell. Nicht mit mir!“ „Das habe ich schon verstanden, aber trotzdem. Wie süß ist das denn bitte?“ Die Schnitterin biss sich auf die Unterlippe. „Es war schon irgendwie süß“, gab sie zu und schluckte hart. „Und lass mich raten“, meinte Grell und wackelte nun in eindeutiger Manier mit seinen schmalen, roten Augenbrauen, „wenn es nach dir ginge, dann würde es nicht nur bei dem „bei mir“ bleiben, oder?“ „Ich kann nicht fassen, dass ich dieses Gespräch mit dir führe“, stöhnte sie und legte das schlafende Baby in die Wiege, um anschließend ihr Gesicht in den Händen zu vergraben. „Das ist keine Antwort auf meine Frage“, sagte der Reaper, während sein Grinsen immer breiter wurde.
 

Dieses Mal war Carinas Mund schneller als ihr Gehirn. „Jede Frau, die einmal Sex mit ihm hatte, würde das noch einmal wollen und ich war viermal mit ihm Bett, was glaubst du also?“, zischte sie leise und wurde gleich darauf feuerrot. Selbst Grells Wangen wurden ein wenig wärmer, hatte er doch nicht erwartet, dass seine selbsternannte kleine Schwester es mal wieder auf ihre eigene Art und Weise so direkt formulieren würde. „Themenwechsel“, stieß sie hervor und schritt eilig in ihr eigenes Schlafzimmer, ihren besten Freund dabei dicht auf den Fersen. „Okay“, meinte dieser, konnte sich aber nach ein paar Sekunden Schweigen die nachfolgende Frage dennoch nicht verkneifen.
 

„Nimmst du auch noch die Tabletten?“

Grell!

„Schon gut, schon gut, ich bin still.“
 

Als Grell eine gute Stunde später zu seiner nächsten Schicht aufbrach, war es bereits später Nachmittag. Carina kam sich schon beinahe wie eine richtige Hausfrau vor, als sie zuerst die Wäsche wusch und anschließend das Abendessen – Fisch mit Kartoffeln und Spinat – vorbereitete. „Das hätte vor ein paar Jahren auch keiner gedacht, am allerwenigsten ich selbst“, dachte sie und lachte leise.
 

Beim Essen bewahrten beide Todesgötter Schweigen und hingen jeweils ihren eigenen Gedanken nach. Während Carina ihr Gespräch mit Elizabeth noch einmal Revue passieren ließ, plante der Undertaker gedanklich die Beerdigungen durch, die in den nächsten Tagen anstehen würden. Er verabschiedete sich nach dem Abendessen direkt nach oben, um ein Bad zu nehmen und die Schnitterin störte es nicht. Nach diesem Tag war sie auch einfach mal froh, wenn diese angenehme, fast schon friedliche Stille herrschte. „Mal sehen wie es läuft, wenn ich nachher im Bett liege“, dachte sie und wusch in aller Ruhe das Geschirr ab. Wahrscheinlich würde sie dann wieder die Stille verfluchen, wenn sie mit ihren ganzen Gedanken unter der warmen Decke lag und wieder einmal nicht einschlafen konnte.
 

Leicht deprimiert trocknete die junge Mutter sich die Hände ab, hängt das Geschirrtuch zum Trocknen auf und begab sich im Anschluss ebenfalls nach oben, um noch einmal nach Lily zu sehen. Das Baby war bereits wieder wach und quengelte leicht, aber Carina erkannte schnell, wo das Problem lag. „Und wieder neue Wäsche für morgen“, seufzte sie, wechselte die Windel und den Strampler und warf die beiden Kleidungsstücke in den bereits wieder halbvollen Wäschekorb. „Das kann jetzt aber auch noch bis morgen warten“, gähnte sie und stillte ihre Tochter erneut, dieses Mal jedoch an der anderen Brust. Obwohl sie als Shinigami eigentlich schnellere Regenerationskräfte hatte, kam sie doch nicht umhin festzustellen, dass ihre Brüste öfters schmerzten und empfindlich waren. „Tja, wäre auch zu schön gewesen davon auch noch verschont zu bleiben.“ Na ja, immerhin hatte sich ihr Körper von den Strapazen der Geburt schnell erholt…
 

15 Minuten später schlief das fast 3 Wochen alte Baby wieder tief und fest und Carina gähnte erneut, während sie in ihr Zimmer zurückging. „Hoffentlich klappt das mit dem Schlafen, ich bin nämlich echt schon wieder hundemüde…Huch?“, dachte sie irritiert und blickte sich suchend nach ihrem Nachthemd um. „Oh nein“, fiel es ihr plötzlich siedend heiß ein. Hatte sie das Kleidungsstück nicht am gestrigen Morgen gewaschen und anschließend im Badezimmer zum Trocknen aufgehängt? „Wo es wahrscheinlich immer noch liegt“, murmelte sie und schluckte einmal. Cedric war im Badezimmer…
 

Wie auf Knopfdruck schob sich ein Bild vor ihr inneres Auge. Wie sie ihn damals im Weston College in der Badewanne überrascht hatte. Seine silbernen Haare vollgesogen mit Wasser und sein nackter, nasser Körper…
 

„Gefällt dir was du siehst?“
 

Carina schluckte noch einmal, kämpfte gegen das Verlangen an, das sich zwischen ihren Beinen einnisten wollte. Was war denn heute bloß los mit ihr? Schon heute Morgen hatte sie an ihre gemeinsamen intimen Momente gedacht und auch im Gespräch mit Elizabeth war sie von solch ähnlichen Gedanken nicht verschont geblieben. „Vielleicht nur die Hormone“, seufzte sie genervt und machte sich widerwillig auf den Weg in den Flur, um direkt vor der Badezimmertür stehen zu bleiben. Ihre Sinne nahmen ihn wahr, aber sie konnte keine Geräusche hören. War er vielleicht schon fertig mit seinem Bad? „Cedric?“, rief sie fragend und klopfte einmal gegen die Tür. „Kann ich rein kommen?“
 

„Komm rein~“, antwortete er ihr in seiner typisch fröhlichen Tonlage und Carina drückte ohne sich dabei etwas zu denken die Klinke herunter, um sich bereits im nächsten Augenblick mit dem Silberhaarigen konfrontiert zu sehen. In der Badewanne. Nackt.
 

„Womit habe ich das nur verdient?“, ging es ihr durch den Kopf, während sie den ersten Impuls – nämlich ihren Kopf peinlich berührt abzuwenden – widerstand. Solche eindeutigen Reaktionen ihrerseits würden das Ganze nämlich nur noch peinlicher machen. Abgesehen davon, dachte sie, war es ganz bestimmt genau das, was Cedric von ihr erwartete, sonst hätte er sie wohl kaum hineingerufen. Diese Genugtuung gönnte sie ihm nicht!
 

Also behielt sie ihren Blick zielgerichtet auf seinem Gesicht und sagte mit einer so normalen Stimme, das sie es sich beinahe selbst abgekauft hätte, zu ihm: „Entschuldige, ich wollte nur mein Nachthemd holen.“ Sie entdeckte das gesuchte Kleidungsstück nahe der Fensterbank und ging gemächlich darauf zu. Gleichzeitig dankte sie Gott dafür, dass dem Todesgott das Wasser bis zum Bauchnabel stand und sie daher nichts sehen konnte, was die Situation noch unangenehmer für sie machte.
 

Der Undertaker hingegen starrte ihr schon beinahe missmutig hinterher, war das doch so überhaupt nicht die Reaktion, die er sich von Carina erhofft hatte. Viel schöner wäre es gewesen, wenn sich ihr Mund leicht geöffnet hätte und wieder diese possierliche Röte über ihre Wangen gekrochen wäre. Jetzt hatte es viel eher den Anschein, als hätte sie seine Nacktheit zwar registriert, scherte sich jedoch nicht großartig darum. Und dann auch noch dieser kleine, harmlose Kuss auf seine Wange am heutigen Morgen…
 

So langsam bekam der Bestatter den Eindruck, als hätte die junge Frau kein Interesse mehr an ihm. Noch in dem Moment, wo er diese Worte dachte, spürte er einen kalten Stein in seiner Magengegend. Konnte es das sein? Wollte sie ihn nicht mehr? Hatte sie deswegen so auf sein Liebesgeständnis reagiert? Bei alldem Mist, den er im vergangenen Jahr gebaut hatte, würde es ihn nicht einmal großartig wundern, aber verdammt nein! Allein bei dem puren Gedanken zog sich Herz bereits schmerzhaft zusammen. Das dürfte einfach nicht wahr sein.
 

Carina hatte sich indes das Nachthemd geholt und wunderte sich auf dem kurzen Rückweg zur Tür darüber, dass der Vater ihrer Tochter gar nichts mehr sagte. War er immer noch so in Gedanken versunken wie schon beim Abendessen?
 

Erst, als sie die Tür wieder hinter sich geschlossen und die Türklinke losgelassen hatte, konnte sie erleichtert aufatmen. Und erst jetzt stieg ihr die Hitze ins Gesicht. Die 19-Jährige biss sich auf die Innenseite ihrer Wange, als sie an das eben gebotene Bild zurückdachte. Man konnte über Cedric sagen, was man wollte, aber sein Körper sah einfach verboten gut aus. Er wirkte wie ein Aphrodisiakum auf sie und das nicht zu knapp. Herrgott, wenn sie mit ihm zusammen wäre, hätte sie sich wahrscheinlich ausgezogen und wäre einfach zu ihm in die Wanne gestiegen. Bei der Vorstellung wurde ihr wieder heiß.
 

„Ich drehe bald komplett durch“, murmelte sie deprimiert und ging ins Schlafzimmer zurück, um sich umzuziehen. Sauber gefaltet legte sie zuerst ihr Kleid, dann die Strumpfhose und schließlich das Unterhemd samt BH auf einen Stuhl in der Ecke des Zimmers, ehe sie sich das Nachthemd über den Kopf zog. Die Petroleumlampe auf dem Nachttischchen war die einzig verbliebene Lichtquelle im Raum und spendete ihr gerade noch genug Helligkeit, um alles im Raum erkennen zu können. Erneut gähnend schlug sie die beiden übereinanderliegenden Bettdecken, die sie zu dieser Jahreszeit definitiv noch brauchte, zurück und wollte gerade darunter schlüpfen, als es gegen ihre Zimmertür klopfte.
 

Irritiert glitt ihr Blick in die Richtung des Klopfens. Was wollte Cedric denn jetzt noch von ihr? „Ja?“, rief sie fragend und setzte sich auf das Bettende, während der Silberhaarige eintrat. Sofort musste sie schlucken. Der Bestatter trug lediglich eine schwarze Unterhose und ein weißes Hemd, wobei die Knöpfe des Hemdes nicht einmal geschlossen waren und sie somit eine wunderbare Aussicht auf seine nackte Brust hatte. Ihr Mund wurde trocken.
 

„Ich wollte nur nachsehen, ob alles in Ordnung ist“, meinte er und Carina wusste sofort, worauf er anspielte. Einer ihrer Mundwinkel hob sich ein wenig, sodass sie ihn nun schief anlächelte. „Keine Sorge, mir geht’s gut. Ich werde schon schlafen können, mach dir keine Gedanken.“ Ihr Lächeln wurde eine Spur wärmer. „Aber danke, dass du gefragt hast.“
 

Seine gelbgrünen Augen hefteten sich auf dieses eine Lächeln in ihrem Gesicht, das ihn jedes Mal aufs Neue ein wenig aus der Fassung brachte. Dann wanderte sein Blick an dem weißen Nachthemd hinab, das ihr lediglich bis zu den Knien reichte, aber zu seinem Glück – oder Leidwesen – wenigstens nicht durchsichtig war wie das Negligé im Weston College. „Sicher?“, fragte er und war schon fast enttäuscht darüber, dass sie nickte. Irgendein Teil seines männlichen Stolzes hatte darauf gehofft, dass sie ihn darum bitten würde diese Nacht wieder bei ihr zu schlafen. Erneut kam ihm die Befürchtung, dass sie ihn vielleicht gar nicht mehr wollte. Nicht mehr als Mann wollte.
 

Carina sah einen seltsamen Ausdruck über sein Gesicht huschen, als er sich von ihr abwandte und scheinbar das Zimmer wieder verlassen wollte. Doch im letzten Augenblick hielt er noch einmal inne, die Hände im Türrahmen und einen Fuß bereits im Flur. Sein Kopf wandte sich ihr wieder zu und die 19-Jährige erstarrte, als er sie mit einem eindringlichen Blick anschaute. „Carina, wenn du kein Interesse mehr an mir hast, dann musst du es mir sagen“, sagte er sehr ernst und schaute die junge Frau, deren Augen sich erschrocken geweitet hatten, abwartend an.
 

Was bitte? Carina starrte ihn schockiert an, konnte nicht glauben, was sie da gerade gehört hatte. Das dachte er? Dass sie ihn nicht mehr liebte? Ja, hatte er denn jetzt vollkommen den Verstand verloren? Als ob es in dieser Hinsicht für sie jemals einen Weg zurück gegeben hätte. „Das ist meine Schuld“, wurde es ihr sogleich bewusst. Mit ihrem Verhalten hatte sie dafür gesorgt, dass er so etwas dachte. Etwas, das ganz und gar nicht stimmte.
 

Dem Undertaker wurde das Herz schwer, als er in ihre erstarrte Miene sah. Also doch…
 

„Verstehe“, murmelte er, wandte sich nun zum zweiten Mal von ihr ab. Carinas Kopf ruckte abrupt in die Höhe. Oh nein, das würde sie auf gar keinen Fall zulassen! So würde sie diese Angelegenheit nicht stehen lassen.
 

„Du Idiot“, rief sie und sorgte somit dafür, dass nun der Bestatter derjenige war, der sie erschrocken anstarrte. Die Shinigami bedachte ihn mit einem entschlossenen Blick, gleichzeitig aber glänzten ihre Augen verdächtig im Schein der Petroleumlampe. Und dann kamen die Worte, die ihn für den Rest des heutigen Tages völlig aus der Bahn werfen würden.
 

„An meinen Gefühlen für dich hat sich nicht das Geringste geändert, Cedric.“
 

Sie sagte es mit einer derart festen Stimme, dass es keine Zweifel an der Aussage in ihren Worten geben konnte. Seine gelbgrünen Augen weiteten sich um wenige Millimeter. Stille breitete sich wie ein Tuch über die beiden Todesgötter aus, während sie sich weiterhin nur gegenseitig in die Augen schauen konnten. Und zum allerersten Mal waren da keine Mauern, keine Barrieren zwischen ihnen. Zum allerersten Mal konnte Carina in Cedrics Augen lesen wie in einem offenen Buch und sie war sich sicher, dass er das Gleiche bei ihr tat. Sie öffnete den Mund, ohne überhaupt zu wissen, was sie eigentlich sagen wollte. Doch weiter kam sie ohnehin nicht. Innerhalb einer Sekunde war der Bestatter, der eben noch halb im Flur gestanden hatte, bei ihr am Bettende. Direkt über ihr. Das Letzte, was Carina wirklich geistig realisieren konnte, waren seine warmen Hände, die sich auf ihre Wangen legten.
 

Dann pressten sich seine Lippen mit solch einer Inbrunst auf ihren Mund, dass es der jungen Frau den Atem raubte. Sie hatte gerade einmal Zeit den Kuss zu erwidern, ehe sein Schwung sie nach hinten drückte und sie zusammen aufs Bett fielen, sein Körper schwer auf dem ihren. Sie keuchte in seinen Mund hinein, spürte sogleich die altbekannte Hitze in sich aufsteigen. So eindringlich hatte er sie noch nie geküsst!
 

Carina verlor vollkommen den Kopf, vergaß wo oben und unten war und hätte vermutlich auch ihren eigenen Namen vergessen, wenn sich Cedric nicht in diesem Moment von ihr gelöst und eben diesen heiser gegen ihr Ohr geknurrt hätte, nur um sich gleich darauf ihrem Hals zu widmen. Ein raues Stöhnen entfuhr ihrer Kehle, als sich seine Zähne in die empfindliche Haut ihrer Halsbeuge bohrten und sich seine Hände zeitgleich von ihren Wangen lösten, um über ihre Arme hinweg nach unten zu gleiten. Erregt schloss sie die Augen und legte den Kopf unbewusst weiter in den Nacken.
 

Der Undertaker fühlte, wie sich ihre Finger in die offenen Knopfleisten seines Hemdes gruben und ein wenig daran zerrten, als er seinen Mund fester um ihre heftig pochende Halsschlagader schloss. Gleichzeitig erreichten seine Hände endlich den Saum ihres Nachthemdes und schoben ihn ohne zu zögern nach oben, über ihre Knie bis zu den Rundungen ihrer Hüfte hinauf. Ohne wirklich hinzusehen glitten seine Finger anschließend sofort wieder nach unten und fanden nicht einmal eine Sekunde später ihren Slip. Kurz darauf spürte, fühlte er die Hitze und die Feuchtigkeit unter dem dünnen Stück Stoff und als Carina unter seiner Berührung erneut aufstöhnte, raubte es ihm den letzten Rest seiner Selbstbeherrschung.
 

Er konnte nicht länger warten, er brauchte sie jetzt! Er hatte schon viel zu lange gewartet…
 

[...]
 

Der Silberhaarige schaute auf die junge Frau herab, die Mutter seines Kindes. Einige ihrer blonden Strähnen hingen ihr verschwitzt in der Stirn, das Nachthemd klebte ihr am Körper. Vor lauter Anstrengung hatten sich die Wangen der 19-Jährigen gerötet und auch der Griff ihrer Hände an seinem Rücken hatte sich gelöst, sodass ihre Arme nun erschlafft auf dem Bett lagen. Genau in diesem Augenblick erwiderte Carina seinen Blick und lächelte, halb schüchtern, halb vergnügt. Scheinbar war er nicht der Einzige, der sich von den Entwicklungen der letzten 10 Minuten ein wenig überrumpelt fühlte. Dennoch musste er ihr Lächeln einfach erwidern. Sie war so wunderschön…
 

Carina schloss die Augen, als er sich zu ihr herunterbeugte und sie innig küsste. Sein Körper sank auf sie, erdrückte sie mit seinem Gewicht, allerdings auf angenehme Weise. Sie vergrub ihre Nase in seinem silbernen Haar, atmete seinen Duft ein und seufzte wohlig auf. Wie lange hatte sie auf diesen Moment gewartet, wie lange hatte sie sich nach seiner Nähe verzehrt? Und jetzt war er wieder da, hier bei ihr und sie wusste, dass sich jede einzelne Sekunde des Wartens, des Hoffens gelohnt hatte.
 

„Carina, ich-“, begann er plötzlich, doch die Schnitterin schüttelte schnell den Kopf. „Nicht heute“, hauchte sie und ließ ihren Kopf zurück auf das Bett fallen. „Lass uns morgen über alles sprechen. Jetzt… möchte ich einfach nur diesen Moment genießen und schlafen.“ Sie gähnte leise, was er mit einem ebenso leisen Lachen quittierte. „Ja“, murmelte er und drückte ihr einen Kuss auf die Wange, ehe er sich sanft erhob und aus ihr herausglitt. Das weiße Hemd, das ihm etwas feucht am Körper klebte, zog er aus und schmiss es neben seine Unterhose auf den Boden. Während er schweigend die Lampe auf dem Nachtischchen löschte, tat Carina es ihm gleich und zog sich das Nachthemd über den Kopf. Sie rutschte ans Kopfende, sodass Cedric die Bettdecken anheben und darunter schlüpfen konnte. Er legte sich auf die Seite, mit dem Kopf in ihre Richtung gedreht, und hob die Bettdecke neben sich erneut an.
 

Carina folgte der stummen Einladung, kroch unter den wärmenden Stoff und rückte an ihn heran, bis ihr Rücken sich dicht an seine Brust schmiegte. Sofort schlang sich sein rechter Arm um ihre Taille, zog sie noch etwas näher an seinen Körper. Die 19-Jährige lächelte und ergriff seine Hand, hielt sie fest. „Gute Nacht, Cedric“, flüsterte sie in die jetzt herrschende Dunkelheit hinein. Der Bestatter küsste sie in den Nacken, vergrub anschließend zufrieden seinen Kopf an eben dieser Stelle. „Gute Nacht“, wisperte er und schloss die Augen, als auch ihn jetzt die Müdigkeit ergriff. Er konnte sich nicht daran erinnern, wann er sich das letzte Mal so glücklich, so befreit gefühlt hatte.
 

Und dieses Mal würde er nicht alleine aufwachen…



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