Zum Inhalt der Seite

Wintersonett

Which dreamed it?
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
[Update 05.12.19]

Abschnitt 𝄡 bis # ist gänzlich neu.

Dobermons Inneren Monologen wurde mehr "Info" hinzugefügt.

Der Dialog mit Myotismon und Yuki ist ein wenig länger.

Fehler wurden ausgebessert und ein paar Sätze ein wenig umformuliert, ändert aber nichts am Inhalt. Komplett anzeigen

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Konzert II - UNBIRTHDAY, 3. Satz, Allegro abbandono


 

𝄡

 

Die Digiwelt durchlebte viele Kriege. Die frühsten Aufzeichnungen stammten aus der Alpha-Ära und erzählten von einem klassischen Kampf von heiligen Gestalten und abtrünnigen Kreaturen, vergleichbar mit religiösen Schriften. Anschließend, nachdem eben jene Serum-Digimon an der Spitze waren und die Beta-Ära begann ging es weiter mit einem Streit mit eben jenen humanoiden Digimon und Tier-Digimon, die erst gegen ihre kaltherzigen und kontrollvernarrten Könige rebellierten, sich aber schließlich untereinander betrogen und ausbeuteten, bis diese zu ebenso verhassten, dämonischen Digimon wurden. Der erste Streit mit den übrigen Tier-Digimon begann, die daraufhin zu humanoiden, aber Serum-Digimon digitierten um das Ende der Digiwelt kurz vor ihrem letzten Glockenschlag und das, was in antiken Schriften nur als Feuer betitelt wurde aufzuhalten.

In der Typus-Apartheid schließlich, im Glauben dass alle großen Übel der Digiwelt in der Zerstörungswut der Virus-Digimon lag, waren sie schließlich die Spiegelbilder aller Inkarnationen der Niedertracht, einigte man sich auf Spaltung. Die Reiche trennten sich und das Verlangen nach Kontrolle wuchs. Was für einige Digimon sogar wie Frieden aussah und Ordnung, schließlich waren Hunger und die Angst vor Angriffe im Reich der Serums fern jeder Präsenz, war nichts als Diktatur, die sich jeder zu beugen hatte. Wer aus der Reihe fiel starb und da war es auch egal ob man den richtigen Typus besaß oder nicht.

Aber von all den Übel, Konflikten und Kriegen waren die Rassenkriege die mit Abstand Sinnlosesten. Es gab keine Obrigkeit, die Befehle gab, keine politische Macht die dies unterstützte, keine Ideologie dahinter, die als Treibstoff herhielt, kein Rechtssystem, dass dem irgendwie als Leitfaden fugierte und entsprechend auch keine Moral mehr. Es gab nichts zu gewinnen, aber vieles zu verlieren und nicht selten das eigene Leben. Unzufriedenheit herrscht in der Digiwelt und man gab stets anderen die Schuld für das eigene Versagen. Wer als anders galt, das entschied die jeweilige Gruppe stets für sich. Digimon eines anderen Typus, einer anderen Rasse, eines anderen Level, einer anderen Art – es war egal, solange es nicht einen selbst traf.

Ein Guardromon kämpfte irgendwo inmitten der viel gewordenen Niemandsländer gegen ein Sunflowmon. Seine Kameraden, ebenfalls alle Maschinen-Digimon waren gefallen. Granaten und kleine Raketen flogen auf das Blumen-Digimon zu, bis es mitsamt der Rauchschwarte, die es einhüllte fiel und schließlich verschwand. Es war vernichtet. Guardromon gab ein mechanisches, aber erleichtertes Schnaufen von sich. Gewonnen. Es hatte gewonnen, auch wenn es schon lange nicht mehr wusste, für was oder für wen es eigentlich kämpfte. Es kämpfte bereits seit drei Wochen hier in dieser Gegend gegen die Pflanzen-Digimon, die sich mit seinen Artgenossen um dieses Stück Land stritten, als es noch fruchtbar war. Nun war kaum mehr etwas hier. Sein Anführer, irgendein Maschinen-Digimon, an das sich Guardromon schon lange nicht mehr erinnerte und sich zum Marschall von Capital City ernannte, der größten Metropole Servers war längst gefallen (sogar vor der Hinrichtung von den eigenen Soldaten betrogen worden) und dessen Nachfolger wechselte dabei mehrmals und so rasch, dass es nicht mehr wusste wenn es denn nun mit Marschall ansprechen sollte.

Egal, Hauptsache aber es hatte gesiegt. Darum ging es. Um mehr nicht. Sieg und Stärke für die eigene Partei, egal mit welchen Mitteln. Das zählte in der Digiwelt.

Dieses Schema zog sich über die gesamte digitale Welt, doch auf Server war es ganz besonders schlimm. Als Folge wurden Dörfer ausradiert, sowohl von Landkarten, als auch aus den Erinnerungen aller. Es gab nur Nachteile, am meisten für die Ärmsten und Schwächsten, das gemeine Volk.

Die Rauchwolke, die erst die Reste des Sunflowmon einhüllte wurde dünner und Guardomon begann Schatten in ihr zu sehen. Kiwimon stürmten auf es zu. Dreißig an der Zahl sicherlich, aber vielleicht auch mehr. In einer V-Formation rannten sie auf das Guardomon zu, dass ihren Sergant tötete und nach und nach öffneten sich ihre langen Schnäbel, bereit zum Angriff. Dann explodierte wieder etwas. Die Kiwimon flogen durch die Luft. Die Ursache waren Mamemon, die sich selbst in die Luft jagten, sobald der Feind in der Nähe war. Nicht weil sie zu verletzten und garantiert den nächsten Morgen nicht mehr erleben würden, sondern weil dieser suizidale Akt das Einzige war, für den sie jemals ausgebildet wurden. Einige Kiwimon nahmen sie mit sich, doch die Mehrheit überlebte. Verteilt auf diesem Kriegsboden rotteten sie sich zusammen, umzingelt von BigMamemon, die auch jeden Moment in die Luft gehen könnten. Dann warfen die Kiwimon ihre Köpfe und Schnäbel in die Höhe und gaben einen schrillen Ruf aus ihren Kehlen. Augenblicklich bebte die Erde unter Guardomons metallischen Beinen. Etwas rannte auf sie zu, dann schoss es auf die BigMamemon.

Ein Gorillamon hatte sich den Pflanzen-Digimon angeschlossen. Guardomons Schaltkreise, die kurz davor waren auszubrennen und mit dem Maschinen-Digimon vermutlich aufgrund der Überlastung und Schäden genau wie die Mamemon in die Luft zu fliegen drohten, begannen noch einmal aufzustehen, trotz nahender Überhitzung. Andere Guardomon, wohl auch kurz davor im ewigen Standby-Modus zu verharren kurbelten ihre Schaltkreise noch einmal an, als sie dieses Digimon auf sie zurennen hörten, mitsamt den Kiwimon.

Gewinnen, sie wollten nur gewinnen, egal wie, egal wer noch sterben musste, obwohl es nichts zu gewinnen gab außer einen Titel vielleicht, der nichts brachte außer mehr Feinde und Kämpfe, im Glauben, dass würde verhindern, dass etwas wie eine Apartheid wieder entstehen könnte, denn angeblich wussten sie es ja besser.

Es war so sinnlos.

Gorillamon stand nun vor Guardomon. Es war schwer verletzt, ein Auge war verletzt und rot angelaufen, aber seine Raserei oblag dem Scherz und den Drang aufgeben zu wollen. Die Kanone, die es statt eines Armes besaß lud sich auf. Auch Guardomon hob den Arm und es sprangen Funken, als es seine Rakete zündete. Beide richteten ihre Geschosse auf den jeweils anderen, zwischen ihnen kaum ein Meter Abstand und egal wer schneller war, es würde beide in Stücke reißen. Bis -

„Hä?“

Ein blasslila Ballon schwebte zwischen ihnen. Guardomon konnte sich nicht erklären wo dieser plötzlich herkam. Es war nicht einmal so, dass dieser Ballon, der mit mattglänzenden, roten Herzen gemustert war einfach von irgendwo dahergeflogen kam. Er war von der ein auf die andere Sekunde einfach da gewesen.

Mehrerer dieser Ballons tauchten zwischen den sich streitenden und kämpfenden Digimon auf. Die Kämpfe stoppten und jedes Digimon sah sich diese Ballons an, sprachlos und verwirrt.

Dann platzten sie, einer nach den anderen und erzeugten je unterschiedlich gefärbte Rauchwolken, aber den selben lauten Knall. Glitzerndes Konfetti in Lilatönen flog umher und der bunte Qualm verlief ineinander und hinterließ das paradoxe Bild eines zerlaufenen Regenbogens auf diesem Land, wo so viele gestorben waren. Es wirkte wie ein geschmackloser Scherz.

Der Knall und die Schockwelle waren nicht stark, dennoch riss es jedes Digimon in der unmittelbaren Nähe von seinen Beinen. Guardomon landete auf den Rücken, sein Körperbau jedoch machten es ihn schwer sich wieder aufzurichten. Dazu kam sein Gewicht. Ächzend schwang es sich hin und her, bis es sich mit ausreichend Schwung auf seine linke Seite rollte und sich abstützen konnte. Es hörte Schritte die sich ihm näherten und ohne zu wissen, wer oder was es war, sich aber sicher dass es nur ein Feind sein konnte (zumindest war es wahrscheinlicher) schoss Guardromon auf die potenzielle Gefahr. Doch seine Rakete wurde mit nur einem Schlag abgewehrt und das Geschoss schlug in den Boden ein.

„Schluss damit. Ihr alle. Das führt zu nichts.“

Ein Puppetmon schritt aus dem immer noch dichten Rauch. Guardomon war für einen Moment überrascht. Es hatte schon lange mehr keine Mega-Level Digimon mehr gesehen und es war sich nicht sicher, was es nun tun sollte. Dieses Digimon wäre nicht der erste Feind, der vorgab kapitulieren zu wollen.

Doch nicht die Tatsache dass ein Mega-Level vor ihm auftauchte machte Guardomon so sprachlos, vielmehr dieses Surrealität, die dieses Digimon mit sich brachte, auch wenn Guardomon nicht hätte den Finger drauf legen können, was so surreal war, das dieses Digimon über diesen Boden lief und seinen Hammer spielerisch kreisen ließ, summend, als tätigte es einen gewöhnlichen Nachmittagsspaziergang. Dieses Digimon war... merkwürdig.

„Wie...“

„Hast du nicht verstanden? Schaltkreise durchgebrannt? Schluss mit dem Kampf. Alle“, rief Puppetmon, laut und energisch. Ungewöhnlich für ein so kindlich erscheinendes Digimon. Die Kiwimon stellten sich wieder auf ihre schmalen Beine. Auch die Guardomon standen nach und nach wieder auf, aber zündeten bereits ihre Raketen an den Armen. Ein Digimon, dass nicht wie sie war sollte man schließlich vernichten, sicher war sicherer.

Das Donnern hielten sie erst für ein Gewitter, dann jedoch sahen sie im Rauch, der sich immer noch nicht zu legen schien Lichter aufblitzen. Es waren Augen.

„Lasst es.“

Sofort unterbrachen die Maschinen-Digimon ihren Angriff. Wo erst nur Augen waren erscheinen die schattenhaften Konturen und als sich der bunte Rauch weiter legte, erkannten sie das Machinedramon hinter Puppetmon. Und dieser sprang auf die Schulter Machinedramons und blieb dort sitzen, entspannt und gelassen ein Bein über das andere geschlagen.

„Senkt die Waffen, Soldaten. Der Kampf ist sinnlos. Niemand hat etwas zu gewinnen. Wir haben Ziele. Schließt euch uns an und beendet diesen sinnlosen Akt. Es liegt in eurer Hand“, rief Machinedramon und zum ersten Mal seit langem war alles still auf diesem Stück Erde, auf dem schon seit Wochen Kämpfe stattfanden, selbst das Echo der Totenschreie, die stets im Hinterkopf der Soldaten ertönten schienen von den ein auf den anderen Moment aus den Erinnerungen getilgt. Irritierte Blicke, Flüstern und Unsicherheit ersetzten den Elan und die Wut auf den selbsternannten Feind.

„Warum sollten wir das glauben? Warum sollten wir einem Maschinen-Digimon trauen?!“, brüllte ein Kiwimon und als es Luft für einen weiteren Satz holte, warf Puppetmon sein Marionettenkreuz, dass er auf seinem Rücken trug nach dem Digimon. Es verfehlte das Kiwimon knapp, doch dies war Absicht.

„Dies war die erste und letzte Warnung“, zischte Puppetmon verärgert und fing das Kreuz wieder auf, als es wie ein Bumerang zurückkam. „Das gilt übrigens für euch alle. Wir dulden keinen Rassismus.“

„Alle Digimon sind gleich und wir geben euch allen die gleiche Chance“, ergänzte Machinedramon und für ein Maschinen-Digimon mit so einer tiefen Stimme klang er tatsächlich irgendwie gefühlvoll, wenn auch nicht emotional. Von den Kiwimon rührte sich keines mehr. Die BigMamemon schwebten regungslos in der Luft umher und ließen sich mit dem Wind und dem Rauch tragen. Von den Guardomon war nichts zu hören. Gorillamon war erst wie erstarrt, letztlich aber fletschte es doch die Zähne, während es vor diesen beiden Mega-Leveln stand und richtete schließlich seine Kanone auf die beiden. Weder Puppetmon noch Machinedramon rührten sich, sondern sahen nur zu wie sich Gorillamons Kanone weiter auflud. Und gerade als es seine Energie vollständig sammelte und das Guardromon, dass zuvor Gorillamon selbst noch vernichten wollte zu ihm rief, dass es das nicht tun sollte, war Gorillamon bereits Geschichte. Die Daten des Digimon verstreuten sich im Wind, mit dem Wasserstrahl, der es tötete. Nur Datenreste und Wassertropfen. Der Angriff kam weder von Puppetmon, noch von Machinedramon.

Im Rauch - die Farben waren gänzlich ineinander verlaufen und undefinierbar – bewegte sich etwas. Ein langer, aalglatter Körper. Man sah Flossen und Digizoid glänzen.

„Hat noch jemand Einwände? Ihr habt die freie Wahl“, rief Puppetmon in die Menge, während sich MetalSeadramon, der Gorillamon getötet hatte hinter ihm und Machinedramon aufbäumte. „Kommt mit uns und wir gewähren euch Sicherheit, Arbeit und Versorgung. Uns ist egal wer oder was ihr seid. Wer geht, kann zusehen wie er überlebt. Wer sich gegen uns stellt, der stirbt.“

„Wer sagt, dass ihr das könnt? Wer sagt, dass wir euch trauen können?“, fragte eines der Bigmamemon. MetalSeadramon und Machinedramon blickten auf es herab und BigMamemon glaubte nun das selbe Schicksal erleiden zu müssen wie Gorillamon. Die anderen BigMamemon entfernten sich bereits von ihm, doch die drei Mega-Digimon blieben gänzlich gelassen.

„Was habt ihr denn zu verlieren?“, sprach MetalSeadramon. „Ihr habt nichts. Die Digiwelt hat kein System, keine Struktur und so, wie sie nun ist auch keine Zukunft. Wir geben euch eine. Dafür wollen wir nur die Gewissheit, dass ihr uns unterstützt.“

„Die Kriege müssen aufhören. Der Hunger muss aufhören. Die Sinnlosigkeit muss aufhören“, ergänzte Machinedramon. „Ihr seid nicht die Ersten, die Zweifel hegen und wir haben Verständnis. Doch habt ihr jemals ein Digimon sagen hören, dass wir allesamt gleich wären?“

Wieder schweigen, wieder Tuscheln. Digimon sahen sich an und schüttelten leicht die Köpfe. Nie haben sie etwas dergleichen gehört. Alle Digimon seinen gleich? Wie absurd.

„Die Ostküste gehört bereits uns. Kämpft für uns. Folgt uns. Glaubt, was wir sagen. Mehr müsst ihr nicht tun. Wir legen für euch den Weg, den ihr folgen müsst. Dann erst endet die Sinnlosigkeit“, rief MetalSeadramon weiter. „Die Digimon Net Oceans sind bereit Essen aus den Tiefen mit euch zu teilen, solange ihr auf unserer Seite seid. Es ist gleich, was ihr seid. Welches Level, welche Rasse. Ihr müsst nur folgen.“

„Ich bin der neue Herr von Capital City. Alles darin und in den benachbarten Gebieten ist miteinander vernetzt. Die Digimon, die dort Leben haben Strom. Wer mehr und gewissenhaft arbeitet, bekommt mehr“, erzählte Machinedramon weiter, dann stand Puppetmon auf.

„Die Wälder gehören mir und meiner Armee. Dort gibt es ausreichend Ressourcen. Meine Truppen sind mit Landwirtschaft vertraut und bauen verbrauchte Ressourcen wieder an. Je mehr Land wir für uns gewinnen, um so größer auch der Gewinn. Wir zwingen euch nicht, uns euer Land zu geben, doch tut ihr es, werdet ihr auch davon profitieren. Ihr alle könnt davon profitieren. Der Gewinn des Einzelnen ist der Gewinn aller. Wer zu uns gehört bekommt mehr. Wer in seinem Rang aufsteigt, bekommt noch mehr. Doch solange ihr auf unserer Seite seid, soll keiner hungern oder unnötig sein Leben verlieren. Also – wir wollen eure Entscheidung hören.“

Und wieder herrschte Totenstille. Selbst das Tuscheln erstarb und nicht mal ein Haar oder ein Staubkorn schien sich zu bewegen, obwohl der Wind wehte. Der Rauch, mittlerweile ohne den Hauch von Farbe, sondern zu einem gräulichen Einheitsbrei verschmolzen zog von dannen.

Ein BigMamemon begann zu klatschen, trotz seiner kurzen Arme. Es war schwach und war mehr ein Patschen, als wirkliches Klatschen aber weil es ohnehin schon so still war, hörte man es doch sehr deutlich. Mit dem BigMamemon begannen nun auch zwei weitere dem zu folgen. Dann einzelne Guardomon, doch ihr Klatschen war schwer und metallisch. Das ging im Applaus jedoch unter. Sie klatschten. Die Kiwimon, die nicht klatschen konnten sprangen und gaben schrilles Jubeln von sich, während sie auf der Stelle hüpften. Begeisterung. Freude. Hoffnung. Und doch hatte sie einen sehr beißenden Nachgeschmack.

Die wenigen, nicht einmal eine Handvoll, klatschen nicht, aber sie wussten, sie würden mitziehen müssen, ansonsten würde es ihnen ergehen wie Gorillamon. Oder gar schlimmer. Wenn sie nicht mitgingen, würden sie so oder so sterben. Schließlich war alles zerstört durch diese Kriege. Sie hatten alles selbst zerstört.

Guardomon, das zu besagter Minderheit gehörte und noch die Information verarbeitete, dass Machinedramon seinen Anführer auf den Gewissen hatte – und tatsächlich etwas wie Schock empfand – schaute an den drei Digimon vorbei. Der Rauch war immer noch da, aber er war nicht mehr so dicht und es stellte fest, dass sie vier waren. Das vierte Digimon schwebte in der Luft. Der Form des Körpers nach war es humanoid. Guardomon erkannte es nicht, es war zu weit weg und der Rauch lag genau zwischen den beiden Digimon. Aber Guardomon sah die Ballons. So viele blasslila mit roten Herzen bestückten Ballons und das Digimon hielt sie in der Hand wie ein Blumenstrauß. Und es grinste und sein Grinsen war so rot wie die Herzen auf den Ballons, die es zur Feier des Tages davonfliegen ließ. Sie flogen davon, über dieses Land der Toten. Wie paradox und anmaßend.

Nun hatten sie die gesamte Osthälfte Servers für sich gewonnen. Alle Digimon, die erst gegeneinander kämpften, kämpften nun einheitlich unter der Fittiche der Meister der Dunkelheit. Ihre Name und ihr Ruf als jene, die die Rassenkriege und das Chaos beenden sollten würde bald jedem bekannt sein. Doch nur wenige trauten sich zu denken, überhaupt zu sagen, dass mit ihnen das Unheil auf Server eingekehrt war.

 
 

#
 

Dobermon hatte sich verlaufen. Das hatte ihm noch gefehlt und es verstimmte ihn deutlich.

Der Schneesturm war stärker geworden und ließ jede Himmelrichtung gleich aussehen, nicht einmal oben von unten konnte man mit großer Sicherheit unterscheiden. Zudem zog sich diese Strecke und Dobermon, dem kalte Temperaturen je kaum etwas ausgemacht hatten, musste zugeben dass er kurz glaubte, ihm würden jeden Moment die Pfoten abfrieren.  

Irgendwann, auf dem trostlosen, stürmischen Weg gen Südosten, ragten Bäume aus dem weißen Teppich, auf die er ohne nachzudenken zulief, hoffend dies wäre der richtige Ausweg. Doch kaum dass Dobermon die Grenze von Schnee zu Wald erreichte, wusste er schon, dass dies nicht der Winkel war, von dem er hergekommen war. Vielleicht irrte er sich auch. Auch Schnee konnte Halluzinationen verursachen, das stechende Weiß begann dann den Augen einen Streich zu spielen, wie wenn man zu lange in einen Spiegel starrte.

Er war hier falsch. Aber zurück in den Sturm zu laufen war eine mehr wie schlechte Idee. Dobermon sah durch die Bäume, zwischen denen er sich vom Wind in Sicherheit gebracht hatte und die eisige Tundra wirkte von seinem Standort aus wie eine andere Welt, wenn die Entfernung nur wenige Meter ausmachten.

Eisig. Nicht winterlich. Winterlich war in Dobermons Empfinden etwas anderes. Winterlich war die Klaviermusik in seinem inneren Ohr. Doch sie passte nicht zu diesem Ort, genauso wenig wie zu denen davor.

Er ging weiter durch die Bäume, nach einem kleinen Fußmarsch verschwand der Schnee und wurde durch dunkles Grün ersetzt. Die Kälte unter seinen Pranken war verschwunden. Es war milder, aber der Wald auch dichter geworden. Dobermon spitzte die Ohren, hoffte in der Ferne irgendwo das Heulen der Devidramon zu hören, die darauf warteten, dass ihr Anführer wiederkäme, aber ohne Erfolg. Stattdessen geriet Dobermon immer mehr in dunkle Flora, die kein bisschen den Anschein erweckte, dass hier überhaupt einmal ein Digimon vorbeigekommen sei.

Auf den weiteren Fußmarsch, nun mitten in der Nacht und den Vollmond über ihm schwebend, sah Dobermon erste Schilder an den Bäumen hängen. Sie waren ins Holz genagelt, aber alt und morsch und das Geschriebene kaum lesbar. Dafür zeigten ihre Spitzen in alle möglichen Richtungen und waren damit genauso sinnfrei wie so viele Dinge hier in der Digiwelt, wie Schiffe in der Wüste oder Bahnen, an Orten wo keine Schienen waren.

Dobermon musste wieder an Alice in Wunderland denken.

Unter einem überaus dicken Baum, dessen ebenso dicke Äste in sich verdreht waren und sich erst oben an der Krone ausbreiteten, hing das erste und wohl einzige Schild, das lesbar war. Es stand auf dem Kopf und Dobermon musste selbst seinen Kopf stark zur Seite drehen und sich etwas senken, um die krakelige Aufschrift WASTE LAND CEMETERY lesen zu können. Wie einladend. Aber besser wie gar kein Anhaltspunkt.

Er lief weiter, den Weg, den dieses makabere Schild ihm eingeredete, dass es irgendwo hin führte, den Trampelpfaden nach und als dieser im Gras unterging, folgte Dobermon den zunehmenden modrigen Geruch des Verderbens. Selbst wenn er ein Digimon mit einem weniger ausgeprägten Geruchsinn gewesen wäre, wäre es nicht weniger merklich.

Dobermon zwängte sich durch verwachsene Ranken und Äste, die Kreuz und quer wuchsen und sich umarmen zu wollen schienen. Dann sah er die Dachspitze eines Gebäudes. Neben ihm tauchten die ersten Steine auf, deren Form viel zu gewollt war, als dass sie natürlichen Ursprungs gewesen wären. Grabsteine.

Nun, Friedhof, wie das Schild es bezeichnet hatte, war eine unangemesse Bezeichnung, denn hier war so gar nichts friedlich, außer vielleicht der Mond über diesem Fleckchen Digiwelt. Es sah und vor allem roch es nach Tod und Unheil, wie ein altes Schlachtfeld. Verlassene und mit Efeu überwuchernde Grabsteine ohne Namen, gruslige Statuen und leere Särge erstreckten sich über fahle Hügel. Religöse Ferse und Sprüche standen einst auf ihnen, aber sie wurden mit etwas spitzen zerkratzt und damit unlesbar. Die Fläche war sehr uneben und zwischen den einzelnen Erhebungen der Erde kroch Nebel entlang. Das Gebäude am anderen Ende dieses Ödlandes hatte sich als etwas herausgestellt, dass an eine Kirche erinnerte. Überraschenderweise war diese sehr gut erhalten, wenn es ihr auch an jeglicher heiligen Präsenz fehlte. Heilige Symbole waren unkenntlich bemacht worden und wo einst die Statue eines Engel thronte, war nur noch eine Steinfigur ohne Gesicht, ohne Hände und nur noch mit den Ansätzen von Flügelpaaren.

Und wie Dobermon feststellte, war er nicht das einzige Digimon, dass sich in dieser Nacht in die Verlassenheit verirrt hatte.

Genau vor der Kirche trug sich eine Debatte zu und obwohl die meisten Beteiligten die vermutlich hier lebenden Bakemon und Soulmon waren, konzentrierte sich Dobermon erst nur auf ihr verstimmtes Gegenüber - Puppetmon.

Dank der Gerüchteküche wusste Dobermon, welche Digimon zu den vier großen Meister der Dunkelheit gehörten. Ein Puppetmon war gewiss unter ihnen und er war sich zu einhundert Prozent sicher, dass es dieses Puppetmon war. Was aber hatte ein Digimon, dass trotz kindlichem Erscheinen so geächtet wurde hier mitten im Nirgendwo zu suchen?

Dobermon gab sich nicht einmal die Mühe zu schleichen, er lief nur langsam auf die Gruppe Digimon zu und blieb auf einem der Hügel stehen, weit genug und im Schatten einer hohen und genauso zerstörten Engelsstatue nicht sofort bemerkt zu werden, aber nah genug um mithören zu können und beobachtete von dort Puppetmon, wie er die Bakemon und Soulmon bedrohte. Nur ein Phantomon – ein überaus mutiges Phantomon, oder lebensmüde - stand zwischen ihnen und dem Meister der Dunkelheit.

„Glaubt uns einfach, wir wissen nicht, wo sich diese Typen aufhalten.“

„Wir haben noch nie irgendwelche Weißkutten hier gesehen.“

„Und woher wisst ihr dann, das es Weißkutten sind?“, bemerkte Puppetmon. Er klang, als ginge diese Debatte schon eine ganze Weile. Das Bakemon, dass sich verplappert hatte hielt sich erschrocken die Hände von den großen Mund. Phantomon seufzte verärgert.

„Na gut, vielleicht haben wir hier so einen gesehen, auf den diese Beschreibung zutrifft.“

„Und was wollten sie von euch?“

„Wir haben nie mit ihnen geredet. Sie kamen immer tags, wenn wir schliefen“, erklärte Phantomon weiter sehr ruhig. „Sie hatten es auf das Digizoid abgesehen, dass in einigen Grabmalen und in der Kirche zu Zeiten der Apartheid hier verarbeitet wurde. Sie haben es mitgenommen und gingen wieder.“

„Das ist alles?“, rief Puppetmon regelrecht empört auf.

„Das ist alles. Solange sie uns nicht belästigen, ist es mir egal, was sie hier treiben.“

„Und wer sagt mir, dass ihr nicht in Verbindung mit ihnen steht? Euch ist klar, dass diese Weißkutten zur Widerstandsbewegung der Souveränen gehören?“

Puppetmon hob seinen schweren Hammer, schlug dessen Kopf ungeduldig in seine offene Hand. Die Geist-Digimon drängelten sich dichter an Phantomon.

„Ich traue keinen Digimon, die mich anlügen. Aber ich habe gute Laune, also lass ich euch gehen. Ich beanspruche diesen Wald und alles was dazu gehört für meine Armee.“

„Einen Teufel wirst du!“, brüllte Phantomon Puppetmon an, seine untoten Kameraden hielten ihn zurück, als er die Sense hob. „Das ist unsere letzte Zuflucht. Diese Geist-Digimon sind die Reste derer, die in den Typus-Kriegen fielen und hier auf Frieden hoffen.“

„Ein Grund weniger für euch zu bleiben.“

Puppetmon blickte gelangweilt drein, aber er setzte den Hammer zumindest ab.

„Bugs haben keinen Anspruch auf gar nichts. Ihr seid nur Restdaten.“

Von den Typus-Kriegen hatte Dobermon erzählt bekommen, als Jijimon ihn die vergangene Historie der Digiwelt erläuterte. Als die Apartheid fiel, fielen auch all ihre politischen Stützpfeiler. Die kommenden Generationen nach der Apartheid sahen darin die Gelegenheit ein Reich oder ein Terrain für sich zu beanspruchen und sich zum neuen Herrscher zu krönen. Daraus entstanden die Typus-Kriege, wo Rassentrennung zwar nicht mehr so ein großes Thema war, aber als Folge dessen entstand. Die Schlachten wahrten ewig, pausierten einige Zeit um nur irgendwo anders wieder anzufangen. Auch die Meister der Dunkelheit waren aus dieser Bewegung entsprungen und waren lange an der Spitze, galten als Gewinner der Kriege. Dann kamen die Souveränen. Sie haben die Typus-Kriege beendet, indem sie die Meister der Dunkelheit zum Kampf stellten. Danach reduzierte sich ihre Macht und ihr Einfluss. Nun waren die Souveränen und die Meister der Dunkelheit die einzigen Gruppierungen, die genug politische Macht und Wichtigkeit inne hatten um Auswirkungen auf die Digiwelt zu haben, geschweige denn auf ihre Zukunft. Wer davon die bessere Wahl war, da gingen die Meinung weit auseinander. Streit wie im Pub in Cyber Hollow waren noch die harmloseste Form dieses Streites.

Das aber nicht alle Gefallenen wiedergeboren wurden kam keinen von ihnen in den Sinn. Diese Bakemon hatten den Friedhof augenscheinlich für sich beansprucht und errichtet, da sie anders nicht wussten, wie sie sich von ihrem alten Dasein lösen konnten. Dass aus einem sterbenden Digimon stattdessen ein Bakemon oder Soulmon digitierte geschah selten (ansonsten digitierten sie aus anderen Rookies wie andere Digimon auch). Aber es passierte. Und gefallene Digimon gab es in den letzten Jahrzehnten genug. Und die Daten waren oft zu sehr beschädigt, als dass sie die Kraft hatten in der Stadt des Ewigen Anfangs wiederzukehren. Sie waren zur Ewigkeit verdammt und wurden von anderen Digimon daraufhin gemieden. Ein alter Mythos aus der Apartheid erzählte sogar, Bakemon würden Viren verbreiten, die die Daten lebender Digimon zerstören und viele glaubten das immer noch, dabei war das Gegenteil längst bewiesen worden. Und ein Digimon wie Puppetmon, dass sonst von Gleichheit schwafelte ging mit ihnen so um.

Dobermon würde nicht sagen, dass er Mitleid fühlte für die Geist-Digimon. Aber ihm kam bei diesem moralischen Widerspruch die Galle hoch.

Es wäre fast zum Kampf zwischen ihm und Phantomon gekommen, hätte Puppetmon nicht den stummen Zuschauer mit dem schwarzen Fell bemerkt. Im Schatten sah man ihn erst kaum, nur den Blick, dann die Konturen, die sein Fell von der Dunkelheit trennte.

„Sieh an, einen Wachhund habt ihr also auch hier.“

„Wir kennen den nicht.“

„Ja, wir sehen dieses Digimon zum ersten Mal“, beteuerten die Geist-Digimon. Puppetmon glaubte es ihnen ausnahmsweise und verlor das Interesse an ihnen. Vielmehr ging ihm dieses Dobermon auf die Nerven. Allein wie es da stand gefiel ihm nicht, ganz und gar nicht.

„Was will so ein Köter wie du hier?“, fragte er und Dobermon gefiel dafür sein Ton nicht, genauso wie es Puppetmon mehr verstimmte, dass er nicht antwortete. „Was? Hat es dir die Sprache verschlagen? Etwa nie einem Meister der Dunkelheit begegnet? Keine Angst, wenn du ein braver Hund bist, tue ich dir nichts.“

Dobermon dachte jedoch nicht dran brav zu sein, oder ihn anzuknurren. Er drehte sich nur um und war dabei wieder zu gehen, ehe Puppetmon ihm auch nur ein Stück näher gekommen war. Verärgert über so viel Hochnäsigkeit, und das auch noch von einem gewöhnlichem Champion, holte Puppetmon kurz Anlauf und sprang mit einem Satz über Dobermon und landete vor ihm.

Nun konnte auch Dobermon in das hölzerner Gesicht, dass sich unter der roten Kapuze befand blicken und als sich ihre Augen trafen, war es für ihn, als hätte ein Blitz direkt vor ihm eingeschlagen. Und der Abgrund war vor ihm erschienen. Doch diesmal war der Abgrund nicht leer. Irgendwas war darin und begann aus dem Tiefsten seiner Seele hochzukriechen, wenn Dobermon auch nicht benennen konnte was es war.

Puppetmon schien es ähnlich zu gehen. Der Zorn in seinem Kindergesicht aus Holz war nicht mehr zu sehen.

„Sag mal, kennen wir beide uns?“, fragte Puppetmon und warf dabei seinen Hammer von einer Hand in die nächste, dass man hätte meinen können, er würde nicht mehr wie ein halbes Pfund wiegen, obwohl er definitiv schwerer war. „Warst du... Nein, bist du es, Tsukaimon?“

Dobermon zuckte, als er seinen Rookie-Namen hörte, lief rückwärts von dem Mega-Digimon weg. Über Puppetmons Gesicht huschte ein Lächeln.

„Wusste ich es doch. Du bist Tsukaimon. Ich hätte dich beinah nicht wiedererkannt. Liebe Güte, du weißt gar nicht wie lange wir dich schon suchen“, jubelte Puppetmon, von seinem strengen Gesicht war nichts mehr übrig, er sah einfach aus wie ein überaus fröhliches Kind aus Holz. Als er auf Dobermon zuging, wich dieser weiter zurück.

„Du erkennst mich nicht? Okay, zugegeben, ich hab mich echt total verändert. Wir beide sind vom Orchester. Ich war der Flötist und du der Pianist. Du weißt doch, Laaa lalaa laalaaa la...“

Weiterhin fröhlich – was einerseits auch sehr unheimlich war – trällerte Puppetmon seine Melodie weiter. Zugegeben, für Dobermon klang sie vertraut, wenn er auch nicht an den Winter denken musste, sondern eher an den Frühling. Ob es stimmte, was Puppetmon sagte? Niemand außer Jijimon wusste von seiner musikalischen Sehnsucht. Aber etwas hielt Dobermon davon ab tiefer in den Abgrund zu schauen.

Puppetmon hatte aufgehört seine Melodie zu summen. Die Geist-Digimon tuschelten aufgeregt.

„Ich weiß zwar nicht, wovon du redest -“, sagte Dobermon, dabei bedacht sich nicht anmerken zu lassen, wie ihm die Nervosität auf den Magen schlug. „Aber mir scheint, hier liegt eine Verwechslung vor.“

„Garantiert nicht. Allein dass du so geschwollen redest, trotz dass du zu einem räudigen Hund digitiert bist zeigt, dass du Tsukaimon bist“, antwortete Puppetmon sicher, aber ohne den Hauch von der zuvor ausgelebten Fröhlichkeit.

„Dann verwechselst du mich vielleicht mit einem anderen Tsukaimon. Ich jedenfalls kenne dich nicht und will es auch nicht.“

Dobermon lugte zu den Geist-Digimon, die zu tuscheln aufgehört hatten.

„Ich will nichts mit Digimon zu tun haben, die so respektlos mit gefallenen Kriegsopfern und Veteranen umspringen.“

Dobermon kehrte Puppetmon den Rücken, um zu gehen – und beging hier seinen ersten Fehltritt. Überrumpelt von dieser Hochnäsigkeit, stand Puppetmon erst verblüfft da, bis er wütend wurde. Puppetmon rannte Dobermon nach, stand wieder vor ihm, diesmal aber zum Kampf bereit.

„Du bleibst hier. Einmal Orchester, immer Orchester, das kann man nicht so einfach verlassen. Dein arrogantes Gehabe kotzt mich zwar an, aber Regeln sind Regeln. Wenn du dich lieber auf die Seite dieses Haufens kaputter Daten schlagen willst, musst du auch die Konsequenz dafür tragen. Puppenhammer!“

Sein Puppenhammer wurde durch die Luft geschwungen, den Dobermon aber noch spielend ausweichen konnte. Puppetmon war schnell, zu schnell, als dass Dobermon für einen Moment Halt fassen konnte, um einen Gegenangriff zu starten. Jeder misslungene Schlag hinterließ Löcher im Boden.

Als Puppetmon seinen Hammer statt zuzuschlagen nach Dobermon warf, wich dieser mit einen Sprung nach oben aus, war nun aber so im freien Fall und so leichte Beute. Puppetmon nahm sein Marionettenkreuz von seinem Rücken, grinste, als er zum Wurf ausholte. Doch eine Eisenkette mit einer befestigten Kugel, die Phantomon gehörte, wickelte sich um Puppetmons Arm und hindere ihn daran.

„Was mischst du dich da ein?“, rief Dobermon zu ihm, als er wieder Boden unter seinen Pfoten spürte.

„Ich helfe dir nicht, weil du so ein ach so netter Kerl bist“, antwortete Phantomon. „Aber jeder, der meinen gefallenen Kameraden hilft hat etwas gut bei mir.“

„Halt dich da gefälligst raus!“, schrie Puppetmon, packte die Kette mit beiden Händen und zog so fest er konnte dran. Phantomon versuchte noch dagegen zu ziehen, doch er wurde von der Wucht des Zugs mitgerissen, mitsamt seiner Kette einmal im Halbkreis herumgewirbelt und zu Boden geworfen. Die Bakemon kamen sofort angeflogen, stellten sich zwischen Puppetmon und ihren im Staub liegenden Kameraden, zwei Soulmon halfen Phantomon auf. Im Kampf hatten sie zwar keine Chance, sie blieben aber entschlossen an Ort und Stelle schweben. Dann, als Dobermon sich vor sie stellte, das Nackenfell hochgestellt, schauten sie genau wie Puppetmon verdutzt drein.

„Langsam geht mir dein Gehabe auf die Nerven! Puppenhammer!“

Schwarz Strahl!“

Die entstandene Explosion schleuderte beide davon, wirbelte so viel Staub und Dreck auf, dass Dobermon seinen Gegner nicht mehr sehen konnte. Nur die Bakemon und wie sich ihre mit langen Zähnen gefüllten Mäuler öffneten, um ihm etwas zuzurufen. Oder um ihn zu warnen, dass Puppetmon hinter ihm stand.

Fliegende Säge!“

Puppetmon schlug mit voller Kraft sein Marionettenkreuz Dobermon in die Seite, der ihn von seinen Pfoten riss und gegen mehrere Grabsteine schleuderte, bis er auf dem Boden liegen blieb und unter den Marmorbrocken begraben wurde.

„Das hast du nun davon“, sagte Puppetmon beleidigt und hob in seiner Wut, die aufkam als er sah, dass diese sture Digimon versuchte aufzustehen, wieder den Hammer. Plötzlich wurden Puppetmons Augen starr, sein Körper rührte sich nicht. Dann hielt er sich den Kopf und schüttelte ihn wirr hin und her.

„Jajaja, ist gut, ich habe die Regeln nicht vergessen! Ich bringe ihn nicht, ich bringe ihn nicht um!“, jammerte er, dann entspannte sich sein Körper wieder. Puppetmon ächzte vor Kopfschmerzen. Dobermon glaubte, eine Art elektrische Ladung gespürt zu haben, die unheilvoll in der Luft trieb. Hatte diese Puppetmon aufgehalten?

„Aber ein paar Schrammen und Knochenbrüche sind nicht gegen die Orchester-Regel. Soll sich der Herr Gitarrist mit ihm vergnügen. Er wird sich gern um ein so böses Hündchen kümmern, dass seine Kameraden einfach vergisst.“

Langsam ging Puppetmon auf Dobermon zu, der weiter versuchte auf die Beine zu kommen, aber es nicht schaffte. Dobermon feuerte noch einen Schwarz Strahl ab, doch Puppetmon wehrte den Angriff ab, indem er mit seinem Marionettenkreuz diesen einfach abfing und fortschlug.

Ein weiterer Angriff brachte Dobermon nicht zu Stande. Nicht wegen dem Schmerz in den Beinen, der war erträglich. Es war der in seinem eigenem Kopf. Die Stimmen, aber anders wie bei den Devidramon war dies kein Flüstern oder Rauschen mehr. Er hörte die Stimme aus den Abgrund klar und deutlich.

(D̶̨͠u̧͟ ẃ҉i͝͠l̶̨͜ls҉t͘͢ ́ḑ̶a̕s̢ ͞͏̡e͟r ̷̛A͘͠n̵͘g͏́s͟t̶ ̵͠v͟o̶r ̀d͢͏i̶ŗ̷ ̧̨́ha̵̛t̀͘ ҉҉d҉u wil̡l̡s̷̨t d̢̛a͟s̵ ̷̨a̕ll̵̀é͜͟ D̴̸i̴g̛͘͝i̴͢m̨̛ò͢ņ ̧̛̀Anģ̛́s̴t ̨̛v̕͠o͡r͢ dir͏͞ h̢̧͏a͝b̷̡e͝n̸͜ ̶du̸ ̴bi̴҉s̸̛t͢͞͠ ̷͏u̶̸̢ǹ̛z͡u̵f́̕r͠i͘e̷d͘͝ȩ̸n͘̕ ̴mi҉̵t ̨͞d̛i͟e̷͜se̡r̴͏ ͜͞W͏el͠t̛ ͞͝u̵̶̡n͏͝d ͞d̸̢as̢ v̡er̴̨̨s̡t͜͟ęh͜ȩ̧̛ ͏̡҉i̸̷͜c̸h̷ sò̵͟ ͜w̛i̧̡e̵ ̛d̢i̧̛̕r ̨ģ̷e͞͏̕h̶͡t͠ ̀e͢s̡͢͠ u͟͞ǹ̛ş̶ ̴̛͜a͞u҉c̢͜͞h̷̸ ̧d̷e̸͡s͟͝w̢͠ège̢̨n̸̡ ̢̢͡zer̵͢͟st͝ö͠re̷n̨ wi̶͢͠r̕ ͏un̨͜d͞ ̶͢d̡̡ù̢ ̛͏w҉i҉͝l̶͢͢l͠st ͝u̕͜ńd̸́̀ ͠d̵ù k̨͞a͏҉n͞n̕s̡͞t͘͟ e͠͠s̛ ̨̕a̛u̸͠҉c̵h͜͠ ͘d̴̷u̶ ̕͢͠w̡i̵͢ll̛͡s͜҉t̢ ̧e̡i̶ń͏é ̕W̧͟e̸͏̸ļ̷̶ţ̸͝ o̶͏́h́͜͟n͝e̵͟ ̴͢d҉i͢es͘e̵͞ ̕q̨͟͡u̡͟ä́l҉̧͢e̴̴n̵d̴́e͜ ̧̡͏U̢͢͟ń̕͠rù͟͠h̀e ҉̵o҉d̢͞e͜͡r̵͢ ̷̛n̨icḩ͞͞t̸͢?̛͘͘ )

Das wollte er wirklich. Schon als Rookie hatte er es gewusst. Die Digiwelt, so wie sie war hatte keine Zukunft. Statt sich von ihren vielen Kriegen zu erholen, entfachte sie nur immer wieder neue. Eine erbärmliche Welt, in der es nichts zu suchen oder zu finden gab. Geplagt von Unruhe, die Sehnsucht nach etwas, was vielleicht nicht existierte.

Er war nicht besser wie die Digimon, die verzweifelt den Meister der Dunkelheit oder den Souveränen hinterher liefen, weil sie sonst nichts in ihrem Dasein hatten, statt sich selbst zu helfen. Die Bewohner der Digiwelt waren nur die Sklaven ihrer selbst, die folgten, aber nicht denken konnten. Nur deswegen waren Dinge wie die Apartheid möglich. Nur darum waren Rassenkriege möglich. Nur darum kamen Digimon wie die Meister der Dunkelheit an die Spitze.

Was also sollte er hoffen zu finden in so einer erbärmlichen Welt, die man eigentlich nur verabscheuen konnte?

Nichts. Denn nur das Nichts war immer gleich. Nichts… und der Tod.

(N̕͝i̛c͢͡h́t̨s ͠k̵̵̨an͜ń͠ ̧́a͢͠ư̷c̛̀͢h ̀͏a̴̶l̵le̶͢͡s̴̢ ͠͞s̵e̸in̵̡ ̷͘i͟͞m̴͡ ̴̡A҉b̛͡g͝͡ŗ̨̕u̢n͠d̕ ̷͞i͟͞st͘ ̷̴̨a̕͢͝u̡c̢̕h̵ ̨̢͟n͏͟i͡ć͠h̛́t̀͝s̴͝ ̴̶u̧n͟d̷ ҉d̶҉̴o͠c͜h ̵aĺl͜e͞s͘͠ ̧͟wi҉͘ļ̸͘l͟s͏t̵̷͟ ͏̛d҉͏u̸̕ ͏w͢į̡͜s͝s̀e͞ń̨ ͡w̢̢͢as͢ ҉d̨o҉ŗ̷̵t̨͘ ͞i̷̷s͠t͏͘ i̸̟͒͗c̴̠̫̀h̶͙̒ ̶͕͛̕g̸̼͊͠ë̸̲́b̴̧̜̔̊e̸̟̹̾̆ ̶̣́d̷̪̩̿i̷̦̙̍͋r̸͖̆ ̷̾̚͜a̸̡͙̿ḻ̶̖͛̇l̵̬̈́ͅẽ̶̤͇s̷̬͎͒ ̸̨̢̋ẃ̷̤̚ã̷͖s̷͉̤͋͆ ̴̠̎͂d̵̩͎̐u̴͔͇̿ ̵̣̮͆w̴̥͌i̷̧̧̽̔ĺ̷̞l̸̡͊̓s̴͍̩̑̾t̴̘̎̏ ̸̣̹͌͘u̴͈̇͝n̷͖̐̚d̶̬̽ ̸̻̻͌b̷̜̌͊r̵͙̈́͗a̸̗̿͝u̶̪͂ć̴͇̑h̶̩̭̓s̸̬̄͜t̷̝̒ ̸̬̬̇ŵ̷̩̹i̴̅͜e̵̖̮̊ ̷̪͕̐k̷̪̍̓l̴͔̀i̶͚̒͝ṅ̵̨̓ǧ̶̲͕ṭ̵̋̔ ̶̬̀͠ḓ̵̨̓͋a̴͈͊̎s̸̱̣͋͗ ̵̡̏́f̶̖̪͂ü̴̗̺͠r̷̼̒̕ ̶͉͍͑̚d̷̥̱͘i̴̬͌c̴͙͛h̸̞̗̊͋?̸̯̑)

Gut. Mehr wie gut. Und was hatte er denn zu verlieren?

„Wie du willst. Schau mich nur weiter so an, Dobermon. Vielleicht hilft ein kräftiger Schlag auf den Hinterkopf deinem Erinnerungsvermögen auf die Sprünge! Oder ein kleiner Erholgungsschlaf in jenem tiefen Loch, weißt du noch, alter Freund?!

Puppetmon holte mit seinem Hammer aus. Die Bakemon und Soulmon verdeckten ihre Gesichter, um nicht hinsehen zu müssen.

(W̡as̛̕ ͞w҉ä҉̢́r͡s҉t̡ ̶̡du̵͝ ́͢be̵͟ŕ͜͝e̢͠i̛͡t̷ ͜d̵af͟ų̈͢r͘͝ ̕hȩr̷̴z͘ugeb̛e̴n͠?̕͟͞ )

Alles, so dachte Dobermon sich, wenn es sein müsste.

Irgendetwas kroch immer mehr den Abgrund hoch Richtung Oberfläche.

Irgendetwas rief nach ihm.

(D̷̡an͏́n͟ ̛͝͏l̶á̧s̶s҉̛ ͞d̡͘i҉̢c̶h҉͢͠ ̵͘e̡̢̛i̧n̨̧͜f͠a̴c̕h̡͜͢ ͟f̀͜ąll̕ę̶̵n ͢͡H͢҉e͢҉r̴͠r̷͡ ̷͟P̷i͟a̢̨ni̧s̡͡t̴̡ u̴̯͒n̷̹̿d̶̪͗ ̷͉̊k̵̹̓o̶̯̊m̴̪͐m̶̩̄ ̵͔́w̷̥̍ȉ̵̗e̶̼̎d̸̗̂ē̸͇r̷͖̿ ̸̺̐z̵̠͂ŭ̴͖r̵͚̕ü̷̯̒ĉ̷̢k̸͇̈ ̸̛̣z̷̝͘u̴̹̇ ̶̢͂m̴̍͜ī̴̥r̸̼͂ ̴̣̾ẃ̸̢e̸̢̓r̶̟̅ḓ̸̈́e̷͙͊ ̶̻̇w̸̻͗i̵͜͝e̴̞̊d̸̗̿ê̶͖ŕ̵̹ ̸̙̆Ť̵̨e̸̛̝i̵̘̔l̸̠̃ ̶̢́m̵̦̓ẻ̷͍ḯ̴͎n̸̢̓e̴̟̎s̷͍̅ ̶̬͝Ṁ̴̱e̴̦̽i̸͋͜s̷͙͛ṭ̷̈́e̸̬̕r̸̰̽w̶͔̓e̷̻͊r̵̙̈k̶̥̀ê̸̮s̷͇͋ ̴̤͑d̴̞́a̴̤͂m̸̚͜į̷̽t̴̬̎ ̵̡̂d̸̬̿ǐ̷̦ę̵͝ ̸͓̐D̷͙́ȋ̸͙g̶͓͑ì̶̲ẃ̵̳e̶̪̔l̵̝͊t̴̞̃ ̶̥͋ë̵̙n̷̦̈d̷̖̋l̶̞͛ị̷̊c̴̳̚h̴̩̑ ̶͚͠z̴͍̀ủ̸͍ ̷̺͘i̵̖͝h̶̠̕r̷͇͊e̴̩̊m̵͈̌ ̵͈̑U̷͆͜r̴̤̊ṣ̷̊p̷̯͑ŕ̴̨u̵̧̍ṇ̵̊g̸̮͝ ̸̻̃ẓ̸͑ṳ̵̽ṟ̵̒ü̷͚͐c̶̬̍k̷̼̐k̷̼̇e̷̥̿h̷̪͋r̵̘̕t̸͈͒)

Das tat Dobermon. Dann war er nicht mehr Dobermon.

Dobermon, Ultra-Digitation zu -!“

Schlagartig wurde die Atmosphäre kälter. Man hörte ein Donnern in der Ferne. Dies und das Fauchen von Fledermäusen.

Phantomon hatte als Einziger nicht den Blick abgewandt und sah, wie dieses Digimon nichts mehr weiter war wie ein schwarzer, flammender Schatten, der auf Puppetmon zuraste und, als dieser Schatten sich manifestierte nichts mehr an sich hatte, was auch nur im Entferntesten an jenes Dobermon erinnerte, wäre nicht dieser Blick gewesen. Dieser Blick, der Kälte ausstrahlte aber nicht verbarg, dass dieses Digimon irre war. Es musste irre sein, anders war dies nicht zu erklären.

Gruselflügel!“

Auch wenn Puppetmon ein Mega-Level war, kam der Angriff zu plötzlich, als das er hätte etwas dagegen unternehmen können. Die Schar Fledermäuse rissen ihn zu Boden und selbst gegen einige zerstörte Gräber, dabei zerfetzten sie den Stoff seiner Kleidung und selbst das Holz, aus dem sein Körper bestand war von Bissspuren gezeichnet.

„Das kann doch nicht wahr sein“, ächzte Puppetmon, als er aus den Trümmern kroch. Sein Hammer kam vor ihm zu Fall und blieb durch das starke Gewicht im Boden stecken. Puppetmon kroch etwas näher heran um nach den Hammer zu greifen, doch ein schwarzer Stiefel verhinderte dies, indem dieser mit aller Kraft auf seine Hand trat.

Puppetmon biss die hölzernen Zähne zusammen und blickte zu dem Digimon auf, dass nicht mehr Dobermon war. Er konnte eigentlich nicht einmal glauben, dass dieses Digimon überhaupt Dobermon gewesen sein sollte, um so mehr aber, dass dies Tsukaimon war. Der hochgewachsene Hund war nun ein hochgewachsenes, menschenähnliches Digimon, der statt dunklem Fell einen dunklen Anzug und Umhang trug. Nur die Augen waren gleich geblieben. Zwar nun blau statt rot, doch waren sie immer noch wie Eiszapfen, stechend und kalt. Die Maske betonte die Kälte nur mehr. Eine Kälte gleich eines Schneesturmes.

„Du bist selbst Schuld. Zwerge wie du sollten keine so großen Töne spucken.“

„Halt den Mund! Du bist immer noch nur ein Ultra-Level, du hast es gerade nötig so was zu sagen!“

Der Druck auf Puppetmons Hand wurde fest und ihm liefen vor Schmerzen die Tränen. Weil die Fledermäuse sein Holz beschädigt hatten, konnte er seine Glieder nicht einmal richtig bewegen. Ein schmerz- und wutverzerrtes Gesicht, mit einem Hauch von Furcht. Das war es, was er sehen wollte.

Die Bakemon und Soulmon kam näher, zusammen mit Phantomen und blickten ehrfürchtig auf den scheinbaren Sieger dieses Kampfes.

„Meister Myotismon...“

Er warf den Kopf langsam über die Schultern. Sie verbeugten sich leicht, und er zweifelte für einen Moment, ob sie wirklich ihn meinten.

„Meister Myotismon, endlich seid Ihr hier. Wir warten schon so lange.“

„Auf mich? , fragte Myotismon skeptisch, blickte fragend durch Reihe der Geist-Digimon und blieb bei Phantomon hängen.

„Myotismon sind die Herren der Untoten und Geister der Digiwelt. Doch seit den Typus-Kriegen existieren keine Myotismon mehr. Wir warten schon so lange, dass jemand aus unseren Reihen endlich digitiert, damit er unser König werden kann.“

Phantomon pausierte, sein ehrfürchtiger Ton verwandelte sich in Verwunderung.

„Doch hätten wir nie erwartet, dass derjenige aus den Reihen der Lebenden kommt.“

Ihr Verbeugung wurde noch tiefer. Etwas ungläubig schaute Myotismon auf seine Hände und ihr humanoides Aussehen wirkte im ersten Moment komisch. Lange Finger. Angewinkelte Finger, nicht ganz gerade. Das Erste was Myotismon dabei in den Sinn kam war die Wintermelodie, die im Abgrund, zusammen mit Schneestürmen. Was hatte er nochmal darin gesehen, in dem Moment, als er digitierte?

„Ihr miesen kleinen Verräter, ihr wollt euch den Meistern der Dunkelheit widersetzen?!“, und mit einen kräftigen Ruck zog Puppetmon seine Hand unter Myotismons Stiefel weg und griff nach seinem Hammer. Die Bakemon und Soulmon erschraken, doch Myotismon schlug ihn mit einer Albtraumkralle wieder zu Boden. Bei dem Aufprall überschlug sich Puppetmon mehrmals und verlor einige seiner Zahnräder, die vorher noch in seiner Brust gesteckten und nun in alle Richtungen verteilt im Dreck lagen.

„Nei-n. Nicht au-ch no-no-noch das.“

Seine Sprache als auch seine Bewegungen waren stotternd und holprig, das Holz klapperte wie Geäst im Wind. Mit einem gehässigen Lächeln schlug Myotismon mit einer weiteren Albtraumkralle Puppetmons Zahnräder fort, als er versuchte, trotz seines akuten Tremors seine Einzelteile einzusammeln.

„D-D-Du mieser e-elender Mi-istkerl, du wagst es s-o-o-o mit einem Mi-Mitmusiker umzugehen?“

Puppetmon stoppte in seiner Bewegung, doch das lag nicht an seinen fehlende Schrauben. Knurren und ein tiefes Brüllen kreiste mit dunklen Flügeln über ihnen.

Myotismon warf den Kopf in den Nacken. Die Devidramon hatten sich also endlich dazu bereiterklärt ihren vermissten Rudelführer zu suchen.

Auf einem der Grabhügel landeten die drei dunklen Drachen-Digimon vor ihnen und streckten ihre Schnauzen in die Luft. Sie schnüffelten ziemlich lange, wohl wegen den vielen verschiedenen Gerüchen der heimischen Geister, aber dann erkannten sie den Geruch ihres Anführers, der zwar eine neue Gestalt angenommen hatte, aber nichts an der Ehrfurcht, die sie empfanden änderte. Auch den Geruch des Digimon, der ihren Anführer angegriffen hatte, hatten sie wahrgenommen und zähnefletschend krochen sie auf allen vieren zu ihrem Herrn. Die Bakemon und Soulmon schreckten zwar auf, aber sie, wie auch Phantomon begriffen schnell, dass diese Digimon zu ihrem neuen Meister gehörten. Von Phantomon kam ein überraschtes, langes „Oh“.

Puppetmon zeigte nun mehr, als nur eine Hauch von Furcht, die in ihm hochkam und in Myotismons Gesicht sah, dieses Gesicht mit diesem Lächeln, das seine Zähne hervorhob und diesem Blick.

„Fertig machen wolltest du mich doch. Oder habe ich mich da verhört, oh großer Meister der Dunkelheit?“

„Du -“

„Puppetmon, was treibst du so lange?“

Keine zehn Meter von ihnen entfernt stand ein Clown. Ein Clown wie man ihn sich schlicht vorstellen würde, in einem Anzug aus hellem Grün und gelben Punkten, einer passenden spitzen Mütze auf den orangenen Locken und einem Lächeln, das genauso falsch war wie diese geschminkte, fröhliche Mimik. Woher er kam wusste keiner, genauso wenig seit wann er da stand. Dieser Clown hatte erst nur gewunken und kam dann mit übertrieben großen Schritten auf Puppetmon zugelaufen, während Myotismon mit den Geist-Digimon etwas zurückschritt.

War diese dubiose Gestalt ein Digimon?

„Gehört der auch zu Euch?“, flüsterte Phantomon ebenso misstrauisch, Myotismon verneinte nur mit einem Kopfschütteln.

„P-P-Piedmon“, begann Puppetmon zu jammern. „Tsukaimon spielt nicht-icht fair! Sieh an was er mi-mi-mit mir gemacht hat! Er i-ist total w-wa-wahnsinnig geworden und kennt uns nicht mehr!“

Der harmlos und gleichzeitig so zwielichtig aussehende Clown, der vor Puppetmon in die Hocke gegangen war stand wieder auf. Mit beiden Fäusten in der Hüfte drehte er sich zu der Schar Untoter. Die Augen, nicht mehr wie aufgemalte Striche fixierten Myotismon eindringlich. Und es gefiel ihm nicht.

„Na, sieh einer an. Ich habe mich dumm und dämlich gesucht. Aber wie gewöhnlich tauchst du wieder zum Schluss auf. Du hättest ein weißes Kaninchen werden sollen, statt ein schwarzer Hund. Aber das Schwarz schmeichelt dir besser. Passt zu deiner Rolle.“

Keines der Geist-Digimon verstand etwas davon. Myotismon ebenso wenig. Die Anspielung auf Alice im Wunderland hatte er aber verstanden und das bereitete ihm Unbehagen.

„Kaum wieder auf der Bühne und schon zum König gekrönt, du hast noch nie halbe Sachen gemacht“, lachte der Clown, auch weil es Phantomon ebenso wenig gefiel, wie dieser das Digimon fixierte, auf das er und seine Kameraden so lange gewartet haben.

„Was willst du von unserem Meister?“

„Ich will ihm nur gratulieren. Ein Wiedersehen und eine Krönung gleich einer Auferstehung muss gefeiert werden!“

Der Clown klatschte in die Hände, er erzeugte dabei violetten Rauch. Als dieser Rauch dünner und dann gänzlich verschwunden war, hielt der Clown eine Torte in der Hand, ertränkt in rosa Zuckerguss und statt Kerzen mit einer Bombe, mit einem breiten, roten Grinsen, aber Kreuzen statt Augen.

Er holte weit aus und warf der Gruppe Digimon die Torte samt brennender Lunte entgegen. Noch im Flug explodierte sie, statt Biskuit und Glasur flogen spitze und dicke Nadeln heraus.

Die Devidramon hoben ihre Flügel, um sich, aber in erste Linie ihren Rudelführer zu beschützen, Phantomon, aus gleicher Motivation heraus schwebte nun vor seinem Meister. Nur Myotismon blieb stehen und ließ die Nadeln auf sich zukommen. Langsam hob er die Hand und ehe die Devidramon, noch Phantomon Schaden zugefügt werden konnte, prallten die spitzen Geschosse – teils noch mit Kuchenresten beschmiert – an einer unsichtbaren Wand ab oder lösten sich sofort in ihre Einzeldaten auf.

Jijimons Kampftraining und Babamons Bücher hatten sich endlich voll ausgezahlt. Diese zottlige wie verwirrte Digimon hatte in einem Punkt tatsächlich mal mit etwas Recht gehabt. 

„Die Zuschauer scheinen nicht begeistert von meiner Show zu sein“, sagte der Clown, gleichzeitig fröhlich wie traurig. Er schwebte und tänzelte in der Luft, den bewusstlosen Puppetmon unter den Arm geklemmt.

„Ein Jammer auch, gutes Publikum zu finden wird immer schwerer.“

„Lass die albernen Späße -“, sagte Myotismon erbost. „- und zeige gefälligst dein wahres Gesicht.“

„Du erkennst also wirklich keinen von uns? Wenn Alice nur wüsste, was der Schwarze König von sich gibt, hi, hi, hi...“

Ein leises Fingerschnipsen ging im Heulen einer Windböe unter. Der blasse Anzug wurde davon geweht und durch kräftiges Rot und Grün ausgewechselt. Das bemalte Gesicht durch eine Maske über den Augen ersetzt.

Phantomon atmete einmal und nervös nach Luft, als der Anführer der Meister der Dunkelheit sich vor ihnen zu erkennen gab.

Myotismon kannte dieses Digimon. Nicht diese Art Digimon, sondern genau dieses eine Digimon, genau dieses blutrote Lächeln und genau diesen Blick, tosend wie ein Orkan.

Piedmons Lächeln wurde immer breiter.

„Alles Gute zum Nicht-Geburtstag, Eure Majestät.“

Im Abgrund brach ein Schneesturm aus.

 
 

♯𝅝
 

Im Vergleich zu seinem geistigen Dahinschwinden war Myotismons Erwachen sehr plötzlich. Noch darüber am grübeln, was er geträumt hatte, stützte er sich mit seinem Ellenbogen ab, um zumindest seinen Oberkörper aufrichten zu können. Passanten liefen an ihm vorbei, aber sie bemerkten ihn nicht. Kein Wunder, er lag mehr oder weniger gut verborgen zwischen den Büschen.

Wie war er dahin gekommen? Mantel und Hut trug er noch, aber sie waren überseht mit gelb verfärbten Blättern und vertrockneten Gras. Im schwarzen Band des Fedoras hatte sich ein Zweig mit Hagebutten verfangen, den Myotismon augenblicklich von seinem Hut trennte und wegwarf. Er fragte sich, ob er das selbst war, aber das konnte nicht sein. Genauso wenig wie er sich an diese Stelle manövriert hatte. An eine recht sonnige Stelle, wie er feststellen musste.

Ihm war noch immer schwindlig, als er sich auf seine Beine stellte. Weit kam er nicht, es waren nur wenige Schritte gewesen, die er sich fortbewegte. Aber er war aus der Sonne heraus und saß im Schatten eines Baumes, an dessen Stamm er sich lehnte.

Er sah den Blättern zu, die sich hin und her bewegten und stellte sich selbst noch einmal die gleiche Frage.

(Was ist passiert wie kam ich hierher ich stand in der Nähe der Schaukel und)

Wo war das Mädchen eigentlich? Myotismon sah sich um, aber das Mädchen, dass er als das achte Kind vermutete sah er nicht. Nichts deutete auch nur annähernd auf ihren Verbleib hin. Vermutlich hatte sie das Weite gesucht. Oder hatte er sie doch getötet, wie geplant? Unwahrscheinlich und die geringe Menge an Passanten, die vom Weg unten am Meer bisher an ihm vorbeigelaufen waren, wären nicht so gelassen weiter ihres Weges gegangen und hätten ihn ignoriert, wie (mehr oder weniger) gut er auch versteckt war. Hoffentlich hatte ihn wirklich keiner hier liegen sehen. Und noch schlimmer, hoffentlich hatte ihn keiner gesehen und für jemanden ohne Obdach gehalten. Die Vorstellung allein und die Schmach, jemand hätte das über ihn denken können, egal ob Mensch oder Digimon...

Aber es war ruhig. Angenehm ruhig, wenn das Echo in seinem Kopf nicht wäre, das komischerweise wie Jijimon klang.

(Oh du bist aufgewacht)

Er fasste sich auf die Stirn. Kurz stellte er sich vor, Tinkermon hätte ihn wieder gefunden, so wie damals und begann innerlich sich über diesen Gedanken lustig zumachen. Wenn Tinkermon - Nein, wenn Sanzomon ihn hier gefunden hätte, hätte sie etwas ganz anderes mit ihm gemacht und Hilfe wäre es nicht gewesen.

„...Siebzehn, Achtzehn...“

Myotismon fuhr zusammen, da er wirklich erst dachte, es wäre Tinkermons Stimme gewesen. Aber nein, es war tatsächlich das Mädchen, jenes blinde Mädchen, von dem Myotismon immer noch nicht wusste, wer oder was sie war.

„ ...Neunzehn, Zwanzig, Einundzwanzig...“

Mit langsamen Schritten nährte sie sich ihm. Sie lief nicht, sie setzte nur einen Fuß vor den anderen und es sah komisch aus. In einer Hand hielt sie eine Flasche, in der anderen ihr Digivice, das mit den Takt ihrer Schritte leise mechanische Geräusche von sich gab.

„… Zweiundzwanzig.“

Dann blieb sie stehen, genau vor dem Fleck, auf dem Myotismon selbst noch gelegen hatte, man sah sogar noch den Abdruck im Gras. Sie ging in die Hocke und tastete den Boden ab und wurde sichtlich nervös, als sie nur Erde und Pflanzen fand.

„Hä? Er ist nicht hier? Habe ich mich verzählt? Hätte ich doch rechts laufen sollen, statt links?“

Nachdenklich warf sie den Kopf erst auf die eine Seite, dann auf die andere.

„Aber die Reihenfolge war doch richtig. Zweiundzwanzig, zehn, sieben, sechzehn in umgekehrt. Oder sieben und zehn doch nicht umgekehrt?“, murmelte sie weiter und ließ den Kopf schließlich hängen. „Ich wusste, man kann Dinge verlegen, aber Personen? Oder ist er doch zu Staub zerfallen? Oh Nein, er war doch zu lange in der Sonne. Der Arme...“

„Du suchst nicht zufällig mich?“

Sie hob rasch den Kopf und schien zu überlegen, wo die Stimme hergekommen war. Für einen Moment sah es aus, als wollte sie weinen, aber es hatte sich sofort gelegt. Sie hatte sich schnell orientiert und drehte den Kopf in die Richtung, in der sie Myotismon vermutete.

„Oh, da bist du“ , sagte sie, lächelte, wenn auch etwas schüchtern, stand wieder auf und tauschte ihr Digivice gegen ihren Blindenstab aus, den sie als Hilfsmittel benutzte, um ihre Umgebung zu untersuchen. Mit den Stab fand sie ihn schließlich, als sie damit sein rechtes Bein berührte, dass Myotismon von sich streckte, das andere blieb angewinkelt.

„Wieso bist du nicht an dem Fleck, wo ich dich liegen gelassen habe? Wenn du bewusstlos gewesen wärst, hätte ich vielleicht den ganzen Weg noch mal laufen müssen. Oder ich hätte dich gar nicht gefunden.“

Sie tastete den Rasen um sich herum ab, dann setzt sich neben ihn auf die Knie. Etwas ungläubig sah Myotismon in ihr starres, aber fröhliches Gesicht und zu dem Berg aus Fragen, der sich angehäuft hatte und schon kurz vorm Überlaufen war gesellten sich noch mehr.

Er könnte auch falsch liegen, aber wenn Myotismon sich richtig erinnerte, hatte er nicht versucht sie in den Nacken zu beißen? Obwohl er das Blut jüngerer Digimon verschmähte, da es seiner Meinung nach entsetzlich schmeckte und davon ausging, dass es bei jüngeren Menschen nicht anders war, hatte der Hunger über ihn gesiegt. In der Not fraß der Teufel eben Fliegen. Dann ist diese Melodie auf einmal aus dem Digivice ertönt und dann wusste er nichts mehr. Er hatte es nicht geschafft sie zu beißen, ihr Hals war unversehrt, wie er nun sah.

Geräuschlos hob Myotismon seinen Arm und wedelte langsam mit der Hand vor ihrem Gesicht herum. Der Schatten, den seine Hand auf ihre rosa Wangen und Lippen und die kleine Nase warf bewegten sich mit ihm und das war auch das Einzige. Ihr Gesicht blieb vollkommen regungslos. Ihre hellblauen Augen blickten nur geradeaus. Ihre Pupillen fixierten nichts. Sie war wirklich blind.

Genauso langsam nahm Myotismon die Hand runter. Gut, sie war also blind. Dennoch, irgendwas musste sie mitbekommen haben. Sie musste doch gemerkt haben, dass sie fast als Mahlzeit geendet wäre. Warum war sie also so freundlich und ruhig?

„Hier. Für dich.“

Weiterhin zierte ein schüchternes Lächeln ihre Lippen, als sie Myotismon eine Flasche vorhielt. Was immer dieser rote Saft darin war, es sah vom Weiten schon toxisch aus.

„Das ist mit Blutorange, extra für dich. Mit ganz wenig Zucker. Ich wusste nicht, was ich holen sollte. Die Vampire im Fernsehen trinken immer Tomatensaft, aber den gab es nicht.“

Bei dem Gedanken an dieses widerliche Zeug, drehte sich ihm der Magen um. Andererseits war es vielleicht besser die Geste anzunehmen, solange Myotismon sich noch nicht ganz im Klaren war, wie das Mädchen zu ihm stand. Und sie wusste also doch, was er war. Indirekt. Vermutlich wusste sie auch, was ihr fast widerfahren wäre. Wieso also dieses doch ungewöhnliche Verhalten?

Skeptisch nahm er die Flasche entgegen, ließ dieses Mädchen aber nicht eine Sekunde aus den Augen. Die Flasche zischte leise beim Öffnen und es kostete Myotismon einiges an Überwindung, auch nur etwas davon zu trinken. Zu einem kurzen Schluck konnte er sich dann doch entrinnen und bereute es im selbigen Moment. Dieses Zeug war so entsetzlich süß, dass es auf der Zungen einen ekelhaft pelzigen Geschmack hinterließ. Wenn das die Variante mit ganz wenig Zucker war, wollte er die mit Zucker gar nicht erst in seine bloße Nähe kommen lassen.

„Dir schmeckt es nicht, oder, Onkelchen?“, fragte sie zurückhaltend.

„Nur weil es Blutorange heißt, heißt dass nicht, dass es Blut ersetzen kann.“

Zu einem Schluck konnte Myotismon sich noch zwingen. Der Geschmack war entsetzlich, aber es war kühl. Der Teufel fraß in der Not also nicht nur Fliegen, sondern auch so was.

„Geht es dir wieder besser? Du bist einfach umgefallen und weil ich nicht wusste, was ich machen sollte, habe ich versucht dich etwas zur Seite zu drehen, damit du im Gebüsch landest und habe dich mit Blättern abgedeckt. So gut es eben ging. Du warst ganz schön schwer und es hat ewig gedauert. Ein Wunder, dass in der ganzen Zeit keiner kam.“

Tatsächlich musste Myotismon feststellen, dass die Schaukel, auf der sie zuvor noch gesessen und Lieder geträllert hatte keine drei Meter entfernt stand. An ihren Kniestrümpfen hingen noch Reste von trockener Erde und Gras, zwischen und auf der Innenseite ihren Fingern sah man, dass die Haut etwas gerissen war.

„Ich dachte, du bist vielleicht umgefallen, weil du lange nichts mehr gegessen hast. Dann hab ich den Blutorangensaft geholt.“

„Dann hast du also bemerkt, was ich vorhatte?“, fragte Myotismon, immer noch deutlich ungläubig und sie nickte.

„Mhmm. Ich hab deinen Atem am Hals gespürt. Und dafür, dass du so dick angezogen bist, sind deine Hände eiskalt.“

„Fürchtest du dich nicht?“

„Uh-uhmm.“

Ein leichtes Kopfschütteln, die schulterlangen Haare bewegten sich mit.

„Wieso nicht?“

„Ich habe keine Angst vor Vampiren. Ich habe Dracula gelesen. Vielleicht kennst du ihn, das ist eine Horrorfigur aus einem Buch.“

Der Name sagte Myotismon nichts, aber er tippte darauf, dass das ebenfalls ein Artgenosse war, wie der Vampir vom Kinoplakat.

„Das beantwortet meine Frage aber nicht ganz.“

„Ich dachte mir, dass du einfach Hunger hattest. Ziemlich großen sogar, wenn du selbst bei Tag unterwegs bist. Und ich dachte auch, wenn ich was ähnliches finde, würde es dir wieder gut gehen.“

Er musste gestehen, ihm ging es wirklich etwas besser. Zwar hielt er diesen Saft mehr für giftig als wirklich sättigend, aber es hatte etwas bewirkt, was sich auf seinen Zustand und seine Laune positiv auswirkte. Rotwein wäre ihm jedoch als Alternative lieber gewesen.

„Wenn du mitbekommen hast, was fast geschehen wäre, wieso bist du dann noch hier? Wieso hast du keine Angst?“

„Wieso?“

Fragend hob sie eine Augenbraue. Ihr Gesicht schaute zwar in seine Richtung, aber ihre Augen sahen ihn nicht an. Wie auf dem Friedhof in Minato zuvor, blickte sie nur nach vorne und es wirkte beinah, als wären ihre Augen nicht echt. Würde das Mädchen nicht hin und wieder blinzeln, könnte man auf den Gedanken kommen, sie wäre eine unheimliche Porzellanpuppe.

„Du hattest doch nur Hunger. Und wenn man Hunger hat muss man was essen. Du bist zwar ein Vampir und trinkst Blut, aber deswegen denke ich nicht schlecht von dir. Außerdem muss man dreimal von einem Vampir gebissen werden und sein Blut trinken, bevor man sich verwandelt, weißt doch jeder.“

„Und wer sagt, dass ich dich nicht ausgesaugt hätte, wenn es mir wieder besser gegangen wäre? Mehrmals? Und dich dann mitgenommen hätte?“

„Dann wärst du ziemlich dämlich. Schließlich sind Vampire bei Tag nicht so mächtig wie nachts. Du müsstest echt bescheuert sein, wenn du riskieren würdest bei Tag ein Opfer heimzusuchen.“

Die Kleine sagte das in einer solch trockenen Art, dass es irgendwo schon amüsant war. Myotismon musste wirklich bescheuert sein, wenn man ihm nicht einmal zutraute, dass er am Tage sein Versteck verließ. Freiwillig. Vermutlich hätte er sich selbst ebenfalls als bescheuert bezeichnet, hätte jemand ihm vorher diese Geschichte erzählt.

Und Myotismon wusste so, dass sie nicht wusste, dass er der Angreifer ihrer Mutter war.

„Dann muss ich dir wohl danken“, sagte er zu ihr, wenn Myotismon sich zu diesen Worten dennoch zwingen musste, und sie lächelte. Als er sich schließlich erhob, verschwand es wieder.

„Gehst du wieder weg?“

Er gab ihr keine Antwort, was sie noch mehr verwirrte.

„Ist dir immer noch nicht gut, Onkelchen?“

„Du könntest aufhören, mich Onkelchen zu nennen.“

„Und wie dann? Du hast dich nicht vorgestellt.“

Während nun auch sie sich ebenso aufrichtete und den Schmutz von ihr Kleidung klopfte, erinnerte sich Myotismon wieder an die versteckten Karten. Dass sie ein Digiritter sein könnte war noch nicht ganz ausgeschlossen. Vielmehr sprach nun mehr dafür als dagegen, schließlich hatte das Licht des Digivices sie beschützt. Es könnte sein, dass sie wirklich dachte, das Digivice wäre eine normale Uhr und ihr Amulett simpler Schmuck. Aber war es auch so? Vielleicht kannte sie die anderen Digiritter bereits und hatten sie vor ihm gewarnt.

Es wäre also vorerst besser, weiterhin auch verdeckt zu spielen.

„Weißt du was. Nenne mich ruhig weiter so, wenn es dich glücklich macht.“

Es war nicht ihre erhoffte Antwort, ihr darauffolgendes „Na gut“ sagte dies deutlich aus.

„Und willst du nun gehen, Onkelchen? Ist dein Versteck weit von hier fort? Darf ich dich begleiten?“

„Bleib bloß weg von mir.“

Sie war einen Schritt auf ihn zu gegangen, aber nachdem Myotismon sie mit harschen Ton abwies blieb sie erschrocken stehen.

„Ich will nicht riskieren, dass deine Uhr wieder anfängt zu spielen. Diese Musik schmerzt in meinen Ohren.“

„Gut. Also, Musik aus Spieluhren tut Vampiren in den Ohren weh. Ich merke es mir.“

Mit den Armen hinterm Rücken blieb sie stehen, rätselnd, verwirrt und wartend, ob er noch etwas sagen würde, traute sich nicht selbst etwas zu sagen, obwohl Myotismon ihr ansah, dass sie über etwas nachdachte. Dann, als sie lange schwiegen, platzte es doch aus ihr heraus.

„Warum interessiert sich ein Vampir überhaupt für eine Spieluhr und eine Kette?“

„Das sind private Angelegenheiten. Und ich bin kein Vampir. Ich bin ein Digimon.“

„Ein Digimon?“

Die Verwunderung in ihrem Puppen-Gesicht und in der Stimme schien so echt, dass sie das niemals hätte vortäuschen können. Wusste sie es tatsächlich nicht? Wie merkwürdig das alles war.

Da erst fiel Myotismon auf, dass er in der Nähe dieses Mädchens kein anderes Digimon gesehen hatte, das als potenzieller Partner in Frage gekommen wäre. Hatte sie überhaupt einen? Vermutlich nicht, denn hätte sie einen, hätte dieser sie in Anbetracht der aktuellen Lage niemals alleine gelassen.

„Sag schon, Onkelchen, was ist ein Digimon? Bist du vielleicht zusammen mit diesem Monstern gekommen, von denen so viel im Fernsehen gesprochen wird? Gehören die zu dir? Sind das auch Digimon?“

„Du stellst ziemlich viele Fragen, junge Dame.“

„Du hast vorhin auch viel gefragt. Warum -?“

Sie schrak auf und klatsche mit einer Hand auf ihren Mund. Zwei fremde Jungen, einer mit einem Ball in der Hand, der andere mit einem Walk Man liefen den Weg, entlang der Meeresseite und der Bäume, hinten denen sie beide standen, entlang. Sie lachten und blödelten herum, hatten aber weder Myotismon, noch sie bemerkt.

„Haben die dich gesehen?“, fragte sie aufgeregt.

„Ich glaube nicht.“

„Werden die Leute dir was antun, wenn sie dich finden? Sie sagen im Fernseher, dass ihr gefährlich seid.“

„Ehrlich gesagt, weiß ich es nicht. Und ich möchte das auch nicht herausfinden.“

Auch wenn sein Desinteresse deutlich war, erschien wieder dieser Hauch von Besorgnis in ihrem Gesicht. Gleichzeitig auch, dass irgendein, vermutlich absurder Gedanke, in ihrem Kopf Form annahm. Man konnte regelrecht sehen, wie sich die Zahnräder bewegten.

„Ich habe da eine Idee. Wo schaut man zum Meer?“

Statt zu antworten, packte Myotismon das Mädchen an ihren Schultern und drehte ihren ganzen Körper solange im Uhrzeigersinn, bis sie dem Meer zugewandt stand.

„Und auf, ähm, Zehn Uhr, da ist eine große Baustelle, richtig?“

Er zog den Fedora tiefer ins Gesicht, um nicht von der Sonne geblendet zu werden. Tatsächlich sah Myotismon zwischen den Bäumen, gar nicht mal so weit weg von ihnen die Absperrung, bestehend aus aufgestellten Drahtwänden und Holzpaletten und dahinter das Gerüst aus Stahl, dass nur bedingt mit Stein eingekleidet war.

„Die bauen da schon ewig. Mein Nachbar arbeitet am Bau mit und hat gesagt, die Arbeiter streiten sich. Ich glaube wegen Geld, deswegen machen sie da momentan auch nichts. Da findet dich keiner und du kannst dich ausruhen, bis Nacht ist.“

„Wieso erzählst du mir das?“

Es mag an der Gewohnheit liegen, dass man Leute eben ansah wenn man mit ihnen sprach, darum drehte Myotismon, diesmal gegen den Uhrzeigersinn das Mädchen wieder zu sich.

„Ich lehne freundliche Gesten zwar nicht ab, aber so viel Freundlichkeit auf einmal ist doch überaus fragwürdig. Findest du nicht auch, junge Dame?“

„Yukino.“

Sie wartete kurz, wohl um abzuwarten, ob er verärgert war, weil sie ihm ins Wort gefallen war.

Sie legte ihre Hände ineinander und verbeugte sich etwas.

„Ich heiße Yukino. Du kannst aber auch nur Yuki sagen, Onkelchen. Wenn das in Ordnung ist, natürlich.“

„Ich werde es mir merken“, antwortete Myotismon zwar, aber irgendwas störte ihn. Es störte ihn sogar sehr, aber er konnte nicht sagen was es war. Die ganze Existenz dieses Mädchens störte ihn, nicht nur weil sie Dinge besaß, die sie nicht besitzen sollte.

„Nun, Yukino. Woher also diese Freundlichkeit?“

„Du warst doch an meiner Spieluhr und meiner Kette interessiert. Und ich weiß, du hast noch mehr Fragen hast, sonst wärst du sicher schon gegangen. Da habe ich doch Recht, oder Onkelchen?“

Nie im Leben wusste sie das. Sie hatte nur geraten. Nein, sie hatte nicht geraten, sie bluffte. Aber sie bluffte gut. Hatte sie sich das wirklich zusammengereimt oder hatte ihn etwas verraten?

„Sagen wir, es ist so, junge Dame - Was nützt dir das?“

„Ganz einfach. Ich weiß vielleicht Dinge, die du wissen möchtest, und du weißt vielleicht Dinge, die ich wissen möchte. Ich mag Vampire, weißt du? Und alle sagen immer Vampire gibts gar nicht. Und jetzt bist du da. Ich will dich nur ein bisschen besser kennenlernen.“

Das kleine Mädchen genierte sich offenbar, darum senkte sie ihren Kopf so tief wie möglich. Myotismon fiel nichts ein, was er wissen könnte, was für ein Menschenkind wie sie von Belangen wäre, aber er hörte zu.

„Machen wir ein Spiel daraus. Du fragst mich etwas, und ich antwortete dir ganz ehrlich und umgekehrt. Ich helfe dir und als Gegenleistung spielst du einfach mit mir. So wie Wahrheit oder Pflicht. Nur ohne Pflicht. Und ohne Flaschendrehen.“

Sie bluffte nicht nur, schoss es Myotismon durch den Kopf, sie spielte mit verdeckten Karten, was ihn zwar nervte, sie aber schon fast sympathisch machte. Ihre Erklärung, dass das der Grund ihres Sinneswandels sei befriedigte ihn nicht wirklich, aber er müsste sich selbst anlügen, würde er behaupten dass dieses Spiel ihn nicht reizen würde und ihm doch recht günstig kam. Wenn er sie weder hypnotisieren, noch beißen konnte, musste er eben über Umwege zu seinen Antworten kommen.

Wenn sie wirklich keine Ahnung haben sollte, könnte Myotismon sie ganz leicht aushorchen und das direkt vor ihrer Nase. Vielleicht wusste sie ja doch etwas, was ihm helfen könnte das achte Kind zu finden.

„Also gut, wenn du spielen willst, spielen wir eben.“

Er konnte froh sein, dass dieses Mädchen, dass ihm ein Lächeln schenkte seines nicht sehen konnte. Zwar klang er freundlich, aber Myotismon konnte sich sein eigenes Lächeln zu gut vorstellen, eines, dass jedes andere Gegenüber, dass noch Herr seiner Sehfähigkeit war das Fürchten gelehrt hätte.

„Ich wusste, du bist nicht so miesepetrig, wie du klingst. Komm, bevor dich doch jemand sieht.“

Ein Schatten flog über Myotismon hinweg, während sie ihren Blindenstab fest in die Hand nahm. Doch als er hoch blickte, war da nichts mehr. Nur vereinzelte Wolken schwebten am Himmel, aber nichts was solch einen Schatten hätte werfen können. Es hätte ein Vogel sein können. Es hätte aber auch einer seiner Soldaten sein können.

Wenn es so war, durften sie ihn hier nicht finden und dieses Mädchen schon gar nicht. Solange Myotismon nicht wusste, wer dieses Kind war, war es besser wenn niemand von ihr erfuhr. Sie vertraute ihm, warum auch immer und das musste er nutzen. Solange zumindest, bis sie ihren Dienst erfüllt hätte und er sie fortschicken oder töten konnte.

„Wenn du erlaubst?“

Zwar fragte er, aber Myotismon wartete nicht, bis das Mädchen ihm geantwortet hatte und packte sie unter den Arm. Bis sie sich mit ihrem Stöckchen auch nur in die Nähe ihres tollen Spontan-Verstecks vorgearbeitet hätte, hätte die halbe Stadt sie schon gemerkten können.

Immer mehr Menschen, vereinzelt oder in kleinen Gruppen kamen in den Mizuno Hiroba Park, liefen aber in die entgegen gesetzten Richtungen oder waren zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um einen dubiosen Kerl mit langen Mantel zu bemerken, der unter dem Schatten von Bäumen entlang lief und ein Kind unter dem Arm hatte. Beide standen schließlich vor der Zaundraht überzogenen Tür, die die Bauarbeiter um die ganze Baustelle herum aufgebaut hatten, um den Bereich abzusperren. Das Schild KEIN ZUTRITT FÜR UNBEFUGTE war mit Grafitti und anzüglichen Sprüchen verschmiert worden. Die Tür selbst war aber nicht versperrt.

„Warte mal, Onkelchen. Kannst du überhaupt da durch?“, fragte sie, als er schon dabei war die Tür aufzuschieben.

„Warum sollte ich nicht?“

„Na, weil Vampire nicht über die Türschwelle können.“

Myotismon blinzelte einmal, sah das Kind an, dann die Tür und dann wieder zu ihr.

„Das ist ein Zaun!“

„Aber mit einer Tür. Also hat es auch eine Türschwelle und Vampire können nicht über Türschwellen.“

„Ich bin ein Digimon.“

„Du benimmst dich aber wie ein Vampir. Ein Vampir, der nicht über Türschwellen kann. Oder doch, Onkelchen?“

Myotismon musste inne halten und überlegte. Überlegte, wie die Zeit war, als er den Waste Land Cemetery mit seiner Anhängerschaft verließ und mit ihnen nördlich von Data Valley umherzog?

Er besuchte ausreichend kuriose Orte und dann dachte er nach, ob er je Probleme mit Türschwellen gab und stellte schließlich fest, dass er nie wirklich darauf geachtet hatte. Wenn es Probleme dieser Art gab, hing das mehr mit altertümlichen Bräuchen zusammen, wie Knoblauchblüten vor der Türe (bei allen finsteren Mächten, er hasste dieses Unkraut schon als Rookie).

Phantomon kannte sich da sehr gut aus, er hatte in der Vergangenheit schon andere Myotismon gesehen oder von ihnen gehört. Das Dinge wie Sonnenlicht und die Nahrungsbeschaffung Probleme für Digimon wie ihn darstellen konnten wusste Myotismon Dank diversen Erzählungen Jijimons schon zuvor. Phantomon klärte ihm nach seiner Ultra-Digitaton zusätzlich auf, dass unterschiedliche Myotismon durchaus gleiche Begabungen und Einschränkungen besaßen, der Grad dieser sich aber individuell unterscheiden kann.

„Dann tue das, was du für richtig erdenkst“, sagte er und setzte sie ab. Vorsichtig tastete sie die Tür ab. Mit wenig Kraft ging diese auf, sie quietschte entsetzlich dabei, dann ging das Mädchen einen Schritt hinein. Sie hielt Myotismon die Tür auf.

„Komm ruhig herein.“

Auch das, so hoffte er, hatte niemand gesehen. Myotismon warf kurz einen Blick über die Schultern, ging, nachdem er das Mädchen wieder unter den Arm packte, durch den Eingang und durch einen Vorhang einer Plastikplane.

Sie hatte Recht gehabt, es sah nicht aus, als wäre hier jemand in näherer Zeit überhaupt hier gewesen. Auf den Kabeln und Seilen, die auf dem Boden herumlagen lag weißlicher Staub und das, was nicht verstaubt war, war von abgefallenen Blättern verdeckt und gaukelten vor, der Herbst hätte schon begonnen.

Das Konstrukt aus Stahl und Stein sollte zwei Stockwerke haben, doch die Decke und Zwischendecke war offen, dass noch genug Tageslicht hineinfiel, doch waren die Plastikplanen so hoch aufgestellt, dass Myotismon kein direktes Sonnenlicht befürchten musste. Der Keller jedoch stand komplett unter Wasser, wie man in einem Loch im halbfertigen Boden sehen konnte.

Ehe Myotismon sich auf ein paar Stahlträger setzte, die nicht so verstaubt waren wie der Rest, stellte er das Mädchen wieder auf ihre eigenen Füße. Doch anders wie Myotismon blieb sie stehen. Sie schien zu spüren, dass er sie direkt ansah, schien nervös und fummelte kurz an ihren Haarspangen herum, zwei schlichte in ihrem Pony, zwei über dem linken Ohr, eine rosa Blume und ein blauer Schmetterling, die sie fester hinter die Haarsträhnen klemmte.

„Ist das in Ordnung hier?“, fragte sie, sie verschränkte wieder die Arme hinter den Rücken.

„Es ist zumindest ausreichend. Also noch einmal, junge Damen -“

Er hielt inne, als sich ihr Gesicht minimal bei junge Dame verzog.

„Also, Yukino... Wo hast du deine Spieluhr und deine Kette her?“

„Ich habe sie von Papa bekommen. Nun, eigentlich hat Mama sie mir gegeben, nachdem Papa gestorben ist und ich nicht wollte, dass sie es wegwirft oder verkauft.“

„Und woher -“

Aber bevor er weiter fragen konnte, fiel sie ihm ins Wort.

„Erst bin ich dran.“

Das sagte sie zwar, als würde sie vor Spannung platzen, dabei überlegte sie ziemlich lange, bis sie ihren Zug machte.

„Du hast gesagt, du wärst ein Digimon. Und diese anderen Monster. Aber was ist eigentlich ein Digimon?“

Myotismon wartete mit seiner Antwort und versuchte irgendwas in ihrer Gestik zu erkennen, dass ihm verriet, ob sie wirklich fragte, weil sie es nicht wusste, oder so tat. Zwar war er sich schon einig, dass man so viel Ahnungslosigkeit nicht angemessen schauspielern könnte, aber die Skepsis war größer.

Mit dem Digivice und dem Wappen war dieses Nicht-Wissen einfach so unglaubwürdig.

„Eigentlich sind wir digitale Monster. Aber Digimon ist die geläufigere Bezeichnung.“

„Digital? Das klingt, als kommt ihr aus einem Computer. Kommt ihr etwa aus einem Computer?“

„Hast du deine eigenen Spielregeln vergessen?“, schimpfte er und sie klatschte erneut beide Hände vor den Mund.

„Entschuldigung, Onkelchen. Das war unhöflich.“

Beschämt ließ sie die Mundwinkel sinken, aber Myotismon ignorierte ihre Scham.

„Wo hat dein Vater die Uhr und die Kette her?“

„Das hat er nie wirklich erklärt. Er hat nur einmal erzählt, er wäre mit Freunden in einem gaaaaanz weit entfernten Land gewesen. Und da hätte er das bekommen und diese Dinge wären sehr, sehr wichtig. Aber ich glaube, die Uhr ist kaputt.“

Sie griff nach ihrem Digivice, dass an ihrer Gürtelschlaufe hing, schüttelte es etwas und hielt es sich dabei an ihr Ohr. Nichts.

„Als Papa noch gelebt hat, hat es öfter Musik gespielt. Papa hat als Kind Klavier gespielt, weißt du? Die Melodie ist aber nur ein kleiner Teil von einem ziemlich langen Musikstück…. Hat er gesagt.“

Ein wenig Angst, dass sich das Licht des Digivices wieder aktiviert bekam Myotismon schon, als sie damit vor seinem Gesicht rumspielte. Er wollte sich nicht vorstellen was passieren könnte, sollte er wieder wegen eines solchen Zwischenfalles seine Kräfte verlieren.

„Warum interessiert dich das so sehr, Onkelchen?“, fragte sie, mit großen, neugierigen Augen. Ihr Digivice hing wieder an ihrer Trägerhose, wo es vorerst keinen Ärger machen konnte.

„Ich bin auf der Suche nach jemanden.“

„D-Du suchst jemanden?“

Schlagartig war ihre Vorsicht und die Distanz verschwunden, sie sprang regelrecht auf ihn zu und klammerte sich dabei an Myotismons Mantel. Sie zitterte, aber nicht vor Angst. Ihre Augen waren weit aufgerissen und es kam einem nicht nur so vor, sie schien, wie immer das gehen sollte, wirklich in Myotismons Augen zu blicken. Ihr Griff in den Mantelstoff wurde fester, das Zittern ließ jedoch nach.

„Ja. Ich suche denjenigen, dem die Kette gehört, die ich dir vorhin gegeben habe. Du weißt, die wie aussieht wie deine? Diese Person müsste auch so eine Uhr wie du haben.“

Auch diesmal war es nicht das, was das Mädchen hören wollte, doch diesmal war sie nicht erbost, sondern enttäuscht.

„Ach so...“, sagte sie nur, sehr leise, fast traurig murmelnd und der Elan in ihren Augen war damit verschwunden.

„Du kennst nicht zufällig jemanden, auf den das zutreffen könnte? Es ist ziemlich wichtig, dass ich denjenigen finde.“

Dass Myotismon jedoch nicht vor hatte, demjenigen das Wappen zu geben behielt er für sich.

Sie schüttelte, immer noch enttäuscht den Kopf und Myotismon bereute seine Antwort. Ihre Enttäuschung machte für ihn keinen Sinn, aber es hatte etwas von ihrer Redefreudigkeit eingebüßt. Zu gerne hätte er ja gewusst, was sie dachte, aber keine der Fähigkeiten, die er durch seine Ultra-Digitation erhalten oder von Jijimon und Babamon erlernt hatte, würden bei ihr wirkungsvoll sein. Ihre Blindheit hatte für ihn leider nicht nur Vorteile.

„Wie hast du das eigentlich vorhin gemacht, Onkelchen?“

„Was meinst du?“

„Wie hast du meine Uhr zum Spielen gebracht?“

Er lehnte sich etwas nach vorn, um in ihr gesenktes Gesicht schauen zu können. Sie sah nicht mehr ganz so enttäuscht aus. Aufgeregt, aber nicht nervös.

„Verzeih, aber ich habe gar nichts gemacht.“

„Das kann aber nicht sein“, sagte sie mit unterdrückter Stimme. „Ich versuche es schon seit vier Jahren und es hat sich nie etwas getan. Aber kaum treffe ich dich, spielt sie wieder. Bist du vielleicht an irgendeinen Knopf gekommen? Bitte denk nach.“

Es mag mehr ein Versehen gewesen sein, als sie ihre Hand im Affekt in seine Richtung ausstreckte und dabei seine Hand traf, die sie auch sofort mit ihren beiden festhielt. Ihre zwei kleinen Hände um seine eigene war ein merkwürdiges Gefühl. Myotismon erwiderte die Geste nicht, nahm aber seine Hand auch nicht fort.

Er musste an Sanzomon denken.

„Ich bleibe dabei, ich selbst habe damit nichts zu tun.“

Erneut die falsche Antwort. Nicht nur Enttäuschung, nun sah es sogar aus, als wäre sie traurig. Die unsichtbaren Zahnräder in ihrem Kopf drehten sich noch fleißig, aber sie waren langsamer geworden, mit ihrer Motorik, da sie sich ebenso langsam auf den Boden setzte. Ihr rechten Bein baumelte an der Bodenkante, in die man in den überfluteten Keller sehen konnte und dass zwischen dem Erdgeschoss und dem Wasserspiegel nicht mal ein Meter Zwischenraum lag. Myotismon erwischte sich dabei, dass er ihr schon sagen wollte, dass sie aufpassen solle, dass sie nicht hineinfiel und nun war es seine Hand, in der immer noch ihre eigene lag, die fester zupackte.

Seine Antwort hatte sie nicht zufrieden gestimmt, aber es hatte keinen Einfluss auf ihr Vertrauen zu ihm gehabt, sonst hätte sie losgelassen. Ein Vertrauen, von dem Myotismon nicht verstand wie es überhaupt entstehen konnte. Vielleicht war es auch kein Vertrauen, sondern schlichter Irrsinn. Davon hatten Kinder bekanntlich sehr viel und sie hatte wohl eine Extraportion davon, ansonsten würde sie sich kaum auf ihn einlassen, wenn sie denn - angeblich - eine grobe Vorstellung davon hatte was er war.

Ja, es war Irrsinn. Sehr sicher. Zumal dieses Kind nicht das erste irrsinnige Wesen war, dass sich an ihn klammerte. Aber solange dieser Irrsinn da war, konnte er es nutzen. Vielleicht musste er noch verdeckter und gleichzeitig offener spielen.

„Wie machst du das eigentlich?“

„Was meinst du, Onkelchen?“

Myotismon konnte sich nicht an das Onkelchen gewöhnen, wenn es auch seine eigene Schuld war. Ihre unsichtbaren Zahnräder drehten sich wieder schneller, als sie merkte, dass er sich neben sie gesetzt hatte.

„Deine Tricks. Du bist blind. Und trotzdem besitzt du genug Dreistigkeit, ohne ein Elternteil in der großen Stadt herumzulaufen und dich mit jemanden wie mir anzulegen.“

„Anlegen? Ist das nicht etwas böses? Ich will aber nichts böses machen. Du bist ehrlich. Ich mag Leute, die ehrlich sind und Leute, die ich mag will ich nichts Böses.“

Dazu konnte Myotismon nichts sagen, zumindest nicht sofort. Er überlegte, wie er es schonend erklären konnte, was aber letztendlich aus ihm herauskam war ein Lachen. Ein tiefes, höhnisches und langes Lachen, dass ihm fast die Luft wegblieb. Aber sie nahm es ihm nicht übel.

„Woher willst gerade du wissen, ob ich ehrlich bin? Das ist zu köstlich.“

„Deine Art verrät dich.“

Mit ihrem Satz schien sich ihre gesamte Erscheinung geändert zu haben und sie war so still. Man hörte nur das Meeresrauschen und das Echo des Wassers aus dem Keller unter ihnen. Sie wirkte plötzlich so ernst, aber nicht kühl. Da war ein Leuchten in ihren Augen. Sie war blind, aber ihre Augen waren nicht leer und es störte Myotismon, störte ihn zutiefst.

„Jeder hat etwas an sich, dass einen verrät, wenn man lügt. Wenn man so ist wie ich, fällt es einem eher auf. Ich sehe nur dicken, weißen Nebel, aber ich höre, wenn die Stimme sich verändert. Oder eine Hand kurz zuckt.“

Da wurde ihm klar, dass sie immer noch seine Hand hielt. Doch nicht etwas deswegen? Dieses kleine, hinterhältige Ding...

Aber Myotismon konnte ihre kleine, weiße Hand immer noch nicht loslassen. Nicht weil er an Sanzomon dachte, das tat er ohnehin schon in irgendeinem verborgenen Winkel seines Verstandes. Nicht mal an den Abgrund dachte er. Aber an den Schnee, der dort immer noch hinein fiel. Und an Alice in Wunderland.

„Nichts was du bisher gesagt hast, klang unehrlich. Gruselig bist du schon, Onkelchen. Merkwürdig vielleicht, selbst für einen Vampir. Nein, eher… mehr merkwürdig. Merkerwürdig, das trifft es!“

Während sie überlegte, ob merkerwürdig überhaupt ein Wort war, ächzte Myotismon leise. Sie sah nicht nur so aus, sie klang auch wie Alice. Das musste irgendein schlechter Scherz des Schicksals sein. Oder ein Albtraum.

„Aber du bist nicht unehrlich, deswegen ist das okay.“

„Sagt das Mädchen, dass mich vorhin angelogen hat.“

„Weil ich dachte, du bist ein Kinderentführer“, sagte sie, Schamesröte stieg in ihr Gesicht. Ihre Hand nahm sie wieder zu sich und legte sie beide eng an ihren Körper, während nun beide Beine im Loch hingen. Vielleicht hatte sie gemerkt, dass Myotismon ihren dubiosen Versuch, ihn auf Lügen abzutasten durchschaut hatte. Was sie jedoch nicht gemerkt hatte, war dass er etwas weit Schlimmeres war wie ein Kinderentführer.

„Und du denkst tatsächlich, du kämst so alleine in der Welt zurecht, weil du etwas besser hören kannst? Das ist dein großer Trumpf, junge Dame? Lese lieber weiter deine Märchenbücher, wie immer das auch gehen soll.“

„Es gibt Bücher mit Blindenschrift, die kann ich lesen.“

„Blindenschrift?“, fragte Myotismon ungläubig.

„Ja. Gibt es das in deiner Computerwelt nicht?“, sagte sie überrascht, wartete aber auf keine Antwort. Sie tastete den Boden nach ein paar kleinen Steinen ab und schob sie zu sich. Mit einer Hand fuhr sie ruckartig unsichtbare Linien entlang, mal senkrecht, mal waagerecht und legte hin und wieder einige der kleinen Kiesel auf den Boden, bis sie, mit viel Fantasie ein Muster ergaben.

 

⠠⠽ ⠥ ⠅ ⠊
 

„Was ist das?“

„Mein Name. In Blindenschrift. Hoffe ich zumindest. Ich dachte, wenn du das siehst nennst du mich auch endlich mal bei meinem Namen.“

„Du bist überaus unverschämt für ein kleines Mädchen“, antwortete Myotismon ihr, doch obwohl er etwas verärgert klang, schreckte sie diesmal nicht zurück.

„Mama und Papa haben gesagt, wenn man ein Handicap hat muss man manchmal unverschämt sein. Sonst tanzen andere einem immer auf der Nase herum.“

Ganz selbstbewusst streckte sie ihren Rücken durch. Es sah krampfhaft aus, doch war es irgendwo witzig zu sehen, wie sie versuchte Eindruck zu schinden. Ihre Haltung erzeugt bei Myotismon nicht das, von dem sie glaubte, dass es das täte. Dafür aber ihre Worte.

„Das ist, zugegeben, das Klügste was ich heute bisher gehört habe.“

Yuki lächelte zufrieden.

Myotismon sah zu, wie sie die kleinen Kieselsteine wieder mit einer Handbewegung zur Seite kehrte. Das war tatsächlich etwas interessant, das musste er gestehen. Blindheit war in der Digiwelt ein zeitlich begrenzter Zustand, zum Beispiel als Folge eines Giftes, wie seine eigenen Fledermäuse unter anderem besaßen. Aber nach wenigen Stunden legte sich dies wieder. Bei den Menschen jedoch schien so ein Zustand dauerhaft zu sein und nicht zu beheben. Wie bedauerlich und armselig diese Tatsache war, mehr wie der Zustand selbst. Aber dieses Kind schien nichts an ihrem Elan einzubüßen. Die Menschen lernten wohl irgendwann damit zu leben. Und dann wendeten sie solche Tricks an. Das war wirklich interessant.

„Meine Lehrer sagen, die Zeichen in der Blindenschrift sind überall auf der Welt gleich. So kann ich auch alle Bücher lesen.“

„Und dann liest du Horrorgeschichten?“

„Die Bücher für blinde Kinder sind total öde und langweilig. Du klingst wie mein Opa. Er sagt immer, ich hätte nur Flausen und Irrsinn im Kopf.“

„Er hat meine vollste Zustimmung.“

Geschockt blieb Yukis Mund offen und schloss sich nur sehr langsam, ehe sie beleidigt die Nase rümpfte. Sein Lachen hatte Myotismon unterdrückt, aber irgendwie - vielleicht durch eine Veränderung der Luftfeuchtigkeit oder dem Winkel der Sonne, wer weiß mit was für Tricks dieses Kind noch spielte - hatte sie das sicher auch mitbekommen.

„Wart's ab, wenn Opa sieht, dass ich genauso schön Klavier spielen kann wie Papa früher wird er seine Meinung ganz schnell ändern.“

„Und das willst du wie umsetzen?“

„Das -“, sie legte eine Pause ein, in der ihre Miene sank, „- weiß ich noch nicht. Du kannst es nicht zufällig?“

„Tse, selbstverständlich.“

Er widerstand dem Drang, sich die Hand ins Gesicht zu schlagen. Myotismon wusste nicht, warum er gerade das verraten hatte. Erstens, da er schon ewig nicht mehr gespielte hatte und zweitens, da er es diesem Kind verraten hatte, deren Augen sich sofort wieder mit Hoffnung füllten. Die Sonne, dachte er sich, die Sonne kochte sein Gehirn weich, ganz sicher war es das. Oder etwas in dem Blutorangensaft.

„Kannst du es mir beibringen, Onkelchen? Bitte, bitte.“

„Du vergisst deine eigenen Regeln schon wieder. Wahrheit oder Pflicht ohne Pflicht!“

Ihr Leuchten war verschwunden und es erfüllte Myotismon mit Genugtuung ihr beschämtes Gesicht zu sehen und wie sie sich in Gedanken selbst ausschimpfte. Insgeheim aber fragte Myotismon sich, ob alle Menschenkinder so schrecklich aufdringlich waren, oder ob er einfach einen schlechten Fang gemacht hatte.

„Gibt es eigentlich noch mehr Vampir-Digimon wie dich in eurer Computerwelt?“, fragte sie äußerst zurückhaltend.

„Digiwelt. Es heißt Digiwelt. Und vermutlich nicht. Digimon wie ich sind selten und ich habe nie ein Digimon gesehen, dass mir ähnelt.“

„Also bis du so was wie das letzte Vampir-Digimon in deiner Welt?“, harkte sie nach, ehe Myotismon aber antwortete, sagte sie mitfühlend:

„Das ist total traurig!“

„Ich würde es eher beruhigend nennen. Meinesgleichen mögen sich untereinander nicht. Wir sehen uns ausschließlich als Konkurrenten, und Konkurrenz kann ich nicht gebrauchen.“

„Aber mit wem unterhältst du dich dann und mit wem fliegst du dann durch die Nacht?“

„Sehe ich so aus, als hätte ich nichts anderes zu tun wie ziellos durch die Gegend zu fliegen?“, zischte Myotismon erst, bis ihm wieder einfiel dass dieses Mädchen ihn ja gar nicht sah und die Frage somit obsolet. Auf seine Frage achtete sie auch nicht besonders, sondern streckte ihre Hand aus und klopfte kurz dreimal behutsam auf seinen Arm, als wollten sie ihn trösten.

„Du Armer. Kein Wunder, dass du bei Tag unterwegs bist, so ganz ohne Freunde.“

„Ich brauche keine Freunde.“

„Jeder braucht Freunde! Ich habe ganz viele. Naomi ist meine Freundin und Rin und Yuuka und Kari und Tomoko und -“

„Das interessiert mich nicht. Und ich will keine -“, fing Myotismon an, sparte sich aber schließlich seinen Atem als er feststellen musste, dass Yuki ihm nicht mehr zuhörte. Stattdessen tastete sie den Boden ab. Der Boden besaß noch Lücken und aus einigen Lücken trotzte Löwenzahn dem Stein und genoss die Sonne, bis dieser zu Pusteblumen mutierte. Ein sehr kleines Exemplar wuchs direkt neben den Stahlträgern, die Yuki zu fassen bekam, als sie den Untergrund abtastete, von vorherigen, heimlichen Besuchen noch überzeugt, was hier irgendetwas war. Den Kopf der Pusteblume hielt sie Myotismon schließlich entgegen.

„Dann bin ich jetzt dein Freund. Dann hast du auch einen“, sagte sie strahlend, genauso wie ihre hellen Haare im Sonnenlicht, die Myotismon in den Augen jedoch eher schmerzten. Er verzog erst die Lippen, fixierte die Pusteblume vor sich und blies verächtlich dagegen. Die Samen mit ihrem federgleichen Schirmchen blieben in Yukis Gesicht und in ihren hellblonden Strähnen hängen. Statt aber sich wieder zu beschweren, fing sie an zu lachen.

„Du bist witzig, Onkelchen.“

„Keine Beschwerde dieses Mal?“

„Nö. Mama und Papa machen das auch immer, weil sie das lieb meinen. Ich finde das lustig“, kicherte sie weiter. Nicht wissend, was er über diese Reaktion denken sollte, sah Myotismon zu wie Yuki versuchte die Reste der Pusteblume aus ihrem Gesicht zu reiben. Da ihr das aber nicht wirklich gelang, blies Myotismon ihr noch einmal Luft entgegen, etwas kräftiger wie zuvor und die Samen flogen davon, was das Mädchen wieder zum lachen brachte. Die Pusteblumen flogen hinab und streiften Yuki dabei. Sie waren wie Schneeflocken.

Er dachte an Alice in Wunderland.

„Du, Onkelchen. Warum bist du denn der einzige Vampir in deiner Computerwelt? Hat man sie... na ja, du weißt schon?“

„Getötet?“, sagte Myotismon und sie nickte. „Das auch. Aber das wird nicht der primäre Grund sein. Eher ist es nur schwerer geworden, zu so einem Digimon wie ich es bin zu digitieren.“

„Und was heißt digitieren?“

Sie verstieß wieder gegen ihre eigenen Regeln, diesmal aber verkniff Myotismon es sich sie zu belehren.

„Das heißt, dass wir stärker werden und eine neue, passende Form annehmen. Bevor ich meine jetzigen Form erreicht hatte, war ich ein Hund. Und davor etwas, was als Fledermaus durchgehen könnte.“

Bewunderung erschien in ihren Augen, die Gleiche, die die Geist-Digimon empfunden haben mussten, als sie Myotismon nach seiner Ultra-Digitation zum ersten Mal sahen. Nein, dass in dem Gesicht dieses Kindes war intensiver. Sie war so schrecklich euphorisch wie sprunghaft, schlimmer wie ein Grashüpfer.

„Das ist ja irre. Du bist wirklich wie die Vampire in den Büchern. Die können sich auch in große Hunde und Fledermäuse verwandeln und sie können sich im Nebel auflösen. Und sie sind stark und können zaubern.“

„Ich behauptete auch nie gänzlich keiner zu sein. Ich bin ein Wesen aus einer Welt, die aus den Daten eurer Welt erschaffen wurde.“

Yuki hatte nicht eine Minute zugehört. Nachdenklich hatte sie die Finger ihrer rechten Hand auf ihr Kinn gelegt, nur der Zeigefinger war ausgestreckt und ruhte auf ihrer Wange.

„Hm, dann darf Mama aber auch nicht mehr mit Knoblauch kochen, dass ist für Vampir giftig. Und einladen darf ich Onkelchen auch nur abends. Aber Mama muss ihn erst einladen, sonst kann er nicht rein. Und Friedhofserde brauch ich, sonst kann er nicht so lange bleiben. Aber wo kriege ich die her, ohne dass das Schimpfe gibt?“

Sie plapperte weiter irgendwelches Zeug von sich und wurde dabei immer leiser und Myotismon überlegte kurz, ob er nachhaken sollte, was sie noch so für schlaue Dinge über Vampire und ihresgleichen gelesen hatte. Rückblickend an die zwei Mädchen, die ganz verliebt auf das Plakat mit diesem Filmvampir gestarrt hatten, entschied er sich dagegen.

(Was mache ich hier eigentlich?)

Er wollte sie loswerden, er sollte sie vor allem loswerden, wenn dieser Unwille dieses Theater zu beenden nicht wäre. Wer versprach ihm, dass sie nicht doch mit den Digirittern im Bunde war? Selbst wenn das mit ihrem Vater in irgendeiner Weise stimmen sollte...

Nonsens, das konnte nicht stimmen. Das Amulett war aus Digizoid, ein Material, dass in der Realen Welt nicht existierte. Das Digivice und das Wappen waren echt, sie stammten aus der Digiwelt und die Gefahr bestand, dass die Digiritter früher oder später doch auf sie aufmerksam werden würden. Vielleicht war dieses Wappen auch nur eine Täuschung und sie war doch das achte Kind. Niemand wusste wirklich, welche Kräfte genau in diesen Digivice und diesen Wappen steckte, vielleicht besaßen sie eine Art Intelligenz und beschützen das dazugehörige Kind. Vielleicht lag es ja an den Fälschungen, vielleicht -

Myotismon verwarf auch den Gedanken. Jijimon und Babamon waren merkwürdige Geschöpfe, aber so unscheinbar sie waren, so effektiv war ihre Magie und er hatte tiefes Vertrauen in diese, wie auch in die Schriften, die ihr Täubchen verfasste. Myotismon hatte sich nach vielen Nächten selbst beigebracht brauchbare Kopien des Wappens herzustellen und Dank Jijimons und Babamons Lehren gelang ihm das auch nach einigen durchzechten Nächten und Tagen. Die Fälschungen konnten nicht versagen.

Eins war sicher, leben lassen konnte Myotismon sie nicht. Früher oder später musste er sie ausschalten. Selbst wenn sie wirklich kein Digiritter sein sollte, so sei es drum. Sie könnte ihn an die echten Digiritter verraten.

Ihre Selbstgespräche waren verstummt und Yuki saß, wohl immer noch in ihren Plänen versunken auf dem Boden, nur ihre Beine, die in der Luft baumelten bewegten sich etwas.

Vielleicht sollte er ihr einfach den Hals umdrehen und ihr damit das Genick brechen, dass würde am schnellsten gehen. Jedoch hatten menschliche Körper die schreckliche Eigenart sich nicht aufzulösen, wie Digimon es taten. Sie blieben liegen, wurden kalt und erst die grausame Zeit würde den Körper sehr, sehr langsam in seine Ursprungsteile zerlegen, erst die Haut, dann das Fleisch und zuletzt die Knochen.

Myotismon wusste das. Aber er entschloss sich dazu, dass eben jenes Ereignis, bei dem es zu dieser Situation kam, nie passiert war. Das war das Motto des Orchesters.

(das ist niemals passiert)

Und der tote Körper eines kleinen Kindes würde für Aufruhr sorgen, die Menschen waren aufgrund der Digimon ohnehin schon so hysterisch. Die Menschen würden auf ihn und seine Dienerschaft losgehen, womöglich noch sein Versteck finden. Und wenn Myotismon etwas nicht gebrauchen konnte, war es die Menschen aufzuschrecken und eine Massenpanik auszulösen. Das könnte sich das achte Kind - das echte achte Kind - zu nutze machen und verschwinden.

Langsam streckte Myotismon seine Hände nach Yuki aus, bereit ihre Leiche einfach in diesem Loch, in dem sich das Wasser sammelte zu versenken, damit man sie zumindest nicht sofort finden würde. Besser wie im Meer, wo sie vielleicht noch an den Strand gespült werden könnte.

Er würde nicht einmal seine ganze Kraft brauchen, um ihren dürren Hals zu zerquetschen, einmal feste zupacken und das war's.

Die Sache wäre schnell vorbei gewesen. Und doch konnte er es nicht.

Yuki zuckte zwar im selben Augenblick zusammen und Myotismon redete sich ein, dass er mit dieser plötzlichen Reaktion nicht gerechnet hatte und sich deswegen umentschied. Einfach um sich nicht eingestehen zu müssen, dass dieser kleine Augenblick über mehrere Sekunden ging und er sie nur angestarrt hatte. Er hatte nur dieses Kind angestarrt, nicht mal ihren Hals, nur ihr blondes Haar und die Form ihres Gesichtes. Er hatte dabei an Alice und das blöde Wunderland gedacht.

Bei allen dunklen Mächten, wie sehr er diese Alice-Geschichten hasste, es war nicht einmal in Worte zu fassen. Und - das Schlimmste - Myotismon hatte trotzdem gezögert. Er, der grausame König der Untoten, hatte gezögert.

„Hast du das gehört, Onkelchen?“, fragte sie - sie hatte es wirklich nicht mitbekommen - und legte sich auf den Bauch. Nun hing Yuki ihren Kopf in das Loch.

„Was meinst du?“

„Ich habe da unten was gehört. Ganz kurz nur, aber es klang, als würde da unten was fliegen.“

„Vielleicht ein Vogel?“

„Hoffentlich nicht. Ich mag Vögel nicht.“

Yuki legte eine Hand hinter ihr Ohr und versuchte noch etwas weiter mit ihrem Kopf hinunter zu kommen. Kurz überlegte Myotismon, ob er sie nicht in das Wasser werfen sollte, tief genug schien es dort unten zu sein. Aber auch zu dieser Handlung konnte er sich nicht aufbringen. Vielleicht, weil es unnötig war.

Wenn sie kein Digiritter war, wäre es ein unnötiger Tod und das war gegen sein ästhetisches Empfinden. Genau, daran lag es. Er war eben ein Digimon mit Prinzipien.

„Sieht du da unten was, Onkelchen?“

„Nicht wirklich. Nur Wasser.“

„Sonst nichts? Nicht mal unser Spiegelbild?“

Nun wagte auch Myotismon einen Blick hinunter und spitzte die Ohren, aber er hörte weiter nichts, außer das Meer. Unter ihnen sah er kaum etwas vom Wasser, dass die Farbe des Himmels reflektierte, da unter ihnen weiße Flocken auf der Oberfläche schwammen. Noch bevor er auf die absurde Idee kam, dass das Schnee sein könnte, kam Myotismon zu der Feststellung, dass das Reste von weißen Blüten waren, die vereinzelt oder in Gruppen vom Wasser getragen wurden. Blüten von den Bäumen, vermutlich vom Park, vielleicht von weiter oben von der Hauptstraße.

Größtenteils hatte das Wasser sie schon in die Fäulnis getrieben, doch die Sonne schien direkt auf sie und verlieh ihnen ein gefälschtes, reines Weiß. Gepaart mit dem tiefen Blau des Himmels, das auf dem Wasser reflektiert wurde, hatte dieser simple Anblick etwas malerisches.

„Oh, ich vergaß. Du hast bestimmt keines, oder?“

„Selbst wenn, wäre es schwer zu sagen. Die Wasseroberfläche ist voll mit Blüten.“

„Blüten?“

Yuki streckte ihren Kopf noch weiter hinein, dachte, sie könnte die Blumen riechen, doch mehr wie der salzige Geruch des Meeres gab es dort unten nicht.

„Sind das Seerosen?“

„Unwahrscheinlich. Seerosen mögen kein Salzwasser. Bestimmt hat der Wind sie von den Bäumen geweht und sie sind hier runter gefallen.“

„Wie schade. Ich habe mal Seerosen gesehen. Also, als ich noch sehen konnte. Sie waren ganz weiß und es waren so viele auf einen Haufen, dass ich zuerst gedacht habe, da wäre Schnee auf dem Wasser. Gibt es in der Digiwelt auch Seerosen? Und Schnee, gibt es den da auch?“

Die Kleine noch einmal zu belehren war sinnlos, also ließ Myotismon es bleiben, starrte weiter stumm hinunter, beobachtete einige der Blütenblätter, die erst vereinzelt über den Himmel im Wasser schwammen und dann in anderen Blüten hängen blieben, bis sie zu ganzen Gruppen wurden, die ihren Tanz fortfuhren.

Er dachte an Sanzomon.

 


Nachwort zu diesem Kapitel:
- laut dem Referenzbuch Eintrag der Bakemon und einigen Digimon-Spielen können Bakemon durchaus auch entstehen, wenn ein Digimon stirbt. Als ich einen Kumpel fragte, der sich mit IT auskennt, fragte ich ihn, ob es etwas wie "Geister-Dateien" gibt und er meinte in etwa, dass es da einen Bug gibt, der gelöschte Dateien anzeigt, obwohl sie längst im Papierkorb sind.

- Die Fledermäuse sollen, so Wikimon, eine eigenständige, digitale Lebensform sein (was vielleicht erklärt, warum sie nach Myotismons Vernichtung noch da waren), deren Gift Blindheit u.a. in einigen Spielen auslösen. Komplett anzeigen

Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück