Wintersonett von Rakushina (Which dreamed it?) ================================================================================ Konzert I - DOWN THE RABBIT HOLE, 2. Satz, Largo G-Dur ------------------------------------------------------ 𝄞   „Hitzschlag?“ In ihrem Kopf wiederholte sie dieses Wort erneut, aber es klang nur unglaubwürdiger. „Yukino, bitte, nicht so laut“, sagte eine der Krankenschwester zu ihr, aber freundlich. „Verzeihung. Aber wieso hat meine Mama einen Hitzschlag? Wie ist das passiert?“ Im Universitätsklinikum Minato herrschte immer ein unausstehlicher Trubel. Yuki wusste das, sie war schließlich schon ein paar Mal hier gewesen. Zuletzt als sie vor einigen Wochen ihren Opa besuchte. Aber nun war es still geworden. Sie musste ihre Frage wirklich ziemlich laut formuliert haben, wohl ein Nebeneffekt ihrer Verwunderung und einige Leute, ob Patient oder Personal haben es mitbekommen und schauten zu ihr (zumindest dachte sie das) und den beiden Krankenschwestern, die ihr diese Nachricht überbrachten. Vielleicht war es auch ihre Spannung gewesen. Yuki war nicht ungeduldig, im Gegenteil, aber das, was auf dem Friedhof passiert war bereitete ihr ein flaues Gefühl im Magen. Als dann andere Besucher auf sie aufmerksam wurden, wie sie neben ihrer bewusstlosen Mutter kauerte war alles sehr schnell gegangen, aber niemand hatte ihr erklärt, was genau vorgefallen war. Man hatte Yuki nur von ihrer Mutter weggezogen, während man den Krankenwagen rief. Zwar durfte sie mit in den Rettungswagen, aber auch die Notärzte hatten es nicht für nötig gehalten ihr den genauen Sachverhalt zu schildern und sie hatten so wild durcheinander geredet, dass Yuki nicht in der Lage war irgendwelche Informationen herauszufiltern. Im Krankenhaus selbst war es nicht anders. Nun war ihre Mutter auf der Intensivstation und Yuki konnte sich nicht erklären wieso. „Nun, dass kann passieren, bei diesen Temperaturen und wenn man nicht genug trinkt. Da kann ein kleiner Spaziergang schnell so enden.“ Es machte schon irgendwo Sinn. Der Friedhof, auf dem ihr Vater lag, war schließlich nicht um die Ecke. Zwar fuhren ihre Mama und sie immer ein Stück mit den Bus, aber um überhaupt an die entsprechende Haltestelle zu kommen, die auch genau da hielt wo man hin wollte musste man auch einen ziemlichen Fußmarsch hinlegen. Und dann noch gleich zwei, die sie nehmen musste. Nicht zu vergessen die Bahn. Sinn machte es. Und doch spürte Yuki, dass die Krankenschwester log. Yuki hatte ein gutes Gespür für Lügen. Es gab immer etwas, was jemanden verriet. Zu lange Pausen zwischen den Sätzen, die entstanden, der Rhythmus zwischen Aus- und Einatmen, der sich veränderte. Von einzelnen Wörtern und Betonungen ganz zu schweigen. Wenn man blind war, begann man auf solche Dinge zu achten, um Eigenschaften zu erkennen, die etwas über die Persönlichkeit und die Motivation seines Gegenübers verriet, was normalerweise die Arbeit der Augen gewesen wäre. Mama hatte immer gesagt, dass man aus jedem Handicap etwas nützlich ziehen konnte. Papa hatte dafür immer gesagt, dass man niemals mit offenen Karten spielen sollte. Und Yuki tat, wie man ihr riet und setzte beides um, indem sie sich nicht anmerken ließ, dass sie nichts von dem glaubte, was man ihr weismachen wollte. „Und warum war da Blut?“, fragte sie und die Schwestern schwiegen. Eine weitere Person lief dicht an ihnen vorbei, blieb stehen, doch auch diese sagte nichts. Yuki meinte sogar, eine der Krankenschwestern schlucken zu hören. Die Welt vor Yukis Augen war gräulich, in ihrer Fantasie aber waren die Schwestern kuriose Gestalten, teils grotesk, teils witzig mit Gesichtern, die mal mehr oder weniger realistischer waren. Das kam drauf an, wie viel Energie sie in ihre Fantasie steckte. Sie harkte weiter nach. „Die anderen Besucher, die den Krankenwagen gerufen haben, haben geschrien dass sie ganz schlimm blutet. Ist Mama verletzt?“ „Deine Mama ist wohl, als sie ohnmächtig geworden ist mit dem Kopf auf dem Boden aufgeschlagen und hat sich eine Wunde zugezogen. Aber keine Sorge, es ist nur ganz oberflächlich, also nicht so schlimm.“ Die Schwester log schon wieder. Vielleicht nicht mal mit Absicht. Vielleicht dachte sie, Yuki würde anfangen zu heulen, wenn sie die Wahrheit erfuhr. Eventuell hatte die Schwester selbst nicht wirklich Ahnung, was ihrer Mutter passiert war. Sie log, meinte es aber nicht böse, also verzieh Yuki ihr und tat so, als glaubte sie diesen Worten. „Und wann kann ich zu meiner Mama? Wann können wir wieder Heim?“ „Wir müssen erst warten, bis deine Mama aufgewacht ist und dann müssen wir noch ein paar Untersuchungen machen.“ „Und wie lange dauert das?“ Die Schwestern schwiegen diesmal nicht, tuschelten aber dafür, sogar so leise und bedacht, dass nicht mal Yuki wirklich hörte was sie sagten. „Nun, wenn deine Mutter aufwacht, müssen wir sie beobachten und sehen, ob es Folgeschäden gab. Und dann müssen wir herausfinden, was die Ursache war, um auszuschließen dass deine Mama eine Krankheit hat.“ „Haben Sie nicht gesagt, es war ein Hitzschlag?“ „Ähm, das muss so sein. Krankenhaus Richtlinien eben.“ Ihr anschließendes Lachen wirkte mehr wie nur gekünstelt. Etwas ärgerte sich Yuki schon, hätte sie nichts gesagt, vielleicht hätte die Schwester dann gar nicht gemerkt, dass sie sich fast verplappert hätte. „Selbst wenn sie heute noch zu sich kommt, müssen wir sie sicher zwei Tage hier lassen, vielleicht sogar länger.“ Yuki sagte nichts, sie wollte nicht schon wieder unangenehm auffallen, indem sie wieder laut protestierte. Aber zwei ganze Tage? „Darf ich zu ihr?“ „Tut mir Leid, meine Kleine, aber das geht vorerst nicht. Das ist Vorschrift vom Oberarzt.“ Die Krankenschwester ließ Yukis Schulter los, auf der ihre Hand die ganze Zeit geruhte und tätschelte ihr mit selbiger über das hellblonde Haar. „Es ist besser, wenn du nach Hause gehst. Du kannst das Telefon am Empfang nutzen, dann kann dich dein Papa abholen.“ Ob sie sagen sollte, dass das nicht ging, da ihr Papa verbrannt in einer Urne unter der Erde lag? Yuki entschied sich dagegen. „Gut, ich rufe jemanden an.“ Die Schwester begleiteten Yuki noch zum Empfang in der Nähe des Haupteinganges. Eine der Schwestern hatte für Yuki einen Stuhl besorgt, auf den sie sich stellen konnte, um an das Telefon vom Empfang rankommen zu können, damit sie nicht die Münztelefone, die etwas weiter weg an einer Wand hingen und eben Geld kosteten benutzen musste. Die Empfangsdame fragte sie noch, da sie merkte, dass Yuki nichts sehen konnte ob sie für sie wählen sollte, aber Yuki verneinte. Sie würde das hinbekommen, zu Hause schaffte sie das ja auch und die Tasten für die Zahlen waren schließlich überall gleich. Aber sie wählte nicht sofort, sondern wartete, bis sich das Geräusch der Schuhe mit den Holzsohlen, die die Krankenschwestern trugen etwas entfernte und wartete ebenso darauf, dass sie das Geräusch von Papier hörte, dass ihr zeigte, dass sich auch die Empfangsdame wieder ihrer Arbeit widmete und ihrem Radio, dass da irgendwo in der Nähe stehen musste. Es liefen die Nachrichten und der Sprecher sprach von einem schweren Zugunglück in Indien am frühen Morgen, bei dem viele Leute schwer verletzt wurden und es wohl auch viele Tote gab. Züge. Yuki musste kurz schlucken. Ihre Finger schwebte über den Tasten, während sie dem Radiosprecher zwar versuchte zuzuhören (und ob die Empfangsdame weiter ihrer Arbeit nachging), jedoch wurde er von der Stimme ihres eigenen Kopfes übertönt. Anrufen sollte sie. Aber wen anrufen? Normalerweise hätte sie Opa und Oma angerufen. Doch die waren nicht da, nachdem ihr Opa einen Bandscheibenvorfall erlitt und drei Tage im Krankenhaus war. Da hatten er und Oma sich entschlossen einen Kurzurlaub in Kyoto zu machen, damit er sich etwas erholen konnte. Es hieß im Ernstfall könnten sie sich dennoch melden. Auch wenn Mamas Zustand ein Ernstfall war, war Opas denn nicht im Grunde auch einer? Immerhin hatte er höllische Schmerzen. Und an wen wendete sie sich dann im Ernstfall des Ernstfalles? Sie hätte eines der Tantchen oder Onkelchen aus der Nachbarschaft anrufen können, schließlich waren sie immer nett zu ihr - die meisten zumindest. Es gab auch die, die oft über ihre Mama schimpften. Eine alleinstehende Ikebana-Floristin mit einem behinderten Kind, dass kann nur irgendwann schief gehen. Mama sei jemand mit Vergangenheit, so wie Papa schon, was immer das hieß. Mama tat, als mache ihr das nichts aus, sie war schließlich sehr stark und klug und hatte nie Probleme damit, jemanden zu sagen, was für ein dreckiger Schei- Yuki schüttelte den Kopf, als hoffte sie so würde das Wort, was ihr gerade in den Sinn kam aus den Ohren herausfallen. Mama wollte nicht, dass sie solche Schimpfwörter benutzte. Und wenn sie nun jemanden von den Nachbarn anrief, die um diese Uhrzeit selbst auf der Arbeit waren, musste sie ja sagen, dass ihre Mutter im Krankenhaus war, und wenn das die falschen, die bösen Nachbarn mitbekämen würden sie wieder über Mama schimpfen. Das war das Letzte, was Yuki wollte. Aber was dann tun? Hierbleiben? Vor allem wenn es stimmte, dass es vermutlich zwei, wenn sogar drei Tage dauern könnte und sie ohnehin nicht mal zu ihrer Mutter durfte? Die Schwestern konnten sagen was sie wollten, aber Yuki glaubte an keinen Hitzschlag. Irgendwas anderes war geschehen. Und dieser Unbekannte, der da war hatte sicher etwas damit zu tun. Jedoch konnte sie nicht bestimmen, wer das gewesen war. Sie hatte kaum etwas gehört. Fast keinen Laut und sie konnte so gar nicht sagen, ob diese Person ein Mann oder eine Frau war, geschweige denn im welchen Alter. Ob dieser jemand ihrer Mutter etwas angetan hatte? Vielleicht war es aber auch ein anderer Besucher, der ihre Mutter gefunden hatte und dann erschrocken war, weil er dachte man wollte ihm etwas Böses anhängen. Der Sprecher im Radio erzählte nun von jungen Frauen, die in den frühen Morgenstunden auf der Straße gefunden wurden. Er erwähnte etwas von akuter Blutarmut. Mittlerweile hatte Yuki ihren Finger auf die Taste gelegt, wo die Null sein müsste, auch wenn sie immer noch nicht wusste, an wen sie sich wenden sollte. Und wenn sie alleine nach Hause ging? (Warum eigentlich nicht?) Yuki kannte die Buslinie und wusste, wo sie ein- und aussteigen musste und den Fußweg nach Hause kannte sie in und auswendig. Die Handtasche ihrer Mutter war zwar im Behandlungszimmer, aber sie hatte den Ersatzschlüssel in der Tasche ihrer blauen Trägerhose. Die Akabanebashi Haltestelle war gar nicht soweit vom Krankenhaus entfernt, von dort konnte sie bis zum Shimbashi Bahnhof und über die Yurikamone-Linie wieder zurück nach Odabai. Ein Bus wäre auch möglich. Beide Varianten dauerten zwar, aber es war sicher, dass sie zu Hause ankommen würde. Sie könnte nach Hause und dann am Abend, wenn die Nachbarn von der Arbeit wieder zurück waren bei ihnen klingen und sagen, was passiert war. Sie könnten ja dann bei Mama im Krankenhaus anrufen und ihr sagen, oder eben einer Schwester, dass sie sich um Yuki keine Sorgen machen müsste, sie ist sehr gut alleine zurecht gekommen, schließlich würde sie im Dezember schon neun werden und das sie blind war war kein Hindernis. Ihre Hand wanderte an ihre Halskette und umklammerte den Anhänger fest. Papa hätte ihr sicher zugestimmt. Ihr Papa war mit seinen Freunden mal ganz lange in einem fremden Land gewesen und hatte in Wäldern und in Wüsten übernachtet. Im Wunderland sei er mal gewesen, so wie Alice, und das sogar sehr, sehr lange. So wunderlich und so lange, wie ihr Vater behauptete glaubte Yuki zwar nicht, aber dass ihr Papa mal lange irgendwo alleine war glaubte sie. Wenn ihr Papa als Kind so etwas konnte, dann konnte sie mit (fast) neun Jahren auch alleine nach Hause. Sie war ja nicht in einer fremden Stadt oder einem fernen Land unterwegs, sie kannte das Viertel. Sie kannte die Linie. Sie war sie schon einige Male gefahren und das Universitätsklinikum lag doch genau auf dem Weg, also hatte sie sich schon einmal eine Busfahrt gespart. Aber wen rief sie an? Die Empfangsdame war zwar beschäftigt, aber wenn Yuki einfach ging ohne telefoniert zu haben, würde das vielleicht auffallen. Ihr kam Frau Takenouchi in den Sinn. Das war die Chefin ihrer Mutter. Erst als sie daran dachte fiel ihr ein, dass sie dort lieber anrufen sollte, da ihre Mama normalerweise am nächsten Tag zur Arbeit gehen müsste. Die Nummer kannte sie ja schließlich, so wie alle wichtigen Nummern. Am Telefon war eine von Mamas Kolleginnen. Frau Takenouchi selbst war nicht im Betrieb, da ihre Tochter viel früher wie erwartet vom Sommercamp zurückkam und sie nun ihren Arbeitsplan - und den von den anderen Kollegen natürlich auch - noch mal umschreiben und ihre Ikebana-Lehrgänge in der Schule, wo sie zusätzlich arbeitete verlegen musste. Yuki erzählte ihr, dass ihre Mutter im Krankenhaus lag und die (von den Krankenschwestern vermutlich erfundene) Geschichte über den Hitzschlag und dass das Personal gesagt hätte, dass es wohl zwei Tage dauern kann, bis sie entlassen wird. Dabei achtete Yuki darauf, was sie sagte und wie sie es sagte, damit niemand in ihrer Nähe erahnen konnte, mit wem sie sprach, so fielen ihre Sätze allesamt recht kurz aus. Die nette Kollegin am anderen Ende der Leitung versicherte ihr, dass sie es der Chefin mitteilen würde und wünschte ihrer Mutter im Namen aller Kollegen eine gute Besserung. Kaum dass sie den Hörer aufgelegte, wurde die Empfangsdame wieder auf sie aufmerksam. Yuki hatte also Recht, sie hatte tatsächlich zugehört. „Hast du jemanden erreicht? Kommt dein Papa?“ „Nein, unsere Nachbarn holen mich ab. Es dauert zwar etwas, aber ich soll vor dem Haupteingang auf sie warten.“ Die Empfangsdame nahm das ohne weitere Fragen so hin und widmete sich wieder ihrem Papierkram. Die Radio-Nachrichten waren vorbei und es lief Boys & Girls von Ayumi Hamasaki. Zielstrebig folgte Yuki dem Geräusch der Schiebetür. Ein paar Leute kamen ihr entgegen, aber sprachen sie nicht an und als sie draußen stand, fühlte sie sich leichter, auch wenn ihre Hände, mit denen sie ihren weißen Blindenstock hielt feucht waren. Es war warm, aber die Sonnenstrahlen taten gut und trotz dem Lärm der fahrenden Autos, war es viel angenehmer, als im Krankenhaus zu sein. Nervös war Yuki dennoch. Schließlich hatte sie noch nie einen so weiten Weg zurückgelegt ohne ihre Mutter. Selbst wenn alles glatt lief, Mama würde früher oder später rauskriegen, dass sie alleine losgegangen war und sie würde dann früher oder später auch Ärger kassieren. Aber wann sollte sie denn sonst beweisen, dass sie auf sich selbst aufpassen konnte? Sie war blind, aber nicht hilflos. Sie musste irgendwann damit anfangen, sonst würden die Leute weiterhin hinter dem Rücken ihrer Mutter über sie tuscheln und Yuki selbst in Samt einpacken, weil sie halt - wie sagten sie immer, statt blind oder behindert? - anders war. Nein, das musste irgendwann mal enden. Und dieser Tag war die Gelegenheit und bei dem Gedanken, sie würde damit wirklich einen Schritt Richtung Selbstständigkeit gehen, schoss dass Adrenalin durch ihren kleinen Körper. Oh, vielleicht würde sie in feinster Detektiv-Arbeit sogar dem über dem Weg laufen, der sie und ihre Mutter einfach hat auf dem Friedhof stehen lassen. Vielleicht hatte derjenige was mit dem Zustand ihrer Mutter zu tun und aus nicht klaren Gründen gipfelte sich diese Vorstellung in Yukis Fantasie zu einem epischen Kampf, wenn sie sich dennoch eingestand, dass ein Blindenstock keine effektive Waffe war. Aber vergessen war die Angst. Vergessen war die Sorgen über die Fledermäuse am helllichten Tag (von denen Yuki glaubte, sie immer noch zu hören), die Sorgen um den Unbekannten und die Sorge über die großen, schweren Schwingen, die sie seit dem gestrigen Tag hörte, bis in die Nacht hinein, dass sie sich nicht einmal getraut hatte zu schlafen. Sie würde das packen und das redete Yuki sich in Gedanken immer weiter ein, selbst als sie schon losgelaufen war, trällernd mit der Melodie von Funkel, funkel, kleiner Stern. Töne, die ein Piano in ihrem Kopf verursachte, jedoch der Text eine Eigenkomposition eines wirren Hutmachers. „Funkel, funkel, Fledermaus, wonach fliegst du heut' wohl aus? Segelst hoch über der Welt, wie 'n Teetablett am Himmelszelt.“ Und die Fledermaus folgte ihr.   ♭ ♪   Es gab schlechte und es gab richtig schlechte Aufträge und er war sicher, das war einer davon und wäre die Versuchung nicht so verlockend, hätte er ihn nicht angenommen. Er war zwar als Kopfgeldjäger unterwegs und verdiente sich somit das Geld, aber dieser Auftrag übertraf alles. Das Gerücht, das eines der gefürchtetsten Digimon Servers, Myotismon - Pardon, Meister Myotismon - auf der Suche nach Truppen-Zuwachs war, ging schon eine ganze Weile um und hatte sich über den Kontinent ausgebreitet, bis hinunter zur Kaktuswüste im Südwesten Servers. Warum wusste niemand und selbst wenn Interesse bestand, hätte keiner einfach zu Myotismon gehen und sich für eine Stelle als Fußsoldat bewerben können. Sie würden es wohl auch nicht einmal zu ihm schaffen, da das Schloss auf dem Gipfel der Grey Mountain stand, eine große und lange Bergkette Servers, die den Norden von der Landesmitte trennte, immer von dichten Nebel umgeben und selbst mit einer brauchbaren Landkarte nur schwer zu finden, geschweige denn zu erreichen war. Aber genau aus diesem Grund war er ja hier. Er hatte erfahren können, dass seine Untergeben sich aufgemacht hatten Neulinge, die auch nur zu irgendwas taugten zu rekrutieren. Und genau deswegen saß er, ein ehemaliger Kopfgeldjäger aus einem sehr, sehr weit entfernten Wickel der Welt in dieser Bar. Die Bar Zum Maulbeerbusch, mitten in der Kaktuswüste war klein und stickig, aber immer gut besucht, wenn die Gäste allerdings nicht gerade zu den freundlichsten Gesellen gehörten. Einige von ihnen kannte er selbst und hatte schon Kämpfe mit ihnen ausgetragen. Deswegen saß er auch eher im Schatten, so dass keiner der Gäste ihn bemerken würde, was sie wohl ohnehin nicht tun würden, da sie zu sehr mit Saufen und Zinken beschäftigt waren. Seit gut einer Woche kam er jeden Tag hierher und wartete, dass sich etwas tun würde oder sich die Möglichkeit bot, neue Informationen abzugreifen, während er in seiner dunklen Ecke saß und den beißenden Drink die Kehle herrunterwürgte. Das Zeug schmeckte genauso scheußlich, wie es aussah und er vermutete, dass das kein Spezialdrink war, wie es auf der Karte hieß, sondern einfach Gin, den man mit Spülwasser gestreckt hatte. Am achten Tag schließlich hatte das Warten ein Ende. Er hatte gerade seinen dritten Spezialdrink mit Mühe und Überwindung ausgetrunken, als die hölzerne Schwingtür der Bar aufging. Das Lachen und Grölen, dass den Raum erfüllt e war sofort verstummt und alle blickten nur auf die zwei Silhouetten, die im Gegenlicht standen. Erst als die kleinere Gestalt sich mehr in das Innere der Bar wagte, erkannte man, dass es sich dabei um ein Gatomon handelte. Der andere, größerer Schatten gehörte einem Wizardmon, dass sich jedoch nur teilnahmslos an die Wand neben der Tür lehnte. „Was wollen diese Witzfiguren hier?“ SkullMeramon, Stammgast im Maulbeerbusch und der bis zum Eintreten der Fremdlinge noch mit Ponchomon und BigMamemon pokerte, legte seine Karten mit der Farbe nach unten auf den Tisch und wechselte dabei seinen Blick immer wieder zwischen Gatomon und Wizardmon. „Ich bin im Auftrag des großen Meister Myotismon hier.“ Die Stimme dieses Gatomon klang sehr feminin, zudem sehr klar und hell und ohne einen Funken Angst darin, obwohl so ziemlich jedes Digimon, dass sich hier in dieser Bar befand mindestens dreimal größer war. „Ich bin hier um für ihn Digimon zu finden, die die nötige Stärke und genug Mumm in den Knochen haben um sich seiner Truppe anzuschließen.“ Niemand sagte etwas, aber das Tuscheln, dass begonnen hatte nachdem der Name Myotismon gefallen war, wurde etwas deutlicher und man hörte einzelne Wortfetzen. Misstrauen sammelte sich, aber dieses Gatomon schien die Wahrheit zu sagen und wirklich zu Myotismon zu gehören. Darin zeigte sich wohl sein exzentrischer Geschmack, von dem man schon so viel gehört hatte. Allgemein galt Myotismon als mysteriöser Eigenbrödler. Die Digimon auf Server hatten Respekt vor ihm, obwohl viele nicht einmal wussten wie er aussah, aber gerade deswegen war er gerne Gesprächsthema. Es hieß, er sei der Schatten der Digiwelt und verkörperte alles Böse und Schlechte. Es hieß, er sei eine Kreatur aus einer anderen Welt. Es hieß, er sei ein mächtiges, heiliges Digimon gewesen, das jedoch in einer Schlacht fiel und sein Wunsch nach Rache hatte ihn von den Toten wiederauferstehen lassen. Es hieß, er hätte seine Seele an den Teufel verkauft, als er seine Liebsten verlor und hasste die Digiwelt. Es gab unzählige solcher Geschichten über den rätselhaften Herrn des Schlosses von Grey Mountain. Aber im Gegensatz zu Etemon oder den vier Meistern brachten manche Digimon sogar große Verehrung für ihn auf, da Myotismon, für ein Digimon dass zum politischen Spektrum der Meister der Dunkelheit gehörte tatsächlich etwas wie einen (wenn auch verkorksten und moralischen durchaus fragwürdigen) Sinn für Gerechtigkeit hatte, wenn seine Sicht über Gleichheit – das Lieblingswort der Meister der Dunkelheit - dem von Piedmon jedoch wieder erschreckend ähnlich war. Niemand wusste wie lange Myotismon schon in diesem Schloss lebte. Es soll angeblich mal ein heiliger Zufluchtsort gewesen sein, der zuvor einer Hexe gehörte. Mancher sprach aber auch von einer Priesterin oder etwas ähnlichem. Wer wusste das schon? Myotismon war dafür bekannt, dass er Digimon, die er für talentiert hielt bei sich aufnahm und machte dabei keinen Unterschied zwischen den Typen. Für ein Digimon wie ihn, dass angeblich so lange lebte - Nein, er wusste, dass Myotismon wirklich schon so lange lebte - war das durchaus ungewöhnlich. Selbst in der heutigen Generation existierte noch der Rassismus zwischen Serum- und Virus-Typen, obwohl die Zeit der Apartheid längst vorüber war und in einer so abgeschwächten Form, dass es sich nicht einmal lohnte es als Problem anzusehen, zumindest als eines, was man nicht mit einer guten Erziehung und einer ordentlichen Prügelei aus dem Kopf bekam. Was er mit diesen Digimon jedoch machte war ein Gerücht für sich. Manch einer munkelte, der fraß diese Digimon einfach, um ihre Kräfte aufnehmen zu können. Andere, dass er sie in seiner Langweile quälte und folterte, bis sie schließlich elendig verreckten. Wiederum hieß es, weil es sich ja dabei in Myotismons Augen um sehr talentierte Digimon handelte, dass er sie zu seinesgleichen machte, oder eben bei sich leben ließ, da sie ihm von Nutzen sein könnten, was immer dieser auch war. Vielleicht als Sklave, als Haustier oder als Konkubine, wie Piedmon es tat. Piedmon, das wirklich meist gehasste und gefürchtetste Digimon dieser Zeit, hatte einen Faible für LadyDevimon, daraus machte er nicht einmal ein großes Geheimnis, stets wurde er von einem Digimon dieser Art umgarnt. Piedmon fing Digimon ein, die theoretisch in der Lage dazu waren zu LadyDevimon zu digitieren. Wie er es schließlich schaffte, dass diese Digimon auch diese gewünschte Digitation vollzogen wollte man sich nicht vorstellen, dies war eine Sache für sich, über die fast jedes Digimon seine eigenen Horrorgeschichten hatte. Und wenn das Digimon es dann schließlich auch schaffte die gewünschte Digitation zu vollziehen, durfte es weiterleben, als Piedmons Anhängsel und Gespielin, und die toxische Mischung aus psychischen Schäden und einer durchtriebenen Ader, wie es für LadyDevimon eben üblich war, machten sie zu sehr loyalen und verführerischen Fußabtretern. Gnade dem, der Piedmons geliebtes Spielzeug zu lange anstarrte. Wenn Piedmon jedoch die Lust nach diesem LadyDevimon vergehen sollte (das geschah mal eher, mal später) tötete er es erbarmungslos und das Spiel begann vom neuen. Aber zu Myotismon passte das weniger. Dieses Gatomon gehörte ohne Zweifel zu seinem Truppen. Im Gegenlicht sah man kleine, glänzende Narben zwischen den kurzen, weißen Fell. Doch dieses Gatomon hatte eine weibliche wie ebenso durchaus erhabene Ausstrahlung, Schultern und Beine wirkten gut durchtrainiert, für Gatomon nicht unüblich, wenn diese stolze Körperhaltung nicht wäre. Der Rücken gerade, die Schultern nach hinten, das Kinn leicht angehoben. Ob Myotismon seine Leute wohl selbst trainierte? Ob er ihnen beibrachte, wie man sich zeigen musste, dass selbst der Anblick Ehrfurcht weckte? Die Stimme seiner eigenen Gedanken sagte laut Garantiert. SkullMeramon, der bisher nichts gesagt hatte, beugte sich über die Holzplatte und beging hier schon seinen ersten, großen Fehler, indem er auf dieses Gatomon spöttisch herabblickte. „Der große, böse Meister von Grey Mountain schickt also sein Haustierchen um Personal anzuheuern? Verschwinde von hier, Süße, der Laden ist nur was für harte Digimon.“ Ponchomon und BigMamemon begannen hämisch zu lachen, die anderen Gäste folgten ihnen. „Wie wär's wenn du dir selbst ein paar Muskeln antrainierst, ehe du so große Töne spuckst. Hey, Digitamamon, gib der Mieze hier was. Die Rechnung geht auf mich.“ Digitamamon - damals noch der Besitzer einer Bar, statt eines Restaurants - verstand den all zu offensichtlichen Witz und stellte zwischen die Krüge vorsichtig ein kleines Glas mit Milch hin. Die Gäste lachten wieder. Gatomon blieb nur ganz ruhig stehen, machte aber keinen Anschein, als sei sie verärgert. Zumindest sagte sie nichts und ihre Körpersprache verriet nichts dergleichen, aber man musste nur in ihre großen Augen sehen um zu wissen, was sie dachte. Auch Wizardmon, der sie begleitete rührte sich nicht. Kaum dass das Lachen leiser geworden war, weil einfach keine Reaktion folgte, schob Gatomon das Milchglas zur Seite und Griff nach einem der Krüge mit Digitamamons Spezialdrink darin. Der Krug war fast größer wie ihr Kopf und es sah irgendwie eher danach aus, als hätte das Ding ein Eigenleben entwickelt und versuchte Gatomon mit der Schnauze voraus in sein Inneres zu ziehen, als dass sie daraus wirklich trinken würde. Sie nahm einige, kräftige Züge und das braungolde Gesöff lief von ihren Mundwinkeln herunter, aber das Meiste hatte sie tatsächlich getrunken. Mit einem lauten Knall, dass die restlichen Krüge auf dem Tisch wackelten, schlug sie den nun leeren Krug wieder auf den Tisch. Aus der Menge, die sie vor einigen Sekunden noch ausgelacht hatte kam nichts mehr, nur hier und da ein respektvolles Stöhnen. Bisher war jeder, der einen ganzen Krug von diesem ekelhaften Zeug auf einmal leer getrunken hatte umgekippt und so schnell auch nicht mehr zu sich gekommen. „Du hältst dich wohl für ziemlich taff, wie?“, brüllte SkullMeramon und spuckte blaue Flammen aus seinem Mund, während Ponchomon und BigMamemon neben ihm sich erhoben. Was dann geschah kam ziemlich schnell, man konnte nur sehen, wie Gatomon erst zu BigMamemon, dann auf Ponchomon und zuletzt auf SkullMeramon zusprang, dann stand sie wieder auf ihrem Fleck, als ob nichts passiert wäre. Sie war wirklich sehr schnell. Keiner hatte gesehen, wie sie bei diesem Satz erst BigMamemons Handschuhe in zwei, Ponchomons Hut in vier und SkullMeramons imposante Ketten, die sich um seine Brust spannten in unzählige Einzelteile zerschlitzte. Auf ihren Krallen lag selbst kein einziger Kratzer. „Das Angebot besteht weiterhin. Wenn ihr zeigen wollt, dass ihr mehr wie eine große Klappe habt, dann schließt euch Meister Myotismon an. Solltet ihr ihm einen guten Dienst erweisen, wird er euch großzügig belohnen. Ich gebe euch bis Morgenfrüh Bedenkzeit.“ Keiner sagte etwas, aber ihre Darbietung hatte Eindruck hinterlassen und man sah Gatomon lange nach, auch als sie mit Wizardmon die Bar längst verlassen hatte. Die Menge tuschelte, laute Diskussionen entstanden, SkullMeramon regte sich auf über dieses unverschämte Ding und so merkte niemand, dass er selbst, der stille Gast, aus den Schatten getreten war um die Bar zu verlassen. Der Sandsturm, der schon den ganzen Tag tobte hatte nachgelassen, aber die Sonne schwebte immer noch mit ihrem erbarmungslosen Licht über die Sandsee. Er blickte auf den Boden und sah noch die Fußspuren von Gatomon und ihrem Begleiter Wizardmon im Sand. Allerdings führten diese nicht fort, sondern hinter die Bar. „Geht es wieder?“ „Ja, ich glaube schon.“ Er musste nur einmal um die Ecke blicken und da standen sie beide noch. Gatomon würgte und hustete, während sie sich mit einer Pfote an der Wand der Bar abstütze, ihr Begleiter, mit dem Rücken zu ihm stand neben ihr. „Was zum Teufel verkauft Digitamamon da bitte in seiner Bar? Brandbeschleuniger?“ „Du hättest nicht alles auf einmal trinken dürfen.“ „Tse. Das blöde Gesicht von diesem Großmaul war es mir wert.“ Sie würgte erneut. Wizardmon hatte schließlich dass Knirschen des Sandes bemerkt und drehte sich mit erhobenem Stab um. „Wer bist du?!“ „Sachte. Ich habe keine bösen Absichten.“ Wizardmon senkt den Stab nicht und nun war auch Gatomon auf ihn aufmerksam geworden. Sie funkelte ihn böse an. „Bist du ein Freund von diesem großkotzigen SkullMeramon?“ „Mit diesen Pöbel habe ich nichts am Hut. Ich habe mitbekommen, dass ihr zu Myotismon gehört und Truppen sucht. Tatsächlich hätte ich sehr großes Interesse daran mit euch zu kommen.“ „Glaube aber nicht, dass du gleich am ersten Tag eine Audienz bei Meister Myotismon bekommst“, sagte Gatomon mit einem sehr herrischen Ton, der so gar nicht zu ihrer Stimme passte. „Und die Belohnung gibt es erst nach getaner Arbeit.“ „Oh, mich interessieren Belohnungen eher weniger. Ich bin nur ein Gauner, der sich vom Schicksal treiben lässt und dies scheint mir eine willkommende Abwechslung.“ Die beiden sahen ihn eindringlich an. Leichte Skepsis war ihnen anzumerken. Vielleicht hätte er es anders umschreiben sollen. Aber jede Geschichte war eine gute, solange sie nicht merkten, wieso er wirklich Interesse für diese Rekrutierung hegte. „Gut, dann kommst du mit uns mit“, sagte Gatomon schließlich. Von ihrem Begleiter kam kein einziger Hauch von Widerspruch. „Wie sollen wir dich eigentlich nennen? Ein Digimon wie dich habe ich noch nie gesehen.“ „Sagt NeoDevimon zu mir, das reicht vollkommen.“ Beide musterten ihn noch einmal eindringlich, dann drehte sich Gatomon um und rannte ums Eck, um sich schließlich doch zu übergeben.   ♫   Nun war NeoDevimon hier in der Realen Welt, im Auftrag von Myotismon, als Folge seines eigentlichen Auftrages. Das achte Kind hatte er bisher nicht gefunden und es war nicht Schade drum. Dafür etwas anderes, etwas sehr interessantes, dem er gerne auf dem Grund gehen wollte. NeoDevimon wusste nicht nur welche der vielen, dubiosen Gerüchte über Myotismon stimmten oder kompletter Unfug waren, sondern er wusste weit mehr wie das. Es waren Informationen, die er von seinem Auftragsgeber Piedmon erhalten hatte und sie trafen alle zu, wie er im Laufe der Zeit festgestellt hatte. Dann gab es aber noch die Informationen, die Piedmon unter Verschluss hielt. Interessante Informationen, die NeoDevimon von seinem eigentlichen Meister hatte. Sein Meister, den er schon lange nicht mehr gesehen hatte und an einem Ort gefangen war, wo jedes Licht erlosch und einzig das Geräusch von tosenden Wellen existierte. Die Digimon zu jener Zeit (zu der Piedmon, als auch Myotismon noch gehörten), als sie noch zu den heiligen Digimon beteten, hatten diesen Ort als Hölle bezeichnet und er hatte Jahre dort verbracht. Als er es schaffte von dort zu fliehen, wofür seine Brüder und Schwestern all ihre Kraft opferten, hatte NeoDevimon die Digiwelt kaum wiedererkannt. Eine tragische Wendung. Für das Andenken seiner Geschwister und seines alten Meisters aber nahm NeoDevimon sich vor, sie dort herauszuholen. Und sich an denen zu rächen, die sie alle dort eingesperrt hatten. Dieses Mädchen, dass er gefunden hatte war Teil dessen. Gut, das Mädchen selbst weniger, aber dass, was sie bei sich trug. Wie dumm konnte man sein, es liefen überall Digimon herum und da trug sie dieses Ding mit sich rum, wie ein Schild mit der Aufschrift: HALLO, HIER BIN ICH, FANGT MICH BITTE! Er hatte sie schon in der ersten Stunde, kaum dass er in dieser Stadt war bemerkt. Sie hatte vor einem Blumenladen auf ihre Mutter gewartet und da lachte ihm das Digivice an ihrer Gürtelschlaufe regelrecht entgegen. Dann sah er ihr Gesicht. Ein sehr vertrautes Gesicht. Eine Sensation war das. Daraufhin folgte NeoDevimon ihr, einfach um feststellen zu können, wie gefährlich dieses Mädchen sein könnte. Er bezweifelte zwar, dass sie mit dem Digivice und dem Wappen auch nur irgendwas anfangen konnte. Bloß, nachdem was NeoDevimon wusste, war es trotz allem ziemlich schlecht, dass gerade dieses Wappen hier in dieser Stadt war und dann noch zu dieser Zeit, so sensationell es auch war. Ein ziemlich schlechtes Timing. Andererseits...  NeoDevimon stand auf dem Dach eines Hochhauses und blickte von dort aus der Straßenbahn nach, in der das Mädchen saß. Sie fuhr gerade über die Rainbow Brigde zurück nach Odaiba. Er durfte sie auf keinen Fall aus den Augen verlieren, das war schon passiert, da er erst mit in das neue Hauptquartier musste, da es sonst zu auffällig gewesen wäre, wenn er fehlen würde. Die meisten Digimon trauten ihm nicht wirklich, selbst dieses zickige Gatomon nicht, obwohl sie ihn eingestellt hatte. Und als er sie endlich wiederfand stieg die Kleine gerade in einen Rettungswagen, indem ihre bewusstlose Mutter weggebracht wurde. Nun saß sie alleine in der Straßenbahn, ohne ihre Mutter, der sie seit einem Tag schon erzählte, sie hörte die Schwingen eines großen Vogels. Nein, anders hatte sie es genannt, als er vor ihrem Fenster in einem Baum saß und lauschte. Sie hatte ihn als Sabb-Sabb-Vogel bezeichnet. Er würde klingen wie der Jabberwock, ein Ungeheuer mit langen Krallen und großen Schwingen und sie hatte Angst, sie wollte gar nicht schlafen. Natürlich kannte sie Alice im Wunderland. Spätestens hier hatte NeoDevimon keinen Zweifel mehr daran, dass sie es war. Er hatte die kleine Alice gefunden. NeoDevimon wollte der Bahn nach, doch schrille Laute hinderten ihn daran die Verfolgung aufzunehmen. Da die Sonne stark blendete, kniff er die Augen etwas zusammen (von denen er gleich sechs hatte) und blickte sich um und tatsächlich flog da etwas über den Fluss, in dieselbe Richtung, in die auch die Straßenbahn fuhr und das auch dieses ekelhaft hohe Geräusch erzeugt hatte. Erst hielt er diese Ansammlung schwarzer Striche für Vögel, sah jedoch etwas genau hin und erkannte, dass es Fledermäuse waren. NeoDevimon seufzte, aber es klang mehr wie ein Knurren. Ausgerechnet derjenige, der am wenigsten von ihr erfahren durfte, hatte sie natürlich gefunden. Natürlich. Das machte den ganzen Überraschungseffekt zunichte. Wusste er, wer sie war? Nachdem was NeoDevimon wusste eigentlich nicht. Oder ahnte er etwas?   Es blieb die Frage, was er nun mit ihr machen würde. NeoDevimon zumindest wusste es bereits und eigentlich kam ihm das ganz gelegen. Würde Alice' geliebter Schwarzer König weiter träumen oder endlich aufwachen?   ♩   Es war naiv zu glauben, das bei dem ersten Versuch alles glatt gehen würde. Bis zum Bahnhof hatte auch alles funktioniert wie geplant und Yuki wurde in der alltäglichen Hektik nicht mal von anderen Fahrgästen angerempelt, was sie durchaus befürchtet hatte. Bis in den Bus hatte es auch noch geklappt und sie war entspannter gewesen, wie zuvor noch in der Bahn. Vom Bahnhof bis zur Haltestelle Daiba war es ja auch nicht weit. Im Bus selbst saß Yuki rechts neben einer (dem Parfüm nach zu urteilen) älteren Dame, während sie gleichzeitig zur linken eines jungen Mannes saß, der einen Manga las, wie es schien. Während er sich durch den Manga blätterte sprach er die Dialoge nach, sehr leise zwar, aber Yuki konnte ein wenig mithören. Der Junge merkte wohl nicht, dass er laut las. Aus dem, was Yuki heraushörte ging es in diesem Manga wohl um einen Arzt, der einen Serienkiller in einem Land, dass sie nicht kannte suchte um ihn zu töten, dass er aber eigentlich gar nicht wollte. Sie verstand nicht viel von der Story an sich, aber die Dialoge von dem Arzt und den Mädchen, dass bei ihm war klangen sehr traurig und emotional und sie entwickelte sofort Sympathie für diese beiden fiktiven Figuren. Und sie fand das - oder zumindest das, was sie hörte so spannend, dass sie ihre Haltestelle verpasste. Dies merkte Yuki allerdings erst, als der junge Mann neben ihr den Manga zuklappte und aufstand, in dem selben Moment, als der Busfahrer via Lautsprecher rief: „Haltestelle Kokusai!" Und als Yuki das hörte und gleichzeitig verstand, dass sie drei ganze Stationen zu weit gefahren war geriet sie in Panik und tat was eigentlich ziemlich Dummes - sie stieg aus. Kaum dass sie draußen war ging die Tür hinter ihr zu und der Bus fuhr weiter und kam erst, als sie den Motor nicht mehr hören konnte zu dem Urteil, dass sie hätte sitzen bleiben sollen. Dann hätte sie zwar eine ganze Stadtrundfahrt gemacht, aber dann wäre sie zumindest irgendwann doch zu Hause gelandet. Nun musste sie auf den Nächsten warten, der in die andere Richtung fuhr und bei den Baustellen auf den Straßen und dem Sommerstau in der Odaiba Innenstadt konnte das weiß Gott wann sein, auch wenn die Zeittafeln einem etwas anderes weismachen wollten. Nun ja, dachte Yuki sich, es hätte schlimmer sein können. Immerhin war sie in Odaiba. Sie hätte auch in Koto, dem Nachbarbezirk landen können. Die Haltestelle grenzte an den Mizuno Hiroba Park, fiel ihr ein, als ihr ein starker Wind entgegen kam, der nach der salzigen Meeresluft roch. Das traf sich dann doch schon wieder ganz gut und Yuki bereute ihr Handeln schon gar nicht mehr. Sie war gerne hier. Es war zwar nicht Odaiba Beach, aber es war dennoch schön hier. Einerseits überraschte es Yuki nur, dass sie niemanden hörte. Mit ihren Blindenstock voraus ging sie dorthin, wo die Treppe sein müsste und ging jede Stufe vorsichtig hinunter, da sie keine Stange hatte, woran man sich festhalten konnte. „Drei blinde Mäus'.“ Immer drei Stufen im Takt des Mutter-Gans-Liedes, wobei ihr Stab ein kratzendes Geräusch auf dem Asphalt erzeugte. „Drei blinde Mäus'.“ Wieder drei Stufen. „Schau nur wie sie renn'. Schau nur wie sie renn'.“ Yuki war am unteren Ende angekommen, so viele Stufen hinter sich wie Takte. Aber sie hörte immer noch keine anderen Personen. Andererseits, es war Nachmittag - 14 Uhr vielleicht, aber auf keinen Fall später wie Drei - die Leute hatten sich eher dort versammelt, wo man nahe am Wasser liegen konnte, tummelten sich unter den Bäumen des Shiozake Parks oder stritten sich um einen günstigen Platz im Einkaufszentrum in der Nähe der Klimaanlagen. So gesehen hatte sie den Platz für sich und es sollte sie nicht stören. Von ihren Nachbarn würde ohnehin keiner vor Acht nach Hause kommen (zumindest niemand von den Nachbarn, die keine bösen Nachbarn waren), und so weit war die Strecke von hier bis zu ihr nach Hause gar nicht. Gegen Abend wurde der Verkehr auch etwas besser und zügiger. Dann konnte sie die Zeit bis dahin auch hier totschlagen. War hier in der Nähe nicht zumindest eine Schaukel gewesen? Als sie ganz unten angekommen war rutschte Yuki noch einmal ein Stück zurück, bis sie mit der Hinterseite ihrer Schuhe die Stufen berühren konnte und nahm ihre Uhr in die Hand. Zumindest hatte ihr Papa gesagt, es sei eine Uhr, denn die Uhrzeit bestimmen tat sie seit seinem Tod nicht mehr, genauso wie einige andere Funktionen ausgeblieben waren. Yuki versuchte seit vier Jahren irgendwelche Geheimnisse aus dem Ding zu entlocken, aber vergebens. Als Papa noch lebte, sagte er dass dieses kleine Gerät ziemlich tolle Fähigkeiten hätte, doch egal welche Knöpfe sie in welcher Reihenfolge auch immer betätigte, es tat sich nicht viel. Einen Schrittzähler hatte sie entdeckt, oder irgendwas in dieser Richtung. Ungefähr alle zwei Schritte gab dieses kleine Ding ein kurzen Piep-piep-Tonvon sich. Ähnlich wie das, was die Krähe vom Friedhof hatte. „Na dann. Eins... Zwei... Drei...“ Sie drückte auf einen der Knöpfe, ging exakt vier Piep-Laute gerade aus, blieb abrupt stehen und drehte sich nach rechts, ehe sie wieder von vorne zu Zählen begann. Das war Yukis effektivste Methode sich zu orientieren, wenn sie sich allerdings dabei auch recht dämlich vorkam. Obwohl es genau die Methode war, die es ihr ermöglichte auch ohne ihren Stab sich auf vertrauten Gelände zurechtzufinden, erkannten die Leute dann doch von Weiten, dass mit ihr etwas nicht ganz in Ordnung war. Die anderen Kinder verstanden es gar nicht und hier und da, aber selten ist schon das ein oder andere dumme, aber doch verletzende Wort gefallen und die anderen Eltern haben Mitleid für ihre Mama empfunden. Und Mitleid war genau das, was Yuki noch ihre Mutter wollten, egal wie aufrichtig es auch gewesen war.  Sechsundzwanzig Piep-Laute und noch einmal weitere sechs auf 11 Uhr hatte Yuki die Schaukel erreicht. Die Ketten und der Sitz waren nicht einmal heiß, sie standen günstig im Schatten von ein paar Bäumen. Aufgeregt setzte Yuki sich in den Kunststoffsattel, stieß sich mit ihren dünnen Beinen einmal kräftig ab und schon schwebte sie in der Luft hin und her. Ein paar Mal holte sie noch Schwung und summte dabei Melodien von verschiedenen Kinderliedern, die ihr einfielen und vermischte dabei den Takt, so dass was ganz anderes, nicht wieder erkennbares dabei raus kam. Die Gegenkräfte zogen an ihrem Körper und wahrscheinlich wäre sie ziemlich weit davongeflogen, hätte sie die Ketten nicht so fest umklammert, vielleicht sogar so weit, dass sie bis nach Hause geflogen und vor ihrer Haustüre wieder gelandet wäre. Vielleicht auch nicht so weit, aber hoch, wo der Himmel pastellfarben war, die Wolken dick und weich und wenn man achtsam war, sah man fliegende Untertassen zwischen den Sternen und dem grinsenden Mond. Vielleicht auch mit Tassen dabei. Vielleicht mit Tee gefüllt, vielleicht mit heißer Schokolade oder aber Kürbis-Karamell-Milkshake (Mamas Eigenkreation waren die Besten!).   Ihre Haare kitzelten ihr Gesicht und aus dem Summen wurde ein Trällern und schließlich ein lautes, aber fröhliches Lachen. Oh, wenn Mama das sehen könnte, auch wenn es vermutlich riesigen Ärger geben würde, das wäre es wert gewesen. Ein kalter, aber doch sehr starker Wind kam ihr entgegen und bremste ihren Flug aus und dieser Wind war weder Seeluft, noch eine einfache Sommerbrise gewesen. Yuki dachte schon, ein Gewitter wäre aufgekommen (aber das hätte ich doch merken müssen, die Schön-Wetter-Luft war ganz anders wie die Gewitter-Luft) und ließ ihre Beine auf dem Boden schleifen, um so endgültig zum Stillstand zu kommen. Plötzlich, als sie schließlich wieder auf ihren Füßen stand, die Ketten aber noch weiter in der Hand und den Schaukelsitz im Rücken, fühlte sie sich beobachtet. Unangenehm beobachtet. Von diesem Vielleicht-Gewitter-Wind spürte sie nichts mehr, dafür wie sich die Kälte neben ihr sammelte und sie verstand, dass dieses Kalte nicht die Luft war. Irgendjemand stand da und beobachtete sie. Und sie konnte es sich nicht erklären, aber Yuki fühlte diese kalte Präsenz und wusste, wer immer es war, er hatte keine allzu freundlichen Absichten. Yuki sagte nichts, und - wer immer es war, sagte ebenfalls vorerst gar nichts, doch er stand neben ihr und war sogar näher gekommen. Die Schritte waren nicht sanft oder leicht, aber kaum hörbar, als würde derjenige mehr schweben als gehen. Und, was Yuki erst Recht Angst machte, sie konnte ihn atmen hören und mit jedem Ausatmen schien die Luft um sie herum eisiger zu werden. War das vielleicht einer von diesen Leuten, die, wie sagte ihre Oma, Kinder mitnehmen um ihnen etwas Schlimmes anzutun? In diesem kurzen Augenblick bereute es Yuki, so stur und vor allem so blöd gewesen und alleine losgegangen zu sein. (Verdammt verdammt verdammt wenn Mama das raus findet ich wollte doch nur auf mich selbst aufpassen und ausgerechnet jetzt-) „Kann ich Ihnen helfen?“, fragte Yuki vorsichtig. Der Fremde versuchte ein höhnisches, leises Lachen zu unterdrücken, dennoch hatte sie es gehört. „Vielleicht kannst du das, junge Dame. Ich habe dich beobachtet und hätte ein paar Fragen an dich und ich wäre sehr erfreut, wenn du dir etwas Zeit für mich nehmen würdest.“ Die Stimme jagte Yuki schließlich noch einen weiteren Schauder über den Rücken. Es war ein Mann, seine Stimme war tief, wenn auch nicht rau und er sprach sehr bedacht und... Ihr fiel kein anderes Wort außer elegant ein, wenn es sicher auch einen passenderen Begriff gab. Auch sein Gang war anders, eleganter, nicht so wie der Gang, den die meisten Männer in ihrer Nachbarschaft hatten. Er wirkte nicht wie jemand, der aus Odaiba kam. War er vielleicht ein reicher Herr aus Shibuya oder Shinjuku? Vielleicht sogar aus Yokohama? „Ich weiß nicht, ob ich Ihnen helfen kann, Onkelchen, es ist nur -“ Kurz erschreckte Yuki. „Verzeihung. Ich rede unsere Nachbarn alle mit Onkelchen an, das ist eine sehr unhöfliche Angewohnheit. Bitte entschuldigen Sie.“ „Das macht doch nichts. Ich störe mich nicht an Namen.“ Langsam nahm sie die Hand von den Schaukelketten und drehten ihren Körper in die Richtung, aus der diese unheimliche Stimme kam. Aber immerhin, er hatte ihr das Onkelchen nicht krumm genommen. Yuki hatte schon netter wirkende Personen getroffen, die sich mehr darüber geärgert hatten. „Ich danke Ihnen. Aber ich glaube dennoch nicht, dass ich Ihnen helfen kann. Ich bin blind, wissen Sie? Warten Sie doch, bis meine Mama kommt. Sie hat was zu Hause vergessen. Wir wohnen nur eine Straße weiter, sie müsste in ein paar Minuten wieder da sein.“ Diese offensichtliche Lüge würde früher oder später von selbst auffliegen, aber Yuki hoffte zumindest so ihn etwas abschrecken zu können. Und selbst wenn nicht, vielleicht würde sie so Zeit gewinnen bis irgendjemand anders vorbei käme, der diese Szene bemerken und dazwischen funken würde. „Ich denke, du allein reichst vollkommen. Ich habe nur ein paar Fragen an dich und mehr wie Antworten möchte ich auch nicht.“ Dennoch behielt Yuki das Gefühl, als würde dieser Fremde genauso krude Hintergedanken haben, wie sie es kurz zuvor oder wie die Schwestern im Krankenhaus. Er hatte irgendeinen Hintergedanken, wie er sprach, wie er atmete, wie er einfach nur vor ihr stand, alles an ihm verriet ihn. Yuki hörte das Gras rascheln und den Boden etwas schleifen, er musste wohl vor ihr in die Hocke gegangen sein. „Ich habe dein Spielzeug und dein Amulett bemerkt und ich wollte dich fragen, ob du mir etwas über ihre Herkunft erzählen könntest.“ „Sie meinen meine Uhr und meine Kette?" Instinktiv nahm sie beides in die Hand und drückte sie an ihre Brust. „Warum möchten Sie das wissen? Wollen Sie mir das etwa wegnehmen?“ „Aber ganz gewiss nicht. Ich möchte mir das nur anschauen. Ich habe ein Auge dafür, weißt du?“ „Sind Sie ein Schatzsucher, oder so etwas?“ „So in etwa.“ So in etwa war jedoch kein Ja. So in etwa, in seiner Art wie er es aussprach klang es wie ein ganz im Gegenteil, aber die Wahrheit würde dich nur beunruhigen. Und ja, es beunruhigte sie sogar sehr. „Ich suche nach solchen überaus seltenen Gegenständen und nach ihrer Bedeutung. Und deine Kette sieht einem Amulett, das ich besitze, sehr ähnlich.“ „Was? Wirklich?“ Zum ersten Mal klang dieser fremde Mann ehrlich und gar nicht so bedrohlich. Gut, ein wenig schon, aber nicht so sehr wie vorher. „Darf ich sie mal haben?“, fragte Yuki vorsichtig. Ein wenig zögerlich streckte sie ihre offene Hand aus, mit der Innenfläche nach oben, da legte der Fremde etwas kleines, an dem noch ein Band hing in sie hinein und so wie es sich anfühlte schien an dem, was er sagte sogar etwas dran zu sein. Das Gewicht der beiden Anhänger war ziemlich gleich. Die Größe auch. Selbst die dünne Schnur war die Selbe. Die Muster fühlten sich ähnlich an, ob es identisch war konnte sie schwer bestimmen, aber sie tippte darauf, dass es so war. Und sowohl bei ihrer als auch bei der des Fremden spürte sie, dass in der Mitte noch etwas war. Ein Chip, oder so. Was es genau war, dass hatte nicht einmal Papa gesagt. Er sagte nur, es sei etwas besonderes. Und dass das, was darauf war (Yuki meinte sich vage zu erinnern, dass es wie eine Feder oder wie eine Blume aussah, oder wie ein Auge oder eine Krone, vielleicht eine Mischung aus allem, wie auch immer das gehen sollte) eine tiefere Bedeutung hatte. Gerechtigkeit war ein Wort, was Papa oft im Zusammenhang damit benutzte, inwiefern das jedoch mit dieser Kette in Verbindung stand hatte Yuki nie verstanden. Und auch wenn sie darüber nachdachte, vier Jahre später wurde sie immer noch nicht schlau daraus. Vielleicht war das irgendwas abergläubisches? Oder religiöses? Oder so ein Erwachsenen-Ding? „Ja, sie fühlt sich wirklich an wie meine.“ „Deswegen möchte ich mir deine gerne genauer ansehen. Vielleicht gehören Sie zusammen.“ Er erwartet wohl, dass nun sie mit ihrer Kette - falsch, Papas Kette - rausrückte und natürlich tat sie das, immerhin hatte er auch Vertrauen in sie gehabt. Also streckte sie ihm beide Hände hin, in der Rechten ihre Uhr, in der Linken ihre Kette, wobei Yuki bei Letzterem die Schnur um ihren Zeige- und Mittelfinger gewickelt hielt, nur falls er mehr wie nur schauen wollte. Der Fremde schien ihre Uhr nur mit seinen Blicken zu analysieren, während er den Anhänger ihrer Kette in die Hand nahm und von mehreren Seiten begutachtete. Gelegentlich hörte Yuki nur ein leises „Hm“. „Sag, junge Dame“, begann er schließlich, nach langem Schweigen. „Wo hast du deine Kette und deine Uhr her?“ „Die gehören mir eigentlich gar nicht.“ „So?“ „Ich habe sie von meinem Papa bekommen.“ Irgendwas sagte Yuki, dass er mit dieser Antwort nicht allzu zufrieden war. „Und wo hat dein Vater das her?“ „Ich weiß es nicht. Aber so wie er erzählt hat, sind sie aus dem Ausland. Mehr weiß ich nicht.“ Ihre eigene Stimme hörte sich so unnatürlich hoch und ängstlich an. Angst vor diesem Fremden, wenn sie auch nicht wusste, was genau an ihm sie so verängstigte. Ihr Körper stand unter Spannung und Yuki fühlte jeden Muskel unter ihrer Haut pochen. Dadurch reagierte sie viel stärker auf den plötzlich Zug an ihrer linken Hand, als sie eigentlich wollte. Der Fremde hatten ihre Kette noch in der Hand gehalten, als Yuki fest an der Schnur zog und, samt ihren beiden Besitztümern, etwas von ihm zurück ging. Sie brauchte einen Moment, bis ihr Körper sich wieder beruhigt hatte. „Es tut mir Leid, wenn ich unhöflich war, Onkelchen. Mir sind diese Sachen nur sehr, sehr wichtig und... Entschuldigung, wenn ich dich verärgert habe.“ Sie hatte auf eine Beschwerde gewartet und spannte die Schultern an, weil sie nicht abschätzen konnte, was dieser Mann nun tat. Yuki rechnete damit, dass er aufstehen und sie anbrüllen würde. Zwar hörte sie das Gras, aber es klang nicht, als wäre er aufgestanden. Dann folgte nur tiefes, schmerzhaftes Atmen. „Onkelchen? Was hast du denn? Ist dir nicht gut?“ Er sagte nichts, sein Atmen klang immer mehr danach, als ginge es ihm schlecht und prompt dachte Yuki an ihre Mutter. Vielleicht geschah mit ihm das Gleiche, was ihr passiert war. Vorsichtig ging Yuki näher auf ihn zu, streckte die Hand aus, bis sie seinen Körper berührte und stellte fest, dass er nicht nur auf die Knie gegangen war und sich mit beiden Armen vom Boden abstütze, sondern auch dass er einen furchtbar dicken Mantel trug. Kein Wunder, dass es ihm schlecht ging, es musste ja entsetzlich warm in dem Ding sein. Yuki wollte ihm schon fragen, ob sie ihm helfen sollte aus diesem Ding zu kommen, da packte er sie wie aus dem Nichts an beiden Schultern. Dafür, dass es ihm nicht gut ging, hatte er unheimlich viel Kraft. Beide Daumen lagen auf ihrem Schlüsselbein und allein in ihnen steckte so viel Gewalt drin, dass Yuki fast vor Schmerz aufschrie. „Vom Vater... Aus dem Ausland... Denken die Digiritter wirklich, sie könnten mich in die Irre führen?“ Kein Wort verstand Yuki von dem, was er sagte, ob es Bedeutung hatte, oder er einfach wirres Zeug sprach. Zu Fragen traute sie sich aber nicht.  „Ich wundere mich ja, was du darstellen willst. Bist du nun das Kind, dass ich suche? Oder nur ein Köder? Ein Ablenkungsmanöver? Haben sie dir dieses Wappen gegeben, um mich zu verwirren?“ Sein Griff wurde fester, dass Yuki nun wirklich aufschrie und dabei versuchte, von ihm weg zu kommen. Doch er war viel stärker. Seine Hand hielt ihr Kinn fest. Sein Atem traf sie und dieser war kälter wie Eis.  „Wieso aber sehe ich nichts? Ich kann nicht in deinen Kopf schauen. Wieso geht das nicht?“, knurrte der Fremde weiter, ignorierend, dass Yuki versuchte um sich zu schlagen. Dann wurde sie schwächer. Worte oder Laute kamen nicht heraus. Sie hatte Kopfweh. „Ah, ich verstehe. Es ist, weil du blind bist. Deswegen funktioniert die Hypnose nicht richtig.“ Yuki wagte noch einmal den Versuch zu schreien, aber der Druck im Kopf breitete sich aus und sie bekam es nicht hin, auch nur irgendeinen Ton mit der Zunge zu formen. Und vielleicht bildete sie sich das ein – aber Yuki glaubte, Schnee zu sehen. „Aber egal, ob achtes Kind oder nicht... Für eine Mahlzeit reicht es.“ Sie verstand immer noch nicht, was er damit meinte und konnte auch nicht mehr klar denken. Yukis Kopf fühlte sich so leer an und würde dieser Fremde sie nicht halten, wäre sie vermutlich augenblicklich umgekippt. Mit aller Kraft versuchte sie aber wach zu bleiben und hatte ganz vergessen, dass sie eben noch Angst hatte. Geschah mit ihr dasselbe, was ihrer Mutter passiert war? Und was war mit ihm? Warum fror sie so? „Onkelchen...?“ Nicht die Kälte, die Yuki in ihrem Griff hielt war es, dass sie schließlich erstarren ließ. Es war der Geruch um sie, ein Geruch der süß und faulig zugleich war, ein Geruch, den sie vom Friedhof kannte, als hätte jemand Blumen auf frische Graberde gelegt. Und ehe Myotismon, der Yuki bis hierher gefolgt war und sie nun an den Schultern festhielt, seine Eckzähne in ihren dünnen, weißen Hals schlagen konnte ertönte eine Melodie, die ihn zurückschrecken ließ. Eine Melodie, die aus ihrem Digivice kam. „Nanu? Sie geht ja wieder!“, jauchzte Yuki, sichtlich überrascht, so sehr dass sie nicht mal merkte, wie Myotismon von ihr ließ. Genauso wie ihre Angst mit einem Schlag fort war, hatte sich auch ihre Benommenheit aufgelöst. Und, blind wie sie war würde sie niemals sehen, wie sich Myotismons Gesicht beim Klang dieser Melodie vor Entsetzen verzog. „Dabei hat sie seit Papas Tod nicht mehr gespielt. Wie hast du das gemacht, Onkelchen?“ Keine Antwort, stattdessen hörte sie nur ein Wimmern. Yuki lief einen Schritt, mit ihrer Uhr, die nun eine Spieluhr war auf Myotismon zu, doch er ging darauf gleich mehrere Schritte zurück. „Geh weg damit! Dieses Licht... Diese Musik, sie schmerzt in meinem Kopf.“ Yuki tat, wie er ihr befahl. Er klang als hätte er wirklich Schmerzen und sie versuchte, die Musik abzuschalten. Sie probierte alle Knöpfe aus, aber wie sollte sie es aus kriegen, wenn sie nicht einmal wusste, wie man sie einschaltete? Dann hörte sie nur noch, wie Myotismons Körper zu Boden fiel, während ihm selbst bei ihrem Anblick - blond und blauäugig und blass und zierlich, wie dubios, haargenau wie Alice - nur durch den Kopf ging, dass Alice im Wunderland ein absolut dummes Märchen war. Und dass er, sobald er die Macht über diese und die Digiwelt erlangt hätte jede einzelne Ausgabe von diesem dämlichen Buch verbrennen würde. Dann blieb er im Gras liegen. „Onkelchen?“   ♭𝅝   „Hey! Hey, du da!“ Wo war er nur? Er konnte sich nur noch an Schwärze erinnern. Schwärze und Qualen. Und an Schnee. Sein Kopf tat weh. Nein, eigentlich tat alles weh. Wo war er? Und wo war er vorher gewesen? Der Boden fühlte sich hart an und Sand und Wind streiften ihn. Er sollte hier nicht sein. Wo sollte er aber dann sein? Wieso erinnerte er sich an gar nichts? „Komm schon, wach bitte auf“, wiederholte derjenige wieder. Es dauerte, aber er konnte seine Augen etwas öffnen. Es war so grell um ihn herum. Die Sonne, diese abscheuliche Sonne war direkt über ihm. Das Digimon, das vor ihm schwebte kannte er nicht, es musste aber derjenige gewesen sein, der ihn rief. Ein Mensch hätte es - sie für eine Fee gehalten. Sie flog etwas über ihm, da sie entgegen der Sonne stand wirkte ihre Gestalt noch winziger, wie sie ohnehin schon war. „Bist du ein Patamon? Du siehst so anders aus.“ Sie war näher auf ihn zugekommen und nun konnte er ihr Gesicht erkennen. Sie hatte ein kindliches Gesicht, die Augen wie Glasmurmeln, umrahmt von langen Wimpern. Das goldene Haar und die Glocke um ihren Hals bewegten sich mit der aufkommenden Windböe. „Ich bin Tinkermon. Und du?“ Er hatte keine Kraft um ihr zu antworten. Gerade so hatte er es geschafft seinen Kopf zu heben, versucht Kraft für ein paar Worte zusammenzukriegen, aber scheiterte. Er war zu schwach. Zu hungrig. Zu müde. Er schmeckte Sand im Mund. Und der metallische Geschmack von Blut. Sah geisterhafte Gestalten vor sich. Dubiose Kreaturen. Und jemand, blass und blond, gekleidet in weiß und blau. Lange, dünne, angewinkelte Finger. Was war bloß vorher geschehen? „Hey, nicht wieder schlappmachen! Halt durch, ja?“, sagte sie wieder, dabei schubste sie seinen Körper und er wollte sie anmosern, dass sie ihre Hände von ihm lassen sollte. Aber er konnte nicht. Er legte den Kopf zu Boden und war wieder kurz davor ohnmächtig zu werden. Dieses Tinkermon schien zu merken, dass sein Bewusstsein schwand und weil sie zu klein war, um ihn von der Stelle zu bewegen, begann sie wehleidig zu schreien. „Jijimooooon! Babamooooon!“ Auch die Namen dieser Digimon sagten ihm nichts, doch er konnte noch, bevor ihm wieder Schwarz vor Augen wurde vor sich ziemlich große Füße und den Teil eines langen, zotteligen Bartes sehen. Das Letzte was er wusste, war dass ihn jemand hochhob und wegtrug. Dann kam wieder die Schwärze und mit ihr Schreie in seinem Kopf. Schreie von Digimon, zwischen den abstrusen Gesang alter Kinderlieder. Einer davon war sein eigener, der irgendwo zwischen einem Mutter-Gans-Fers und einer zaghaften Klaviermelodie unterging. (Funkel funkel Fledermaus wonach fliegst du heut nur aus?)     Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)