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Wintersonett

Which dreamed it?
von

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Konzert I - DOWN THE RABBIT HOLE, 1. Satz, Allegro non molto


 

𝄞

 

 

(Wann sehe ich dich wieder?)

(Bald. Ganz bestimmt)

Schnee

(Aber wann ist bald?)

(Bald!)

Schnee

(Aber wo ist bald?)

Schnee Schnee Schnee Schnee

 

(Alice nimm dies Märchen und flicht's ein mit sanfter Hand in Träume aus der Kinderzeit...)

 
 

𝅘𝅥.

 

Grässlich.

(Komm und sieh ihn dir an riefen die Brüder aus und beide nahmen Alice an den Händen und führten sie dorthin wo der König schlief)

Es fühlte sich grässlich und absolut falsch an so dazu liegen.

Die Hände sanft auf seiner Brust übereinander gefaltet lag Myotismon in seinem Sarg und starrte durch die Schwärze hindurch gegen den Sargdeckel und wäre dieser offen hätten seine Untergebenen sehen können, dass auf seinem Gesicht alles andere als Entspannung zu sehen gewesen wäre.

Es war Mittag, er musste nicht aus seiner improvisierten Gruft heraus um dies zu wissen, seine innere Uhr sagte ihm, dass es noch hellster Tag war und es war absolut falsch. Er sollte ruhen, er sollte Kräfte sparen und sammeln, bis das elende Sonnenlicht fort war und nun kostete es ihm fast mehr Energie seine Lider überhaupt geschlossen zu halten.

Seit er in der Menschenwelt angelangt war hatte Myotismon einiges an Ausdauer eingebüßt. Die Tage waren entsetzlich lang und selbst in der Nacht spürte man die Hitze der Sonne in der Luft. Die Bakemon litten am meisten darunter. Sie waren es gewohnt im Norden Servers zu leben, wo der Unterschied von Tag und Nacht kaum zu spüren war und sie mit angenehm kalten Brisen durch die Wälder flogen.

Und ihm, der zwar viel stärker, aber immer noch ein untotes Digimon war, ging es nicht anders, darum verschliefen Digimon wie er eines war schließlich den Tag, um in der Nacht Herr ihrer vollen Stärke zu sein.

(Warum liege ich dann wach?)

Gute Frage, auf die er keine Antwort fand. Was hatte er sonst getan, wenn er nicht schlafen konnte? Das letzte Mal war zu lange her, dass Myotismon nicht einmal mehr wusste, was beim letzten Mal die Ursache gewesen war.

Ihn plagte schlicht die Unruhe. Eine, die ihn nicht schlafen ließ, obwohl er es sollte, dringend sogar, aber sein Gehirn schien wie in zwei geteilt. Die eine Hälfte wollte ruhen, die andere schickte bereits Impulse zu den Beinen, damit sie sich in Bewegung setzen konnten.

Weiter unter vier Augen mit der Schwärze überlegte Myotismon, was er sonst bei Unruhe tat. Nun, dass kam wohl darauf an welche Form von Unruhe es war. Die Unruhe nach Hunger erklärte sich von selbst. Aber diese andere...

Bücher halfen da oft ganz gut.

Myotismon begann seine Bibliothek zu vermissen. Er hatte sich die letzten Wochen nur mit seinen eigenen Nachforschungen beschäftigt, dass es ihn selbst doch irgendwie überraschte, dass es ihm nicht irgendwann zum Halse heraushing. Menschen, die keine Digiritter waren, waren so uninteressant. Ihre Bücher waren dafür umso spannender. Fachliteratur eben, die sich manifestiert hatte, weil Daten davon irgendwie in die Digiwelt gelangt waren und etwas - vielleicht eine höhere Existenz, vielleicht auch Zufall - beschloss es in dieser zusammengewürfelten Welt aus Bits, Bytes und wirren Fantasien aufzunehmen. Verstehe wer den Sinn.

Aber Myotismon würde sich darüber nicht beschweren. So manchen literarischen Schatz aus Philosophie und Psychologie, Wissenschaft und Alchemie hatte er schon finden können und verschlang so einige Wälzer binnen einer Nacht. Dazwischen fand man auch hin und wieder einfach Erzählungen, die zwar nicht sonderlich bereichernd waren, aber doch einen gewissen Unterhaltungswert besaßen.

Einige menschliche Autoren kannte man in der Digiwelt beim Namen, da ihr Maß an Werken ebenso hoch war wie ihr Grad der Bekannt- und Beliebtheit und entsprechend existierten auch sehr viele Daten in den digitalen Landen. Selbiges galt auch für Künstler. Und für Musiker.

Musik. Das wäre es. Sanfte Klavierklänge, so wie Schneefall, das wäre genau das Richtige.

Vivaldi... Der Winter. Der Schneesturm.

Nein, es müsste nicht einmal das sein. Tchaikovsky, Bach, Dvorak, was auch immer, Hauptsache es wurde auf einem Piano gespielt. Und irgendein Buch dazu, ob Fachliteratur oder eine Mär aus Traum und Wirrsinn. Sogar dieses Buch würde er lesen, wenn die Unruhe dafür verschwinden würde.

Aber es würde nicht so passieren. Hier gab es keine Musik, keine Bücher und keinen Winter. Nur ihn und die Unruhe und dieses Duett war unstimmig und hörte sich grässlich an und es trieb Myotismons ohnehin schon schlechte Laune nur weiter ins Bodenlose.

Das Echo des Sargdeckels, den Myotismon mit der Kraft, die sich in seiner Wut angesammelte hatte hallte im gesamten Untergrund. Das leise Echo eines Bakemon, das versuchte mit Schlaf die Tageszeit zu überwinden, bis es dunkel wurde und von dem Krach aufgeschreckt war drang in seine Ohren, aber Myotismon machte sich nicht die Mühe genau auf die Worte zu achten und sie in seinem Kopf zu verarbeiten.

Er hatte schon genug Schmerzen. Was musste das achte Kind auch in so einer Stadt leben, kaum Bäume und kaum Orte, an denen man sich verstecken konnte? Zwar waren die Häuser der Menschen von beeindruckender Höhe und warfen entsprechen große Schatten, aber aus weißen Stein und Glas gebaut, dass sie so ihre Umgebung nur heller erschienen ließen und Hitze sich staute.

Winter. Wenn wenigstens Winter wäre. Wenn es schneien würde, wie in Vivaldis ersten Satz. Wie.... dort.

„Meister Myotismon, ist etwas passiert?“

Und wieder ignorierte Myotismon die Worte, auch wenn sie diesmal direkt an ihn gerichtet waren und ließ das Bakemon verdutzt in der Luft schweben. Es schwieg vorsichtshalber, nicht sicher in welcher Laune sein Meister war.

„Ich gehe.“

Das Bakemon schaute noch verwirrter drein, traute sich aber immer noch nicht seinem Meister irgendwelche Fragen zu stellen. Schweigend blickte es Myotismon nach, die Steintreppe hinauf, die aus seiner Gruft (wenn man es so nennen durfte) führte, in die Räume, in denen sich seinen Truppen sammelten, die zwar größer, aber genauso wenig Licht oder irgendeinem Sinn für Räum- oder Bequemlichkeit besaßen. Nur wenige Bakemon waren noch hier und schliefen so fest in den Schatten, dass nicht einmal der schnelle Gang ihres Herrn sie weckte.

Das Bakemon jedoch, dass wach geworden war und sich schon mehrmals die Augen rieb, weil es immer noch dachte es würde schlafen, sah Myotismon aus einer sicheren Distanz zu, wie er sich einen der langen Trenchcoats anzog, die seine Diener in der näheren Umgebung gestohlen hatten, damit sich jene unter ihnen, die zwar humanoid, aber dennoch nicht ganz menschlich wirkten zumindest getarnt einen Fuß in diese Stadt setzen konnten.

„Meister, es ist noch hell draußen.“

„Ich weiß.“

In Gedanken schimpfte Bakemon sich selbst als Trottel. Natürlich wusste er das, wie hatte es auch nur einen Moment daran zweifeln können, dass Meister Myotismon das nicht hätten wissen können?

Schlau wurde Bakemon jedoch nicht daraus.

„Wollt Ihr nicht weiter ruhen, bis die Nacht angebrochen ist? Ihr braucht doch Eure Kraft um das achte Kind zu vernichten.“

„Wie, wenn keiner es schafft dieses Kind überhaupt zu finden?“, sagte er wütend, weniger aber auf das Bakemon, sondern über den Mantel, da Myotismon Probleme hatte seinen hohen Kragen in den des Trenchcoats zu stopfen und seinen Umhang so einzupacken, dass man ihn unter dem Mantel nicht sehen konnte. Er brauchte drei Anläufe, bis er es schaffte den Kragen so zu legen, dass er mehr wie ein Schal wirkte und den Umhang um sich gewickelte, dass er nicht schleifte.

„Jede weitere Sekunde ohne eine Spur ist eine vergeudete. Die Digiritter suchen ebenfalls nach diesem Kind. Ich kann nicht zulassen, dass sie es vor mir finden.“

In dem Haufen aus verschiedenen Stoffen fand Myotismon schließlich auch einen Fedora, mit dem gleichen hellgrauen Ton wie der Trenchcoat. Der Hut war zwar ein wenig zu groß, aber so verdeckte der Schatten, den dieser warf Myotismons Maske besser.

„Heißt das, ihr wollt Euch persönlich auf die Suche machen? Um diese Zeit? Ist das denn wirklich eine gute Idee?“

„Besser wie hier zu liegen und nichts zu tun.“

Zwar hielt Bakemon es weiter für eine schlechte Idee, seinen Meister fort zu lassen, aber genauso schlecht war die Idee es ihm auszureden. Geist- und Untote-Digimon bei Tag, dass vertrug sich nicht und brachte so sicher ein Unheil mit sich, so sicher wie der Tod selbst war. Und noch gewisser war er, wenn man Regel Nummer Zwei missachtete und diese lautete:

Lasset den Meister in Ruhe, wenn er schlechte Laune hatte.

Nervös blickte Bakemon um sich, hoffte auf Unterstützung, aber alle seine Kameraden schliefen fest und schnarchten.

„Und was soll ich den anderen sagen, wenn sie Euch suchen, Meister Myotismon?“

„Denk dir was aus!“, und mit diesen deutlich verstimmten Worten trat Myotismon einen Schritt in die Schwärze, bis er gänzlich mit ihr verschmolz und verschwand. Bakemon blickte noch lange in dieses schwarze Nichts, bis das Geräusch von Fledermäusen verschwunden war.

„Lass ihn“, murmelte Phantomon in einer Ecke, leicht verschlafen und Bakemon war sich erst nicht sicher, ob sein im übertragenen Sinne großer Bruder wirklich wach war oder im Schlaf nur Wortfetzen von sich gab.

„Aber wenn dem Meister was zustößt, Phantomon? Was sollen wir ohne ihn machen?“

„Sei nicht so vorsintflutlich. Meister Myotismon kann man nicht halten. Da merkt man eben, dass er nicht aus unseren Kreisen stammte. Ihm etwas ausreden zu wollen hat keinen Sinn. Hatte es nie gehabt. Er ist anders als wir.“

Phantomon wollte einmal tief seufzen, gähnte aber stattdessen.

„Vertrau mir, wenn ich dir sage, dass er spätestens heute Nacht wieder da ist. Schlaf also weiter.“

„Du hast leicht reden“, maulte Bakemon, aber Phantomon hatte wieder das schattenhafte Gesicht unter seiner Kapuze vergraben und schlief weiter. Mit gesenkten Kopf zog das Bakemon sich wieder auf seinen Posten zurück, den Rücken der Tür zu seines Meisters Gemach zugewandt.

Und was sollte es nun Gatomon und DemiDevimon sagen, wenn sie vor hätten mit dem Meister zu sprechen?

Ehe Bakemon sich darum Gedanken machen konnte, war es jedoch wieder eingeschlafen.

 
 

𝅗𝅥
 

Draußen war es tatsächlich etwas erträglicher, zu verdanken hatte Myotismon dies dem Wind, der hin und wieder aufkam und ihm ins Gesicht fuhr. Doch dieses angenehme Gefühl hielt nicht lange. Nicht nur das Licht, diese vielen Geräusche, die vielen Gerüche, die vielen Stimmen gepaart mit den Temperaturen zerrten an ihm.

Müde war Myotismon nicht, aber er fühlte sich schwach. Der Kopf schmerzte immer noch und die Gedanken kreisten und diese vielen, vielen Reize in dieser Welt hinderten ihn daran die Bilder und Töne zu ordnen.

Dass er am Tage ohne Probleme umherlief war schon Ewigkeiten her. Wohl, seitdem er vom Champion zum Ultra-Level digitiert war nicht mehr. Aber wie lange war das nun her?

Die wenigen Male, dass er sich am Tage außerhalb seines Domizils befand waren nicht mehr wie kurze Ausflüge, unter den Voraussetzungen, dass die Sonne niedrig stand und ein Bakemon oder Soulmon, meist jedoch DemiDevimon einen Sonnenschirm hielt, um seinen Meister von den Sonnenstrahlen zu schützen.

Kurz kam ihn der Gedanke, einfach etwas Nebel in diese Stadt zu bringen, aber dies würde ihm nicht nur viel Kraft kosten (Sparsamkeit war schließlich eine Tugend, hatte ihn man zumindest einmal gelehrt), sondern würde seine Anwesenheit offenbaren und er wollte weder den Digirittern, noch seiner Gefolgschaft begegnen.

Außerdem trugen der Mantel und der Hut auch genug zu seinem Schutz bei.

Während Myotismon durch die Straßen der Innenstadt von Odaiba lief hatten ihn einige Leute hinterher geschaut und hatten irgendwas wie Freak gesagt und Was lief der denn mit Mantel und Hut bei diesem Wetter herum?

Ansonsten aber schenkte man ihm wenig Beachtung. Für die Menschen hier war er wohl, aufgrund dessen dass er mit dieser Tarnung auffiel komisch und unheimlich und lieber machte man einen Bogen darum. Ein klassischer Außenseiter und das war in Ordnung. Ein Außenseiter zu sein war er gewohnt. Als Außenseiter hatte man Privilegien und nicht angesprochen zu werden war eines davon. Ein paar kleine Kinder (keines davon natürlich das achte Kind) schaute etwas verdutzt, aber wurden von ihren Eltern meist getadelt, wenn sie zu lange starrten und mit den Finger auf ihn zeigten.

Aber so konnte er das kleine Fünkchen Ruhe genießen.

Nicht einmal seiner Dienerschaft erkannte ihn. Wizardmon kam ihn an einer Straßenkreuzung entgegen, mit einer Schar Kinder hinter ihm, ohne aber dass dieser etwas merkte. Da Myotismon unter seinem Umhang selbst eine Fälschung des achten Wappens bei sich trug wusste er sofort, dass auch hier keines dieser Anhängsel das gesuchte Kind war.

Mitten auf dem Zebrastreifen blieb Myotismon stehen und schaute Wizardmon nach, der wie der Rattenfänger von Hamel mit den Kindern Richtung Westpromenade lief. Nicht zu fassen, dass dieser ihn einfach so übersah. Es war wohl der Gedanke der Unwahrscheinlichkeit, der dies ermöglichte.

Myotismon hätte ja selbst nicht damit gerechnet, dass er um diese Zeit auch nur freiwillig einen Fuß nach draußen setzen würde, aber der Drang sein Versteck zu verlassen war zu stark gewesen, stärker wie seine eigenen Instinkte. Erst in einem Keller, dann in der Kutsche, dann auf dem Schiff und dann...

Vielleicht hatte er aufgrund der doch stark eingeschränkten Bewegungsfreiheit etwas wie einen Lagerkoller entwickelt.

„Hey Mann, beweg' deinen Hintern von der Straße!“

Links und rechts von Myotismon hatten sich die Autos gestaut und die schrillen Laute ihrer Autohupen kamen gefühlt aus allen Richtungen. Zum dem Mann, der ihn angeschrien hatte gesellten sich zahlreiche weitere, die die Köpfe aus den Autos streckten und ihm vulgäre Wörter an den Kopf warfen.

Zu gern würde er ja...

Aber das wäre unvorteilhaft.

Also schritt er los, aber in einem absichtlich langsamen Gang auf die andere Straßenseite, die sich aber kaum von der anderen Seite unterschied. Wie trostlos und einfallslos diese Welt war.

Kurz sah er Gatomon zwischen einigen Büschen herumstreunen, Richtung Odaiba Seaside Park, der Schatten DemiDevimons zog über ihm vorbei und umkreiste das Einkaufszentrum, an dem Myotismon vorbei lief und flog dann wieder Richtung Fuji TV, dann über den Fluss.

Am Fluss selbst konnte man, wenn nur für einen kurzen Augenblick die Schatten von MegaSeadramon und Gizamon erkennen. Alle auf der Suche nach dem achten Kind. Und alle bisher ohne Erfolg, genauso wie er.

„Was mache ich hier eigentlich?“, seufzte Myotismon, wenn er auch lieber laut geflucht hätte. Zu glauben, die Suche nach dem achten Kind wäre einfach, wäre mehr als nur naiv gewesen. Dass es aber dabei zu solchen Schwierigkeiten käme, daran hatte er nicht gedacht. Gemeint war damit nicht mal das Klima, vielmehr die Einschränkungen und diese Menge. Die Menschen lebten eng beieinander und zuhauf, dazu kam ihre geradezu neurotische Art.

Mammutmon löste bei seinem Kampf mit den Digirittern schon Panik unter ihnen aus, doch zu irgendeiner Form der Gegenwehr kam es bisher nicht. Vermutlich hielten sie dieses Ereignis, zu Myotismons Glück, für einen Einzelfall oder gingen nicht davon aus, dass hinter diesen Ungeheuern etwas Größeres dahinterstecke als eine Laune der Natur.

Doch er musste Vorsicht wallten lassen und möglichst mit verdeckten Karten spielen, wenn er den Digirittern zuvor kommen wollte. Das bedeutete, er musste so unauffällig wie möglich bleiben und die Stadtbezirke einzeln absuchen.

In Hikarigaoka hatte er bereits keinen Erfolg gehabt. Vielleicht wurde er hier, in Odaiba, oder an den angrenzenden Bezirken nun eher fündig. Vorausgesetzt natürlich seine Truppen würden ihre Arbeit etwas schneller vorantreiben, anders wie Wizardmon, der wohl lieber seine Zeit mit Kunststückchen vergeudete. Oder nicht ständig die selben Kreise über den selben Häusern ziehen würden, wie DemiDevimon es tat.

Und wo sollte er suchen?

Zwei Kinder liefen an ihm vorbei, die Eltern folgten ihnen. Sie riefen ihnen nach, dass sie langsamer machen sollten, doch ohne jede Reaktion auf diesen Appell stürmten sie auf das Einkaufszentrum zu, wo noch mehr Kinder standen und sich die Plakate an der Außenwand, geschützt von Glas, mit den aktuell laufenden und kommenden Filme ansahen.

Das gefälschte Wappen befand sich in der Innentasche von Myotismons Trenchcoat. Er holte es heraus und hielt es, möglichst unauffällig in die Richtung, in der die Schar von Kindern, die sich vor dem Plakat eines gezeichneten Mädchens mit blonden Haaren und blauen Kleid versammeltn, dass einem weißen Kaninchen nachlief.

(FAMILIENSONNTAG, JEDEN SONNTAG EIN KLASSIKER FÜR GROSS UND KLEIN, ERWACHSENE MIT KINDER ERHALTEN ERMÄSSIGTEN EINTRITT, WALT DISNEY'S ALICE IN WUNDERLAND, 12 UHR, 15 UHR, 18 UHR)

Er kannte dieses Mädchen, dass zu dieser bestimmten Geschichte gehörte nur zu gut. Genauso wie das weiße Kaninchen mit der Uhr. Myotismons Gesicht verzog sich. Selbst in dieser Welt wurde er also nicht von diesem Unsinn auf Papier, der Inkarnation des Nonsens verschont.

Alice in Wunderland. Bescheuertes Buch.

Das Wappen reagierte genauso wenig auf die Kinder, wie diese auf ihre genervten Eltern, die in ihren Taschen nach den Karten oder dem Geld suchten und noch bevor sie eines von beidem fanden waren sie schon hineingelaufen.

Ein weiterer Fehlschlag also.

Während Myotismon noch überlegte, welchen Weg er nun einschlagen sollte, galt sein Augenmerk jedoch den verschiedenen Filmplakaten hinter den Glaswänden zu beiden Seiten des Haupteinganges, verlangsamte sein gewohntes Schritttempo und sah sich jedes einzelne Plakat an. Es waren wohl größtenteils Inland Filme

(POPPOYA, JEDEN TAG, 13 UHR, 17 UHR, 20 UHR,

STUDIO GHIBLI MEINE NACHBARN DIE YAMADAS, MO-DI UND DO.-SA. 12 UHR, 15.00 UHR, MI. UND DO. 13.30 UND 17.30 UHR,

SAIMIN, MI. 18 UHR UND 20.30, SA. UND SO. 20 UHR,

DEMNÄCHST IM UNSEREM PROGRAMM: AWAY WITH WORDS, SHIKOKU, SECRET,...)

als auch ein paar, die wohl aus dem Ausland stammten

(MATRIX, JEDEN TAG, 19 UHR, 22 UHR, DIE MUMIE, MO.- FR. 15.30 UHR,)

und blieb schließlich an einem Filmplakat hängen, dass eigentlich nur aus Schwarz und Rot bestand. Aber trotz des schlechten Kontrastes war etwas zu erkennen, dass Myotismon selbst wohl als Artgenossen bezeichnen würde.

(FREITAG UND SAMSTAG ABEND, HORROR CLASSIC NIGHT, JOHN CARPENTERS VAMPIRES, 21.30 UHR, 0.30 UHR, FÜR JUGENDLICHE KEINEN EINLASS)

Myotismon verschränkte die Arme vor der Brust und legte den Kopf etwas schief, während er sich die Fratze in diesem roten Hintergrund ansah, die gierig und mit entblößten Zähnen auf die Schatten der Protagonisten starrte. Und wie länger er darauf starrte, so mehr hatte er das Gefühl diese Grimasse würde sich verformen und sein Blick läge nicht mehr auf seinen Opfern, die mit ihm den Platz auf dem Plakat teilten, sondern auf Myotismon.

Zwei Teenager-Mädchen waren neben ihm stehen geblieben und bei dem Anblick des Plakates geritten sie, zu seiner Verwirrung, ins Schwärmen und fingen an zu kichern.

„Da müssen wir unbedingt rein, hörst du.“

„Wir sind doch zu jung, die lassen uns da bestimmt nicht rein.“

„Frag doch deinen Bruder, ob der mit uns geht. Der ist doch schon volljährig.“

„Der geht bestimmt nicht mit, er mag keine Horrorfilme.“

Enttäuscht blickten die beiden Mädchen gebannt auf das Filmplakat, bis die eine die andere anschubste.

„Aber meine Eltern haben einen alten Dracula-Film zu Hause, aus den Fünfzigern oder Sechzigern glaub ich, du wirst diesen Film lieben. Und Graf Dracula erst. Zum fürchten, aber zum dahin schmelzen, wie ein guter Vampir eben sein muss.“

„Oh ja, wir machen Pyjama-Party bei dir zu Hause!“, kicherten sie gerade hysterisch und liefen schnell weiter. Myotismons Blick folgte eine Weile noch den zwei Mädchen, die ebenfalls im Einkaufscenter verschwanden, dann wieder zurück zum Plakat, wobei er nicht dieses ansah, sondern eher sein Spiegelbild, dass die Glasscheibe wenn auch nur schwach reflektierte.

(Zum dahin schmelzen?)

Dachten die Menschen wirklich so von Seinesgleichen?

Myotismon fasste den Entschluss, hätte er irgendwann die Kontrolle über diese Welt, wäre eine seiner ersten Tätigkeiten, das Fantasiebild, was Menschen von Vampiren hatten etwas umzugestalten.

Vielleicht.

Er lief weiter, aber sein Schritt verlangsamte sich erneut. Es musste ein Finanzgenie gewesen sein, dass auf die Idee kam fast neben dem Einkaufszentrum, in dem sich das Kino befand eine Videotheke aufzustellen, da die Filmlust, die die Plakate in potenziellen Kunden weckte und anschließend daran vorbei gingen, sie eher zum Kauf eines Filmes animieren würde.

Im Schaufenster der Videotheke standen vier Fernseher und auf allen vier Geräten liefen unterschiedliche Filme, doch nur einer hatte Ton. Auf dem mittleren Fernseher, dem zweitgrößten im Schaufenster, sah sich Myotismon kurz einige Szenen dieses Films an, was aber doch nicht der richtige Film war, sondern nur eine Zusammensetzung einiger Szenen. Diese zeigten vier Jungen, die durch einen dichten Wald liefen und von dort auf eine Brücke kamen, auf der Bahngleise lagen und schließlich wechselte es zu einer Szene, wie zwei der Jungen (ein hagerer Bursche und ein Dickerer, wohl auch kein Film aus dieser Region) auf besagter Brücke von einem Zug wegrannten, der kurz davor war sie gnadenlos zu überfahren, während aus dem Gerät die Stimme von Ben E. King Stand by me sang:

(If the sky that we Look upon should tumble and fall

Or the mountain should crumble to the sea

I won t cry

I won t CRY)

Myotismon erwischte sich dabei, wie er seinen Kopf leicht zu der Melodie hin und her bewegte, und als er das realisierte, zu welchen Verhalten er sich hatte hinreißen lassen, schüttelte er den Kopf, als würde er so den Rhythmus, den er verinnerlicht hatte so wieder loswerden und hoffte, dass ihn dabei keiner gesehen hatte.

Er blieb nur kurz an dem kleinsten Fernseher hängen, der eine Szene zeigte in der ein Mönch oder ein Priester, ein großer Affe, ein Schwein-Mensch-Wesen und ein weiterer Mann mit dicken, dunklen Bart einen Bergpfad entlang gingen. Den Priester sah sich Myotismon sehr lange an, während er immer noch Ben E. Kings Gesang hörte und wieder damit begann seinen Kopf mit dem Takt zu bewegen. Zumindest zur Melodie, die in seinem Kopf etwas klavier-ähnlicher wurde. Eine einfache Melodie eben, leicht auf einem Klavier zu spielen.

„Auch du hast wohl ein Pendant in dieser Welt. Wenn dir deine digitale Form jedoch weitaus besser steht, als diese hier, Sanzomon.“

Als Ben E. King verstummte, hörte Myotismon hohe Stimmen aus der Ferne näher kommen. Eine davon eine Kinderstimmen, jedoch klang sie wie die Stimme eines Digiritter. Er war sich sogar absolut sicher, dass sie es waren, trotz dem Lärm, den der Verkehr verursachte würde er diese Stimmen unter Tausenden wiedererkennen.

Es stellte sich als nur einer der Jungen heraus, das Kind der Zuverlässigkeit, dass die Straße entlang gelaufen kam, sein Digimon offensichtlich in der viel zu großen Sporttasche versteckt. Myotismon hätte so tun können, als würde er den Jungen nicht kennen und wäre so nicht einmal bemerkt worden, bei seinem Digimon war er sich aber weniger sicher.

Bevor sie aber selbst vor der Videotheke standen, hatte Myotismon sich in die entgegen gesetzte Richtung aufgemacht. Eine Feuertreppe an der Seite des hohen Gebäudes, dass teils von Bäumen bedeckt war kam ihn da ganz gelegen. Mit einem kräftigen Satz - und er musste sich dann doch über die Ignoranz der Menschen wundern, da ihn keiner bemerkte - sprang er zu ihr hoch und mit einem weiteren großen Sprung auf das Dach des Gebäudes, zu dem die Videotheke auch noch gehörte. Die Rollläden der großen Fenster waren, zum Schutz vor den Sonnenstrahlen komplett runter gefahren worden.

Die Oberfläche war bedeckt mit Kiesel und zwischen den grauen und weißen Steinen und dem Kies ragten hellgrünes Gras und Pusteblumen heraus. Zweitere wirbelten auf durch den aufkommenden Wind, den Myotismon bei seinem Sprung erzeugte und sorgte dafür, dass ihre kleinen dunklen Samen, die an ebenso kleinen weißen Schirmen hingen erst auf- und dann wegflogen. Myotismon sah ihnen kurz nach und dachte an Schnee.

Der Digiritter, noch sein Partner hatten ihn bemerkt, er konnte den Jungen nur jammern hören, und er jammerte laut. Dafür dass Myotismon auf Höhe des zweiten Obergeschosses war, konnte er ihn so gut hören, als stände er neben dem Kind. Aber schließlich besaß er auch ein sehr - für jemanden, der mit Fledermäusen sympathisierte typisches und für jemanden, der sich mit Musik auskannte nötiges - empfindliches Gehör.

„Warum habe ich mich dazu überreden lassen die Telefonlisten durchzuchecken? Ab Morgen ist doch die Sommerschule und ich habe noch so viel zu erledigen“, und sein Partner erwiderte darauf nur nüchtern, dass man ihm eben vertrauen würde.

„Außerdem, Joey -“, sprach das Gomamon dieses Jungen, „- bist du selbst Schuld. Du hättest Nein sagen können.“

„Aber ich kann die anderen doch nicht hängen lassen. Schließlich verlassen sie sich auf mich.“

„Siehst du, dass ist genau die Einstellung, die ich von dir hören will. Und jetzt ran an die Arbeit, wir müssen das achte Kind finden!“

Motivierter, dennoch weiter mit hängenden Kopf, lief er weiter.

Die hatten ihm gerade noch gefehlt. Wie er befürchtet hatte waren die Digiritter aktiv auf der Suche nach dem achten Kind, ihr Fortschritt schien jedoch nicht viel weiter wie sein eigener.

Myotismon schnaufte einmal tief durch, doch seine Lungen fühlten sich nach diesem kräftigen Atemzug dank dieser kaum auszuhaltenden Hitze schwerer an. Trotz dass er in einem schattigen Winkel stand brannte seine Haut, aber es war zu ertragen.

Er musste irgendwo hin wo es etwas weniger hell war, irgendwo, wo er vielleicht auch Kraft schöpfen konnte. Und vielleicht noch eine Mahlzeit her bekam. Er verlor in dieser Welt einfach viel zu schnell Energie. Und diese Unruhe erst, die Myotismon jahrelang in Frieden gelassen hatte und nun erbarmungslos an ihm zerrte, wie der Teufel an der unschuldigen Seele.

Mit der Hand über den Augen blickte Myotismon um sich. Nichts als grelle Gebäude, grelle Straßen, sogar grelle Pflanzen, es blendete einfach alles im Gegenlicht der Sonne.

Missmutig zog er das gefälschte Wappen aus seinem Mantel und ließ dass Amulett auf Augenhöhe in der Luft schweben, wobei es ein paar Mal dabei um sich selbst rotierte. Warum Myotismon es anstarrte, als ob er es einschüchtern könnte, bis es mit der Wahrheit von selbst rausrücken würde wusste er selbst nicht und er kam sich albern vor.

Gerade als er es wieder einstecken wollte, hatte es, wie aus heiterem Himmel angefangen zu leuchten. Erst hielt Myotismon es für eine Reflexion der Sonnenstrahlen, doch er merkte schnell, dass die Quelle dieses Lichtes vom Wappen selbst kam.

Das Kind war hier also irgendwo.

Vor Erregung zitterte seine Hände und hätte dabei das Amulett fast fallen gelassen, fing sich aber dann, als das Leuchten wieder schwächer wurde.

„Verdammt, nicht jetzt, wo ich endlich eine Spur habe!“

Er streckte das Wappen in verschiedene Richtung und tatsächlich nahm die Kraft und die Intensität des Leuchtens wieder zu, als Myotismon es dem Fluss zugewandt hielt und wunderte sich, warum es erst jetzt reagierte, da er dort ja bereits gesucht hatte. Vielleicht, aber auch nur vielleicht, war das achte Kind dabei zu fliehen, weil es wusste, dass man hier nach ihm suchte.

Die Rainbow Brigde, die ihren Namen ihrer farbenfrohen Nachtbeleuchtung zu verdanken hatte, fiel in Myotismons Blickwinkel.

Auch die Reste der Pusteblumen flogen in die Richtung der Brücke. In ihrem Flug schaukelten sie hin und her, als wollten sie Myotismon damit sagen, dass er ihnen folgen sollte, genau dorthin, nirgendwo anders, dort war der große Jackpot, also worauf wartete er noch, er sollte folgen, diesen weißen Dingern, so weiß wie Schnee, so weiß wie das hysterische, weiße Kaninchen aus dem Wunderland.

Die Menschen auf der Straße hörten nur noch schrille, hohe Laute und blickten überrascht zum Himmel und redeten wirr durcheinander, als sie die ein dutzend Fledermäuse am Himmel sahen, jedoch, durch den schwachen Kontrast nicht die Pusteblumen, denen sie über den Fluss hinweg folgten. In der Videotheke hatte Ben E. King wieder begonnen zu singen.

Myotismon würde nie erfahren, dass er lediglich einer diebischen Krähe bis nach Minato gefolgt war.

 
 

𝅘𝅥
 

Auf dem Aoyama Friedhof hatten sich aufgrund der beißenden Hitze nur wenige Leute zusammen gefunden. Selbst die Zahl Touristen, die herkamen um sich die Grabmale bekannter Namen anzuschauen, die allerdings in einem anderen Teil des Geländes waren, blieb verhältnismäßig klein. Die meisten Besucher, die wegen ihrer Trauer hier waren, waren vereinzelte ältere Leute, die in der Nähe des Friedhofs im Herzen Minatos wohnten.

Und dazwischen stand eine Frau (die nicht mal in der Nähe wohnte) am Grab ihres Ehemannes, den das Schicksal vor vier Jahren aus ihrem Leben riss und hielt ihre Tochter dabei an der Hand. Das Kind selbst hielt wiederum die Blumen, die sie mitgebracht hatten um das Grab etwas zu schmücken, eine kleine Vase hatte die Mutter selbst in ihrer Tasche. Wasser fehlte ihnen jedoch.

(Alice begann sich Recht zu langweilen als -)

„Bleib kurz hier bei Papa, ja Yuki? Ich geh nur schnell Wasser holen.“

Ein zaghaftes „Okay, Mama“ war die Antwort, ohne den Hauch von Besorgnis, trotz, dass dieses Kind schon am Vortag das Schlagen von großen, schweren Flügeln gehört hatte, wie in diesem Moment das Ächzen einer Krähe über ihrem Kopf, die wohl irgendwas bei sich hatte, dass die ganze Zeit Piep-Piep-Pieppiep oder so in etwa machte. Wohl hatte die Krähe irgendwo eine Uhr oder ein Spielzeug aufgeschnappt und mitgenommen. Man hörte noch, wie die Krähe mit ihrem Schnabel auf das Was-auch-immer-sie-aufgeschnappt-hatte hämmerte. Das Piep-Geräusch verstummte und das Mädchen dachte noch daran, dass die Krähe es hoffentlich nicht kaputt gemacht hatte.

Im selbigen Moment hörte sie ebenfalls Laute, die wie eine Schar Fledermäuse klang, die sich irgendwo in den Bäumen niederließen. Aber Fledermäuse? Um die Uhrzeit?

Aber sie machte sich weiterhin keine Sorgen. In letzter Zeit war vieles komisch. Das Wetter vor allem, klar dass die Tiere verrückt wurden. Und dann diese Monster, von denen man im Fernseher erzählte. In verschiedenen Shows und Radiosendungen hatten sie darüber diskutiert, ob es Mutanten oder Aliens waren. Sie hielt beides für dämlich, wenn sie selbst aber auch keinen guten Vorschlag hatte.

Aber sie machte sich weiter keine Sorgen, auch als sie die Fledermäuse noch einmal hörte. Warum auch? Woher sollte das Mädchen auch wissen, dass ihre Mutter Myotismon direkt in die Arme lief?

Glücklich über diesen schönen warmen Tag (die Fledermäuse hatte sie, im Gegensatz zu ihrer Tochter nicht gehört), lief sie über die kleinen Seitenwege hinweg zu einem der Wasserhähne, der im Schatten einer dichten, verblühten Gruppe Kirschbäume lag und an denen sich jeder bedienen konnte.

Die Vase war fast voll und als der Wind aufkam, ihre rötlichen Haare ins Gesicht wehte und sie diese mit ihren schlanken Fingern hinter ihren Ohren legte bemerkte sie, dass jemand neben ihr stand.

Ein Mann - sie ging davon aus, dass er ein Mann war, die Statur und die Größe sprach dafür - stand im Schatten zwischen den Bäumen, dass Gesicht durch den Hut verdeckt, aber sein Lächeln war zu erkennen.

Und als er langsam seinen hellgrauen Fedora abnahm und sein schmales, aber schönes Gesicht zum Vorschein kam, Haut und Lippen so blau und kalt wie seine Augen, die ihn unheimlich und doch faszinierend zugleich machten war es um sie geschehen.

Kein Wort fiel zwischen ihnen, doch irgendwas brachte sie dazu zu diesem hübschen Fremden zu gehen und zu vergessen, warum sie hier war und dass ihr Kind nur wenige Meter entfernt auf sie wartete. Die Vase hatte sie fallen lassen und sie war auf den Pflastersteinen in viele, bunte Scherben zersprungen. Man hörte es knirschen, als sie unachtsam über die Tonscherben ging und unter den Absätzen ihrer Schuhe noch einmal zermalmt wurden, aber sie schien es nicht zu merken. Alles was sich um sie herum befand blendete sie aus, ihre Gedanken blieben einzig bei dem Fremden, der ihr lächelnd die Hand reichte.

Ihre Eigene hob sie nur zögerlich hoch, wohl versuchte noch irgendwas in ihrem Unterbewusstsein sich gegen diese dämonische Anziehungskraft zu wehren, doch sie konnte nicht. Nicht unbedingt das Gesicht, aber diese Augen hatten was entsetzlich Vertrautes, wenn sie gleichzeitig fremder nicht hätten sein können.

Die Antwort kam ihr erst langsam in den Sinn, als der Unbekannte bereits ihr Handgelenk packte und sie an sich zog. Der Kuss zwischen ihnen war lang und kalt, sein ganzer Körper war wie Eis, trotz des dicken Trenchcoats, trotz seines schwarzen Umhangs, der sie beide umschlang. Die Antwort war da, als sie mit ihren Lippen seinen langen Eckzähne berührte, ehe er selbige in ihren Hals schlug.

Er erinnerte sie auf eine gewisse Weise an ihren toten Ehemann.

Sie wollte schreien, konnte aber nicht und der Nebel, der sich in ihrem Kopf befand bereitete sich nun auch auf ihre Sicht aus, Nebel, dicht und weiß, aber wenn man genau hinsah, war es gar kein Nebel, sondern Schnee, der stürmisch an ihr vorbeizog.

Und niemand bekam es mit, was da zwischen den Bäumen geschah, während ihre Kraft in den Beinen schwand wie ihr Bewusstsein, mit dem saugenden und schmatzenden Geräusch im Ohr und dem Gefühl, wie kleine Mengen ihres eigenes Blut über ihrer Haut tiefrote Bahnen zog. Ihr Stöhnen und ihr leises Wimmern hörte niemand.

Das Klirren der zerbrochenen Vase, etwas so simples dass es keiner Beachtung wert war, war jedoch durchaus gehört worden.

Das irgendwo, irgendwann einmal etwas von einem lauen Wind von seinem Platz gerissen wurde und dabei kaputt ging war so alltäglich, dass niemand auch nur einen besorgniserregenden Gedanken verschwenden würde, selbst wenn es auf einem Friedhof war und durch die permanente Stille jedes Geräusch viel lauter wirkte, wie es eigentlich war.

Weder über die Krähe, noch über die Fledermäuse, noch über die großen, schweren Schwingen hatte die kleine Tochter, die immer noch vor des Vaters Grab stand, sich einen Kopf gemacht.

Sie hatte aber die Vase gehört und sie hatte sich Sorgen über dieses klirrende Geräusch gemacht, Sorgen darüber dass es aus der Richtung kam, in die ihre Mutter, mit einer Vase, verschwunden war.

Was hatte sie nun wieder angestellt? Sie war manchmal so schusselig.

Sie wartete nur darauf, dass ihre Mutter fluchend zurückkam, verärgert über ihre eigene Tollpatschigkeit. Sie wartete sehr lange. Doch ihre Mutter kam nicht.

Ihre Mutter war zu Boden gedrückt worden, ihr Stöhnen war leiser und schwächer geworden, doch sie wandte sich und versuchte sich loszureißen, während Myotismon sich mit seinem ganzen Körper über die beugte, mit seinen Zähnen immer noch in ihrem Hals.

Diese Frau machte es ihm so zwar schwerer ihr das Blut auszusaugen, dennoch reizte ihn ihre Gegenwehr auf eine gewisse Weise. Im Gegensatz zu den Frauen, die er bisher in dieser Welt getroffen hatte war diese hier zäh und besaß mentale Stärke. Er musste tatsächlich Kraft anwenden, um sie trotz Hypnose am Boden zu halten.

(So wie bei dir Sanzomon du hast dich auch immer gewehrt du hast auch immer versucht die Oberhand über mich zu gewinnen oh Sanzomon)

Myotismon biss fester zu, bis sie fast zu schreien begann, dann erschlaffte sie unter seinem Körper, wenn sie aber noch nicht voll und ganz bewusstlos war. Vorsichtig ließ er von ihr ab, Blut, ihr Blut, dass von seinen Mundwinkeln zum seinem Kinn lief tropfte auf ihre Bluse, die zuerst hellrosa war, sich nun aber am linken Kragen und Ärmel dunkelrot verfärbte. Mit dem rechten Handrücken fuhr er einmal über seine Lippen, um das überschüssige Blut wegzuwischen, ließ aber sein Opfer dabei nicht aus den Augen. Ihre braunen Augen waren halboffen und hatten an Glanz verloren, aber sie kämpfte noch immer gegen die Benommenheit.

Ganz schön widerspenstig. So jemanden traf man selten.

(So wie bei dir Sanzomon)

Myotismon spielte schon mit dem Gedanken ihr das letzte bisschen Blut, dass er ihr großzügigerweise noch gelassen hatte auch noch zu nehmen, nur um zusehen wie das Leuchten in ihren Augen komplett erlosch, ehe sie das Bewusstsein verlor. Als Strafe dafür, dass sie ihn geschlagen und getreten hatte. Und mit diesem Leuchten in den Augen sah sie zu ihm auf, allein dass schien ihr schon schwer zu fallen und war auch dass, trotz dass sein Durst gut gestillt war, was die Gier und vor allem die Lust nach mehr entfachte. Als er sich jedoch erneut über sie beugte, kehrte auch ihre Kraft zurück. Diese sammelte sich in ihren Armen, die sie mit aller Mühe empor hob um sie dann um Myotismons Nacken zu legen. Sie schaffte sogar sich wieder etwas aufzurichten, um noch einen kurzen Kuss auf die Lippen zu hauchen.

„Hisa... ki...“

Dann verlor sie endgültig das Bewusstsein. Ihre Arme glitten zu Boden und sämtliche Glieder erschlafften. Nur das flache Heben und Senken ihres Brustkorbs zeigte, dass sie noch am Leben war. Derweil war Myotismon ein gutes Stück von ihr gewichen und blickte noch mit Entsetzen auf diese Frau. Was immer das war oder zu bedeuten hatte, ihm war noch nie so schnell die Lust nach mehr vergangen, wie bei dieser Szenerie. Was sie jedoch geflüstert hatte, ehe sie wieder in Ohnmacht fiel hatte er nicht gehört. Es klang wie -

„Mama?“

Ein Schauer fuhr durch Mark und Bein und Myotismon warf seinen Kopf zur Seite.

Da stand, vielleicht mit einem Abstand von nur ein paar Metern ein kleines Mädchen, kleiner und vielleicht sogar jünger im Vergleich zu den Digirittern. Acht, vielleicht sogar schon neun Jahre. Blond und blass, nur ein Hauch von Rosa war in ihren Wangen, ansonsten wirkte sie eher mager und kränklich mit dieser Blässe. Ihre Augen waren groß und blau.

Alice.

Sie sah aus wie das Mädchen aus diesem blöden Buch, wie Alice in ihrem Wunderland und hinter den Spiegeln, wenn ihre Haare dafür aber ein wenig zu kurz waren. Obwohl dieses Mädchen direkt in seine Richtung sah, sah sie nicht Myotismon an. Und auch nicht ihre Mutter. Vielmehr starrte sie ins Leere.

„Mama? Ist alles in Ordnung? Warum sagst du nichts?“, wiederholte sie. Myotismon rührte sich kein bisschen, sondern sah sie weiter nur starr an, immer noch überrascht, warum sie auf ihn nicht reagierte. Oder verstand sie die Situation nicht? Sein Hut lag auf dem Boden, sein Mantel war unordentlich und man konnte den Umhang genauso deutlich sehen wie die bleiche Haut und die langen Zähne, sie müsste doch zumindest auf den Gedanken kommen, dass er kein Mensch war.

Doch nichts an ihr deutete auf irgendetwas wie Angst oder einen Schock hin.

Sein Blick wanderte von ihrem puppenhaften Gesicht bis zu ihren Schuhen und den dunklen Kniestrümpfen und wieder nach oben und blieb dann auf Hüfthöhe hängen. An ihrer dunkelblauen kurzen Trägerhose hing, an einer Gürtelschlaufe befestigt etwas kleines, dass von dieser Entfernung einem Digivice ziemlich ähnlich sah und bei längeren Hinsehen konnte man feststellen, dass es nicht nur so aussah, es war ein Digivice.

Erst war Myotismon nicht sicher, ob er sich das einfach nur eingebildete, aber er starrte weiter darauf und war sich dann absolut sicher. In seinem Inneren brodelte die Euphorie. Er wollte lachen, aber unterdrückte es. Der anschließende Satz, der sehr leise über seine Lippen kam, klang mehr wie das ebenso leise Zischen einer Schlange, weder Höhe noch Klang selbst für ein geschultes Ohr klar definierbar.

„Das achte Kind...“

Statt dem Durst nach Blut, der immer schon, seit er auf das Ultra-Level digitiert war begleitet hatte, war erloschen und an seiner Stelle stieg, neben dem Gefühl des Triumphes Mordlust auf. Er konnte nur daran denken, dieses Kind, das achte Kind endlich zu vernichten, vorbei war die Suche, vorbei war es mit den Digirittern und vorbei mit dieser Welt!

Mit schnellen Schritten ging er auf dieses Mädchen zu und allein der Gedanke daran, sie gleich töten zu können, egal ob es jemand sehen würde oder nicht, versetzte ihn noch mehr in Ekstase.

Doch als er schließlich vor ihr stand verging ihm dieses Gefühl. Innerhalb dieser wenigen Augenblicke in denen er auf sie zugelaufen war, war der Rausch so schnell verflogen wie er gekommen war und ermöglichte einen klaren Blick auf dieses Szenario.

Und Myotismon fielen gleich zwei Dinge auf:

Das Erste und Wichtigste für ihn war die Tatsache, dass das falsche Wappen nicht reagierte. Er spürte es ganz deutlich, dass da eben nichts war, was man hätte spüren können, es blieb regungslos unter seinem Umhang versteckt. Ehe sich in seinem Kopf das Warum? über dieses Mysterium bilden konnte, bemerkte er schon die zweite Auffälligkeit.

Denn obwohl er genau vor diesem Mädchen stand, die Hand nach ihr ausgestreckt, um ihr, wenn es sein müsste sofort ihren Hals umzudrehen, reagierte sie genauso wenig wie das Wappen. Sie blickte nur weiterhin leer drein.

„Mama?“

Natürlich.

Sie war blind.

Das war die einzige, logische Erklärung. Bestätigt wurde das schließlich als sie den langen, weißen Stab, den sie fest in ihrer rechten Hand hielt ausstreckte, damit seine Spitze den Boden berühren konnte, um die Umgebung vor ihr abzutasten. Als sie sich in Bewegung setzte und direkt auf Myotismon zulief, ging er möglichst geräuschlos aus ihrem Weg. Und tatsächlich, nicht einmal darauf hatte sie reagiert, sie blickte weiter nur ganz starr geradeaus, während ihr Blindenstab das Sehen übernahm.

Sie ging recht langsam, ihr Stab peitschte die Erde und die herumliegenden Blätter, bis sie damit den bewusstlosen Körper ihrer Mutter berührte. Offensichtlich merkte sie sofort, dass das kein Stein oder eine Pflanze oder etwas anderes in ihrem Weg war. Dann wurde sie ganz zittrig, ging auf die Knie und tastete den Körper ihrer Mutter ab, erst die Kleidung, an denen sie wohl merkte, dass es wirklich ihre Mutter war, dann wanderten ihre Hände vom Brustbereich zum Gesicht und das Zittern wurde intensiver.

„Mama? Mama, was ist passiert? Sag was, Mama! Mama!“

Und dann fiel Myotismon, während er das Mädchen beobachtete noch ein dritter Punkt ins Auge. Einen, der erklärte, warum das Wappen auf sie nicht reagierte.

Sie hatte schon eines.

Als sie sich, besorgt und vorsichtig, über ihre Mutter beugte fiel das Amulett auf ihrer weißen Bluse und es war eines jener unverwechselbaren Amulette, mit einem Wappen, doch statt pink war ihres hellblau.

Mit dem Blick weiter auf das Amulett gerichtet schossen Myotismon unzählige Fragen durch den Kopf und versuchte gleichzeitig für jede Frage eine Erklärung zu finden.Sicher war er sich nur in einem Punkt, nämlich dass dieses Kind nicht jenes achte Kind war. Wer aber dann? Ein neuntes Kind? Davon stand aber kein sterbendes Wort in seinen Schriften, in jeder urbanen Legende der Digiwelt sprach man nie von mehr wie acht Kindern.

Jedoch - Das Zeichen auf ihrem Wappen kannte Myotismon, mit dieser Erkenntnis aber stapelte sich der Berg der ungelösten Fragen in seinem Verstand.

Die wichtigste Frage aber blieb - woher hatte sie das? Die Fragen häuften sich immer mehr und er ging einige Schritte langsam zurück, sein Blick weiter auf dieses Mädchen gerichtet. Ein Zweig knackste unter seinen Schuhen, nicht laut, aber laut genug, dass dieses blinde Kind, mit einem genauso empfindlichen Gehör wie er es hatte es bemerkte. Ihr Körper zuckte.

„He, Sie!“, rief das blinde Mädchen und riss Myotismon damit aus seiner Gedankenwelt. „Wer sind Sie? Was ist mit Mama passiert? Bitte sagen Sie es mir. Haben Sie etwas gesehen?“

Das Mädchen war aufgestanden und hatte sich ihm zugewandt, ging sogar wenige Schritte auf ihm zu. Er blieb weiterhin still. Sie war doch blind, wie sollte sie also -

„Sie brauchen nicht so zu tun, als ob Sie nicht da wären. Das ist unhöflich. Ich kann Sie hören. Ich habe das Gras rascheln hören. Sagen Sie doch, was passiert ist. Was hat meine Mama?“

Myotismon konnte nichts sagen, sein Blick hing immer noch an dem Wappen und dem Digivice, dass nach seiner Logik und denen seiner Bücher gar nicht existieren dürfte. Stimmen aus der Ferne, die aber nun näher kamen ermöglichten ihn dann wieder den Sprung zurück in die Gegenwart und durch die schmalen Bäume hindurch konnte Myotismon sehen, wie andere Besucher, angelockt von den Rufen dieses Mädchens, in ihre Richtung kamen. Er musste hier weg.

„Hey, wo gehen Sie hin?“, rief sie ihm noch nach, wie auch immer sie das nun gemerkt hatte. Hatte sie seine Schritt gehört? Hatte sie gemerkt, dass er kein Mensch, sondern ein Digimon war? Wusste sie wer er war? Noch viel wichtiger war noch, wusste überhaupt jemand von ihr?

Myotismon hatte sich nicht weit entfernt, er hatte sich nur hinter einen der dickeren Bäume und zwischen einigen der etwas größeren Grabmale versteckt, weit genug, dass ihn niemand bemerken würde, aber immer noch so nah, dass er alles beobachten konnte.

Die anderen Besucher, die das Kind und ihre bewusstlose Mutter entdeckten, hatten den Krankenwagen gerufen. Bis er da war dauerte es nicht einmal lange und beide fuhren im Rettungswagen mit lauter Sirene und Blaulicht davon.

Ob er ihnen folgen sollte?

Während Myotismon dem Rettungswagen nachschaute, wurde dieser immer kleiner und kleiner, je weiter er fuhr. Er durfte dieses Mädchen nicht gehen lassen. Wer immer sie war, dass sie ein Digivice und ein Wappen hatte machte sie zu einer potenziellen Gefahr, egal ob sie jetzt wirklich das achte Kind war oder nicht. Digiritter blieb Digiritter und jeder Digiritter musste ausgelöscht werden. Um jeden Preis. Dies war Orchester-Regeln Nummer Zwei. So verlangte es der Herr Dirigent.

 
 

♭ 𝅘𝅥

 

Etemon war das letzte Digimon der großen bösen Meister, den Myotismon vor einer Abreise in die Menschenwelt traf. Myotismon konnte Etemon nicht ausstehen. Er war nervtötend, überheblich, ungehobelt und verpestete mit seinen schiefen Klängen die Welt. Aber gerade weil er nicht wie die ach so großen vier Meister der Dunkelheit war, oder wie ihr Speichellecker Devimon, war Etemon ihm auf eine komischerweise doch sympathisch (und wen von den anderen konnte er schon ausstehen?)

Wieso Etemon aber an ihm einen Narren gefressen zu haben schien verstand Myotismon nicht und er hätte es gerne gewusst, dann hätte er etwas daran ändern können und wäre ihn somit automatisch los geworden.

Selbst seine Diener empfanden Etemons Besuche als merkwürdig und unangenehm. Am deutlichsten zu sehen war es bei DemiDevimon und Gatomon. Die beiden stritten sich zu jeder Zeit und egal um was es sich drehte, wenn es aber darum ging Etemon aus den Weg zu gehen, da er den einen als fliegende Ratte und den anderen als flohverseuchten Pelzsack bezeichnet hatte, wurden sie sich plötzlich sehr schnell einig und eine Kooperation schien dann auch kein Ding der Unmöglichkeit mehr zu sein, wie es sonst war.

Zwar hatte Myotismon nach diesem unglücklichen Ereignis Etemon verboten auch nur ein Wort mit seiner Dienerschaft zu wechseln, aber sie mieden ihn weiterhin so gut wie nur möglich. Und an manchen Tagen wünschte Myotismon sich, er könnte ihn auch so einfach ignorieren und aus seinem Schloss werfen, jedoch befürchtete er, dass Etemon als Reaktion darauf etwas von seinen E-Gitarren- oder Schlagzeugkünsten zum Besten geben würde und das wollte er auf gar keinen Fall riskieren. Es gab nichts schlimmeres wie moderne, elektrische Instrumente.

Sowohl Myotismon als auch Etemon mochten Musik, wie eben alle großen bösen Meister. Myotismon mochte es eher klassisch, die Klänge eines Klaviers ganz besonders. Etemon hingegen war, wenn er sich selbst als Rockstar schimpfte dem Cello zugeneigt und spielte es auch. Sogar sehr gut, anders wie dieser moderne, elektrische Kram. Wie ein echter Cellisten eben. Jedoch nur klammheimlich spielte er, von milden Herbsttagen in Gold und Rot getaucht, erfüllt vom zaghaften Rascheln der Blätter, so wie Myotismon von der schönen Winterzeit im stürmischen Weiß träumte.

Diese Blöße konnte Etemon sich jedoch vor seinen Dienern (er selbst bezeichnete sie als Fanclub oder Groupies ) allerdings nicht erlauben und in der Hinsicht ging es Myotismon nicht anders. 

Vivaldi. Seine vier Jahreszeiten verfolgten Etemon wie ihn. Wie alle sieben. Egal was sie taten, ob sie es versuchten zu ignorieren oder versuchten es mit anderer Musik zu übertönen, sie fanden doch immer wieder dahin zurück.

„Wieso bist du nun schon wieder hier?“

„Na, weil ich großartige Neuigkeiten hab’, die ich meinem Kumpel nicht vorenthalten darf.“

Myotismon hasste diesen Namen, aber er hatte es aufgeben Etemon diesen austreiben zu wollen.

An jenem Tag, der Tag an dem die Digiritter auf Server gelandet waren, war Etemon mit Saus und Braus in seinem Schloss aufgetaucht, natürlich ohne vorher eine Warnung oder ähnliches zu versenden, so dass er mal wieder uneingeladen Myotismons heimische Hallen gestürmte. Dieser hatte den ungebetenen Gast noch am Eingang abgefangen. Er stand ganz oben auf der Treppe aus dunklen, grauem Stein und sah, mit deutlich verstimmter Miene zu Etemon hinab, der entweder wirklich nicht merkte oder nicht merken wollte, dass Myotismon nicht erfreut über diesen Überraschungsbesuch war.

Aber lieber ihn als Piedmon. Schon allein wenn er an diesen ätzenden Clown dachte...

„Dann sprich.“

„Die Digiritter sind endlich hier angekommen, is' gerade mal 'n paar Stunden her. Viel her machen sie aber nich'. Sieben Dreikäsehoch sind das, darüber kann man nich' mal lachen.“

„Haben sie ihre Amulette schon gefunden?“

Etemons Lachen verstummte. Er hatte wohl tatsächlich gedacht, dass Myotismon sich dazu hinreißen lassen würde, sich mit ihm über die Digiritter das Maul zu zerreißen. Dabei müsste dieses Puppen-Digimon es eigentlich besser wissen. Er hatte ja sogar ein Wort dafür, wie man Digimon wie Myotismon nannte, die - wie sagte er - zum Lachen in den Keller gingen. Spießer.

„Glaub schon. Hab' gehört sie hätten Devimon erledigt und der hatte die Amulette damals doch mitgenommen. War eigentlich klar, dass sie an die Amulette kommen, sobald sie den aus den Weg geräumt haben.“

„Und die Wappen, haben sie diese schon gefunden?“, fragte Myotismon, bekam aber als Antwort erst nur einen nichtssagenden Gesichtsausdruck und Etemon kratzte sich am Hinterkopf.

„Nee, die suchen sie noch. Aber keine Sorge, sollen sie die alle nur schön eins nach dem anderen einsammeln, ich werde sie ihnen dann unter den Nasen wegluchsen und dann heißt's Gute Nacht, Digiritter!“

Kichernd rieb Etemon sich die Hände.

„Und ebenso, Gute Nacht, Opposition!“

„Und du glaubst, das wird so einfach?“, fragte Myotismon und klang dabei sogar ziemlich belustigt. „Sobald sie es geschafft haben die Kräfte ihrer Wappen zu erwecken wird das nicht mehr so einfach.“

„Und wenn schon, ich tue wenigstens etwas und überlasse nich' einfach diesem Idiotenquartett den ganzen Spaß und den Ruhm, während du nur faul in deinem Gruselschloss rumsitzt und dich betrinkst!“

Idiotenquartett war Etemons Bezeichnung für die Meister der Dunkelheit, jedoch hätte er sich niemals getraut, dass auch nur in der Nähe von einem von ihnen zu sagen. Immerhin waren sie Mega-Level und das reichte als Erklärung, warum es plötzlich offiziell nur vier Meister der Dunkelheit statt eben schlicht Meister der Dunkelheit hieß. Oder Orchester. Ein Orchester mit sieben Musikern. Nun jedoch, nachdem Devimon nicht mehr war, waren sie nur noch zu sechst und die Trauer über ihren Trompeter hielt sich begrenzt. Aber dass wäre bei irgendeinem anderen Mitglied nicht anders gewesen.

Devimon dachte, es sei wie in der Geschichte vom kleinen Hobbit, hatte Machinedramon erklärt. Glaubte, er könne, wenn Vivaldis Sommer begann Bilbo folgen, über sich hinauswachsen – stattdessen fiel er tief.

„Das mag alles stimmen was du sagst, aber wenn ich eins bin, dann nicht träge. Ich habe nur eigene Pläne geschmiedet und habe sie im Stillen studiert und bearbeitet, bis sie perfekt waren“, und während Myotismon das mit Stolz von sich gab, griff er unter seinen Umhang und präsentierte Etemon eines der Digiamulette, mit dem Wappen des Lichts darin. Etemon war sprachlos und der Mund stand ihm so weit offen, dass selbst ein Devidramon darin Platz gefunden hätte, dann fing er sich wieder.

„W-W-Wo hast du das denn her? Sag nich', du hast das damals einfach so mitgehen lassen?“

„Sagen wir, es ist ein Trostpreis, für das verlorene Schachspiel gegen die Weiße Königin.“

Myotismon musste an Sanzomon denken.

„Schau an, schau an“ , murmelte Etemon begeistert vor sich hin, rieb sich mit einer Hand um das Kinn und die andere stemmte er in die Hüfte. „Dann ist ja vielleicht doch was an den Gerüchten dran. Hab gehört, du willst in die Menschenwelt und suchst 'n paar starke Digimon dafür. Und das, wo ich dich immer für 'nen totalen Stubenhocker und Langweiler gehalten hab. Bist eben doch immer für 'ne Überraschung gut, Herr Pianist.“

„Das habe ich öfter schon gehört. Herr Cellist.“

Das Kichern Etemons hallte stark durch die Mauern, dennoch hatte Myotismon sich entschlossen die Distanz zwischen ihnen zu verringern und schritt zu ihm ans untere Ende der Treppe. Etemon verstand darin wohl eine Art Freundschaftsgeste und legte seine Hand auf Myotismons Schulter ab.

„Sag, alter Freund, warum -“

„Wir sind keine Freunde“, unterbrach ihn Myotismon harsch und Etemon nahm nicht nur die Hand wieder weg, sondern vergrößerte den Abstand um ein ganzes Stück.

„Also, noch einmal - Warum willst du so unbedingt in die Menschenwelt?“

„Wegen dem achten Kind.“

„Hä?“, ächzte Etemon über die viel zu kurze Antwort. Er richtete seine Sonnenbrille und zwang sich anschließend wieder zu einem Lächeln.

„Myotismon. Kumpel, geht das auch in ganzen Sätzen?“

„Ich rede von den Digirittern. Sie sind nur sieben, doch heißt es, dass acht Kinder kommen und die Dunkelheit wieder aus der Digiwelt verbannen. Wenn ich das achte Kind vorher finde und vernichte, dann -“

„Warum so umständlich? Vernichte doch einfach die, die hier sind. Wenn einer fehlt können sie doch ohnehin nichts ausrichten.“

„Halt die Klappe!“

Diesmal schreckte Etemon einen ganzen Satz von Myotismon zurück, berührte mit seinem Rücken fast die Wand und hätte dabei zu allem Übel beinah noch einen der Kerzenständer umgeworfen, konnte diesen aber noch auffangen.

„Der Entschluss steht fest und alle Vorbereitungen sind getroffen. Weißt du eigentlich wie lange es gedauert hat dieses Nonsens-Geschreibsel zu übersetzen und die Karten herzustellen? Sobald ich den Code für die Karten vollständig entschlüsselt habe werde ich die Menschenwelt betreten.“

„Und der Aufwand für nur 'n einziges Gör? Sicher, dass du nicht noch andere Pläne hast?“

Myotismon verstand genau, auf was Etemon hinaus wollte und es war nicht der Verdacht, dass er vor hatte, genauso wie Piedmon die Digiwelt zu beherrschen, indem er diese und alle anderen Welt in Dunkelheit tauchte.

Es war etwas anderes, etwas was beide dazu veranlasste lange zu schweigen und sich nur anzusehen. Aber allein dieses Schweigen brach Bände und letztlich war es Etemon, der seinen Blick abwandte, als wollte er sagen, Okay, vergiss was ich gesagt hab, Kumpel, war 'n Versehen, tun wir so als sei das gerade eben nicht passiert.

Es gab da so ein Sprichwort, wenn etwas unausgesprochenes im Raum lag, so groß, so auffällig, dass man es nicht übersehen konnte, aber niemand wagte es, es anzusprechen. Zwischen ihnen sieben - Devimon, Etemon, den vier Meister der Dunkelheit und Myotismon selbst - lag eine Verbindung, eine, die nicht die Dunkelheit war oder der Hass auf die Serum-Digimon oder die Menschen.

Aber es war nie Thema gewesen. Es war ein ungeschriebenes Gesetz, dass niemand es ansprach oder in irgendeiner anderen Weise erwähnte. Egal wie offensichtlich es war und es schrie, dass es jemanden auffallen und beim Namen nennen würde - es wurde ignoriert, als wäre es niemals je passiert.

Manch einer würde sagen, sie verbergen es. Ein anderer würde dazu verdrängen sagen, der keine Ahnung hatte, wie Digimon wie er oder sogar Etemon, die die Typus-Apartheid in der Digiwelt noch miterlebt hatten, dachten.

Eine grässliche Ära, in der Virus-Typen systematisch von den Serum-Digimon ausgegrenzt und diskriminiert wurden. Es hatte Kriege unten allen drei Typen gegeben, auch noch nachdem die Gesetze als nichtig erklärt wurden. Lebensunwürdige Gesetze, eine Diktatur unter Digimon, die, wenn es nötig war Digimon erlaubte andere sogar umprogrammieren, wenn ihre Gedanken und Ideen nicht zu den Dogmen passten. Und politische Verfolgung und Hinrichtung für jene, die sich wehren wollten.

Es hatte Suizide gegeben, weil Digimon nicht zum gewünschten Typus wurden. Der Hass unter ihnen hatte die Dunkelheit, die es auf diese frische, neue Welt abgesehen hatte nur gestärkt, statt sie zu vertreiben.

Schuld war der Glaube an die hohen Götter-Digimon. Da sie überwiegend zum Typus Serum gehörten, fühlten sich Digimon der selben Gruppe, die zudem noch mit heiliger Macht gesegnet waren dazu berufen Ordnung in der Digiwelt zu schaffen, als diese noch neu war und Chaos, Streit, Mord und Totschlag, besonders durch die Virus-Digimon absolut alltäglich waren.

Tatsächlich kehrte Frieden ein, jedoch nicht für lange. Den Serums stieg diese Aufgabe zu Kopf und aus einer Ordnung des Friedens und Zusammenlebens wurde eine Diktatur der Rassengesetze, dass ausschließlich Nachteile für Virus-Digimon hatte. Schließlich gehörten auch alle bekannten bösartigen und grausamen Digimon zum Typus Virus und dass allein hatte für die hohen Digimon ausgereicht, um ihnen allen das Recht auf Existenz zu verneinen.

Während die Serums ihre Diktatur, getarnt unter den Mantel der Demokratie und des guten Willens regierten um ihren Kontrollzwang zu rechtfertigen, hatte jeder von ihnen doch seinen eigenen Sinn von effizienter Politik und seine Methoden, wie man Datei- und Virus-Typen zu behandeln hatte. Selbst untereinander waren diese Digimon sich uneinig.

Die Viren selbst lebten in eine fast altertümlichen und primitiven Monarchie und obwohl Grundgesetz Null – Gefressen und gefressen werden – an oberster Tagesordnung stand, strebten sie einen Absolutismus an, mit den Dämonenkönigen an der Spitze. Und jedes Virus-Digimon wollte an dieser Spitze sein, selbst wenn es hieß dafür die eigenen Freund im Schlaf aufzufressen, geschweige denn kleine Serums, die sich in das Ödland der Viren verirrten.

Die Digimon von Typ Datei hatten die Wahl und waren gleichzeitig damit gestraft. Entweder sie unterwarfen sich den Viren, gegen die sie einen Typ-Nachteil hatten, wie auch die Angst vor ihrer Unberechenbarkeit oder eben den Serums, die ihnen nur für absoluten Gehorsam Sicherheit versprachen.

Die heutigen Digimon erinnerten sich nicht mehr an die Zeit während der Apartheid, höchstes an die Typus oder Rassenkriege, die Zeit danach, als sich alles und jeder bekriegte, um die freigewordenen Ränge zu übernehmen, nachdem jede Politik obsolet wurde.

Die Digimon zu gegenwärtiger Zeit waren bereits zu oft wiedergeboren worden und lebten in fünfter, zehnter oder in der zwei dutzendsten Generation, so dass ihre Erinnerungen und Daten von damals längst gelöscht und überschrieben waren.

Dann gab es Digimon, die sich noch an diese Zeit erinnern konnten. Wie die Meister der Dunkelheit zum Beispiel. Sie kannten die Apartheid noch sehr gut und diese Erinnerungen hielten ihren Hass am Leben. Wie der Hass auf die Menschen, deren Daten sie alle zu dem gemacht hatten, was sie waren, ihre Daten die entschieden was gut und richtig war und ihnen überhaupt das Wissen für so eine Politik gab. Menschen, wie Digiritter, die hierher fanden und meinten, mit reinen Herzen könnte man festgefahrene politische Strömungen und Weltvorstellungen, wenn gar Urinstinkte zerschmettern. Und die vier Souveränen, die so ein unsinniges Gedankengut aufrecht erhielten, bewahrten und weiter trugen.

(So wie bei dir Sanzomon)

Aber die waren Piedmons Problem. Sollte er sich zusammen mit Puppetmon, MetalSeadramon und Machinedramon mit denen rumärgern.

„Dann wünsch ich dir viel Spaß damit, Kumpel. Wenn du Zeit hast, kannst du mir ja 'ne Mail zukommen lassen und mir erzählen, wie es sich dort so lebt.“

„Das ist dein einziges Kommentar? Kein Widerspruch, kein dummer Witz, nichts?“

Es klang selbst wie ein schlechter Witz, doch Myotismon hätte zumindest auf irgendeine kleine, wenn auch dumme Bemerkung von Etemon gehofft, aber es kam nichts. Er war also tatsächlich auch hin und wieder für Überraschungen gut.

Er ging einfach nur stumm zurück zum Eingangstor. Zwar hatte Myotismon immer gehofft einmal den Tag zu erleben, an dem Etemon sein Schloss mal nicht mit tosenden Lärm verlassen würde, aber als es dann wirklich passierte, war es einfach nur komisch.

Etemon stand schon im Rahmen des offenen und schweren Tores, als er doch noch sprach:

„Und du erinnerst dich wirklich an gar nichts?“, fragte er, ungewohnt vorsichtig.

„An was soll ich mich erinnern?“

„Also wirklich? Du bist zu beneiden, weißt du das, Kumpel? Ich erinnere mich und es is' lästig. Du kennst noch Krabat? Tolle Story, oder? Ich denk oft an Krabat, immer wenn es Herbst wird, weißt du? Dann ruft er Juro, Juro! Mit dem Cello und dem zweiten Herbstsatz zusammen klingt's sogar ganz fetzig. Hörst du Alice nicht rufen, wenn's schneit? Kommt dir da nicht auch die Lust hoch Klavier zu spielen?“

Dann ging er in die Nacht hinaus. Als Myotismon das nächste Mal von Etemon hören sollte, war es die Nachricht über dessen Vernichtung. Nun war Etemon bei Krabat, wie Devimon zuvor wieder zu Bilbo zurückkehrte. Und das Orchester nur noch zu fünft.


Nachwort zu diesem Kapitel:
- "Alice begann sich Recht zu langweilen" ist der erste Satz von Alice im Wunderland. Komplett anzeigen

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