Wintersonett von Rakushina (Which dreamed it?) ================================================================================ Konzert II - UNBIRTHDAY, 1. Satz, Largo pianissimo D-Moll --------------------------------------------------------- 𝄞 „Touko?“ Es war kurz vor drei, eigentlich eine Zeit in der es voll in der kleinen Lawson Filiale in der Nähe des Mizuno Hiroba Parks wurde. Doch an diesem zweiten August waren die Kundenbesuche dürftig und in dem Augenblick, als Hr. Watai, ein älterer Herr hinter der Theke, der aussah als wäre er ein etwas größerer und schlankerer Dr. Slump, seinen Geistesblitz hatte, war nicht einmal einer da, der das hätte mitkriegen können. Er hatte seit dem Vortag darüber nachgedacht und hatte sich schlecht auf die Arbeit konzentrieren können, da kam es ihm doch ganz gelegen, dass seine Filiale eher klein ausfiel und die meisten aufgrund dessen eher zu 7Eleven gingen, vier Blocks weiter. Ein Junge, der bei ihm Kunde war, ging Watai nicht mehr aus den Kopf. Ein Grundschüler, vielleicht dritte Klasse? Die Haare standen ihm wirr ab und die Augen waren dunkel, aber trotzdem so klar. Er hatte Snacks gekauft – ziemliche viele, dabei sah der Junge selbst nicht aus, als sei er ein guter Esser, - und in seiner Tasche waren ein neu gekauftes Schloss und Schrauben verstaut. Als Watai den Jungen ansprach, ob der ganze Proviant für ihn und sein Vater wären und sie etwas Größeres vor hätten, wich der Junge aus. Es war offensichtlich, dass dieser Junge – er stellte sich mit dem Namen Izumi vor – etwas verbarg und sich offensichtlich schämte, gerade weil er schwieg. Watai hatte versucht ihn zu trösten, dass Kinder auch ein Anrecht auf Geheimnisse hätten und scheinbar ging es ihm dann auch etwas besser. Watai sah dem rotbraunen Wuschelkopf lange nach und fragte sich, warum dieser Junge so eine große Welle der Nostalgie mit sich brachte. Dann begann Watai sich zu fragen, wo er schon einmal solch dunkle Augen gesehen hatte, die aber nicht leer waren, sondern alles genau zu analysieren schienen und die ebenfalls von rotbraunen Haar umfasst wurden. Für die Antwort hatte er einen ganzen Tag gebraucht, bis Watai sich wieder an Touko Nakatani erinnerte. Watai rieb sich die Augen, wollte sich aber eigentlich gegen die Stirn schlagen. Touko war doch schon lange verstorben. Und selbst wenn nicht, war sie doch kein Grundschüler mehr (Anfang dreißig hätte sie nun sein müssen). Er dachte an sie, an Touko, an all jene sieben Kinder und ihm kamen fast die Tränen, redete sich aber selbst ein, dass es von seiner Stauballergie käme und die Reinigungskräfte einfach nur schlecht putzten. Wann war das alles nur gleich wieder gewesen? 1980? 1981? Vielleicht sogar schon 1979, er wusste es nicht mehr. Er könnte sich Zahlen nur schlecht merken. Watai wusste aber, dass es auch irgendwann Anfang August war, an einem herrlich warmen Mittwoch. Das wusste er so genau, da an diesem Tag der Laden der Kette Daiei Lawson in Hikarigaoka eröffnete und bis im Jahre 1995 auch dort blieb und vermutlich auch nochdort wäre, wäre dieser Anschlag nicht gewesen. Damals, Ende der 70er Jahre war die Filiale kleiner und bestand nur aus zwei Arbeitern, ihm und noch einem Freund, der letztes Jahr in Rente ging. Der erste Tag war immer etwas besonderes und an keinem einzigen Tag in seinem Leben (außer seinem Hochzeitstag und die Geburt seiner zwei Kinder), konnte Watai sich so genau erinnern, wie an diesen. Dies hatte jedoch weit mehr Gründe, als nur die Eröffnung an sich. Es kamen viele Leute an diesem Mittwoch vorbei, schauten durch das Fenster und rätselten, was in den Kartons war, aber nur wenige kamen hinein. Vielleicht Desinteresse, vielleicht war es ihnen auch unangenehm einfach hineinzukommen, da noch aufgrund von Verspätungen seitens der Lieferanten nicht alles eingeräumt war und vollkommen chaotisch wirkte. Unter Watais ersten Kunden waren jene sieben Kinder. Watai stand hinter dem Tresen (sein Freund und Kollege checkte die Lieferungen ab) und beobachtete die recht bunte Gruppe von Jungen und Mädchen, hörte hier und da Namen und Spitznamen fallen, doch ihre ganzen Namen sollte er erst zwei Tage später in der Zeitung lesen: Renta Gozuma(12), Soichiro und Kanako Morikawa (beide 10), Touko Nakatani (11), Natsu Usui (9), Hisaki Amano (11) und Kouta Ichijouji (11). Nette Kinder. Aufgeschlossene Kinder. Watai wusste noch, wie sie alle nebeneinander am Tresen gestanden und er schnell feststellte, wie redebedürftig sie alle waren. Sie erzählten, dass sie alle zusammen in der Musik-AG ihrer Schule waren und sich von dort kannten (drei von ihnen hatten Taschen dabei, Kanako und Natsu Blasinstrumente, da sie nicht sehr breit waren und Touko trug eine Violine mit sich rum). Jeder von ihnen spielte ein Instrument und sie waren auf dem Weg zu einer Probe in der Schule, da sie für das Schulfest im September mit dem Schulchor eine Aufführung hatten. Obwohl sie ihre Käufe eigentlich auf Getränke beschränkten wollten, wurden sie doch schnell auf ein paar Spielzeuge in einer Kiste aufmerksam. Über ihre Existenz war sich selbst Watai im Unklaren. Die Kiste war voll mit Geräten, die er damals nicht beschreiben konnte. Nun, zwanzig Jahre später, wenn er so darüber nachdachte, fand er dass sie Ähnlichkeit mir Tamagotchis hatten, in grellen, bunten Farben und er konnte sich am Eröffnungstag schon nicht erinnern, so was bestellt zu haben. Da es keinen Absender gab und er beim Inspizieren feststellen musste, dass sie nicht funktionierten hatte er eigentlich beschlossen sie wegzuwerfen.  Wenn er sich recht erinnerte, musste es Hisaki gewesen sein, der sich als erstes eines dieser Dinger aus der Kiste nahm. Er war sich sogar sicher, da er Hisaki wegen der blonden Haare und dem eher europäischen Aussehen für das Kind von Touristen gehalten hatte, deswegen hatte er wohl einen stärkeren Eindruck hinterlassen, zumindest was das Optische betraf. Aus diesem Jungen war Watai nie schlau geworden. Trotz dass Hisaki so unbeschwert schien, war er das leibhaftige Bild eines Wässerchens, dass jedoch tief war und in den tiefsten Tiefen sehr stürmisch. Natsu Usui machte einen eher ängstlichen Eindruck und lief stets entweder Renta Gozuma - als Watai den Namen hörte musste er schlucken, da die Familie Gozuma gut betuchte Leute waren - oder an Kouta Ichijouji, dem wohl Ruhigsten in der Gruppe, der das Aussehen eines jungen Adligen aus Shojo-Mangas besaß und so gut mit Worten umgehen konnte, dass er mit einem Satz der Welt ewigen Frieden hätte bringen können, wenn er es denn gewollt hätte. Doch war Kouta auch schüchtern und nicht so voller Tatendrang, wie es seine Freunde waren. Kanako, die von ihren Freunden aber nur Kana genannt wurde, war ebenso unsicher wie Natsu und lief ihrem Zwillingsbruder nach wie ein Küken seiner Mutter. Soichiro hatte eine etwas schroffe Art der Ehrlichkeit, was seine etwas emotionalere Schwester öfter mal zu Ernst nahm. Touko war aber dann doch diejenige, die mit ihrer Klugheit überzeugte und eine Mutterrolle (gerade für Kanako) inne hielt, auch wenn alle eher an der Ausstrahlung von Kouta und den Worten des wohlhabenden Renta hingen, der sich aber auf das Gehalt seiner Eltern wenig einzubilden schien. Er hatte die Gruppe lange und intensiv studiert, auch noch als sie alle ganz gespannt um Hisaki und der Kiste mit den Tamagotchis – er wusste nicht, wie er sie anders umschreiben sollte - standen. Kaum dass Watai ihnen gesagt hatte, dass die Dinger nur Schrott waren gab eben jenes, dass Hisaki begutachtete Laute von sich. Mit großen Augen standen diese Kinder im Halbkreis um ihren Freund, Worte wie krass und abgefahren fielen immer wieder. Keine Minute später hatte jeder von ihnen so eines in der Hand. „Herr Watai, können wir die haben? Was kosten sie?“ rief Hisaki daraufhin aufgebracht und Watai selbst stammelte nur ein verwirrtes „D-Darf ich kurz sehen, junger Mann?“. Und daraufhin gab Hisaki ihm das eiförmige, hellblaue Ding (seine Freunde hatten sich alle jeweils andere Farben ausgesucht). Auf dem kleinen Bildschirm bewegte sich eine Figur hin und her, die ein wenig an ein Gespenst mit kleinen Augen erinnerte. Ein, zweimal sah dieses Ding ihn direkt an - wenn man das so nennen konnte -, blinzelte und wiederholte seine Bewegungen. Doch kaum, dass sich das Spielzeug wieder in den Händen von Hisaki befand, hatte dieses Etwas seine Bewegung geändert und schien tatsächlich so was wie Freude zu signalisieren. Kana fand schließlich heraus, dass man diese Wesen füttern und auch streicheln konnte (das wurde auf dem Bildschirm mit passende Emojis angezeigt, so gut es eben ging). Kanas Wesen ähnelte einem Samen, der zu keimen begann. Er erinnerte sich nur noch an das von Touko, dass Ähnlichkeit mit einem Fisch hatte. Die der anderen vier waren unförmig und kaum zu definieren oder mit etwas Bekannten zu vergleichen. Die Kinder fragten alle nach dem Preis und bettelten, dass sie doch nicht zu teuer sein sollten, ansonsten wären ihre Familien gegen den Kauf. Renta wollte sogar schon für alle bezahlen, schließlich hatte er das meiste Taschengeld, wenn er auch befürchten musste, dass das Ärger geben würde und seine Freunde das auch nicht wollten. Jedoch entschloss sich Watai die Dinger ihnen ohne irgendeinen Geldbetrag dafür zu verlangen zu geben, als eine Art Geschenk, da sie seine ersten Kunden wären. Er wollte sie eh wegwerfen, also warum Geld verlangen? Erst wollten die Kinder diese Großzügigkeit nicht annehmen, aber es genügten ein paar freundliche Worte und schon rannten alle sieben mit ihren neuerworbenen Schätzen aus dem Laden. Dies war am Vormittag passiert und den ganzen Tag noch dachte Watai an die Kinder und lächelte dabei. Am frühen Nachmittag jedoch änderte sich diese Stimmung rasch. Erst kam ein Herr aufgeregt in seinen Laden gestürmt, er suche seinen - an das Wort, was er als Umschreibung benutzte erinnerte sich Watai nicht mehr, aber es war nicht besonders nett - Sohn, er sei nicht in der Musik-AG aufgekreuzt, dabei wäre er von Freunden abgeholt worden und zeigte Bilder von Hisaki Amano, die dieser grimmig aussehende Herr in seinem Portemonnaie aufbewahrte. Mehr wie dem Mann das zu erzählen, was am Vormittag passiert war konnte er nicht und stellte die Vermutung auf, dass Hisaki und seine Freunde sich irgendwo verkrochen hätten, um in Ruhe ihre neuen Spielzeuge auszuprobieren. Wütend war dieser Herr aus den Laden gestürmt und Watai war froh gewesen ihn los zu sein. Es dauerte keine Stunde bis erneut jemand kam und nach vermissten Kindern fragte, diesmal ein Lehrer. Wie Watai befürchtet hatte, waren alle sieben Kinder nicht zur Musikprobe aufgetaucht. Auch dem Lehrer erzählte Watai von seiner Theorie, jedoch machte der Lehrer diese schnell zunichte. „Die Instrumente von Nakatani, Morikawa und Usui sind gefunden worden, aber von ihnen selbst keine Spur. Nie hätten sie ihre Instrumente so achtlos liegen lassen.“ Ab diesem Zeitpunkt waren die Kinder bereits sieben Stunden vermisst gewesen. Die Nachbarschaft hatte sich zusammengetan um nach ihnen zu suchen. Die Eltern wurden bei Nachtanbruch Heim geschickt, da man noch immer hoffte, die Kinder würden tatsächlich irgendwo spielen, hätten die Zeit vergessen und kämen nach Hause, wenn sie merkten, dass es dunkel wurde. Doch auch dieser Versuch blieb ohne Erfolg. Nach zwölf Stunden hatte sich die Polizei der Sache angenommen und suchten alles weiträumig ab. Als sich nach achtzehn Stunden noch immer nichts tat, begannen auch wieder Nachbarn und Lehrer bei der Suche zu helfen. Nach fast schließlich vierundzwanzig Stunden fand man Natsu mitten auf den Straßen von Hikarigaoka stehen, nicht weit von der Haupthaltestelle und dem Wohnblock, wo er wohnte entfernt. Er war wie von der einen auf die andere Sekunde einfach da und niemand konnte sich dies erklären. Der Junge heulte wie ein Schlosshund, warf sich den Beamten, die ihn auflasen in die Arme. Da man Natsu in der Nähe des Shikino Kaori Parks fand ging man davon aus, dass der Rest dort auch irgendwo sein musste. Es dauerte etwas, aber man fand sie tatsächlich, auch wenn sich die Polizei und alle, die an der Suche beteiligt waren sicher waren, dass man dort jeden Grashalm abgesucht hatte und man sich nicht vorstellen konnte, wie die Kinder dorthin gelangt waren, ohne dass sie jemand gesehen hätte. Noch rätselhafter als ihr Auftauchen war jedoch ihr Zustand, sowohl physisch als auch psychisch. Die Kinder wirkten wie verstört, waren teils verletzt, Renta sogar schwer, er konnte nicht aufstehen und hatte höllische Schmerzen. Obwohl man ihn schnell ins Krankenhaus brachte und über mehrere Stunden operierte, blieb er von diesem Tag an an den Rollstuhl gefesselt. Hisaki, Soichiro, Kana und Touko wurden noch vor Ort von der Polizei befragt, doch niemand gab Antwort. Sie sagten gar nichts, sondern schwiegen nur oder fingen an zu weinen. Und dann war da noch Kouta. Kouta kehrte an diesem Abend nicht nach Hause zurück. Auch an keinem anderen Tag. Die Suche nach dem Jungen ging über Monate, doch sie blieb ohne Ergebnisse. Alles was danach kam erfuhr Watai nur durch Hör-Sagen. Die Kinder wurden immer wieder befragt, was an jenem ersten Augusttag im Jahre 1979 geschehen war und wo Kouta war, doch alle sechs schwiegen. Offiziell. In der Nachbarschaft gingen andere Gerüchte um. Die Kinder hätten wirres Zeug erzählt, sie wären in einer fremden Welt gewesen und das angeblich fast vier Jahre, doch da sie Menschen waren wären sie nicht gealtert, weil man in dieser Welt nicht normal altern würde. Und in dieser Welt gab es Tiere, Gnome, Feen, Geister, Maschinen, Drachen, Dämonen und Engel und einige Zeit lang schrieben sie sogar in komischen Zeichen, die keiner entziffern konnte. Mit den Gerüchten bildeten sich Geschichten. Es ging die Erzählung um, die Kinder seinen auf den Weg zur Probe von einem Irren abgefangen, entführt und festgehalten worden, schafften es zu fliehen, doch auf der Flucht wurde Renta verletzt und Kouta wieder eingefangen. Andere behaupteten, die Kinder hätten irgendwo gespielt, doch es hat Streit gegeben, sogar von einer Prügelei sei die Rede gewesen und bei dem Versuch sie zu trennen kam es zu einem Unfall, bei dem Renta seine Fähigkeit zu Laufen und Kouta sein Leben verlor. Was auch immer stimmen mochte, man war sich zumindest einig, dass die Geschichte der Kinder, dass sie in einer fremden Welt gewesen seien falsche Erinnerungen waren, die sie sich in ihrem Kopf zusammengesetzt hatten, um ihr Trauma besser verarbeiten zu können. Selbiges galt für die Schrift, eine Art Übergangshandlung. Die Aasgeier der lokalen Zeitungen hatten von diesen Gerüchten Wind bekommen und warben mit Überschriften wie NEUSTE ERKENNTNISSE ZUM WUNDERLAND-FALL, was Watai mehr wie geschmacklos fand. Wenn es stimmte, dass diese Kinder sich das ausdachten, um etwas Schreckliches zu vergessen, sollte man sie doch einfach in Ruhe lassen, anstatt damit auch noch Geld zu verdienen. Auch, dass Kouta tot sein sollte, darin war sich jeder einig. Die Leute, die dieses Drama miterlebt hatten, egal ob sie noch in Hikarigaoka wohnten oder wie Watai nach dem Bombenanschlag 1995 nach Odaiba zogen, hofften eigentlich nur, dass eine höhere Macht doch Erbarmen mit der armen Familie hatte und eines Tages ein Spaziergänger die sterblichen Überreste des Jungen finden würde. Selbst die Eltern rechneten schon nach einigen Monaten nicht mehr damit, dass ihr Kind noch leben würde, aber es eben nicht zu wissen, nicht zu wissen wo er ruhte und ob seine Seele Frieden fand machte es unerträglich. Besonders der arme Bruder litt unter diesem Verlust. Nun, da der Medienrummel vorbei war und der Junge erwachsen, hatte er eine Familie gegründet, nachdem er selbst Jahre gebraucht hatte, um über diesen Schicksalsschlag hinwegzukommen. Zwei Söhne hatte er, sein Ältester, so munkelte man, sei hochbegabt und so brav erzogen. Jeder war neidisch. Watai schmunzelte, der Arme hatte das nach diesem schweren Verlust verdient glücklich zu werden. Alle hätten glücklich sein sollen. Ob sie es waren, war teils fraglich. Nach jenem Tag sah Watai die Kinder kaum mehr. Einzig Touko kam regelmäßig in den kleinen Laden vorbei, als sie zur Mittelschule ging, da dieser genau auf ihrem Weg lag. Das zog sich über die Oberstufe hinaus, als sie schließlich zur Uni ging, endeten ihre Besuche. Es war schade, sie war ein so liebes und kluges Mädchen. Eines Tages hatte Watai in der Zeitung gelesen und Touko auf einem kleinen Bild in einem Unterartikel wiedergefunden. In diesem Abschnitt ging es eigentlich um einen jungen Studenten, der eine besondere Auszeichnung im Fach Mathematik in so jungen Jahren erhielt. Touko wurde nicht namentlich erwähnt, einzig als [...]dessen Verlobte, selbst Spitzenstudentin[...]. Sie hatte einen guten Fang gemacht und das, wo sie sich so lange nicht für Jungen interessierte und bloß nicht heiraten wollte, ehe sie fünfunddreißig war. Scheinbar hatte die Liebe gesiegt und doch so jung, vor allem während des Studiums zu heiraten war in den 80ern nicht unüblich gewesen. Einige Monate nach der Hochzeit hatte er Touko das letzte Mal gesehen. Da war sie bereits schwanger. Von ihrem Unfalltod erfuhr Watai nur von Hisaki. Von den Kindern aus dem Wunderland (mancher sagte auch Nimmerland oder St. Martinsland) war Hisaki der Letzte. Alle waren verstorben, selbst erfahren hatte Watai aber nur von den von Renta. Der plötzliche Tod eines Sohn eines großen Ingenieurs und Besitzer einer Firma für Technik und Elektronik brachte eben mehr Interesse, als der irgendwelcher Bürger. Plötzlicher Tod war milde ausgerückt. Laut Medien wollte man ihn operieren, damit er zumindest in naher Zukunft mit Krücken etwas laufen konnte, doch ein rätselhafter Stromausfall, der sich während der OP ereignete beschädigte die Maschinen, während Renta in Narkose lag. Der Junge lag drei Monate im Koma, dann starb er. Sein Vater war außer sich und verklagte das Krankenhaus, doch die Klage würde, so laut Zeitung, abgewiesen. (KLAGE ABGEWIESEN, VERFAHREN EINGESTELLT, DER TOD DES JUNGEN WAR HÖHERE GEWALT - [...]Ein Stromausfall mit solchen erheblichen Konsequenzen überstieg jedoch die Vorsichtsmaßnahmen und die Vorstellung des Möglichen. Für dir Ursache des Stromausfalles und des Notstromes fanden die Beamten auch nach wiederholter Untersuchung keine Hinweise. Die Staatsanwaltschaft ist sich jedoch sicher, dass die Ursache nicht an den Maschinen selbst lag. Die letzte Kontrolle durch eine externe Gewerkschaft ereignete sich nur zwei Monate vor der Operation und auch eine erneute Prüfung ergab, dass sämtliche Krankenhausgeräte im einwandfreien Zustand waren[...]) Hisaki kam erst in den letzten Jahren vor seinen eigenen Tod öfter wieder ins Lawson, auch wenn er nicht mehr in Hikarigaoka wohnte. Vielleicht war es Nostalgie. Vielleicht Trauer, die er nicht überwinden konnte. Watai hatte ihn zwar schon zuvor oft gesehen, aber die Umstände waren nicht erfreulich gewesen. Der einst so besonnene Junge, ebenso von Trauer zerfressen wie der jüngere Ichijouji Bruder, fand Trost bei anderen Leuten, statt bei seinen Freunden und Eltern und man sah, wie tief dieses Wässerchen wirklich war. Fast die gesamte Zeit auf der Mittel- und Oberstufe zog Hisaki, mit langem Mantel und Atemschutzmaske bekleidet mit Yankees durch die Straßen, einmal sind sie sogar in das Lawson eingebrochen und Watai hatte die Schweinerei aufräumen müssen, die sie hinterließen. Auch Asami, seine zukünftige Frau gehört dieser Bande an, die ihre Zeit mit Diebstahl, Vandalismus und Schlägereien totschlug. Natürlich ging das in der Nachbarschaft rum und natürlich hatte man sich das Maul darüber zerrissen. Überraschter war man (auch Watai hatte es nicht fassen können) als Hisaki doch irgendwie kurz vor Abschluss der Oberstufe die Kurve bekam und man ihn mit anständiger Kleidung, nicht viel später mit Ehering sah. Es war wohl wieder der Tod, der Veränderung in ihr Leben gebracht hatte. Watai wusste nicht mehr, ob es Soichiro oder Kanako war, aber eines der Morikawa Kinder starb noch im Oberschul-Alter. Der andere Zwilling starb einige Jahre darauf ebenso. Die genauen Umstände kannte Watai nicht, da er von diesen Fällen auch nur durch Kunden erfuhr, aber auch hier war die Ursache, wie bei Renta, Touko und Natsu, der noch vor Touko starb, technisches Versagen. Watai konnte nur darüber lachen. Von wegen, technischer Fortschritt und Digitales Zeitalter . Da sollte die Technik einem das Leben leichter machen, dabei brachte sie einen doch viel eher ins Grab. Er dachte oft an Toukos Kind, was aus ihm geworden war, nachdem die Mutter nie mehr nach Hause kam? Und an die arme Asami und wie sie reagiert hatte, als man ihr mitteilte, dass ihr Mann von einem aus irgendwelchen unerklärlichen Gründen fehlgeleiteten Zug (so stand es in der Zeitung) direkt am Bahnhof überfahren wurde? Auf Technik und den ganzen anderen digitalen Kram war eben doch kein Verlass. „Onkelchen.“ Na, wenn man schon beim Thema war... Yukinos Eintreten hatte Watai gar nicht bemerkt und unwillkürlich fragte er sich, wie lange er schon nachdenklich ins Leere starrte und wie lange seine Stammkundin auf eine Reaktion seinerseits wartete. „Hallo, Yukino. Wie kann ich dir denn heute helfen?“ „Ich wollte etwas zu Trinken kaufen.“ Irgendwas stimmte mit dem Mädchen nicht und Watai erschrak, als er Yukino mit vollem Bewusstsein ansah. Ihr Gesicht war ganz rot und sie schien außer Atem. Auch ihre Hände waren rot angelaufen und sie hatte kleine, aber oberflächliche Hautrisse. „Kind, was hast du gemacht?“ „Och, schon gut, Onkelchen. Ich habe nur etwas schweres schieben müssen und hab dabei versehentlich in einen Dornenbusch gefasst.“ „Was denn? Baggersteine? Warte mal kurz.“ Hinter dem Tresen befand sich ebenso die Tür zu den Pausenraum der Mitarbeiter, der neben stereotypischen Möbeln und Schränken auch einen kleinen Kühlschrank hatte, indem Herr Watai neben Essen und den eigenen Getränken auch Schmerzgel aufbewahrte, das er normalerweise für seine Gelenke benutzte. „Hier, das hilft, damit du keine Blasen bekommst. Aber sag, Yukino, wo ist denn deine Mutter? Bist du heute ganz alleine hier?“ „Mama geht es nicht gut“, sagte sie, während Watai ihr etwas von dem Schmerzgel auf ihre Handfläche gab. Sie zuckte etwas zusammen, dann verrieb sie es gründlich. „Der Doktor hat gesagt, sie hätte einen Hitzschlag bekommen.“ „Oh, das tut mir Leid. Sage ihr bitte gute Besserung. Und wer schaut nach dir, wenn es deiner Mutter nicht so gut geht?“ Sie zögerte kurz. „Onkelchen von nebenan passt auf mich auf. Aber er musste wieder zur Arbeit und kommt erst heute Abend, solange soll ich bei ihm zu Hause bleiben.“ „Und hat er nichts zu Trinken im Haus, dass du extra hierherkommen musst?“, sagte Watai und versuchte Yukino mit einem, man musste zugeben gekünstelten Lachen zu selbigen zu animieren. Es funktionierte nicht. Mit einer nichtssagenden Miene starrte sie in die Richtung des Tresens. „Doch, aber das schmeckt mir nicht. Und ich hatte noch Geld in der Hosentasche, also bin ich hierher.“ Für so wählerisch hätte er die Kleine gar nicht eingeschätzt. Wenn Watai neue Leckereien in seinem Sortiment hatte war Yukino immer eine der Ersten, die es kaufte um es auszuprobieren. Da ihr wohl das Entdecken und Erforschen durch den Mangel an Sehkraft fehlte, versuchte sie es wohl so zu kompensieren und bisher hatte sie am allen, was sie gehört, gerochen und geschmeckt hatte immer etwas positives gefunden. Aber na ja, es konnte einem nicht alles gefallen, also stempelte Watai es eben als ein ganz normales Verhalten ab. „Hast du Tomatensaft für mich?“, fragte sie und hielt ihre Hände mit ausgestreckten Fingern von sich, damit das Schmerzgel schneller einziehen konnte. „Tomatensaft? Ich fürchte nicht. Wieso eigentlich Tomatensaft?“ „Nur so. Hast du etwas ähnlich? Es muss aber ein roter Saft sein.“ Watai hinterfragte ihren Wunsch nicht, sie würde ihre Gründe haben. Außerdem war der Kunde König. Er verließ den Tresen und ging zu den Kühlfächern, in denen sich ganz links die gekühlten Getränke befanden. Tatsächlich fand er etwas, was Yukinos Wünschen entsprach. „Ist Blutorangensaft in Ordnung?“ „Oh ja, wenn er nicht zu süß ist.“ Nun lachte sie endlich einmal. Das Rot in ihrem Gesicht hatte gesündere Maße angenommen und auch ihre Hände wirkten nicht mehr so geschwollen und schienen auch nicht mehr zu schmerzen, da sie die Reste des Schmerzgels mit einem Taschentuch aus ihrer Hosentasche abrieb. „Yuki? Bist du das?“ Während Watai wieder zum Tresen zurücklief um den Saft abzurechnen, kam noch jemand zwischen den Regalen zum Vorschein und er fragte sich unwillkürlich, wann sie hierein gekommen war. Etwa, als er vor sich hin geträumt hatte? Wie peinlich das war. „Kari? Ich dachte, du bist im Sommercamp mit deinem Bruder“, sagte Yukino überrascht. Wohl berechtigt, da Hikari viel weiter vom Lawson entfernt wohnte als Yukino und das wusste Watai nur, weil er im selben Block wie die Yagamis wohnte und Hikari immer traf, wenn er auf den Weg zur Arbeit war und sie zur Schule ging. Selten kam sie mit ihren älteren Bruder hierher, weil es hier Süßigkeiten gab, die sie gerne aßen, aber in den anderen Läden in Odaiba entweder nie vorhanden oder zu teuer waren. „Ich wollte, aber kurz vor der Abreise habe ich Fieber bekommen.“ „Oh, wie schade.“ Hikari hatte sich neben Yukino gestellt und sie mit der Hand auf ihre Schulter getippt, damit sie wusste, wo sie stand und sie drehte erst ihren Kopf und dann ihren ganzen Körper in Hikaris Richtung. „Das ist nicht so schlimm. Tai ist schon wieder zurück. Sie haben das Sommercamp abgebrochen, weil es zu schneien angefangen hat.“ „Schnee im August? Wie cool!“, jauchzte Yukino, ihr blasses Gesicht wurde rosa vor Entzückung. „Wieso bricht man das dann ab? Man kann doch Schneeball schlachten machen und Schneemänner bauen und das alles und man friert nicht mal dabei. Das ist doch toll.“ „Aber das schmilzt doch dann alles“, entgegnete Hikari und Yukino legte den Kopf schief. „Hm, vielleicht ist das Sommerschnee. Der ist anders, sonst würde er im Sommer ja nicht runter fallen.“ „Ist das dann überhaupt richtiger Schnee?“ „Sicher. Wenn es im Winter regnen kann, kann es doch im Sommer auch schneien.“ „Schon irgendwie.“ „Ich sehe, ihr kennt euch?“, fragte Watai lächelnd, dass beide Mädchen erwiderten, wenn auch nur Hikari zu ihm blickte und Yukino weiter über den Unterschied von Winterschnee und Sommerschnee nachdachte (wenn es denn einen gab). „Mhmm. Yukis Klasse ist unsere Patenklasse. Wir haben ein Projekt an unserer Schule und unsere Klasse besucht alle zwei, drei Monate Yukis Schule, damit wir sehen wie die Kinder lernen und spielen, die nicht hören oder sehen können.“ „Das ist ein sehr schönes Projekt, wie ich finde.“ Watai gab Yukino die Flasche mit Blutorangensaft und sie bezahlte passend mit dem Geld aus einem kleinem, pastellrosanen Münzensortierer mit einem weißen Hasen darauf. Noch ehe Hikari ihr Wechselgeld für ihren Einkauf, den sie mit einem Tausend-Yen-Schein aus ihrer Hosentasche bezahlte, bekommen hatte, hatte sie sich schon ganz auf Yukino konzentriert. Sie stellte sie direkt neben Yukino und die beiden Mädchen harkten ihre Ellenbogen ineinander ein. „Und was hast du gekauft, Kari?“ „Ich habe Fisch aus der Dose geholt. Miko ist wieder weggelaufen und war die ganze Nacht weg. Vielleicht ist das ein guter Lockvogel.“ „Oh Nein. Aber warum sucht du hier, dass ist doch so weit weg von deinem zu Hause.“ „Schon. Aber einmal ist Miko sogar bis zum unteren West Terminal gelaufen.“ Die beiden liefen nebeneinander her und Watai sah ihnen nach, in der Position die er zuvor schon eingenommen hatte, als er an den Jungen von gestern dachte, mit dem Ellenbogen auf dem Tresen und den Kopf auf der Hand abgelegt. Die automatische Schiebetür ging auf, dennoch bleiben die Mädchen kurz davor stehen, so konnte Watai noch etwas von ihrem Gespräch mithören. „Hat Miko vielleicht ein Glöckchen um oder etwas, was ein Geräusch macht? Wenn ich es höre, kann ich deine Katze ja wieder Heim schicken.“ „Ja, aber wie schickt man eine Katze Heim, wenn man mit ihr nicht reden kann?“, fragte Hikari, aber es kam nur ein Achselzucken. „Keine Ahnung. Katzen sind eben verrückt, wusstest du das? Und sie haben die Angewohnheit, immer irgendwo zu verschwinden und sich aufzulösen.“ Fragend blickte Hikari Yukino an und versuchte sich darauf einen Reim zu machen. Vermutlich hatte Yukino diesen Gedanken aus irgendeinem Buch übernommen. Ihre Oma, die ein, zweimal hier mit Yukino einkaufen war, hatte mal erzählt, dass seit sie zur Schule ging Lesen ihr Hobby geworden war. Um ihr jedoch das Vorhaben auszureden, Klavierspielen zu lernen reichte es nicht. „Wenn Miko wieder da ist und mein Bruder seine Sachen fertig gemacht hat, kannst du uns ja mal besuchen.“ „Was muss dein Bruder denn machen?“ „Na ja, Hausaufgaben eben.“ Trotz der Entfernung sah Watai Yukino das Misstrauen an. Kein Kunststück, Hikari war keine gute Lügnerin. Sie sagte jedoch nichts, sondern freute sich nur über das Angebot.  „Das wäre toll“ , lachte Yukino, hielt aber im selben Moment wieder inne. „Aber ich muss erst warten, bis meine Mama wieder gesund ist. Die Krankenschwester sagen, sie hat einen Hitzschlag bekommen.“ „Dann bist du jetzt ganz alleine zu Hause?“ „I wo. Ich bin bei Onkelchen.“ „Und wo ist dein Onkelchen? Wieso passt er nicht auf dich auf?“ „Nun, weißt du -“, begann Yukino nachdenklich, „- Onkelchen arbeitet überwiegend nachts.“ „Ah, verstehe.“ „Vielleicht kann ich ihn dir ja mal vorstellen. Wenn er irgendwann einmal ausgeschlafen hat.“ „Klingt ein bisschen nach meinem Bruder, der verschläft auch gerne den Tag...“ Nun sahen beiden Mädchen, in ihrer Gedankenwelt versunken, in die Luft. „Nun muss ich aber schnell wieder zu ihm, er hat sicher großen Durst.“ „Aber wenn deine Mama wieder gesund ist, rufst du an?“ „Verlass dich drauf! Bis bald, Kari!“ „Ja, bis demnächst!“ Hikari rannte los, während Yukino noch ihren Blindenstab aufzog und damit in die entgegen gesetzte Richtung lief. Für eine kurze Zeit sah Watai den Kindern noch nach, bis ihm, als sie beide aus seinem Blickwinkel verschwanden auffiel, dass Yukino Hikari ja was vollkommen anderes erzählt hatte wie ihm.   ×|/center] (Er träumt jetzt sprach Dideldei: und wovon meinst du träumt er? Alice sprach: Das kann niemand erraten. Na von dir! Rief Dideldei aus und klatschte triumphierend in die Hände Und wenn er aufhört von dir zu träumen wo glaubst du wärst du dann? Wo ich jetzt bin natürlich! sprach Alice Nicht du! Gab Dideldei verächtlich zurück Du wärst nirgendwo Ho! Du bist doch nur ein Wesen in seinem Traum!)   ♭𝅝 Das sanfte Weiß ging in ein warmes, aber nicht sehr angenehmes Rot und Orange über. Eine Kerze stand neben ihm und war somit die einzige Lichtquelle in dieser Dunkelheit. Diese Dunkelheit aber war keine echte Dunkelheit. Diese hier hatte eine Form. Er spürte Stoff unter seinem Körper und etwas Nasses auf seinem Kopf. Kühle Tropfen liefen sein Gesicht entlang und fielen auf die Decken. Die Dunkelheit war nun ein kleiner Raum aus Stein mit nur einem kleinen Fenster. Es war stockdunkel draußen, so wie er erkennen konnte. Alles sah so verschwommen aus, aber die Sicht klarte sich langsam auf. Er lag auf der rechten Seite, zusammengekauert zwischen mehreren Laken aus Stoff und Leinen, er fror und gleichzeitig fühlte er sich, als würde er schmelzen. Er blickte leicht zur Seite und erkannte den grauen Rauschebart. „Oh, du bist aufgewacht.“ Eine behaarte Hand berührte seinen Kopf. „Ich hätte gedacht, du brauchst noch Zeit. Schone dich, du hast hohes Fieber. Babamon, komm mal her!“ Neben dieses Digimon, dem dieser zottelige Bart gehörte - eigentlich bestand dieses Digimon größtenteils nur aus Bart - gesellte sich sein weibliches Gegenstück. Weniger zottelig, wenn der Dutt sie allgemein strenger machte, wie ihr Gesicht es ohnehin schon war. „Sieh nur. Hättest du das gedacht, dass es so schnell zu sich kommt, Babamon?“ „Ich hätte ja erwartet, dass er am Diensttag erwacht. Wann immer Diensttag auch ist.“ „Aber es könnte fast Diensttag sein. Dann hättest du fast Recht mit deiner Vorhersage.“ „Nicht nur fast. Ich habe immer Recht mit meiner Vorhersage. Auch wenn es nicht Diensttag ist, habe ich Recht.“ Kurz überlegte er, ob er noch bewusstlos war oder einfach noch tief im Fieberwahn. Kein Wort von dem, was die beiden redeten hatte für ihn Sinn gemacht. Babamon trat etwas näher, nahm dabei das Tuch von seiner Stirn um es in das frische Wasser in einer Schüssel hinter ihr zu tauchen. „Aber es braucht noch etwas mehr Zeit.“ Sie klatschte ihm das nasse Tuch wieder auf die Stirn, und dass nicht gerade zaghaft. „Solange muss er die zwei S-Worte streng befolgen.“ „Ach ja. Speisen und Schlummern.“ Der Zottelbart lachte und streichelte dabei die grauen Haare in seinem Gesicht, bis er sich wieder ihm zuwandte. Endlich hatte er genug Kraft um seinem Mund bewegen zu können. „Wo bin ich?“ „In unserem trauten Schloss auf Grey Mountain, wo auch sonst? Ich bin Jijimon, Herr dieses Schlosses. Und das ist mein störrisches Eheweib, Babamon.“ Besagtes Babamon stellte sich neben ihren Gatten, in ihrer Hand hielt sie eine Holzschüssel. „Und ich bin Babamon, Herrin dieses Schlosses. Und das ist mein debiler Ehemann, Jijimon.“ Ein Irrenhaus, schoss es ihm durch den Kopf. Das kam nicht vom Fieber, das Verhalten der beiden war wirklich mehr Schwachsinn als alles andere. Er wusste nicht woher, aber er wusste es, so wie man wusste, dass, wenn die Sonne schien es hell draußen war. Babamon hatte irgendeine undefinierbare Maße in ihrer Holzschüssel umgerührt, die im Kerzenlicht grün aussah, und strich eine großzügige Portion davon auf seinem Körper. Es kühlte zwar, brannte aber im selben Moment und er schrie auf. „Ganz ruhig, das ist gleich vorüber. Aber es hilft, damit deine Wunden sich nicht entzünden. Und du hast davon nicht gerade wenig, also brauchst du auch nicht wenig davon.“ Ehe sie noch mehr von diesem Zeug, dass schlimmer brannte wie Brennnesseln und Teufelskrallen zusammen, klopfte es hinter der dicken, schwarzen Holztür und sie ging mit einem lauten Knarren auf. „Ist er aufgewacht?“ Es war das Feen-Digimon, dass ihn gefunden hatte. „Er ist tatsächlich aufgewacht. Komm ruhig her, er hat nichts was ansteckend sein könnte.“ Dann winkte Babamon ihr zu und sie brachten den Mut auf, zu ihnen zu kommen. Nun schwebte sie zwischen den beiden alten Digimon die sie noch winziger erschienen ließ, wie sie ohnehin war. Kurz überlegte er, ob sie wirklich das gleiche Digimon war, das ihn gefunden hatte, aber er sah in ihre Augen und allein das bejahte seine Frage. „Es ist gut, dass du ihn gefunden hast, Tinkermon. Eine weitere Nacht dort draußen und es wäre das Ende gewesen, geschwächt wie er war.“ Babamon klatschte noch mehr von dem grünen Glibberzeug auf die Haut. Das Brennen war nicht zum aushalten. „Jijimon, was ist das für ein Digimon? Er sieht aus wie ein Patamon, aber er ist ganz lila.“ „Das, Tinkermon, ist Tsukaimon. Da habe ich doch Recht, oder?“ Etwas geschwächte nickte er Jijimon und Tinkermon zu. Er ging davon einfach aus, dass es stimmte, da der Name für ihn vertraut klang. Neugierig flog dieses Tinkermon um ihn herum, bis es ihn aus jedem Winkel begutachtet hatte. Dann legte sie sich zu ihm auf die Laken auf den Bauch und ihren Kopf auf die verschränkten Ellenbogen, um in dieser Position verharrend Tsukaimon in die Augen schauen zu können. „Sag, geht es dir besser? Was ist dir zugestoßen? Und wie kamst du überhaupt so nah ans Schloss?“ Es waren zu viele Fragen auf einmal und Tsukaimon hatte auf keine einzige eine Antwort. Er war sich bis vor kurzem nicht einmal klar gewesen, dass er Tsukaimon war. Er wusste rein gar nichts. „Fest steht -“, begann Jijimon und streichelte dabei wieder über den Bart. „- dass er viele Verletzungen hat, doch viele dieser Wunden sind älter. Kampfspuren. Aber eigenartig, Tsukaimon sind eher feige. Sobald sie in eine brenzlige Situation geraten suchen sie das Weite.“ „Vielleicht irren wir uns und es ist kein Tsukaimon.“ Babamon klatschte wieder von ihrer Heilsalbe auf seine Haut, diesmal auf einen seiner Flügel, dafür war es weniger. „Dann wäre es, ganz im Gegenteil, gar nicht so feige.“ „Ich bin Tsukaimon“, protestierte er, sich nun sehr sicher, dass er Tsukaimon war und versuchte aufzustehen, aber seine Beine fanden keinen Halt. Dann versuchte er zu fliegen, doch auch der Versuch scheiterte und Tsukaimon fiel zurück in die Decken. Sein Aufprall sorgte dafür, dass Tinkermon fortgeschleudert wurde. „Hey, pass doch auf!“, schimpfte sie, doch beim Anblick des sich vor Schmerzen krümmenden Körpers tat es ihr sofort leid, dass sie laut geworden war. „Kinder, nicht streiten! Vor allem du nicht, Vielleicht-Tsukaimon“, ermahnte Jijimon beide. Babamon griff sofort zu ihrem Besen und zog damit dem viel kleineren Tinkermon eine über. „Du bekommst nur keine Tadel, weil du verletzt bist“, schimpfte sie wieder und zielte mit dem Besen auf Tsukaimon. Sein Blick wanderte zu Tinkermon, die beschämt zu Boden blickte und sich über die goldenen Haare fuhr, um ihren Zopf wieder zu richten. Irgendwas sagte Tsukaimon, dass sie schon öfter eine übergezogen bekam. „Babamon, was macht das Abendessen?“ „Fast fertig. Ich habe eine extragroße Portion für unseren Patienten gemacht. An ihm ist fast nichts dran, wenn ein Wind kommt wird er noch fortgeweht. Ich bereite alles vor, wenn die Kleinen alle im Bett sind. Achte du auf Vielleicht-Tsukaimon, Tinkermon.“ Tinkermon salutierte vor den beiden und rührte sich erst wieder, als beide den Raum verließen und die Tür - ziemlich laut - hinter sich schlossen. „Du musst die beiden entschuldigen“, flüsterte Tinkermon ihm zu. Vermutlich hatten die Wände Ohren, sonst würde es keinen Sinn machen, dass sie flüsterte. „Jijimon und Babamon sind etwas merkwürdig, aber wirklich fürsorglich. Eigentlich sind sie nicht so streng.“ Sie setzte sich neben ihm und streckte die Hand nach ihm aus. Doch noch bevor Tinkermon ihn berühren konnte, schlug Tsukaimon ihre Hand mit seinem Flügel, der verbunden war weg. Wütend, aber schockiert und verunsichert zugleich verengte sie die Augen, in denen sich die Flammen der Kerzen spiegelten. „Ich habe es nur gut gemeint. Du könntest mir dankbar sein. Hätte ich dich nicht gefunden, wärst du tot.“ „Ich habe dich nicht darum gebeten.“ Mit einem grimmigen Blick drehte sich Tsukaimon auf die andere Seite, um ihr den Rücken zuzukehren, mit nichts als der Wand und seinem Schatten im Blickfeld. Allein das war schmerzhaft. Tinkermon aber flog einfach über ihn hinweg, landete wieder vor seinem Gesicht und ging in die Knie. „Du solltest dich schonen, wenn du wieder gesund werden willst. Und was essen, wenn Babamons Kochkünste auch gewöhnungsbedürftig sind.“ „Gewöhnungsbedürftig?“ Ihm drehte sich schlagartig der Magen um. „Aber wenn du wieder gesund werden und nach Hause willst, wirst du das durchziehen müssen. Wo bist du eigentlich zu Hause?“ Tsukaimon überlegte. Er überlegte lange, wo zu Hause war, doch in seinem Kopf herrschte absolute Leere. Seine Erinnerungen gingen nur bis dorthin, als er Tinkermon sah. Sein Blick, der sich von ihrem abwandte, reichte ihr als Antwort. „Hast du denn ein zu Hause?“ „Ich weiß es nicht.“ „Hast du Freunde? Vielleicht vermisst dich jemand. Bist du vor einem stärkeren Digimon geflohen?“ Kein Wort fiel, die Antwort wäre ohnehin immer die Gleiche gewesen. Er wusste es nicht. Er wusste absolut gar nichts. Zwar fühlte er irgendwo in seinem Inneren, dass etwas fehlte, aber mehr auch nicht. Es war wie in ein Loch oder in einen Abgrund zu blicken, indem trotz hellstem Tag nichts zu erkennen war. (etwas fehlt etwas wichtiges aber was fehlt) Wieder streckte Tinkermon die Hand nach ihm aus, zögerte aber erst um nicht wieder einen Schlag von Tsukaimons Flügeln abzubekommen. Diesmal jedoch wehrte er sich nicht und ließ es zu, dass sie ihre Hand auf seiner Stirn ablegte und leicht über das kurze Fell strich. Eigentlich nur über einen Teil davon, so klein sie und ihre Hände entsprechend waren. Selbst er war größer. „Weißt du, Jijimon und Babamon nehmen öfters Digimon auf, die ihr zu Hause verloren haben. Wenn du wieder gesund bist, kannst du vielleicht hierbleiben. Sie haben sicher nichts dagegen.“ Erwartungsvoll schaut sie ihn an, sie hatte wohl auf eine Zustimmung gehofft, wurde aber enttäuscht. „Mal sehen. Vielleicht überlege ich es mir.“ Sie rümpfte die Nase über so viel Trotzigkeit in einem so kleinen Körper, aber beschwerte sich nicht. Sie blieb bei ihm, bis er aufgrund des Fiebers wieder einschlief, trotz dass sein Magen immer noch leer war und seine Haut aufgrund der Salbe brannte. Bis Babamon mit etwas Essbaren kam, war Tsukaimon wieder im Land der Albträume. Und Tinkermon, neugierig auf ihn blickend blieb bei ihm und strich ihm über das Fell, wenn er im Schlaf wimmerte, solange und immer wieder, bis er letztendlich ganz seelenruhig schlief.   𝅘𝅥𝅮 Aus Mangel an Optionen und Zielen entschloss Tsukaimon sich schlussendlich doch bei Jijimon und Babamon zu bleiben. In dem Schloss, in dem sie lebten hatten sie viele Digimon aufgenommen, wie er überrascht feststellen musste. Tsukaimon und Tinkermon waren einige der wenigen, die schon auf dem Rookie-Level waren, die Meisten waren entweder noch Babys oder auf dem Ausbildungs-Level, davon überwiegend Koromon, Yokomon und Pagumon. Das alte Digimon-Paar erzählte wenig von sich selbst. Wenn man sie danach fragte, sagten sie nur dass sie schon immer zusammen und schon immer hier waren. Diese Digimon waren von Grund auf sehr mysteriös, wenn nicht der Nonsens wäre, den sie meistens von sich gaben. Was man außerdem sagen konnte war, dass sie schon öfter verwaiste und verletzte Digimon aufgenommen hatten, vielleicht aus reiner Freundlichkeit, vielleicht, auch wenn sie Digimon waren, das Bedürfnis nach Familie hegten. Schließlich benahmen sich beide auch sehr traditionell. Verrückt, aber traditionell. Jijimon kümmerte sich um die Arbeit, er besorgte das Essen und alles, was sie brauchten aus den Dörfern, weit weg vom Schloss. Er reparierte alles und er war es auch, der den aufgenommen Digimon, wenn sie den Wunsch danach hatten zu kämpfen um stärker zu werden, eben dieses lehrte, bis sie das Rookie- oder Champion-Level erreichten und ihres eigenen Weges gingen. Obwohl Jijimon sehr stark war - was seine äußere Erscheinung kein bisschen vermuten ließ - war es doch Babamon, die über dieses Schloss und ihre Bewohner regierte. Sie war es, die die meiste Zeit in die Erziehung steckte und wenn jemand etwas anstellte auch die Tadel verteilte, dabei auch nicht zurückschreckte, mit dem Besen zu wedeln und dem ein oder anderen Digimon eine überziehen, wenn es seine Tischmanieren mal wieder vergessen hatte. Das galt auch für Jijimon. Was Babamon jedoch ebenso von Jijimon unterschied, war ihr Maß an magischen Fähigkeiten. Wenn Jijimon schon mächtig war, war es Babamon noch mehr. Und Tinkermon war ihre Schülerin, der sie versuchte diese Magie näherzubringen. Seit dem ersten Tag, an dem Tsukaimon in diesem Schloss war, war ihm aufgefallen wie nah Tinkermon Babamon stand, wenn sie auch kein bisschen mehr oder weniger Tadel und Stockhiebe abbekam, wie er selbst oder andere Digimon. Im Gegenteil (das sagte Jijimon sehr gerne), Babamon war ihr gegenüber unheimlich streng und manchmal überaus kaltherzig. Und Tinkermon ließ sich den strengen Umgang gefallen, versuchte sogar Babamon zu imponieren, indem sie die Nächte durchpaukte und sich ebenso um die jungen Digimon kümmerte. Aber selbst dann war Babamon nicht zufrieden. Ein wenig Mitleid hätte Tsukaimon mit Tinkermon gehabt, wenn sie nicht selbst Schuld wäre. All das nur, um am Ende des Tages auf Babamons Schultern zu sitzen und den Körper an ihren Kopf zu lehnen, während sie, mit Baby- und Ausbildungs-Digimon auf dem Schoß und um sich herum Geschichten vorlas. „Tsukaimon, kommst du auch dazu?“ Tinkermon fragte Tsukaimon jeden Abend. Immer wenn Babamon das Buch in die Hand nahm und vorlas ging Tsukaimon an dem Raum vorbei. Babamon saß im Schaukelstuhl, umzingelt von siebenunddreizig Digimon. Einige doppelten sich, aber was die Typus-Vielfalt anging war es sehr gemischt. Ein Wort jagte durch Tsukaimons Kopf, wenn er diese Digimon so vor sich sah – Apartheid. Erwartungsvoll blickte Tinkermon zu ihm und war auch die Einzige, die tatsächlich etwas wie Freude signalisierte. Die anderen Digimon hielten etwas Abstand von ihm. Zugegeben, der Freundlichste war er auch nicht und wehe dem, eines von ihnen rückte ihm zu nah auf die Pelle. Er hasste es so sehr. Und es reichte schon, dass Tinkermon so distanzlos war. So beließen es die anderen Digimon dabei, ihn nur argwöhnisch anzusehen. Besonders bei Babamon fiel es auf. Tatsächlich hatte Tsukaimon kurz daran gedacht, sich dazuzusetzen und - zumindest mit einem gewissen Sicherheitsabstand - zuzuhören. Den Abend zuvor hatte Babamon eine Geschichte vorgelesen – von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen – und wollte zumindest etwas mithören, weil der Protagonist kein Held, sondern ein empathieloser Idiot war. Aber sie hielt bereits ein anderes Buch in der Hand. Alice im Wunderland. Tsukaimons Laune kippte sofort. „Nein, Danke“, zischte er und machte sich augenblicklich wieder davon. Er hörte, wie Tinkermon ihm noch nachging, aber in der Türschwelle schließlich schweben blieb und ihm nur nachsah. Dann ging sie enttäuscht wieder zurück, während Tsukaimon alleine durch die Gänge lief. Für ihn war dies nicht mehr wie Kinderkram. Zeit- und vorallem Gedankenverschwendung und den Raum, den Tsukaimon in seinen Kopf hatte brauchte er für andere Gedanken. Für Stichworte, wie eben Apartheid, dessen Bedeutung Tsukaimon noch ermitteln musste. Er wusste, was die Typus-Apartheid war, aber er wusste nicht woher er das wusste. Seit er sein Krankenbett verlassen und zu den Schlafräumen der Ausbildungs-Digimon gezogen war (wo auch Tinkermon ihren Schlafplatz hatte) waren seine Kopfschmerzen besser geworden, aber die Blitze vor seinen Augen erloschen nicht. Aber schlimmer wie die Blitze waren die Laute, die von nirgendwo, aber gleichzeitig von überall her zu kommen schienen. Ziellos war Tsukaimon umhergeflogen, bis er in der Galerie gelandet war, einem langen, steinigen Flur, mit den meisten und größten Fenstern, von denen man hinunter in den Innenhof schauen konnte und den von Nebel bedeckten Himmel. Babamon war in der Lage, die Naturgewalten und die Elemente zu kontrollieren. Ein paar Tage zuvor stand ihr Schloss unter Wasser, es hatte tagelang geregnet und die wenigen Beete um das Schloss und Grey Mountain herum waren kurz davor zu verfaulen. Obwohl es gegen ihren Kodex verstieß, in die Natur direkt einzugreifen, hatte Babamon mit einem Schwung ihres Stabes sämtliches überschüssiges Wasser restlos vom Berg gefegt. Auch der Nebel war ihr Werk. Babamon stand manchmal die ganze Nacht vor dem Tor und ließ ihre Hände kreisen, bis das ganze Schloss im dicken Nebel eingehüllt war. Wieso sie es tat, war nicht klar. Sie sagte, sie wollte die jungen Digimon vor dem Feind beschützen. Es war noch nicht der richtige Zeitpunkt, ihm unter die Augen zu treten. Doch wer dieser Feind war wusste keiner. Zumindest zu dieser Zeit nicht. Tsukaimon ließ sich auf den steinigen Fenstersims nieder, blickte hinaus, in der Hoffnung etwas draußen in der Nacht zu sehen. Wenn er auch nicht wusste was. Aber der kalte Nachtwind war angenehm. Tagsüber, besonders wenn es heiß war, wurde er immer schläfrig (Jijimon meinte, dass sei normal, da Tsukaimon in der Regel doch eher dort lebten, wo es dunkel und dicht bewachsen war, nicht auf Bergebene). Und unweigerlich dachte Tsukaimon an das blöde Alice-Märchen. War da auch nicht eine Figur dabei, die bei Tage unter dem Schatten lag und schlief? Die Frage, woher er selbst das wusste stellte Tsukaimon sich erst gar nicht. Sein Blick senkte sich und er schaute auf die Steine, die den Fenstersims formten. Schmale Rechtecke reihten sich entlang im hellen Grau. Vielleicht war es die Form, vielleicht der Blickwinkel, aber Tsukaimon überkam plötzlich das Verlangen, mit den kleinen Fingern darauf zu tippen, als wäre eines dieser grauen, in seiner Fantasie weiß werdenden Rechtecke ein Schalter. Eine Taste. Dann nahm er die andere Hand hinzu und tippte auf die nächste. Und wieder auf die nächste, bis die Bewegungen flüssiger wurden und Tsukaimon glaubte, dass, was er tat würde eine Melodie erzeugen. Er dachte an den Winter.   𝅘𝅥𝅯 „Du bist anders als andere Digimon“, hatte Babamon eines Tages im Vertrauen zu ihm gesagt. „In dir steckt das gewisse Etwas. Doch ich sehe, das dein Herz einem Abgrund gleicht. Tief. Leer. Unergründlich.“ Nein. Leer war er nicht. Tsukaimon wusste, dass dort etwas war, was er nicht sehen konnte. Vielleicht wollte er es auch gar nicht, zu fürchterlich war die Schwärze darin. Dafür der Schnee um zu verlockender. „Du kannst mit Tinkermon hier studieren. Mich würde es sehr interessieren, welches Potenzial sich in diesem Abgrund verbirgt. Jijimon kann dir das Kämpfen beibringen, dafür reicht sein hohler Kopf noch. In deiner jetzigen Form mögen dir meine Lehren nutzlos erscheinen, aber der Tag wird kommen.“ Zwar klang es, als würde sie ihn darum bitten zu bleiben, aber Tsukaimon wusste, dass er nicht darumkommen würde. Aber selbst wenn er die Wahl gehabt hätte, hätte er das Angebot nicht verneint. So wie Tinkermon an Babamon hing, suchte Tsukaimon die Gesellschaft von Jijimon auf. Er war ruhiger, redete weniger und das war ganz angenehm. Ihn störte es auch nicht, wenn Tsukaimon ihn in seiner Werkstatt besuchte. Jijimon hatte eine etwas kreativere Ader und stellte Dinge her, deren Sinn und Zweck Tsukaimon nicht ersichtlich war. Tsukaimon saß auf einem Stapel großer Bücher oder auf dem Fenstersims, um Jijimon dabei zuzusehen, wie er mit Digizoid hantierte und manchmal einfach irgendetwas ausrechnete. „Lernst du auch schön fleißig?“, fragte Jijimon ihn, während er gerade eine Karte bemalte, deren Daseinsberechtigung Tsukaimon ebenso nicht klar war. Ein Gomamon zierte das Blatt. „Schon. Aber ich habe das Gefühl, es bringt nichts. Oder ich weiß nicht, was es bringen soll.“ „Muss es den sofort Wirkung zeigen?“ „Es wäre vorteilhafter. Dann konnte ich sehen, ob ich Fortschritte mache. Ich möchte auch wie du Dinge bewegen und Angriffe abblocken können, indem ich nur einen Finger rühre“, sagte er überraschend aufgebracht, was gar nicht zu seinem sonst ruhigen Charakter passte. Vermutlich, so dachte Jijimon (und so war es auch), lag Tsukaimon noch die Niederlage vom letzten Training quer. Er, noch ein Kotemon, Elecmon, zwei Koromon und ein Hagururmon hatten gegen Jijimon gekämpft (Tinkermon nicht, sie lehnte es grundsätzlich ab zu kämpfen). Zu erwarten, ein Mega-Digimon zu besiegen war naiv und dämlich, dennoch hatte sich Tsukaimon massiv hineingesteigert. Er flog gegen unsichtbare Wände, die Jijimon mit Telekinese erschuf, oder er warf ihn mit einer sachten Handbewegung zur Seite. Aufgehört hatte er erst, als Babamon dazukam und mit Besenhieben drohte, da er auf Jijimon erst nicht hörte. Als Tsukaimon schließlich schnaufend zu Boden ging, aber noch genug Puste hatte Tinkermon anzukeifen, die sich Sorgen um ihn gemacht hatte, hatten Jijimon und Babamon zu ihm hinüber geblickt. Schwer zu sagen, ob es Sorge oder Angst war, aber etwas beunruhigte sie. Tsukaimons Potenzial an Aggression stimmte sie nachdenklich. Nein, Aggression war nicht korrekt. Tsukaimon hatte sie tuscheln hören, und auch wenn er kaum etwas verstand, Zerstörungswahn hatte er gehört. Das und, „Was, wenn er...?“. Jijimon pausierte seine Arbeit, legte den Pinsel zurück in seine Halterung und die Gomamon-Karte neben die beiden anderen, an denen Jijimon Abende zuvor saß, mit Elecmon und Gazimon abgebildet. Tsukaimon dachte sich nichts dabei, solche Digimon hatten Jijimon und Babamon schließlich bereits unter ihren Findelkindern gehabt und großgezogen, manche waren geblieben, bis sie Champions waren, manche gingen noch als Rookie. Doch zu Schülern ernannten die beiden keines davon. „Fortschritt muss nicht sofort sichtbar sein. Weißt du, Babamon und ich haben eine kleine Theorie.“ „Und die ist?“, fragte Tsukaimon, selbst überrascht, wie aufgeregt er klang, während sich Jijimon darüber wohl zu freuen schien, dass Tsukaimon einmal wirklich wie ein Rookie klang. Nicht so ruhig. Nicht so grimmig. „Wir denken, dass das, was Digimon in frühen Leveln erleben und lernen Auswirkungen auf spätere Digitationen hat. Das, was du nun lernst kann darüber bestimmen, wer du später einmal wirst.“ „Wer? Nicht Was?“ „Was ist ein Digimon an sich. Digimon haben Persönlichkeiten. Jedes Digimon ist ein Individuum. Setze mir zehn Agumon aus zehn verschiedenen Städten für zehn Tage vor die Nase und ich werde sie in zehn Wochen noch immer alle voneinander unterscheiden können, selbst wenn sie zu zehn unterschiedlichen Digimon digitieren.“ Irgendwie zweifelte Tsukaimon daran, wenn er sich das wirre Verhalten von Jijimon ansah, aber er wagte keinen Widerspruch. „Der Weg der Digitation ist nicht vorprogrammiert. Im Laufe unseres Daseins ebnen wir diesen Weg. Durch Erfahrungen, durch Moral, durch Emotionen.“ „Also kann ich bestimmen, zu welchen Digimon ich später werden will?“ „So einfach ist das nicht. Die Digitation passt sich dir an, nicht umgekehrt. Und wir setzen uns aus vielen Dingen zusammen. Wenn es so einfach wäre, hätte es vor so vielen Jahren nicht so viele arme Seelen gegeben.“ Jijimon sprach es nicht aus, aber Tsukaimon wusste, welcher Begriff dieses zottige Digimon vor ihm umgehen wollte, da es ihm selbst in den Sinn kam. Wieder die Typus-Apartheid. „Jijimon, kann ich dich etwas fragen?“ „Natürlich doch. Sag ruhig.“ „Aber du musst mir Papier und Stift geben.“ Ohne es zu hinterfragen oder zu zögern griff Jijimon nach beiden, zwischen Farbtöpfen, Schreibfedern, Papierstapeln, Zirkeln, Messern und Kohlestiften und drückte es Tsukaimon in die Hand. Hochkonzentriert begann Tsukaimon auch gleich etwas darauf zu zeichnen, was für Jijimon erst nicht mehr wie aneinandergereihte Rechtecke aussah. Nachdem Tsukaimon ein paar davon auf dem Papier hatte, malte er zwischen ein paar der Rechtecke noch weitere, kleiner, die er komplett schwarz ausfärbte. „Weißt du, was das ist, Jijimon?“ „Ich muss raten, aber -“, sagte er, und klang dabei gar nicht mehr so neben sich wie sonst, sondern sogar sehr ernst und konzentriert, „- das sieht aus wie Klaviertasten.“ „Klaviertasten?“ „Ja. Ein Instrument. Damit macht man Musik.“ „Musik? Du meinst, wie Babamons Mutter-Gans-Lieder?“ „Nein, Babamon singt. Ein Klavier macht selbst die Melodie. Aber nicht viele Digimon sind musikalisch begabt oder sind in der Lage das zu lernen. Kannst du es?“ Tsukaimon überlegte, entschied sich aber aus Unsicherheit nichts zu sagen. Melodien hatte er im Kopf, aber ob er Klavier spielen konnte, dass wusste er nicht. Wieder sah Jijimon ihn sehr eindringlich an, aber anders wie nach der Sache mit dem Training, war dies undefinierbar. „An was erinnerst du dich, Tsukaimon?“ „An nicht viel. An Schnee erinnere ich mich. Und an ein ziemlich tiefes, schwarzes Loch.“ Warum er verschwieg, dass er neben dem auch noch Dinge aus den Alice-Märchen sah, wusste Tsukaimon selbst nicht. Geschweige denn die Melodie, die doch verdächtig nach Klavier-Musik klang. „Tsukaimon? Bist du hier?“ rief es von draußen, nachdem es erst an der Tür geklopft hatte. Es war Tinkermon, die auch gleich die Tür einen Spalt öffnete. „Babamon schickt mich, ich soll dich zum Unterricht holen.“ „Es ist doch noch Zeit“, bemerkte Tsukaimon, mit einem Seitenblick auf die Uhren, die in Jijimons Zimmer hingen. Es waren drei und keine von ihnen ging richtig, dennoch wusste Tsukaimon, wie spät es wirklich war. „Ja, aber da du immer zu spät kommst, soll ich dir das früher sagen, damit du vielleicht weniger zu spät erscheinst.“ „Er kommt gleich, geh schon einmal vor“, sagte Jijimon. Tinkermon nickte nur darauf, wenn sie sich sicherlich fragte, was sie zu tuscheln hatten. Jedoch hatte Babamon es ihr ausgetrieben, direkt zu fragen und penetrant nachzuhaken. Was ihre Neugier selbst aber kaum dämmte. „Das mit dem Klavier bleibt vorerst unter uns beiden, ja, Tsukaimon?“, sagte Jijimon zu ihm flüsternd und Tsukaimon nickte stumm. „Oh, und darf ich dich um einen Gefallen bitten?“ „Ähm, ja. Welchen denn?“ „Ich möchte dich darum bitten, etwas freundlicher zu Tinkermon zu sein.“ Fragend hob Tsukaimon die Augenbrauen und legte zusätzlich den Kopf schief. „Tinkermon ist schon lange hier und obwohl sie sich sehr herzlich um die anderen Digimon kümmert, tut sie sich schwer damit sich mit ihnen anzufreunden. Sie denkt, sie sei komisch.“ „Sie ist komisch.“ „Komisch ist nicht schlecht. Wir sind alle anders, dass habe ich dir doch gesagt, zehn Agumon, aus zehn Städten,-“, und ehe Jijimon weiter machte, fiel Tsukaimon ihm ins Wort. „Ja,ja, ich habe es kapiert!“ „Na hoffe ich, schließlich bist du auch komisch.“ Tsukaimon legte den Kopf auf die andere Seite und überlegte, ob er dies als Beleidigung auffassen sollte. „Aber ich denke, du weißt das und dir macht das nichts aus. Du weißt glaube ich schon, wer du bist, auch wenn dir das noch nicht so ganz bewusst ist. Tinkermon tut sich damit schwer, einfach sie selbst zu sein und ihrem Kopf ihren Lauf zu lassen, deswegen bewundert sie dich ein bisschen. Ihr müsst keine Freunde werden, aber wenn du ein bisschen nett zu ihr sein könntest, würde sie das Selbstvertrauen wiederfinden, dass ihr abhanden gekommen ist.“ „Abhanden gekommen?“ In Tsukaimons Kopf überschlugen sich die Fragen und das, was Jijimon von sich gab, machte für ihn keinen Sinn. Schließlich wusste er nicht, was war bevor Tinkermon ihn fand. Dennoch sollte er wissen, wer er war? Er entschied sich dennoch, Jijimons Bitte nachzukommen.   ♬ „Ich finde es toll, dass du mit mir lernst. Ich war lange Babamons einziger Schüler.“ Es war mitten in der Nacht, als die Ruhe, die in den Schlafräumen lag von Tinkermon unterbrochen wurden. Sie lag in einem kleinen Korb, der an der Decke befestigt war, während Tsukaimon unter ihr in einer Hängematte schlief. Sie hatte wohl geahnt, dass er noch wach war, denn sie sprach leise genug, um niemanden von den anderen Digimon, die mit ihnen in diesem Raum waren zu wecken. „Sei ruhig. Ich versuche zu schlafen.“ „Und warum tust du es nicht?“ „Weil du mich störst“, zischte er, seine Stimme unterdrückte Tsukaimon etwas. Schließlich hatte er Jijimon versprochen nett zu sein, wenn ihre aufdringliche und vor allem neugierige Art nicht wäre. Nachdem Jijimon ihm erzählt hatte, dass Tinkermon ihn, obwohl zwischen ihnen kaum ein freundlicher Ton fiel doch ganz gern hatte, fiel ihm erst einmal auf wie oft sie zu ihm schaute. Ein Pagumon gähnte ziemlich laut, schlief aber weiter. Tinkermon hatte sich aufgerichtet und blickte von ihrem Schlafkorb hinunter zu Tsukaimon. „Tust du nicht. Du denkst über etwas nach. Ich würde ja gerne wissen über was.“ „Geht dich nichts an.“ Fest kniff Tsukaimon seine Augen zusammen, bis er Sterne und Farbenblitze sah und als er seine Lider wieder entspannte, verliefen sie in alle Richtung. Ein entspannender Anblick, aber keiner der ihn müder machte. Vorsichtig öffnete er die Augen wieder und sah Tinkermon direkt vor sich schweben. „Warum hängst du mir eigentlich so sehr an der Pelle?“ „Weil du anders bist. “ Er sagte nichts dazu, sicher, egal was er gesagt hätte, es wäre nutzlos gewesen. Außerdem war er zu müde für solche Diskussion. Irgendwas in seinem Handeln, oder eben Nicht-Handeln hatte Tinkermon dazu motiviert, sich ihm zu nähern und sie ließ sich neben ihm nieder, während sich Tsukaimon kein Stück bewegte. „Und deswegen belästigst du mich?“, knurrte Tsukaimon weiter. „Ich versuche nur aus dir schlau zu werden.“ „Es gibt genug andere Digimon hier.“ „Aber die sind nicht wie du“, antwortete sie und selbst während sie (flüsternd) diskutierten, schien Tinkermon ihn genau zu analysieren. „Meine Güte, sind alle Digimon von deiner Sorte so aufdringlich? Das ist ja ätzend.“ Dann plötzlich verschwand das Leuchten aus ihrem Gesicht. Selbst im Dunklen sah Tsukaimon, dass Tinkermon blass geworden war und ihre Miene gefror. Was immer Tsukaimon gesagt hatte, irgendwas davon hatte sie hart getroffen. So viel dazu also, dass er freundlicher zu ihr sein sollte. „Entschuldigung“, murmelte sie kaum hörbar und mit gesenkten Kopf und kurz schämte sich Tsukaimon, so in seinem Vorhaben versagt zu haben. „Habe ich etwas Falsches gesagt, Tinkermon?“ „Nein. Nicht wirklich. Nur, weißt du, Tinkermon tun sich normalerweise mit Digimon namens Petermon zusammen. Doch ich fand keinen Partner und irgendwo fehlt mir das. Bis Jijimon und Babamon mich gefunden haben, dachte ich, ich hätte gar keinen Sinn.“ Zum ersten Mal erschien in Tinkermons Augen etwas, dass Tsukaimon niemals an ihr gesehen hatte und es war ein simpler, ehrlicher Blick. In all diesen Streitereien hatte er vergessen, dass Tinkermon ja auch ein Digimon war, dass von Jijimon und Babamon gefunden worden war. Grey Mountain war ein sehr hoher Berg, der umgeben war von noch mehr Bergen und dichten Wäldern. Babamons Nebel nahm die gesamte Bergkette ein und selbst wenn man direkt am Fuße des Berges stand, konnte man das Schloss auf seiner Spitze nicht sehen. Jijimon fand die meisten verletzten Digimon unterhalb des Berges, da sie von größeren und stärkeren Digimon angegriffen worden waren. Tsukaimon wachte damals mitten auf dem Berg, einige Ebenen unterhalb des Schloss auf. Doch wie Tinkermon herkam, daran hatte er nie einen Gedanken verschwendet. „Erinnerst du dich noch, was war, bevor du Tinkermon wurdest?“ Tsukaimons plötzliches Interesse überraschte sie. Etwas ungläubig und mit leicht geöffneten Mund sah sie ihn an. Ehe sie ihm antwortete, setzte sie sich auf das Laken und rückte mit ihren Körper näher. „Ich war vorher ein Cupimon und davor ein Puttimon. Als ich und meine Geschwister... Also, meine Artgenossen, die Puttimon waren und auch zu Cupimon wurden, verließen die Stadt des Ewigen Anfangs und suchten einen Ort, wo es schön und friedlich war. Dann landeten wir hier auf Server. Nach und nach digitierten sie auf das Rookie-Level. Zu Patamon. Zu Lopmon. Zu Kudamon.“ Ihre Stimme wurde mit jeder Aufzählung immer leiser und ihre Augen glasig. Ihr Kopf lehnte sich an Tsukaimon, er verscheuchte sie aber nicht. Sie würde ohnehin das tun, was sie wollte. „Zu Lunamon. Zu Biyomon. Zu Salamon. Und ich bin zu Tinkermon geworden und weil ich ein Virus-Typ war, gehörte ich nicht mehr dazu. Also haben sie mich verjagt.“ „Warum?“ „Wegen der Apartheid.“ Als Tsukaimon dieses Wort hörte klopfte sein Herz einmal heftig. Er hoffte nur, dass Tinkermon dies nicht mitbekommen hatte, redete sich sogar ein, dass er sich selbst diesen Schlag eingebildete. „Es lebten noch ganz viele andere Digimon mit uns in diesem Wald. Digimon, die die Apartheid aufrecht erhalten und in den Rassenkriegen sich wieder gegen alles richteten, was ein Virus war. Sie waren überzeugt, dass die Typus-Apartheid und diese Ordnung gut und richtig war und ohne ihren Fall es nie zu Kriege gekommen wäre. Wir waren zu jung um zu verstehen, wieso es diese unsinnigen Trennungsgesetze gab, geschweige denn es zu hinterfragen. Meine Geschwister glaubten daran. Und ich...“ Ein heftiges Zittern fuhr durch ihren Körper, dass Tsukaimon so deutlich spüren konnte, als wäre der Schauer über ihn selbst gekommen. Sie zog ihre Beine eng an sich und presste sich noch dichter an ihn. „Ich fand als Tinkermon zwar Artgenossen, aber keinen Anschluss. Die anderen Tinkermon stritten sich untereinander und spielten anderen Digimon gemeine Streiche mit den Petermon. Auch wenn andere Digimon dabei verletzt wurden, war ihnen das egal. Ich fand das widerlich. Man tat anderen nicht einfach so weh.“ „Hasst du sie?“ Beide schreckten auf, als eines der Yuramon im Schlaf redete. Es schlief zwar weiter, aber sie warteten noch, um sicher zu gehen dass es auch wirklich schlief und nichts von ihrer Unterhaltung mitbekam. Im matten Mondlicht sah man, das kleine, runde Tränen in Tinkermons dunklen, langen Wimpern hingen. „Hass?“ „Ja. Hasst du sie, weil sie dir das angetan haben? Weil sie dich alleine gelassen haben?“ Tsukaimon musste selbst überlegen, woher er die Bedeutung für so etwas überhaupt kannte. Gefühle waren laut diverser Schriften nichts, was in der Digiwelt zu suchen hatte. Die Digiwelt war logisch, Gefühle nicht. Aber Tsukaimon kannte mehr wie nur die simple Definition. Er wusste, wie sich das anfühlte. Es gab Theorien, warum die Hohen Digimon so korrupt wurden. Eine besagte - und das war verrückt, den Tsukaimon hatte dies aus keinem Buch, sondern aus dem Abgrund in seinem Inneren - dass sie nicht begriffen, was Gefühle waren, weil sie ihnen nicht logisch erschienen. Sie brachten Chaos. So wie ein Virus Chaos in ein System brachte. Und Virus-Digimon lebten dafür, denn das war das, aus dem sie entstanden, während die Serum-Digimon das System waren, dass alles bereinigen sollte. Nachdenklich senkte Tinkermon den Kopf. „Ich glaube nicht. Weißt du, das andere Digimon Virus-Typen nicht trauen verstehe ich. Die meisten Digimon, die mich angegriffen und ausgeraubt haben waren Digimon meines eigenen Typus. Aber wir waren wie eine Familie. Nur weil ich zu einem Virus-Digimon digitiert bin, bin ich nicht automatisch bösartig. Nie hätte ich ihnen etwas angetan, niemals!“ Die Tränen in ihren Augen wurden größer, aber Tinkermon wischte sie mit ihrem Arm fort, ehe auch nur eine von ihnen über ihre rosigen Wangen fließen konnte. Ein weiteres Gefühl, aus dem inneren Loch kroch in Tsukaimons Erinnerungen hoch, dessen er sich unsicher war, woher er es kannte. Aber er kannte es, sehr gut, sogar besser wie das Gefühl des Hasses. Trauer. „Aber Jijimon und Babamon sind anders. Ja, streng sind sie, aber ihnen ist der Typus absolut egal. Sie helfen jedem Digimon, das Pflege und ein Dach über den Kopf braucht. Und irgendwann habe ich meinen Geschwister verziehen.“ „Einfach so?“ „Einfach so. Sie konnten nichts dafür, für das, was man ihnen eingetrichtert hatte. Mir wollte das eben nie in den Schädel. Ich war eben schon immer komisch“, lachte sie, die Nässe in ihren Augen begann zu verschwinden. „Jijimon und Babamon sind schon uralt. Sie haben die Apartheid noch miterlebt. Ich glaube sogar, ihnen ist was ganz schreckliches passiert. Wenn Jijimon und Babamon trotz dieser strengen Apartheid über den Typus so leicht hinwegsehen konnten, dann kann ich das auch. In strengen Gruppen zu denken wäre der Digiwelt keine Hilfe. Wir sind alle unterschiedlich, aber wenn es um Hilfe und Frieden geht, so sind alle gleichwertig, egal welcher Gruppe sie angehören.“ Tinkermon begann zu gähnen und legte sich dicht an Tsukaimon. Diese Beichte und die Kraft, die sie benötigt hatte um einen Heulanfall zu vermeiden hatten sie müde gemacht. Ihre goldenen Flügel legte sie wie eine Decke um sich, im Mondlicht sahen sie eher silbern aus. Sie schlief jedoch nicht sofort ein, sondern schien Tsukaimon von oben bis unten zu beäugen. „Ist es in Ordnung, wenn ich bei dir schlafe?“ „Mach, was du denkst“, murrte er nur und ließ zu, dass Tinkermon noch näher an ihn rückte. „Weißt du, was ich denke. Vielleicht ging es dir ja wie mir. Vielleicht warst du mal ein Tokomon und weil du zum falschen Typus digitiert bist, haben die Digimon, mit denen du zusammengelebt hast dich auch verjagt. Vielleicht warst du deswegen so schwer verletzt.“ Ihre Schlussfolgerung hörte sich wirklich plausibel an und der Name Tokomon klang vertraut, obwohl Tsukaimon sich sicher war nie einem begegnet zu sein. Vielleicht war er, bevor er Tsukaimon war tatsächlich ein Tokomon. Aber ob er mit Tinkermon dasselbe Schicksal teilte? Müsste er sich dann nicht an irgendwas davon erinnern? An seine Artgenossen, oder dergleichen? Apartheid. Das ging ihm nicht aus den Kopf. Und je öfter dieser Begriff ihm in den Sinn kam, um so mehr verabscheute er es. Er wusste nicht warum und woher oder wieso, aber Tsukaimon wusste, trotz dass zwischen diesem Abend und der Apartheid so viele Jahre lagen, wenn nicht Jahrzehnte, vielleicht auch Hundert, dass die Typus-Apartheid etwas absolut abscheuliches war. Dieses Wissen war auch der einzige Grund, warum er so tiefes Mitgefühl für Tinkermon empfand. Meinte Jijimon das damit, als er sagte ihr Selbstvertrauen sei abhanden gekommen? Weil sie anders und komisch war und man sie deswegen verstieß? Hing sie deswegen so verzweifelt an Babamon, die sie, trotz dass sie so war zu ihrer Schülerin machte? Und ebenso an ihm, der auch komisch und anders war? Tsukaimon streckte einen seiner Flügel aus, der sich wie eine ledrige Decke über Tinkermon legte. Sie war schon eingeschlafen, so konnte er ihr auch nicht erzählen, was er sah, als er die Augen schloss. Er sah nur Schnee. Weißer Schnee, der langsam nieder rieselte, den er immer sah, wenn er die Schwärze und den Abgrund vor Augen hatte. An diesem Abend schien er sich auch an ein Geräusch zu erinnern. Eine Klavier-Melodie. Eine Melodie, passend zu den Schnee vor seinen Augen. Tsukaimon wusste, dass diese Melodie Winter hieß, bis ihm jedoch einfiel, woher er wusste, dass sie so hieß, war er schon selbst eingeschlafen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)