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Wintersonett

Which dreamed it?
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
[UPDATE 15.12.19]

Die Abschnitte 𝄡 bis #. sind gänzlich neu. Komplett anzeigen

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Konzert III - WILD FLOWERS, 3. Satz, Vivace fortepiano


 

𝄡
 

Alice im Wunderland war Tinkermons Lieblingsgeschichte. Der doch eigensinnige Schreibstil, die Witze, die man nicht unbedingt sofort verstand und die doch überaus kuriose Fantasie wirkten auf junge Digimon abschreckend. Eine Geschichte ohne Logik, verloren bei ihrer Suche nach Bedeutungen, eine Ethik oder Moral. Das alles hatte diese Geschichte nicht wirklich. Doch gerade deswegen mochte Tinkermon sie, auch wenn sie niemals bestreiten würde, dass Alice etwas merkwürdig war. Anders eben. Und alles was anders war, aber nicht so eingeschüchtert wie sie faszinierte Tinkermon.

Genauso wie Alice war Tsukaimon. Anders, aber unerschrocken und mit klaren Vorstellungen. Sie hatte ihn dafür beneidet. Sie hatte ihn dafür gemocht. Mehr wie nur gemocht und als er ging verkraftete Tinkermon dies nur schwer.

Aber doch hatte sie ihn beneidet, dass er so war. Er hatte keine Angst vor der Welt. Sie beneidete ihn dafür.

Die Nacht, in der Tsukaimon ging war schmerzlich für Tinkermon, aber gleichzeitig war es ein Ansporn für sie. Anfangs weinte sie viel. Dann trauerte sie still. Dann wurde ihr klar, dass sie nicht ewig bei Jijimon und Babamon bleiben konnte. Mit zunehmender Zeit schien es immer mehr, als riefe die Digiwelt, die sie sonst doch immer abzustoßen schien nach ihr und Tinkermon wollte wissen, was da draußen auf sie wartete.

„D'arcmon.“

Sie sah auf, als sie Jijimons Stimme hörte. Digimon brauchten sich nicht an ihren neuen Namen und ihre neue Gestalt zu gewöhnen. Die Erkenntnis, dass sie immer noch sie waren blieb erhalten und doch klang es für D'arcmon komisch nun auf diesen Namen zu hören. Vielleicht, weil sie auch nie damit gerechnet hatte je zu digitieren. Vor allem nicht in ein heiliges Digimon. Geschweige denn in ein Serum. Vor geraumer Zeit hätte sie wer weiß dafür gegeben um ein heiliges Serum-Digimon sein zu können, um so von ihren Geschwistern und den anderen Digimon, die ebenfalls in ihrer alten Heimat lebten geachtet und akzeptiert zu werden. Nun aber fühlte sie sich nur komisch. Aber reifer.

Für ihren Korb war D'arcmon zu groß, darum bekam sie ein Zimmer, nicht weit von Babamons und doch bekam sie ihre Ziehmutter und Lehrmeister an diesem Tag selten zu Gesicht. Ob sie noch sauer war, da sie sich gestritten hatten? Weil sie es gewagt hatte Babamon zu widersprechen? Mutter Gans widersprach man schließlich nicht.

Es war ein eigentlich vollkommen unnötiger Streit gewesen, aber der wohl für sie nötig war. Wenn sie schon gänzlich pazifistisch war und jeden Kampf entsagte, der eigentlich in der Regel für eine Digitation nötig war, dann zumindest wollte sie sich einem verbalen stellen.

Tinkermons Trauer wurde von allen selbstverständlich bemerkt und deren Umstände und Auslöser von Babamon harsch kritisiert. Ihre Motivation sich zu ändern verspottet. Spott war Tinkermon gewohnt, doch Tsukaimons Verschwinden legte, wenn auch gemächlich einen Schalter in Tinkermon um. Babamons Gezetter und verletzenden Worte taten weh, aber doch war es Tinkermon plötzlich egal.

„Du schläfst immer noch nicht“, sagte Jijimon, mehr wie eine nüchterne Feststellung, doch nickte D'arcmon ihm zu, als hätte er überrascht gefragt. Nur eine Öllampe erhellte den Raum und D'arcmons langer Schatten fiel auf eine Tasche am Fuße ihres Bettes. Sie war zwar groß, aber viel war nicht darin, nur Flaschen mit Wasser, Papier und Kohlestifte und einen Kompass. Essen würde sie am nächsten Morgen frisch einpacken. Mehr brauchte sie vorerst nicht und mehr hatte sie auch nie besessen.

„Du musst schlafen. Du wolltest früh aufbrechen. Bis Sonnenaufgang sind es nur wenige Stunden.“

„Mir schwirrt so viel im Kopf herum, Jijimon.“

„Das ist normal, wenn man gerade digitiert ist. Der Kopf braucht Zeit, um all die neuen Blickwinkel auszuwerten. Das überfordert, ganz besonders wenn man zu einem humanoiden Digimon wird.“

„Ich weiß und so meinte ich das auch nicht“, entgegnete sie müde. Sie rieb sich über ihre Armschützer. Sie sah wie ein Kämpfer aus, dabei hatte sie nie einmal die Hand gegen ein Digimon erhoben. D'arcmon trugen den Titel Prinzessin des Schlachtfelds und waren in den heiligen Armeen gern gesehene Digimon. Trotz dass sie nur Champions waren galten diese Digimon als taktische Genies und geborene Anführer. Doch sie selbst wusste nicht, wie sie zu so einem Digimon passen sollte. Sie war kein Kämpfer. Sie war kein Anführer.

Nervös zupfte D'arcmon an ihrem Turban. Sie sah den Schatten ihrer Flügel. Flügel wie die eines Engels. Sie war ein Serum. Sie war ein heiliges Digimon. Bei allen Göttern, vor Jahren hätte sie alles dafür gegeben so ein Digimon sein zu können. Nun sah sie sich und war sich nicht sicher, warum sie zu dem wurde, was sie nun war.

„Hält Babamon mich für unfähig, Jijimon?“, fragte D'arcmon vorsichtig.

„Hältst du dich für unfähig, Kind?“, fragte Jijimon, in so einer ungewöhnlich klaren Weise, wie D'arcmon ihn nie zuvor erlebte. Doch D'arcmon blieb resigniert und sie dachte nach, ehe sie etwas sagte. Sie hatte bereits ihrer verborgenen Impulsivität ihren Lauf gelassen. Sie hat geschrien. Mitten beim Abendessen rüllte sie herum, dabei sagte Babamon nicht einmal etwas, sie saß ihr nur gegenüber. Babamon hob nur den Kopf an, ihr Mundwinkel zuckte leicht hinunter und dann senkte sie den Blick wieder,so banal, aber Tinkermon kannte sie zu gut um zu wissen, was sie mit dieser subtilen Geste zum Ausdruck bringen wollte. Verachtung. Tinkermon ertrug es nicht mehr. Sie schrie ihren Frust hinaus. Sie diskutierten. Dann stritten sie. Babamon kritisierte. Tinkermon widersprach. Oh, wie dumm sie sei. Dumm, dumm, dumm dumm dumm, schwach, einfältig, gehen, sie, wohin, sie konnte doch nichts, außer einem Digimon nachtrauern, wie bescheuert, als ob Tsukaimon es ihr Danken würde, und doch schafft sie es nicht einmal zu kämpfen, die Welt ist kein Märchen, sie will sich zwar ändern, tut es aber doch nicht.

(Ich tue doch bereits alles was ich kann)

(Dann wundere dich nicht wenn du nie mehr wie das erreichen wirst)

(Aber was soll ich denn noch tun? Ich lerne doch! Ich kann erlernen!)

(Und wofür wenn du nicht einmal das Schloss verlassen kannst?)

(D-D-Dann gehe ich eben!)

Tinkermon wusste nicht mehr genau, was geschehen war. Als sie wieder klaren Verstandes war, war sie D’arcmon. Obwohl Babamon ein Grinsen auf den Lippen lag, als ihre Schülerin als Champion-Digimon vor ihr stand, sah D'arcmon, dass Babamon ihr nicht vergab. Sie hatte sich geändert, aller Erwartungen, ihre Digitation war der Beweis. Nur wie, das missfiel Babamon. Deutlich. Vielleicht, dachte sie sich, wollte Babamon einfach nicht, dass sie ging, konnte das aber nicht sagen, schließlich galt es einen Ruf zu bewahren. Aber sie musste gehen. Das war ihr klar. Und ich wichtiger noch, sie konnte gehen.

„Nein. Nein, das denke ich nicht.“

„Dann bist du es auch nicht. Du bist nichts das, was du denkst nicht zu sein. Man denkt nicht, was man sein könnte, sondern was man sein will. Hast du verstanden?“

„Ich... denke schon“, gab D'arcmon zurückhaltend von sich, war sich aber nicht so sicher, ob sie es begriff. Unter normalen Umständen sicherlich, doch sie war müde und an einem Tag war viel geschehen. Und wenn sie ehrlich war wusste D'arcmon nicht, was oder wer sie sein wollte.

Sie wollte bei Tsukaimon sein. Aber er war gegangen um herauszufinden, was er werden muss. Das musste sie auch, ein für alle mal. Das wollte sie. Hinaus in die Welt um vielleicht irgendwann ein Digimon zu werden, das irgendetwas bewegen kann, und wenn es einzig nur im Herzen eines einzelnen Digimon sein würde. Ein Digimon, dass nicht mit ihr Zeit verbrachte oder in einem Bett lag, weil man es darum bat, sondern weil man sich akzeptierte. Babamon hatte Recht, so harsch sie war. So wie D'arcmon beziehungsweise Tinkermon die ganze Zeit war konnte sie nichts bewegen. Sie musste weiter gehen.

„Ich weiß nur noch nicht ganz, was ich sein will.“

„Darum gehst du doch auf die Suche.“

„Ich dachte, ich gehe auf eine Reise.“

„Eine Reise hat ein klares Ziel, du hingegen gehst auf eine Suche. Eine Suche ist nie eine Reise. Wage also ja nicht das Wort Selbstfindungsreise in den Mund zu nehmen, verstanden? So etwas gibt es nicht! Selbstfindungsreisen sind nur für jene, die nichts als unreflektierte Bestätigung suchen für das, was sie ohnehin schon sind“, tadelte Jijimon. Er klang sogar recht ernst, untermalt davon wie er das untere Ende seines Stocks auf den Boden schlug. D'arcmon war anderer Meinung, aber da sie es sich bereits mit Babamon verscherzt hatte, würde sie dies nicht auch noch bei Jijimon riskieren.

„Und diese Reise wird dauern. Monate. Oder länger. Man kommt nicht auf die Welt, digitiert und weiß sofort wie sein Leben verlaufen wird. Wäre es so, wäre das Leben nicht lebenswert. Im Gegenteil. Das Leben wäre kein Leben mehr.“

„Du hast Recht. Ich mache mich nur verrückt“, murmelte D'arcmon, überzeugt, aber nicht energisch genug, dass es Jijimon überzeugt hätte. Das alte Digimon trat näher in den Raum und nun sah D'arcmon auch, dass etwas unter seinem Arm klemmte.

„Hier.“

Grob drückte Jijimon D'arcmon das Buch gegen die Brust, sie konnte also nicht anders wie es an sich zu nehmen. Aus ihrer Sicht lag das Buch zwar auf den Kopf, aber das dort ALICE IM WUNDERLAND stand wusste sie auch so, als sie sich das Buch ansah. Alice im Wunderland war nicht das erste Buch, dass Babamon ihr gab, damit sie lesen lernen konnte (obwohl sie das bereits schon im Ansatz beherrschte, ehe sie nach Grey Mountain kam) aber es war das, was sie am häufigsten las.

Was D'arcmon an diese Geschichte band konnte sie nicht erklären. Lag es an der Spannung, was Alice wohl noch kurioses in einer gänzlich fremden Welt traf? Dann hätte sie es nicht so oft gelesen. Die Figuren waren absolut schrill und unvorhersehbar, dass sich D'arcmon auch mit keiner wirklich identifizieren konnte, ansonsten hätte sie es auf eine Art Verbundenheit schieben können. Mit Ausnahme der Weißen Königin vielleicht. Die war zwar auch etwas schrill, aber D'arcmon war sie irgendwie sympathisch. Und Alice selbst natürlich.

Irgendwie erinnerte Alice sie an jemanden, der sie selbst auch gerne einmal gewesen wäre.

„Alice wusste auch nicht, was im Wunderland vor sich geht oder was kommen würde. Aber Alice ging jeden Weg, überzeugt und starrköpfig und stellte sich sogar der Obrigkeit und letztlich sogar dem Krieg. Wenn du schon nicht auf mich hörst, nimm dir an deinen geliebten Büchern ein Beispiel.“

„Ja. Werde ich“, nickte D'arcmon und lächelte, weniger über Jijimons aufmunternden Worte, sondern vielmehr, weil sie an Tsukaimon dachte. Was er wohl sagen würde, wenn er hiervon wüsste. Vermutlich behaupten, sie würde dort draußen keinen Tag durchstehen. Was sie vor geraumer Zeit noch bestätigt hätte, lächelte sie mental nun entgegen und dachte Tse, warte nur ab, du wirst staunen!

Ob sie ihn dort draußen irgendwann treffen würde? Was sie dort treffen würde? Wie lange würde sie wohl reisen? Was war dort draußen? Wie komisch, obwohl Tinkermon schon über das Meer reiste und Server durchquerte, hatte sie sich diese Fragen nie gestellt. War es, weil sie nun ein Champion war? Fing man dann an solche Dinge zu denken, während man als Rookie und alles, was darunter war die Gegebenheit einfach hinnahm?

Während Jijimon sich aufmachte den Raum zu verlassen, drehte D'arcmon das Buch richtig herum und starrte gebannt auf das Bild von Alice, die ganz verloren dastand, geradezu hilfesuchend mit dem Ferkel in der Hand, das zuvor das Baby der Herzogin war. Alice, die kein Digimon war. Das war Tinkermon bereits schon bewusst, aber sie hatte sich nie Gedanken darüber gemacht, warum sämtliche Figuren keine Digimon waren, sondern etwas ganz anderes. Alice war kein Digimon und nun, da sie nun D'arcmon war fing sie auch an überhaupt nach dem Warum zu fragen. Warum war Alice kein Digimon? Warum war niemand in dieser Geschichte ein Digimon? Warum existierte so ein Buch mit so einer Geschichte in einer Welt wie dieser? Das Wort Mensch war ihr geläufig, aber hatte für sie nie eine Bedeutung. Bis zu diesem Moment.

„Jijimon. Es gibt die Welt der Menschen, oder? Es gibt ganz viele Dinge außerhalb der Digiwelt, richtig?“

Im Türrahmen blieb Jijimon schließlich stehen und drehte sich ohne zu Zögern wieder zu D'arcmon. Ihre Augen wechselten nach ihrer Digitation von blau zu grün, aber das war nicht der markanteste Unterschied. Ihr Blick war eindringlicher geworden, als versuchten sie hinter das zu blicken, was ihnen sonst eigentlich verborgen blieb. Die Schatten, die das Licht warf und ihre Maske betonten das nur deutlicher und langsam begann Jijimon zu begreifen, was seine Gattin in diesem ängstlichen und verunsicherten Digimon sah.

Gelassen streichelte Jijimon über seinen Bart.

„Wieso sollte die Digiwelt sonst Märchen von Menschen kennen?“, antwortete er wenig überraschend, als sprach D'arcmon von etwas, was allgemein bekannt oder ein offenes Geheimnis war. Die Reaktion überraschte sie. Für viele Digimon, gerade für die jüngeren und die, die Rookies waren (und darunter) waren Menschen gleich mit Fabelwesen oder Ammenmärchen, obwohl bereits weitläufig in der Digiwelt bekannt war, dass die vier Souveränen mit Menschen im Bunde stehen sollten. Sie blendeten den Begriff Mensch regelrecht aus, sie erkannten sie, aber verstanden nicht.

„Wo kommen diese Bücher her?“

„Daten, mein Kind. Bekannte Geschichten haben viele Daten und viele Daten manifestieren sich irgendwann. Das haben wir dir in der ersten Stunde schon beigebracht.“

„Aber wieso habt ihr solche Bücher?“

„Wir sind eben schrullig. Je schrulliger, um so mehr beschäftigt man sich mit Dingen, die wie Zeitverschwendung erscheinen. Das gehört zum Altwerden dazu“, erklärte Jijimon weiter. Es klang durchaus plausibel und Jijimon war – wie er sagte – schrullig genug um sich so ein Laster zur Gewohnheit zu machen. Babamon jedoch wäre so etwas sehr missfallen. Vielleicht, kam D'arcmon in den Sinn, akzeptierte sie es weil sie ja von den Büchern auch einen Nutzen gewann, indem sie ihre Findelkinder in den Bann von Geschichten über Zauberer, Fabelwesen und epischen Schlachten zog. Gerade weil es aber so schlicht und plausibel schien, blieb D'arcmon etwas skeptisch.

„Das ist auch mein Tipp an dich“, sprach Jijimon weiter, D'arcmon Misstrauen gänzlich ignorierend. „Werde nicht alt. Verstanden?“

Obwohl D'arcmon den Kopf schüttelte, ging Jijimon zufrieden.

Jahre später begriff D'arcmon schließlich, was Jijimon meinte. D'arcmon las ein paar Zeilen von ALICE HINTER DEN SPIEGELN – gerade als Alice auf die Weiße Königin traf – und ehe sie einschlief stellte sie sich dann doch die Frage, was Jijimon mit Krieg meinte. Es wurde im ganzen Buch nie von einem Krieg gesprochen. Sie vermutete letztlich, dass er schlicht das Schachspiel der weißen und schwarzen Schachfiguren meinte und einfach in seiner Wortwahl übertrieb, dann schlief sie ein.

 
 


 

D'arcmon entschied sich nicht bis zum Frühstück zu warten. Natürlich hätte sie ihren jüngeren Spielkameraden gerne Lebewohl gesagt, doch der Abschied, gerade bei denen die sie schon mehrere Monate kannte wäre schmerzlich gewesen. Sie erklärte ihnen am Abend zuvor schon, dass sie nicht mehr mit ihnen spielen könnte, sondern nun endlich gehen müsste. Das war schwer genug und es nun am frühen Morgen wieder aufzukochen würde es schwerer machen.

Alles an diesem Morgen wirkte matt und verschlafen. Der Himmel über ihr war Dank der Nebelwand grau, aber sie wusste, irgendwo dort ginge bald die Sonne auf und für Frühling, auch wenn es langsam Richtung Sommer ging war der Morgen kühl.

Leicht verschlafen und mit einem leeren Kopf stand D'arcmon vor Jijimon und Babamon. Bis zum Tor waren sie ihr gefolgt und unter dem Torbogen erstarrten sie wie vor einer unsichtbaren Wand.

„Dann gehst du undankbares Ding also?“, sagte Babamon mit kratziger Stimme. D'arcmon nickte schweigend und hing sich ihre Tasche um. Ihr Herz klopfte zwar, aber D'arcmon hatte sich ihren Abschied immer etwas emotionaler vorgestellt und geglaubt, sie würde bis zum Schluss mit der Entscheidung hapern und zweifeln, ob dies richtig war. Doch Zweifel spürte sie tatsächlich keine. Es war wohl wirklich der richtige Moment dafür und sie würde keinen Besseren finden. Sie war ohnehin zu spät dran die Welt zu sehen. Obwohl sie schon umhergereist war, auf der Suche nach einem zu Hause, hatte sie zwar stets Ausschau gehalten, aber nie hatte sie die Welt wirklich gesehen. Sie flog mehr mit einem Tunnelblick umher. Ein Jammer. Was sie dabei wohl alles verpasst hatte? Sie hatte viel nachzuholen.

„Dann hau ab. Mach dich auf und werde erwachsen. Tu was“, schimpfte Babamon weiter. Sie klang rauer wie sonst. Aber D'arcmon war sich nicht sicher weswegen. War sie wütend? War sie traurig?

Als Tinkermon hätte sie sich noch eine Teilschuld gegeben, warum Babamon so war, doch nun als Champion und der Impulsivität beraubt als Preis für einen weitsichtigeren Blick bemerkte sie, wie alt Babamon und Jijimon waren. Wie alt, wie kaputt, wie schwach, wie ausgebrannt, wie von der Zeit gezeichnet.

Tu was. Das sagte Babamon immer so gerne. Ich tue was ich kann, hatte sie immer darauf geantwortet.

(Dann wundere dich nicht wenn du nie mehr wie das erreichen wirst)

Vielleicht war wirklich etwas dran. Wenn sie mehr sein wollte wie das, was sie war musste sie auch mehr tun.

„Ich werde gehen. Ich werde sehen und lernen. Ich werde meine Gefühle verstehen lernen. Aber auch sie zu zügeln lernen.“

„Und das von dir, die immer am meinem Rockzipfel hing und weinte?“

„Heulen ändert nichts. An meine Träume glaube ich weiter. Ich habe Träume. Ich weiß, was ich fühle. Aber ich darf mich nicht davon treiben lassen. Ich muss die Mitte finden. Vernunft, ohne aufzuhören zu träumen. Aber das kann ich hier nicht. Ich... ich muss mich selbst finden. Nicht das Digimon, was ich bin oder sein könnte. Nur mich. Ich muss lernen zu begreifen.“

D'arcmon zog ihre Tasche hoch, die ihr von den Schultern rutschte, ohne ihren Blick von Babamon abzuwenden. Was würde sie nur geben, könnte sie in die Augen dieses Digimon sehen, doch schein es ihr, Babamon wolle es ohnehin nicht. Geschweige denn sie vielleicht nochmal zu umarmen, nun da D'arcmon groß genug war um beide gleichzeitig in die Arme schließen zu können. Doch alles an Babamon signalisierte ihrer Schülerin, dass sie endlich verschwinden sollte und Jijimon unterwarf sich dem Urteil seiner Gattin gänzlich.

„Du hast dich nicht im Griff. Deine Sucht nach Sinn und Bestimmung verleitet dich zu dummen Dingen und Träumen. Das ist noch gefährlicher wie deine krankhafte Neugier. Du bist ein schlechter Serum, geschweige denn ein schlechtes D'arcmon. Wie du zu so einem Digimon werden konntest ist mir schleierhaft. Du wirst auf die Schnauze kriegen, ich sehe das Unheil schon.“

„Dann muss es so sein“, entgegnete D'arcmon, so entschlossen und so ernst, wie man sie zuvor nie zu hören bekam. An diesem Ton merkte man schließlich doch, dass sie berechtigterweise zu einem D'arcmon wurde. Ihr Elan, ihre felsenfeste Überzeugung für ihre Vorstellungen waren trotz der nicht vorhandenen Kampfeslust präsent und was in Babamon einerseits Unwohlsein weckte, ließ Jijimon darüber staunen, was noch aus diesem Digimon werden könnte. Sie hatte Potenzial. Sie tat sich nur unendlich schwer damit es auszulösen und zu nutzen. Sie hofften, nach dieser Reise würde es sich ändern.

„Bestimmung wird nicht in die Wiege gelegt. Man hat kein Recht auf einen Sinn in dieser Welt. Man wird ohne Sinn in diese Welt geboren. Gefühle reden dir ein, das es nicht so wäre. Gefühle sind da, um das Leben und Sinnlosigkeit erträglich zu machen. Nicht mehr. Ich lehre euch Gefühle zu begreifen, damit ihr mir nicht reihenweise von der Klippe springt. Aber glaub mir, manchmal ist es besser damit zu leben, dass sie nicht echt sind“, sagte Babamon weiter mit knirschenden Zähnen. „ Aber ich bin ja kein alter Serum. Ich sage euch Kindern daher nur, dass es nicht schlimm ist zu fühlen, was ihr damit macht ist eure Entscheidung. Doch als Antrieb taugen sie nichts. Merk dir meine Worte also gut – leg sie ab. Sie bringen nur Unheil. Oder lebe sie ungezügelt aus, aber heule nicht, wenn du wieder zum Virus wirst, das Gelassenheit von Ekstase nicht unterscheiden kann.“

„Das sind Extreme. Extreme sind nie gut. Reine Vernunft ist genauso schädlich wie reine Emotionalität. Man braucht einen Mittelweg. Einen anderen Weg.“

„Und wie willst du diesen anderen Weg finden, wenn nicht einmal die Digiwelt, dieser lernresistente Limbus das kann? Diese Welt und ihre Bevölkerung weiß weder was das eine, noch das andere bedeutet und sie wollen auch nicht wissen, was es bedeutet. Deswegen entstehen diese Kriege immer wieder. Sie will nicht begreifen. Und Dinge wie Liebe, wie Freundschaft, wie Glück zu verinnerlichen macht es nicht besser.“

„Sie können aber. Die Digiwelt kann besser werden. Sie braucht nur Zeit. Und noch etwas... Doch was das ist, muss ich noch herausfinden. Oder wie.“

Eigentlich hatte D'arcmon schon eine Idee, was dieses etwas sein könnte, doch zu gegebenen Zeitpunkt fehlte ihr das Wissen, ebenso ein Wort dafür. Sobald sie jedoch in ein paar Jahren ihren ersten Findling aufnehmen würde, würde sie es begreifen, aber schwer erklären können.

Ihre schwitzige Hand zog am Lederriemen ihrer Tasche und ein flaues Gefühl bildete sich in ihrem Magen. Kurz kam ihr der Gedanke es vielleicht doch sein zu lassen, aber D'arcmon riss sich zusammen und holte tief Luft. Ein Rückzug war ausgeschlossen. Das hier war endgültig.

„Auf Wiedersehen“, sagte sie zaghaft und ging einen Schritt zurück. Dann noch einen weiteren, größeren Schritt. Babamon blieb gänzlich resigniert, während Jijimon zumindest den Anschein erweckte, als hätte er D'arcmon zumindest zum Abschied noch gerne die Hand geschüttelt, entschied sich jedoch dagegen.

„Pass auf dich auf, D'arcmon. Die Welt dort draußen ist das Gegenteil von dem von Träumen verzauberten Kinderbettchen. Viele denken, sie seien im Recht. Das sind die Schlimmsten.“

„Werde ich. Versprochen“, nickte D'arcmon Jijimon zu. Dann fiel ihr letzter Blick auf Babamon. Sie sagte nichts. Sie rührte sich nicht. Sie schien so steif, dass D'arcmon nicht einmal sicher war, dass Babamon überhaupt atmete.

Als schließlich nichts mehr den Anschein erweckte, dass irgendjemand von ihnen noch etwas sagen oder tun würde kehrte D'arcmon den beiden den Rücken und sah den Pfad hinab, entlang der Felswand, die in Kurven sich durch die Berge bahnte und schließlich ins Tal mündete. Sie zögerte nicht einmal bergabwärts zu laufen, wie sie es sich immer vorstellte sondern lief recht gemächlich und entspannt.

Sie lief einen Meter. Zwei. Fünf. Zehn. Zwanzig. Nach Fünfzig Metern schaute sie noch einmal zurück, doch sie sah weder Jijimon noch Babamon. Sie waren ins Schloss verschwunden und gingen ihrem Alltag nach, als hätte dieser Augenblick nie stattgefunden. Wie sie das wohl den anderen Digimon erklären wollten, dass ihre älteste Spielkameradin nicht mehr da war?

Nebel verschleierte das Schloss. Obwohl sie schon weiter weg vom Schloss spielen war, wirkte es ferner denn je. Selbst der Berg wollte, dass sie endlich verschwand. Also setzte D'arcmon ihren Weg, wenn auch mit schwerem Herzen fort. Irgendwann lichtete sich der weiße Schleier und verfärbte sich bläulich. Irgendwann begann sie die Baumkronen des Ewigen Waldes deutlich zu erkennen. Sie sah das erste Mal seit langem das tiefe Azur des Himmels. Das Tal war so nah und hinter diesem Meer aus Bäumen entstieg gerade die Sonne.

D'arcmon lief weiter. Fliegen wollte sie nicht, dann neigte man dazu zu vieles ungeachtet zu übersehen. Jeder Schritt sollte weise gewählt sein und ihr Herz würde ihr sagen wohin.

Mehr wie drei Stunden lief sie durch den Wald, dann fand sie hinaus. Wenn auch vorerst nichts als Wüste, war ihr als täte sich die ganze Digiwelt vor ihr auf.

(Tsukaimon hast du dich auch so gefühlt als du gegangen bist? Ob wir uns je davon erzählen können? Wenn ich mich gefunden habe wirst du mich dann so sehen wie ich dich immer gesehen habe?)

Obwohl ihre Gefühle für Tsukaimon immer noch stark waren, sollte dies vorerst das letzte Mal sein, dass D'arcmon über ihn in solch einem Sinne dachte und begriff, dass da ein bisschen mehr wie Freundschaft war. Grey Mountain, von Wolken verborgen und alles, was dort geschehen war ließ D'arcmon hinter sich.

Vorerst.

 
 

#.
 

Der Mond war nur ein Grinsen am Nachthimmel, als Sanzomon sich eingestehen musste, dass sie sich in Myotismon verliebt hatte. Aber sie weigerte sich es so zu nennen. Das wäre ein Wort, dass Cho-Hakkaimon, die Kitsch und Romantik so gern hatte oder die Sistermon benutzen würden. Sie selbst beließ es schlicht als Neugierde. Als ausgeartete Neugierde. Sehr, sehr ausgeartete Art der Neugierde.

Neugierde war ein gutes Wort. Sanzomon war schließlich nicht vielen Digimon begegnet, wie er eines war. Aber die Formen, die ihre Neugierde annahm missfiel ihr. Die Sehnsucht nach einem zweiten Kuss war nur eine Facette davon. Doch redet sich Sanzomon weiter ein, dass sie Obacht geben musste. Tsukaimon war nicht mehr Tsukaimon. Vielleicht war Tsukaimon auch nie Tsukaimon gewesen. Und wie musste er sich entwickelt haben, wenn er zu so einem Digimon wurde? Je mehr sie aber darüber nachdachte, umso mehr wollte sie es wissen. Sie fühlte sich wie in die alten Tage versetzt, als sie, wie würde Cho-Hakkaimon sagen, für Tsukaimon schwärmte. Sie wollte nur von ihm gesehen und geschätzt werden, mehr nicht. Wo kamen also plötzlich diese Wünsche nach Berührung her, und da fiel Sazomon wieder die Nächte von einst ein, wie schön es war bei Tsukaimon unter der gleichen Decke zu liegen. Es war Sanzomon unangenehmer denn je. Das war nicht gut.

Sie mied Myotismon seitdem. Wenn Sanzomon ihn schon von Weitem irgendwo in den Gängen laufen oder seine Fledermäuse pfeifen hörte, huschte sie sofort in die entgegen gesetzte Richtung, oder irgendwo hin, wo er sie nicht fand. Wenn sie ihn dann doch sah, fehlten ihr die Worte und sein Geschmack kehrte in ihren Mund zurück.

Das war nicht gut. Das war absolut nicht gut.

Den Versuch es zu verbergen hätte Sanzomon sich schenken können, soviel Mühe sie sich auch gab. Jeder sah, dass sie Myotismon aus dem Weg ging und ihre Schüler, die von ihr immer etwas mehr wussten, wussten es noch besser. Sogar die Mondsichel schien es zu wissen, die genauso hämisch und verabscheuungswürdig durch die Nebelwand grinste.

(alle wissen es alle wissen es und jeder sieht es jeder kann es sehen man kann es vom Weltraum aus sehen und er weiß es am aller besten er weiß es und macht sich über dich lustig)

Da aber kein Digimon sie darauf ansprechen wollte bat Sirenmon, die immer so besorgt um Sanzomon war, auch wenn sie nie diesen Eindruck erweckte, eben ihre Schüler. Und weil Gokuwmon und Cho-Hakkaimon eben wussten, dass sie mit Worten nur schlecht umgehen konnten schickten sie Sagomon vor, der sich besser auszudrücken verstand. Aber er brauchte lange um diese Wort zu finden.

Er saß, während die Mondsichel durch das Fenster griente hinter Sanzomon, die in ihrem Zimmer auf ihren Knien saß und zu meditieren versuchte, ihre Gebetskette fest in den gefalteten Händen. Man sah ihr an, dass sie sich schwer damit tat.

„Ihr meditiert schon ziemlich lange, Meister Sanzomon.“

„Ich habe meine Rituale sehr vernachlässigt. Ein Ärgernis, dass ich vermeiden sollte. Dann wird meine Arbeit auch vielleicht schneller vorangehen.“

Ihre Art, wie sie da saß wirkte unnatürlich und verkrampft, obwohl es Sanzomons ganz typische Haltung war. Vielleicht war es auch diese Ruhe, die genauso unnatürlich schien. Nur noch schlimmer war der schwere Duft der Seerosen, der sonst immer so dezent war. Sanzomon dekorierte ihre Räumlichkeiten gerne mit diesen Pflanzen, trocknete sie und legte sie in Wasser, aber sie übertrieb in letzter Zeit damit. Man konnte sich ihrem Zimmer- dem hellsten im gesamten Schloss - nicht bewegen, ohne Angst zu haben Vasen oder Krüge mit Wasser umzuwerfen. Und sie hatte so viele ihrer schneeweißen Seerosen hier, dass man hätte glauben können, sie wollte versuchen sich damit selbst zu berauschen. Das konnten diese Pflanzen nicht, aber ihre bekannte, beruhigende Wirkung hielt die Gerüchte am Leben.

„Wie viele?“, fragte Sagomon nach kurzer Pause.

„Zwei Wunder. Von Acht bisher.“

Es bedarf keiner weiteren Erklärungen. Zwei von acht war besser wie vor ein paar Tagen noch, als es nur eines von acht war. Oder vor einigen Wochen, wo es gar keine waren. Und nicht einmal das war wirklich korrekt, da es bisher nur ein Umriss, ein Grundstein war. Das gewisse Etwas fehlte, aber es war ein Anfang.

Sagomon wollte sie loben, aber fürchtete, Sanzomon wollte es nicht hören, weil sie an etwas anderes dachte. Zumal es passieren könnte, dass es Digimon erfahren, die davon besser nichts wissen sollten. Ihre geheimen Codeworte nahmen ihnen zwar diese Furcht, aber man wollte es nicht riskieren, dass doch irgendwer einmal begriff, was das alles heißen könnte.

„Und über was meditiert ihr? Über welches Thema denkt Ihr nach? Ist es für die nächsten Unterricht?“

Keine Antwort, sie musste auch nicht, Sagomon kannte sie zu gut um zu wissen, dass ihr zu diesem Zeitpunkt nur einziges Thema im Kopf kreiste.

„Sitzt eine Fledermaus unter dem Hut?“, fragte er, ungewohnt direkt. Sanzomon entwicht ein genervtes, aber doch schockiertes Schnaufen.

„Ihr setzt dieses Gleichnis wirklich durch?“

„Ihr habt mich verstanden, das ist wichtig. Wir hatten uns zuerst auf Solomon Grundy geeinigt, fanden es aber dann etwas... makaber.“

Ein Digimon nach einer Figur zu betiteln, die weniger wie eine Woche leben durfte, klang nicht nur makaber, sondern wie ein Versprechen, dass es auch wirklich nicht mehr wie eine Woche dauern würde bis derjenige genauso dahinschied.

„Gokuwmon sagte, die Fledermaus unter dem Hut würde Euch komische Blicke zuwerfen.“

„Gokuwmon sagt dies über jedes Digimon, das ihm missfällt. Er muss lernen mehr Vertrauen zu schöpfen, selbst wenn es nur wenig zu schöpfen gibt.“

„Er sagt auch, dass Ihr in letzter Zeit etwas aufgewühlt scheint.“

„Ich habe viel zu tun, wie ich schon sagte.“

Wieder Schweigen. Sanzomon tat, als würde sie ein Mantra sprechen, dabei murmelte sie nur irgendwas hin und schloss die Augen, um das Mondgrinsen nicht sehen zu müssen.

„Cho-Hakkaimon sagte, Ihr seid ver-“

„Könnten wir bitte das Thema wechseln?“, keifte sie und warf dabei fast selbst einen ihrer Krüge um. Sanzomon merkte, wie jung sie auf einmal lang. Wie, als wäre sie wieder ein Tinkermon. Und so fühlte Sanzomon sich auch, so unbeholfen und ahnungslos, wie sie es als Rookie war.

„Wieso grämt ihr Euch so, Meister? Es ist nichts dabei, in der heutigen Zeit zumindest. Zugegeben ein solches Digimon ist trotz allem eine gewagte Wahl, aber -“

„Ich habe mir das doch nicht ausgesucht!“

Nun klang ihre Stimme nicht nur sehr jung, sondern unheimlich schrill, dass selbst Sagomon erschrak. Der Krug fiel fast wieder um, Sanzomon konnte ihn zwar halten, aber es lief Wasser über den Rand.

„Es ist einfach passiert. Vor vielen Jahren schon. Ich dachte, nach all der Zeit sind diese… Wünsche dahin gerafft, nachdem ich ihn so lange nicht sah und andere Dinge im Kopf hatte. Ich habe mir gewünscht, dass ich ihn irgendwann einmal wieder sehe, doch erst nun wird mir bewusst, was dieser Wunsch überhaupt bedeutete. Und warum ich mir dies gewünscht habe.“

„Ein Wunsch, der in Erfüllung gegangen ist, ist doch etwas wunderbares. Was also bedrückt Euch so?“

„Ich… ich weiß es nicht. Es ist Tsukaimon… Aber er ist es doch nicht. Ich erkenne ihn, aber gleichzeitig auch nicht“, erklärte Sanzomon weiter. Sie vergrub ihr Gesicht in die Hände und schüttelte den Kopf.

„Ich bin überfordert. Ich habe vergessen, dass auch er sich ändern kann. Er ist mein alter Freund, aber gleichzeitig so fremd. Es bereitet mir Angst.“

Auf einmal wurde Sanzomon noch etwas klar und es versetzte ihr einen schmerzlichen Stich in der Brust. Sie würde nie mit ihm mithalten können. Ihr Kuss, obwohl sie ihn so genoss zeigte es ihr um so deutlicher. Sie waren nicht auf Augenhöhe. Seine Einstellung ihr gegenüber hatte sich nicht verändert. Er kam nicht wegen ihr wieder hierher. Natürlich nicht. Warum sollte er?

Sanzomon schnappte sich eine aus den Krügen gefallene Seerose. Nachdenklich drehte sie den dunkelgrünen Stil und ließ die weiß-rosa Blütenpracht mal im, mal gegen den Uhrzeigersinn kreisen.

„Ich wollte früher nur wissen, was er dachte. Und ich möchte es heute auch noch gerne wissen. Aber ich sehe seine Zähne, sehe wie viel Zeit verstrichen ist, sehe wie der Unterschied zwischen uns nur noch größer wurde... Ich habe Angst.“

„Was ist denn stärker, Meister? Die Angst oder die Neugier?“

Schweigen. Beides, dachte sie. Und gleichzeitig nichts davon. Sie wollte doch nur von ihm gesehen werden. Das ihre Gefühle, die sich in all der Zeit intensiviert hatten erkannt wurden. Vielleicht sogar erwidert. Dieser Abend hatte jedoch alles nur schwieriger gemacht.

In welche Situation hatte sie sich da nur manövriert?

Und dann war da ja noch dieser… Abgrund.

Den Abgrund, von den Tsukaimon manchmal ins einen Albträumen erblickte und auch Babamon zu spüren schien sah Tinkermon nie. In ihren Erinnerungen saß Tsukaimon oft am Fenster in den Winterabenden und starrte hinaus und seine Augen waren an diesen Abenden so klar, dass sich die Schneeflocken darin spiegelten und von da an sah Tinkermon sie immer seinen Augen fallen, auch wenn der Winter sich längst verzog. Als Tsukaimon noch Tsukaimon war rieselte der Schnee sachte hinein. Nun jedoch war daraus ein Schneesturm geworden und irgendwo da war dieses... Irgendetwas.

Sanzomon kannte Abgründe. Das waren Löcher oder Gräber in den Herzen der Digimon und allein für diese Theorie war sie oft ausgelacht worden. Dabei war es nur eine Umschreibung für das, was Digimon wie sie konnten. Anderer Individuen ihrer Art nannten es tauchen, erhellen, wandern und sie nannte es eben in Gräbern graben, um es einen Digimon, dass nicht wie sie war erklären zu können. Diese Gräber waren mal tiefer, mal nicht so tief, gemeinsam hatten sie aber alle eins – am Boden lag immer irgendetwas und es waren meist schreckliche Dinge.

Und mit dem Wandel der Digiwelt, der sich durch die Meister der Dunkelheit in eine Abwärtsspirale zu drehen schien wurden die Dinge, die Sanzomon am Boden eines zerrütteten Geistes fand nur noch schauriger.

Wenn es bei Tsukaimon – geschweige denn Myotismon auch so war? Wurde er deswegen so, wie er nun war? Was dachte er? Was sah er? Und was tat sich in seinem Kopf, wenn er sie ansah? Was lag dort unten?

„Ich weiß es nicht, Sagomon. Ich weiß nicht einmal, was ich in seinen Augen sehe.“

„Habt Ihr versucht, nun, Ihr wisst schon?“

„Ja“, sagte Sanzomon knapp. „Natürlich habe ich es. Aber ich sehe nichts und ich höre nichts. Es überrascht mich nicht einmal, wir beide hatten schließlich die gleichen Lehrer.“

„Und was gedenkt Ihr nun zu tun?“

Genau das wusste Sanzomon eben nicht. Eben weil sie nicht zu Myotismon durchdrang, war sie unsicher. Aber wie sie es wollte, dass machte ihr noch mehr Angst als Myotismon selbst. Sie hatte Angst vor diesem Abgrund und irgendetwas war dort und sie wollte wissen, was es war, um dieses Digimon endlich erfassen zu können, was ihr damals nicht gelang. Tsukaimon war tapfer, anders wie von seiner Art gewohnt und trainierte mit Jijimon manchmal bis spät in die Nacht, egal wie oft es im Dreck landete. Tsukaimon war der Beweis für Tinkermon, dass Digimon wirklich einen Willen und ein Ich besaßen. Er war anders. So anders wie sie manchmal. Zumindest hatte sie es gehofft.

Letztendlich hatte Tinkermon auch für ihn gelernt. Damit er sah, dass sie mehr war wie ein scheues Digimon, dass jammerte, weil seine Artgenossen es nicht bei sich haben wollten und sich für sich selbst schämte. Ein wenig Anerkennung, mehr wollte Tinkermon von Tsukaimon gar nicht. Nun aber war da statt Schneefall ein Schneesturm erschienen...

Nein, er war der Schneesturm, etwas Lebhaftes in einer Jahreszeit, die nur kalt und tot war. Ein größeres Paradoxon als jedes Unsinns-Gedicht. Ein Digimon, dass zwischen Leben und Tod stand allein war ein Widerspruch. Wie passend für ihn. Wie reizvoll.

Und weil es so reizvoll war, machte es ihr fast noch mehr Angst und so mancher Gedanken, der da in dunkle Ecken abtauchte, Wünsche, mehr Zeit bei ihm verbringen zu können, sich wieder so nah sein zu können wie früher und wieder mit Leichtigkeit Körperkontakt aufzubauen. Von der Tatsache ganz zu schweigen, dass sie früher ein Bett teilten, wenn es einem von ihnen nicht gut ging und was Sanzomon Anfangs mit Peinlichkeit erfüllte, entwickelte sich zu einer Sehnsucht und das machte es noch schlimmer.

Sie wollte ihn nochmal küssen. Sie wollte den kalten Körper in ihren Arm halten und dabei seinen Geruch einatmen, der sie an Spaziergänge im verschneiten Wald erinnerte, die Erde frisch und noch ein Hauch von Süßem in der Luft, von Blumen die den Herbst und sogar den ersten Frost standhielten, aber bald verblühen würden.

Sanzomon umklammerte ihre Mala-Kette fester und presste sie an ihre Brust.

Zwischen ihren Fingern hielt sie nur eine einzige der insgesamt einhundertundacht roten Perlen, eine einzige rosafarbene Kugel, die noch von Babamons Halskette stammte. Babamon hätte sie für diese alberne, fast kindische Erinnerungsgeste getadelt. Und ihr mit dem Besen eine übergezogen, wenn sie wüsste, welche Gedanken Sanzomon hegte.

(du dummes Ding benimmst dich wie ein aufgescheuchtes Kokatorimon hab endlich mal Rückgrat und hab ich dir nicht beigebracht dass du Tsukaimon nicht so angucken sollst sonst weinst du eines Tages noch wie die Digimon in den Kinderreimen die sich von jedem küssen lassen weil sie so dumm sind)

„Wisst Ihr, Meister, neugierig seid Ihr uns alle lieber. Also könntet Ihr auch weiter so bleiben? Das wäre das Beste.“

Sagomon genoss wieder Sanzomons volle Aufmerksamkeit, er hatte Babamons Predigt in den Hintergrund gerückt. Das Ziehen mit der verbundenen Euphorie war aus ihrem Bauch verschwunden und sie war froh darüber.

„Sanzomon!“, riefen Stimmen von draußen. Im selben Moment ging die Tür auf und Kiimon und Viximon rannten zu ihr. Beide nahmen vor Sanzomon Platz, mit großen, kullernden Augen.

„Sanzomon darf nicht traurig sein!“

„Ja, wenn Sanzomon auch traurig ist, sind wir auch ganz traurig.“

„Ich bin doch nicht -“, dann warf sie ihren Kopf zurück und hatte im Türrahmen für einen Moment Gokuwmon und Cho-Hakkaimon gesehen. Sagomon knurrte leise.

„Wieso schickt ihr immer andere vor, euren Kram zu machen?“, schimpfte er mit den beiden. „Tragt gefälligst auch etwas Nützliches bei!“

„Du weißt doch, wie nutzlos wir sind“, meinte Cho-Hakkaimon kleinlaut.

„Richtig“, stimmte Gokuwmon zu. „Du kannst so etwas viel besser, Sagomon. Deswegen schicken wir dich ja auch immer vor. Du machst das schon gut. Glaub an dich. Lass dein Herz für dich sprechen, oder... was auch immer.“

„Tolle Freunde seid ihr…“, knurrte Sagomon und sein Schnabel klapperte leise. Sanzomon rieb sich mit der Hand über die Augen und seufzte. Viximon und Kiimon starrten noch immer besorgt drein, mit zittrigen Lippen, als wären sie etwas, was ihnen so schwer auf der Seele lag und so klein und unerfahren, genauso überfordert mit der Situation und mit den Gefühlen. Dass Sanzomon nun diejenige war, die diese Rolle spielte beschämte sie zutiefst.

„Ich bin nicht traurig.“

„Echt nicht?“, fragte Kiimon skeptisch, gleichzeitig aber war es froh darüber.

„Wirklich. Ich arbeite nur zu viel, das ist alles.“

„Musst du heute wieder so viel arbeiten?“

„Liest du uns nach dem Abendessen was vor? Bitte.“

Für Viximons großen und bettelnden Blick hätte sie gerne bejaht. Jedoch -

„Leider ja“, seufzte Sanzomon schwer, die beiden kleinen Digimon vor ihr noch tiefer und waren nun die, die traurig waren und mit herunterhängenden Ohren dasaßen. Sanzomon legte die Arme um sie und zog sie näher zu sich.

„Du sollst nicht so viel arbeiten. Cho-Hakkaimon sagt doch immer, zu viel arbeiten ist nicht gesund. Oder, Cho-Hakkaimon?“

„Natürlich ist das ungesund, aber Meisterchen hört ja nie auf uns.“

Nun stand sie hinter Sanzomon und sie wie Sagomon waren überrascht, warum sie nun doch aus ihrem Versteck gekrochen kam, oder warum Gokuwmon plötzlich saß, als täte er dies schon die ganze Zeit. Derweil legte Cho-Hakkaimon ihren Arm um Sanzomon und drückte sie so dicht an sich, dass Sanzomon nur schwer atmen konnte.

„Deswegen solltet ihr kleinen Rabauken mit ihr reden. Sagt ihr, sie soll nicht so Trübsal blasen, mit gestemmter Brust voraus und mal sagen, wo’s lang geht! Los, sagt’s ihr. Sagt ihr, sie soll auf Konfrontation gehen. Schlimmer geht’s zwar immer, aber je schneller man es hinter sich hat, um so besser. Das Schlimmste sind die ersten drei Sekunden, danach wird es erträglich.“

„Wir wissen doch nicht einmal um was es geht“, jammerte Viximon. Die Digimon redeten immer so wirre Sachen, die sie selbst, auf dem geistigen Stand vergleichbar mit einem fünfjährigen Kindes, gar nicht begreifen konnten, selbst wenn sie gewollt hätten.

„Jetzt lass die Kleinen, Cho-Hakkaimon, du überforderst sie.“

„Und sehr aufbauend bist du auch nicht“, beschwerten sich Gokuwmon und Sagomon. „Du machst es nur schlimmer.“

„Du hast doch auch keinen Vorschlag, Sagomon!“

„Jetzt beschwerst du dich? Du hast mich doch vorgeschickt!“

„Recht hat sie schon“, murmelte Gokuwmon, was den sonst so gefassten Sagomon erschütterte.

„Du hast doch mitgemacht! Du hättest ja auch etwas Sinnvolles beitragen können.“

„Ach, nicht doch. Du bist schließlich der Ältestes von uns, Sagomon. Älteren gibt man den Vortritt.“

„Ahr, hätte ich gewusst, wie ihr mich einmal vorführt, wäre ich weiter in Pixiemons Keller verrottet.“

„Du musst aber zugeben, bei uns ist es wesentlich entspannter als bei Pixiemon. Oder?“

Sagomon verschränkte die Arme und zog nachdenklich den Kopf ein. Die Zeit nach dem Krieg war für ihn keine schöne und statt von den wenigen Engel-Digimon auf Server gleich getötet zu werden, wurde er unter Pixiemons Obhut gesteckt. Er verbrachte Jahre in einem dunklen Keller, nur gelegentlich holte ihn Pixiemon heraus, wenn es eine Putzkraft brauchte. Absolut herrisches Ding. Hätte D’arcmon ihn damals nicht bemerkt und mit Pixiemon verhandelt, würde er vermutlich immer noch den Boden putzen.

„Na ja, nicht mehr Böden wischen hat etwas, zugegeben…“

„Hey, du hattest wenigstens ein Dach über den Kopf“, schmollte Cho-Hakkaimon laut. „Ich wurde einfach auf die Müllkippe geworfen.“

„Ja, weil du faul warst“, schimpfte Gokuwmon.

„Und vorlaut“, fügte Sagomon hinzu.

„Und weil du gegen Regeln verstoßen hast.“

„Und weil du sie dazu wissentlich ignoriert hast.“

„Und du ständig Party gemacht hast.“

„Das hat sie danach auch.“

„Habt ihr’s bald?!“, maulte Cho-Hakkaimon erbost. Obwohl sie wütend auf beide war, schlug sie erst nur auf Gokuwmon ein, der drückte sie aber nur von sie sich. Sanzomon zog Luft ein, wollte eigentlich aufseufzen, nach all dem Stress und nun dieser Lautstärke, stattdessen aber musste sie kichern. Ihre drei Schüler hörten sofort auf zu streiten.

„Ihr seid manchmal noch verrückter wie ich“, lachte Sanzomon.

„Ist das… schlecht?“, fragte Cho-Hakkaimon verwirrt, Gokuwmon und Sagomon aber lächelten, nicht wegen dieser Bemerkung, sondern da sie ihren selbstgewählten Meister endlich wieder einmal lachen. Darüber freuten sich auch Viximon und Kiimon.

„Jaaa, Sanzomon ist fröhlich! Fröhlich! Fröhlich!“, jubelten die beiden, während sie aufgeregt nach einander in Luft sprangen.

„Wenn du wieder fröhlich bist, kannst du uns doch etwas vorlesen, Sanzomon? Bitteee.“

„Ich sagte doch, es geht nicht“, entgegnete sie Kiimon. Dieses und Viximon beendeten ihre Freudensprünge sofort und die Ohren klappten traurig zurück.

„Aber... Morgen werde ich gerne eurem Wunsch nachkommen. Gleich nach dem Frühstück.“

Jauchzend sprang die beiden Digimon schließlich bei dieser Neuigkeit wieder auf und ab, schmiegten sich eng an Sanzomon und sie so fröhlich zu sehen erleichterte ihren Geist. Diese kleinen Geschöpfe hatten so viel durchgemacht. Sie konnte ihnen nur schwer etwas abschlagen. Und enttäuschen wollte Sanzomon sie erst Recht nicht.

„Übrigens… Solltet ihr beiden nicht bei Sirenmon und Sistermon sein und beim Aufräumen helfen?“, bemerkte Sagomon, er stand nun hinter Sanzomon, während Cho-Hakkaimon immer noch mit Gokuwmon zetterte.

„Haben wir schon gemacht“, antwortete Viximon abrupt.

„Na, dann ab ins Bett mit euch. Es ist schon stockfinster draußen.“

„Können wir nicht noch mit den Bakemon spielen?“

„Die Bakemon müssen auch ihre Arbeit erledigen.“

Enttäuscht seufzten Viximon und Kiimon, während Sanzomon, wie auch Sagomon sich fragten, was das größere Mysterium war – das sämtliche Baby- und Ausbildungs-Digimon im Schloss so gar keine Angst vor den Bakemon zu haben schienen und sie als Spielkameraden sahen, oder dass die Bakemon erstaunlich gut und effektiv als Babysitter waren?

„Sagomon, musst du Morgen wieder um den Berg?“

„Und wenn du das gemacht hast, kannst du dann mit uns im Wasser spielen?“, fragten Viximon und Kiimon erwartungsvoll – die anfängliche Enttäuschung war bereits Schnee von gestern – und Sagomon nickte ihnen zu.

„Wolltest du nicht mit uns spielen?“, fragte Cho-Hakkaimon und zitterte übertrieben mit ihrer Unterlippe. „Du wolltest mit ihr und Gokuwmon pokern.“

„Hast du nicht Nachtschicht?“, bemerkte Gokuwmon.

„Ja, irgendwas muss ich ja machen, Phantomon will nicht mit mir Karten spielen.“

„Du sollst ja auch nicht Karten spielen, sondern arbeiten!“, brüllte Gokuwmon sie an, worauf sie nur beleidigt schimpfte:

„Mach ich doch, ich fördere unser soziales Miteinander! Ich bin sozusagen als Vertreter unserer Gemeinschaft zuständig und versuche die Geist-Digimon hier einzugliedern.“

„Du hast nur keine Lust, sei wenigstens ehrlich!“

Doch Cho-Hakkaimon lief schon davon, nicht aber ohne Gokuwmon die Zunge herauszustrecken.

„Ich glaube, ich geh lieber hinterher“, schnaufte Gokuwmon auf, als er aufstand. „Nicht, dass es heute Nacht Tote gibt. Armer Phantomon, dabei hat er nichts getan.“

„Können untote Digimon überhaupt noch einmal sterben? Ist das nicht ein Widerspruch in sich?“, fragte sich Sanzomon.

„Kein’ Schimmer. Ich will’s aber ehrlich gesagt auch nicht herausfinden. Am Ende sind ansonsten wir dran“, und eilig rannte Gokuwmon Cho-Hakkaimon hinterher.

„Willst du nicht auch nach, Sagomon?“

„Nein. Ich hoffe einfach das Beste. Vielleicht schafft es Cho-Hakkaimon wirklich, sich mit Phantomon und den restlichen Geist-Digimon anzufreunden.“

Trotz des Optimismus in seinen Augen, wurde sein Gesicht von Skepsis und vorsintflutlichen Gedanken gezeichnet. Sanzomon gab ihm daraufhin einen leichten Stoß mit dem Ellenbogen.

„Es klappt. Sicher. Bisher lief es den ganzen Monat doch friedlich. Besonders Cho-Hakkaimon hat sich schon mit größeren Digimon angelegt in der Vergangenheit.“

„Ja. Und wir wissen alle wie das ausging“, bemerkte Sagomon weiter besorgt.

„Lass sie. Ich bin sicher, es passiert nichts schlimmes“, sagte Sanzomon von sich überzeugt, dann widmete sie sich wieder zu Viximon und Kiimon. „Und ihr zwei geht nun wirklich ins Bett.“

Die beiden stöhnten enttäuscht auf, fingen an zu protestieren, sie seinen ja noch gar nicht müde und Viximon sei ja kein Baby-Digimon mehr, es wollte lieber noch mit den Sistermon oder den Bakemon spielen. Doch Sanzomon ignorierte ihre Beschwerden, wusste sie doch, dass selbst wenn sie sie spielen lassen würde, nach nicht einmal einer Viertelstunde würden sie schlafend in der Ecke kauern. Viximon und Kiimons Beschwerden ließen schließlich nach, in dem Augenblick als Sanzomon begann sie in den Armen zu schaukeln und zu summen, als sie durch die Korridore liefen, Sagomon hinter ihnen. Und da den beiden Digimon, genau wie ihren anderen Spielkameraden Sanzomons Stimme so gefiel, steckte sie sich mit dem Takt an und summten fröhlich die Melodie von Schnell, hier kommt das Mondmon.

Sanzomon bemerkte in dem Gesumme, dem Gelächter und der damit einhergehenden lockeren Stimmung die Fledermäuse nicht, erst als Viximon und Kiimon zu jauchzen begannen. Die Fledermäuse die mit den Geist-Digimon hier ins Schloss eingezogen waren, machten ihnen genauso wenig aus wie die Geister und sie versuchten hin und wieder welche von diesen geflügelten, schwarzen Tierchen mit den großen Ohren zu fangen. Vor Myotismon aber, dem diese Fledermäuse gehörten hatten sie Angst und überaus viel Respekt. Die Baby- und Ausbildungs-Digimon sagten nichts, aus Höflichkeit und weil sie wussten, dass er so etwas wie ein alter Freund ihrer Ziehmutter war und immerhin dafür verantwortlich, dass sie alle nachts ruhig schlafen konnten. Aber Sanzomon wusste, dass die kleinen Digimon Myotismon heimlich als das große, schwarze Boogymon bezeichneten, eine alte Gruselgestalt, die sie noch aus jüngsten Tagen kannte.

Und Sanzomon bemerkte ihn erst, als er direkt vor ihr war. Da stand er nun, mitten im Zentrum des Schlosskomplexes, der alle anderen Winkel und Flügel miteinander vereinte, jedoch keine Physik oder Logik kannte.Wirre Gänge, die sich in diesem einzigen Teil des Schlosses befanden, wo schon die Schwerkraft versagte (Sinnbild von Jijimons und Babamons wirren Köpfen, munkelte man). Und von all denen musste Myotismon genau den Weg wählen, den Sanzomon gehen wollte.

Es war ein Albtraum. Ein anderes Sanzomon hätte sehr wahrscheinlich zu ihr gesagt, es sei Karma.

„Guten Abend.“

Er klang neutral, und doch schien es Sanzomon, als wäre Myotismon genauso wenig über dieses Zusammentreffen erfreut. Oder es störte ihn, dass sie nicht alleine war.

Viximon und Kiimon pressten sich enger an Sanzomon. Während sie den Kopf etwas anhob und weniger eingeschüchtert zu wirken, glaubte sie irgendwo über- oder unterhalb, so sicher konnte man sich hier nicht sein - Bakemon schweben zu hören, die gerade aufgewacht waren.

„Guten Abend. Ich nehme an, du bist auf dem Weg zu deiner Nachtpatrouille?“

„Selbstverständlich. Gibt es Einwände, ehrfürchtige Hohepriesterin?“

Sanzomon schüttelte nur den Kopf, während ihr restlicher Körper stocksteif bleib. Kiimon und Viximon zappelten in ihren Armen. Ihr Griff war die beiden Digimon zu eng geworden, aber sie konnte sich kaum beherrschen.

„Sanzomon, du drückt zu fest zu. Ist dir nicht gut?“, beschwerte sich Kiimon, Viximon versuchte schon Sanzomons Arme wegzudrücken, bis sie ihre Umarmung von selbst lockerte.

„Entschuldigung, ich wollte euch nicht wehtun. Und ja, mir geht es gut.“

„Ehrlich? Dein Herz pocht ganz schön schnell.“

„Ja, das springt bestimmt gleich raus.“

Sanzomon wollte fluchen, aber verkniff es sich, dafür war sie zu verkrampft. Das war ein Albtraum, ganz, ganz sicher. Sie hoffte es, aber dafür war Myotismon zu real gewesen, dem trotz erhobenen Blick, obwohl er sich wieder zu ihr hinunterbeugte, um mit ihr auf Augenhöhe zu sein und den langen Zähnen, vor denen sie solche Angst hatte auf den grinsenden, dunkelblauen Lippen.

„Ja, Sanzomon, sag schon. Ist dir nicht gut?“

„Mir. Geht. Es blendend.“

Nicht nur ihr Körper, sogar ihre Stimme versagte nun vor Angst. Sie hatte Angst vor ihm. Entsetzliche Angst und wusste nicht einmal wirklich warum.Wenn da nicht ein kleines Wörtchen wäre, gleich einem einsamen Funkeln im tiefsten und schrecklichsten Abgrund.

Manchmal.

„Myotismon, ich glaube Sanzomon schwindelt, damit wir uns keine Sorgen machen.“

„Ja, dabei klopft ihr Herz jetzt noch viel doller.“

Viximon und Kiimon drehten schnell ihre Köpfe immer wieder zu Sanzomon, deren Herz wirklich dabei war herausspringen und sich dabei mental schon darauf gefasst machten, es im Fall des Falles - auch wenn sie wussten, dass das nicht möglich war - aufzufangen, und zu Myotismon, dessen Bedeutung in seinen Gesichtszügen sie aufgrund ihres kindlichen Verstandes nicht deuten konnten. Es reichte, dass Sanzomon diese Zweideutigkeiten in seiner Mimik verstand.

„Ihr erlaubt?“

Sagomon tauchte neben Sanzomon und Myotismon auf. Sagomon, stimmt, sie hatte es vergessen. Als sie Myotismon erblickte, hatte sie die gesamte Welt um sich herum vergessen, dabei brauchte sie doch keine Angst haben, er war ja da, scho die ganze Zeit, was sollte also passieren?

Doch Sagomon nahm schweigend Viximon und Kiimon an sich, lief mit den beiden im Arm weiter und ließ Sanzomon, deren Körper sich immer noch taub anfühlte, stehen. Er sah nicht einmal zurück.

„Haben wir was Falsches gesagt, Sagomon?“

„Pscht jetzt!“, ermahnte Sagomon die beiden Digimon und sie blieben es auch. Sanzomon schaute ihm nach, hoffte er käme zurück und würde sie genauso mitziehen. Selbst als er in den Schatten der Korridore verschwand, hoffte sie weiter. Aber Sagomon kam nicht zurück. Er wollte, dass Sanzomon dass alleine regelte.

Ungestört und mit der Angst direkt konfrontiert. Sie bildete sich ein ihr Inneres wurde schwer. Myotismon wirkte hingegen wieder ganz neutral, wenn Sanzomon auch nicht glaubte, dass er es wirklich war.

„Möchtest du mir etwas sagen?“, fragte er nach kurzer Stille fordernd.

„N-Nein. Nein, habe ich nicht. Ich arbeite eben viel und die Kleinen machen sich Sorgen. Mehr nicht.“

Sanzomons Lippen hatten sich unter ihrem Halstuch zu einem schmalen Strich verzogen. Die Erinnerungen an ihren Kuss kamen hoch. Und wie der schlichte Wunsch, Myotismons Hand noch mal berühren zu können, wollte sie ebenso diesen Kuss noch mal erleben, mit jeder einzelnen Faser ihres Körpers. Doch die Angst hielt sie im Griff. Sanzomon konnte nur an seine Zähne denken, mit denen er wer weiß was getan hatte und bei jeder seiner Mundbewegungen hatte Sanzomon das Gefühl, er würde jeden Moment nach ihr schnappen und zubeißen.

„Ich glaube aber, es gibt da sehr viel mehr, was du mir sagen möchtest.“

Myotismon lächelte. Er war nicht wütend auf sie, kein Hauch von Verwunderung, nicht einmal Enttäuschung darüber, dass sie bei jeder Silbe zusammenzuckte. Myotismon lächelte sie an und Sanzomon sah die grinsende Mondsichel vor ihrem geistigen Auge, die sie verspottete.

(er weiß es er weiß es er weiß es)

Er wusste, was sie dachte, weil es so offensichtlich war. Schon die ganze Zeit. Bestimmt wusste er sogar, mit welchen kläglichen Vorhaben sie versucht hatte es zu verbergen. Und wieder wurde Sanzomon klar, wie riesig der Abstand, in jeder Hinsicht zwischen ihnen war.

(er weiß es er weiß es und macht sich über dich lustig)

„Ich höre zu, also sprich.“

„Es gibt nichts, was ich zu sagen hätte. Es -“

„Geht mich nichts an. Richtig?“

Sie war sprachlos. Genau das war es, was Sanzomon ihm sagen wollte, so erbärmlich diese Antwort auch war, genauso wie ihr Verhalten, wofür sie von Myotismon mit Frustration gestraft wurde.

„Ich lasse es mir vielleicht gefallen, nach deinen Regeln zu tanzen. Wir leben hier in Symbiose. Und wir sind die Gäste, also hast du als Babamons Nachfolgerin auch das Hausrecht.“

Mit jedem Wort wurde Myotismons Stimme tiefer und sei Gesicht kam ihr wieder viel zu nah. Das zynische Lächeln war weg und Sanzomon schluckte, als die Frustration in Wut umschlug.

„Das heißt jedoch nicht, dass ich derjenige bin, an dem du deine Launen ausleben kannst. Ich habe nichts dagegen, wenn Digimon mir hübsche Augen machen. Aber ich lasse mich nicht verführen, nur um dann geächtet zu werden.“

„D-Das ist so nicht!“, widersprach Sanzomon direkt.

„So? Dann hast du mich also nicht geschlagen, obwohl du offensichtlich Spaß hattest? Oder meidest du mich etwa nicht, weil es dir unangenehm ist? Deine Ohrfeige lasse ich mir gefallen, nicht aber wie du mich seither behandelst, weil du zu feige bist, den Dingen ins Gesicht zu schauen. Du schimpfst dich Freund, dabei sehe ich, wie du meine Zähne anstarrst. So viel zu deiner Gleichwertigkeit und deinem Individualismus. Wenn du wenigstens die Courage hättest zuzugeben, dass du mich als Virus und potenzielle Gefahr siehst -“

„Nein!“, unterbrach sie ihn laut. „Das verstehst du falsch! Es ist nicht der Typus, oder etwas ähnliches. Du sagtest, du würdest mir das glauben!“

„Was ist es dann?“

Sanzomon brachte kein Wort heraus. Ihre Kehle war enger geworden, selbst zu atmen fühlte sich unangenehm an. Myotismon wartete noch, ob sie etwas sagen würde, doch als nichts kam, schüttelte er den Kopf und schnaufte durch die Nase.

„Typisch Serum.“

Die Worte, die Sanzomon sich erst im Kopf zusammengelegt hatte lösten sich in ihren Gedanken im Nichts auf und sie kamen auch nicht wieder. Verantwortlich war der Schmerz, der ihr durch die Brust jagte. Myotismon ging an ihr vorbei, ohne noch etwas zu sagen, nur sein Umhang streifte sie und selbst stand sie nur wie angewurzelt da.

Sie hatte auf ganzer Linie versagt. Wie erbärmlich. So einen erbärmlichen Schlossherrn wie sie hatte es sehr wahrscheinlich noch nie auf Grey Mountain gegeben.

Sanzomons Nacken war schwer. Sie sah nur den Boden und ihre eigenen Füße, aber wirklich wahrnehmen tat sie es nicht. Ihre Hände erschienen in ihrem Blickfeld und Sanzomon begann sich zurückzuerinnern, an jenen Abend damals. Sie füllte sich wieder wie früher. Schwach und unfähig. Ihre Gefühle unerwidert und unbemerkt.

Vielleicht war sie eben doch nur zu Sanzomon digitiert, weil sie tief in ihrem Inneren noch den Wunsch hegte, wie die Digimon zu sein, die sie einst Geschwister nannte. Vielleicht passte das, was sie war wirklich nicht zu ihr und sie hatte sich nur angepasst. Sie war noch wie früher und neben Myotismon zu stehen machte es nur noch deutlich. Sie konnte mit ihm nicht mithalten. Sie konnte nicht wie er sein.

Taugte sie so dann überhaupt als Meister? Als Schlossherr? Vielleicht hatte Babamon ja Recht...

Sanzomon sah sich ihre Hände genauer an. Helle, dünne Finger mit langen Nägeln, sauber, vor allem sauber. Vor ein paar Stunden waren sie noch mit Tinte verschmiert gewesen, dunkelblaue und schwarze Reste ihrer Schriften und Übersetzungen, die sie am Nachmittag auf Pergament geschrieben hatte. Wenn Sanzomon sich so zurückerinnerte, waren ihre Hände oft schmutzig gewesen.

Schon im jungen Ausbildungs-Level hatte Cupimon Pflanzen ausgebuddelt und schwere Steine beiseite geräumt, um zu wissen, wie es darunter aussah. Ebenso stets mit den Händen im seichten Wasser, um alles, was am Boden lag an die Oberfläche zu holen und von simplen Steinen, die ganz andere Muster besaßen wie die meisten oder die Erkenntnis, dass die Wurzeln oft doppelt so lang waren, wie die eigentliche Pflanze hatten sie so leicht zu faszinieren. Sie ist oft deswegen gehänselt worden.

Als Babamon ihr das Schreiben beibrachte, lernte sie den Geruch von Papier und Tinte zu lieben. Auch als Tsukaimon noch bei ihnen lebte, waren ihre Hände oft verfärbt. Sie bekam es manchmal nie ganz weg und obwohl Tsukaimon oft mit ihr schimpfte, akzeptierte er es, wenn sie ihm, nach einer schlechten und mit Albträumen geplagten Nacht mit eben diesen Händen über den Kopf strich.

„Tsukaimon...“

Er hatte sie immer irgendwie akzeptiert, egal wie oft er sich über sie beschwerte oder wie oft er sie anschrie. Am Ende des Tages, durfte sie doch die Decke mit ihm teilen.

Sie hatte auch für ihn gelernt und für ihn ändern. Sie wollte nicht mehr von ihm als nervtötend empfunden werden, sondern ein Digimon sein, dass von ihm anerkannt wurde. Und dass an ihren Einstellungen, die er damals schon für albern hielt, nichts verkehrt war. Um irgendwann den Abgrund auch in seinen Augen sehen und verstehen zu können. Seine neue Gestalt und seine Zähne durften daran nichts ändern. Angst war der Neugier größter Feind.

Nicht zuletzt schließlich durfte sie auch keine Angst haben, damit sie irgendwann einmal mehr für dieses Digimon sein könnte.

Keine Angst. Keine Angst. Keine Angst.

Ihre hellen Hände ballten sich zu Fäusten.

„Tsu... Myotismon! Warte kurz!“

Als Myotismon sich, wenn auch widerwillig umdrehte, stand Sanzomon bereits vor ihm und fragte sich im selbigen Moment, wo plötzlich diese Entschlossenheit in ihrem Gesicht herkam, obwohl sie eben noch fast in Panik geraten war und nicht Wort herausbekam.

Sanzomon war schwindlig von ihrer eigenen Entscheidung geworden. Statt in der Realität befand sie sich in ihrer Vergangenheit, sah ihr Rookie-Ich allein im Korb liegen, wartend und hoffend, Tsukaimon käme wieder. Und überzeugt, wenn er wieder käme, würde er wieder bei ihr liegen. Aus freien Stücken, nicht weil Jijimon ihn darum bat.

Sie hatte Angst er könnte denken, dass sich nichts geändert hätte, außer ihr Äußeres. Sie musste das Gegenteil beweisen, wenn sie jemals von ihm so angesehen werden wollte, wie sie sich das erträumte. Und das hier war die Chance, von der Sanzomon immer gehofft hatte. Genau das.

Mit dem Blick fest auf Myotismon gerichtet, zog Sanzomon ihr Halstuch vom Gesicht und packte ihn schließlich mit einer Hand am Kragen, während sie die andere in seinen Nacken legte. Kurz zögerte Sanzomon, überlegte, wie und wo sie anfangen sollte, während Myotismon selbst sie stumm dabei beobachtete, wie sie ihn ansah, unsicher was dieses Digimon vor hatte. Sanzomon entschied sich für einen Kuss direkt auf einen seiner Eckzähne. Die kalten Schärfe löste ein heftiges Pochen aus, das aber nur für ein, zwei Schläge hielt. Das Tempo wurde gemächlicher, dann schien ihr Herz davonzufliegen.

„Sieh mich an, Myotismon...“

Sanzomon ließ ab, um in Myotismons Gesicht schauen zu können und spürte dabei den leichten Abdruck seines Zahnes auf den Lippen. Doch schockiert über sich selbst, wich sie zurück. Ihre Hände drückte sie fest an sich und vor Scham brachte sie es kaum fertig weiter aufzuschauen.

„I-Ich weiß, es wirkte nicht so. Ich denke, ich war zu verunsichert und überfordert. Dabei war ich wirklich glücklich, als ich dich gesehen habe, nach so langer Zeit. Ich habe gewartet. Ich habe solange darauf gewartet, dass ich dich wiedersehen kann und ich dir beweisen kann, dass ich nicht mehr so bin wie früher. Weil… du mir schon immer viel bedeutest. Sehr viel. Egal was für ein Digimon du bist.“

Sie schluckte und es kostete Sanzomon fast genauso viel Mut Myotismon in die Augen zu sehen, wie schon diese Worte überhaupt auszusprechen, die sie eigentlich wohlbehütet in ihrem Herzen eingeschlossen lassen wollte.

Myotismon war verwirrt, vollkommen entrüstet und nun verstand Sanzomon auch, wieso er immer so viel Freude dabei hatte sie aus der Fassung zu bringen. Ihr war fast nach kichern zumute bei diesem Gesicht, aber die Scham in ihr ließ es nicht zu. Es war so still zwischen ihnen dass Sanzomon sich wünschte, sie könne sich auflösen. Gerade als Sanzomon im Glauben verfiel, einen Fehler begangen zu haben, hörte sie Myotismon räuspern, sah ihn um Worte ringen, doch er scheiterte erst daran, einen Anfang zu finden.

„… Was möchtest du, was ich nun tue?“

„Ich…“, begann sie, aber Sanzomon konnte nicht reden. Früher wäre es leichter gewesen darauf zu antworten. Aber sie waren keine Rookies mehr, sie waren sich ähnlich und doch ziemlich verschieden und seine Nachtaktivität machte es schwer, wirklich Zeit für ihn zu finden.

„Ich möchte nicht, dass du irgendetwas für mich tust. Ich möchte nur – Ahr, verdammt!“

Erbost und selbst genervt von sich selbst schüttelte sie den Kopf. Doch diese simple Bewegung half ihr, die letzten Bruchstücke geistiger Hindernisse fortzubewegen, frei zu sein und noch einmal den Mut aufzubringen, den sie erst so mühselig zusammenbringen musste.

Vorsichtig legte Sanzomon ihre Hände um sein Gesicht und da Myotismon sich nicht wehte gab sie ihm noch einen Kuss. Einen längeren, weniger schüchtern, diesmal direkt auf die Lippen.

„Du hast dich also für eine Wiederholung entschieden, ehrfürchtige Hohepriesterin?“, lachte Myotismon amüsiert.

„Glaube ja nicht, dass ich dir deine Unverschämtheiten verziehen hätte.“

Sie zog Myotismons Gesicht näher an ihres, bis sich ihre Nasen und ihre Stirn sich berührten. Die schwere Luft um sie herum versuchte Sanzomons Kehle zuzuschnüren, aber sie zögerte nicht, alles davon einzuatmen, selbst wenn sie ersticken würde. Wieder hatte er dieses zwielichtige Lächeln auf den Lippen, dass Sanzomon manchmal, aber wirklich nur manchmal so an ihm hasste und sie hatte diesen Blick in ihren Augen, den Myotismon nicht ausstehen konnte, aber ihr angeblich so gut stand.

„Und an unserer Vereinbarung ändert sich nichts. Es bleibt alles wie besprochen, also erwarte keine Sonderbehandlung.“

„Ich würde nicht einmal im Traum daran denken.“

Vorsichtig ließ sie von ihm ab, dabei beobachtete Sanzomon genau Körperhaltung und Körpersprache. Kerzengerade, erhaben, selbstbewusst, so wie immer. Sanzomon versuchte, wie so oft auch diese Haltung zu mimen, was bei ihr eher ein Misserfolg war. Sie war zu steif und angespannt. Wieder mit diesem nachdenklich Gesicht legte Myotismon stumm den Kopf zur Seite. Ebenso stumm platzierte er mit leichten Druck seine Hände auf Sanzomons Schultern, so dass sie sie etwas senkte. Dann schließlich nahm er ihren Kopf in die Hand, um ihn ein wenig nach vorn zu legen, damit ihr Kinn zwar erhoben blieb, aber ihr Haupt nicht mehr so tief im Nacken lag. Diese Haltung war deutlich besser. Ihr „Danke“ klang fast schon zu leise, so, wie Myotismon sie aber ansah und ihr Gesicht in seinen kühlen Händen hielt, war es in Ordnung.

„Gern geschehen. Ich hoffe aber, als kleine Anerkennung bekomme ich nach getaner Arbeit noch einen Gute-Nacht-Kuss von dir, ehe ich mich wieder zur Ruhe lege.“

Sie war sprachlos. Weil ihr Halstuch nicht hochgezogen war bemühte Sanzomon sich um Diskretion, innerlich fühlen ihre Emotionen und Gedanken Achterbahn, begleitet von Freudenschreien. Es wirkte in diesem Moment wie ein Traum und fast war ihr, als müsste sie vor Freude weinen. Aber Sanzomon blieb beherrscht.

„Mach deine Arbeit und ich denke darüber nach.“

Noch bevor Sanzomon ihr Halstuch wieder gerichtet hatte, hatte sie sich bereits dazu entschieden dieser Bitte nachzukommen. Kaum das der Stoff wieder die untere Hälfe ihres Gesichtes verdeckte, konnte sie ihr Grinsen nicht mehr halten. Sie strahlte jedoch so sehr, dass man es Sanzomon doch ansah.

Ihre zuvor empfundene Angst schmolz dahin wie Schnee im Sommer, während Myotismon sie losließ und sie ihm hinterher schaute.

Es fühlte sich gut an. Richtig. Wie ihre Träume von früher, nur diesmal waren sie real.

Cho-Hakkaimons Gekichern hallte in ihren Ohren, und Sanzomon rechnete mit dem Schlimmsten. Alle ihre drei Schüler standen in einem Gang über ihr, mit den Köpfen nach unten hängend wie Fledermäuse (vielleicht stand auch sie entgegen der Schwerkraft und ihr Schüler korrekt, in diesen Gängen konnte man sich da nicht so sicher sein) und hatten von dort das Szenario beobachtet. Außer Viximon und Kiimon, denen Sagomon die Augen zuhielt. Gokuwmon schüttelte nur, mit den Armen an die Brüstung gelehnt den Kopf, während Cho-Hakkaimon ihre Hände über den Mund kreuzte, um so ihr Kichern zu verbergen. Erleichterung keimte in Sanzomon auf, aber gleichzeitig wünschte sie sich, sie hätte eines ihrer dicken Bücher in der Hand, dass sie sich vor das Gesicht halten konnte, damit niemand sah wie furchtbar verliebt sie war.

 
 

𝅗𝅥
 

Es war längst dunkel und ungeduldig schwebte Phantomon vor der Tür seines Schlafraumes, den er mit ein paar Bakemon teilte. Er war kläglich eingerichtet, aber sie brauchten nicht viel und da dieser Raum keine Fenster besaß, schützte er sie alle vor der Helligkeit und mehr brauchte Phantomon nicht. Mit seiner Sense in der Hand schwebte Phantomon den Gang auf und ab und wartete auf Myotismon. Dieser Abend sollte der Erste sein, an dem ihr Meister und der Rest der untoten Gefolgschaft ohne Aufpasser ihrer Arbeit nachkommen konnten und da nun keiner von Sanzomons Schülern in der Nähe war, konnten sie in Ruhe so einiges bereden.

Phantomon hörte Schritte aus dem Korridor, aber ebenso, dass das nicht sein Meister war. Es waren die Schritte von drei paar Füßen und Phantomon wusste noch ehe sie in Sichtweite waren, dass es Gokuwmon, Cho-Hakkaimon und Sagomon waren. Sie tratschten. Vor allem kicherten sie mit eng zusammengesteckten Köpfen und das war durchaus seltsam.

„Ah, guten Abend, Phantomon. Bereit für die Arbeit?“, grüßte Sagomon freundlich. Ihm sah Phantomon an, dass Sagomon schon im Krieg war. Seine Art zu reden und sein Kampfstil verrieten das. Umso mehr fragte Phantomon sich, warum ein Digimon wie er vor einem Digimon wie Sanzomon kuschte. Bei Gokuwmon und Cho-Hakkaimon ähnlich, wenn er aber an ihrem Verhalten nicht ganz erschließen konnte, woher sie kamen. Für das Militär oder einen ähnlichen Dienst unter einem autoritären Regieme waren sie zu locker. Wenn Phantomon jedoch ehrlich war, interessierten ihn nicht-untote Digimon wenig.

„Ich warte noch auf Meister Myotismon. Er ist spät.“

Eigentlich neigte Myotismon grundsätzlich dazu sich Zeit zu lassen, aber an dem Abend war er selbst für seine Verhältnisse unpünktlich.

„Oh, ich denke, der kommt gleich. Wir haben ihn getroffen und er war noch mit anderen Sachen beschäftigt“, kicherte Cho-Hakkaimon los.

„Ach so? Und was war so wichtig?“

Sie antwortete nicht. Gokuwmon und Sagomon sahen sich an und überlegten erst noch, ob sie etwas sagen sollten.

„Frag am besten deinen Meister direkt“, antwortete Gokuwmon. „Wir tratschen nicht so gern über so was.“

„Och, jetzt sag das nicht so“, schimpfte Cho-Hakkaimon. „Das war doch süß! Es wurde echt Zeit, dass Meister Sanzomon den Schritt wagt.“

„Wir müssen es aber nicht gleich an die große Glocken hängen. So etwas macht man nicht“, entgegnete Sagomon um Cho-Hakkaimon zu bremsen, die nun schmollte. Insgeheim fragte sich Phantomon, was bei allen Gruften dieser Welt sein Meister getan hatte, dass ein Digimon wie Cho-Hakkaimon sagte es sei süß gewesen.

„Was ist vorgefallen?“, fragte Phantomon überaus skeptisch.

„Wie wir sagten, dein Meister soll es dir erzählen. Ihr habt ja die Nacht nachher ja für euch.“

Ja, und darum war Phantomon auch froh. Ein Monat stets jemanden an der Backe zu haben, nur um sicherzustellen, dass sie alle vertrauenswürdig seien war lästig. Besonders, wenn er Cho-Hakkaimon am Halse hatte. Für solche anhängliche und sprunghafte Digimon konnte Phantomon wirklich nichts abgewinnen.

„Durchaus. Dann könnt ihr ja alle früh schlafen gehen. Den ganzen Tag zu lernen und auf kleine Digimon aufzupassen ist sicher anstrengend.“

„Eigentlich wollten wir den Abend zusammen verbringen. Wir hatten lange die Zeit dafür nicht“, sagte Sagomon, Gokuwmon und Cho-Hakkaimon nickten zu.

„A-ha?“

„Ja, wir sitzen noch zusammen, quatschen und trinken ein wenig. Normalerweise sind wir auch zu viert, aber Meister Sanzomon wird ein wenig Zeit für sich brauchen, besonders jetzt“, erzählte Gokuwmon, dann überkam Cho-Hakkaimon ein Geistesblitz.

„Hey, wenn du nachher Pause machst kannst du gerne dazukommen. Wir sind immer sehr lange wach.“

„Ich trinke nicht im Dienst.“

„Wir haben auch Nichtalkoholisches.“

„Wir würden uns freuen. Wir haben in all der Zeit kaum Möglichkeiten gehabt von uns zu erzählen und uns richtig kennenzulernen. Was sagst du, Phantomon?“, fragte Sagomon. Die drei sahen ihn gespannt an und Phantomon würde mit Schweigen nicht hieraus kommen. Außerdem war es unhöflich direkt Nein zu sagen. Nicht zuletzt auch riskant, denn es könnte das gerade erst gewonnene Vertrauen wieder dämmen.

„Ich denke darüber nach.“

„Na gut. Wir sind im Esssaal, wenn du uns suchst.“

„Und wir sehen uns später nochmal!“

Sie gingen, Cho-Hakkaimon winkte ihm noch zu, dann waren sie weg. Phantomon war froh darum. Er wollte aufatmen, doch der Zug blieb ihm im Halse stecken. Die eiskalte Präsenz seines Meisters war in unmittelbarer Nähe. Obwohl Phantomon sich daran eigentlich gewöhnen müsste erschrak er doch jedes Mal, wenn Meister Myotismon von der einen auf die anderen Sekunde irgendwo auftauchte. Nichts Unbekanntes für ein Geist-Digimon, aber Geist-Digimon untereinander spürten es, wenn Ihresgleichen in der Nähe war. Aber Myotismon spürte man so gut wie überhaupt nicht.

In diesem Fall erschien er hinter Phantomon und das Erste, was dieser sah war das breite Grinsen seines Meisters.

„Guten Abend, Meister“, grüßte Phantomon ihn und verbeugte sich, wie es sich seines Erachtens gehörte. Myotismon sagte nichts, er grinste nur weiter.

„Wie mir scheint, seid Ihr guter Laune?“

„Oh, ich bin sehr guter Laune. Fast schon euphorisch.“

Erst traute Phantomon sich nicht zu fragen, ob es etwas mit dem zu tun hatte, was die anderen drei zuvor von sich gaben. Zudem bereitete ihm das Grinsen seines Meisters Unbehagen. Wenn Myotismon ein solches Grinsen im Gesicht hatte, lag dahinter ein Plan. Zuletzt sah Phantomon dies, als Myotismon die Idee kam, hierher nach Grey Mountain zu kommen.

Zuvor waren sie in ihrer Kirche am Wasteland Cemetery geblieben und Phantomons Genossen zweifelten daran, dass dieses Digimon dies sein sollte, auf das sie gewartet hatten. Der König der Untoten, der auf vorherigen Level nicht mal untot war? Aber Phantomon war älter als die anderen Bakemon und Soulmon und erkannte das gewisse Etwas. Er war eines der ersten Digimon, die direkt nach dem Fall der Apartheid geboren wurde, kannte das Chaos und die Unordnung, die ihr Fall mit sich brachte und kannte noch die Zeit der Typuskriege: Er hatte selbst um den Norden Data Valleys gekämpft und, liebe Güte, wen kümmerte denn so was? Phantomon war kein Rassist, wie es andere Digimon zu dieser Zeit noch waren, trotz fehlender Apartheid und sie sollten froh sein, dass dieses Dobermon aufgetaucht war.

Schon als Dobermon besaß ihr Meister das Potenzial die Inkarnation des Todes selbst zu sein, mit einer so untypischen, aber erhabenen Haltung, von der er nach der Digitation nichts eingebüßt hatte. Sein Blick allein hätte töten können. Seine Fähigkeiten lernte er schnell zu kontrollieren und nach kürzester Zeit das volle Potenzial zu nutzen gewusst. Mal abgesehen davon, dass er wusste, wie man sich der alten Magie bediente, Magie die nach dem Fall der Apartheid als verloren galt. Nachdem Phantomon erfuhr, dass er mal der Schützling eines Jijimon und eines Babamon war, wunderte ihn das auch nicht.

Meister Myotismons Karten blieben eben verdeckt, deswegen hatte er auch so viele Überraschungen auf Lager. Die bezüglich der Meister der Dunkelheit war aber die Größte gewesen und man wollte seinen Augen nicht so ganz trauen, als man sah wie Piedmon diesen Neuankömmling nicht versuchte auszuschalten, da Myotismon eine mögliche Gefahr sein könnte, sondern ihn mit offenen Armen empfing - umarmt, Piedmon hatte ihn umarmt! - und so vertraut mit ihm sprach, als kannten sie sich bereits. Als seien sie, naja, so etwas wie Freunde.

Myotismon war mit Piedmon und Puppetmon gegangen und tauchte am nächsten Tag wieder bei den Geister auf dem Friedhof auf, nachdem man sich schon mit dem gedanken abfand, dass er vielleicht gar nicht mehr wiederkäme. Er gab nichts Preis, nicht einmal was im Hauptquartier der Meistern der Dunkelheit vorgefallen war, zeigte dafür jedoch großes Interesse an den Untoten-Digimon. Sein Wesen war still, aber intelligent, analysierte und verstand schnell. Aufgrund ihrer Einschränkungen durch Dinge wie die Helligkeit zerbrach sich Myotismon lange den Kopf. Auf diesem Friedhof konnte er nicht bleiben. Zudem hatte er die Meister der Dunkelheit im Nacken. Man brauchte einen sicheren Ort und Grey Mountain war wie geschaffen dafür. Also zogen sie los und jedes Digimon, dass ihnen entgegen kam hatte niederzuknien oder sterben müssen. An Land, Besitz oder Reichtum war Myotismon nicht interessiert. Einzig was er verlangte war bedingungslose Gehorsamkeit. Und Informationen.

Nur einen Sache war bei allem wichtig gewesen, egal was sie taten – Niemals öffentlich bekannt machen, dass man zu den Meister der Dunkelheit gehörte. Offiziell hatte sich Myotismon nicht zu ihnen bekennt und es sollte auch so bleiben, dass kein Digimon es wusste. Warum verstand Phantomon nicht ganz. Digimon prügelten sich regelrecht darum überhaupt in der Armee der Meister der Dunkelheit mitmarschieren zu dürfen. Hatte man das geschafft, hatte man ausgesorgt. Man bekam Unterkunft, mehr Bezahlung und mehr Essen als andere. Aber Myotismon wollte, dass man schwieg und hinsichtlich ihres Vorhabens war das auch wesentlich intelligenter.

Allerdings genauso wenig distanzierte er sich von den Meistern der Dunkelheit. Phantomon verstand zwar immer noch nicht, was zwischen Myotismon und den Meister der Dunkelheit war. Nichtsdestotrotz stand fest, dass er eine Sonderstellung und eine sehr hohe Position genoss. Was immer es war, es würde sich kein Digimon trauen zu fragen, auch Phantomon nicht. Phantomon sah ebenfalls den Schneesturm in seines Meisters Augen, der bitterkalt und unbarmherzig war und vor fast gar nichts zurückschreckte. Sie alle hatten Respekt vor diesem Schneesturm. Und Angst, sehr große sogar. Vor der Kälte, vor der Grausamkeit unter dem Schnee und dem Eis. Myotismon mochte nicht so unberechenbar sein, wie Piedmon es war, dafür folgte er streng eigenen Idealen und Prinzipien, vielleicht sogar noch verbissener wie Sanzomon. Jedoch machte ihn das nicht ungefährlicher.

„Ich verstehe leider nicht, was Ihr mir sagen möchtet, Meister Myotismon.“

„Es sind die Umstände. Es läuft alles fast zu perfekt.“

„Dann hattet Ihr bei Sanzomon Erfolg?“

Ehe Myotismon sprach, sah er sich um. Es gab nur zwei Richtungen, in die der Gang verlief. Hinter ihnen war eine Sackgasse, vor ihnen weit und breit kein anderes Digimon, dass etwas mitbekommen hätte können.

„So kann man es sagen.“

„Also habt Ihr nun die Kontrolle über das Schloss?“

„Noch nicht“, entgegnete er und was Phanotmon noch mehr überraschte wie diese Aussage, war dass sein Meister darüber nicht verstimmt schien. Und Phantomons Theorie schien sich zu bestätigen. Er fand das Verhalten, dass Myotismon Sanzomon entgegenbrachte schon die ganz Zeit sehr auffällig. Es konnte nur etwas Größeres dahinter stecken.

„Es gibt eine Planänderung.“

„Eine Planänderung?“, wiederholte Phantomon überaus überrascht und ohne Verständnis.

„Ich dachte, es wäre leicht Sanzomon aus der Fassung zu bringen. Sie war schon immer schwach und hat sich nicht durchsetzen können.“

Noch einmal sahen beide die Gänge entlang, um sicher zu sein, dass ihr Gespräch niemand hörte, doch der einzige Zeuge blieben nur die grauen Schlossmauern.

„Ich war überzeugt, es sei leicht sie zu verunsichern und ihr einzureden, welch niederen Charakter sie hat. Aber wie es scheint, habe ich sie doch unterschätzt. Sie ist zäh geworden. Aber gleichzeitig hat sich eine ganz neue Möglichkeit eröffnet.“

„Und diese ist, Meister?“

„Nun, ich habe festgestellt, dass die Blicke, die mir Sanzomon zugeworfen hat nicht nur reine Angst waren. Vielmehr noch, scheint sie sich gar nicht sattsehen zu können.“

Es herrschte kurzes Schweigen in dem viel zu langen, verlassenen Korridor und man hörte nichts, außer das Knistern der Fackel, die in diesem Korridor verkehrt herum an den Wänden hingen.

„Ich verstehe nicht, Meister.“

„Ihre Blicke, Phantomon. Ihre Augen. Sie hat ein Auge auf mich geworfen.“

Im ersten Moment verstand es Phantomon immer noch nicht und Myotismons Grinsen verschwand. Dann aber stieg die Erkenntnis langsam auf und Phantomon schämte sich fast dafür. Hatte Cho-Hakkaimon etwa davon gesprochen?

„O-Oh, jetzt verstehe ich“, sagte Phantomon peinlich berührt. Ein Film begann in seinem Kopfkino zu laufen und obwohl er die Information direkt von seinem Meister bekam, war die Vorstellung einfach zu abstrus, als dass er es einfach so glauben konnte, ohne es selbst zu sehen. Anderseits, überlegte sich Phantomon, wollte er es vielleicht auch gar nicht so genau sehen.

„Es könnte nicht besser laufen. Und solange ich Sanzomon um den Finger wickeln kann, können wir unserem eigentlichen Vorhaben nachgehen.“

„Wieso versucht Ihr es nicht weiter auf die herkömmliche Weise, Meister Myotismon?“

„Das habe ich bereits! Oft genug!“, sagte Myotismon erzürnt. „Ich habe wie oft versucht sie zu hypnotisieren, aber es ist nicht möglich. Egal ob sie müde, erschöpft oder hellwach war. Es geht nicht! Und ihre Daten auszusaugen ist zu riskant. Sie könnte sich wehren. Wer weiß, was sie noch für Tricks auf Lager hat. Wer weiß, was oder wer hier noch in diesem Schloss ist. Und das Vertrauen, dass wir uns die letzten Wochen erschlichen haben wäre zunichte und das gesamte Vorhaben umsonst.“

Ungewollt war Myotismon lauter geworden. Er bremste sich, schwieg kurz, Phantomon ignorierend, dem dies alles andere als koscher war. Außerdem konnte er sich, nun ja, so etwas bei seinem Meister nicht vorstellen. Dieses Digimon hasste Berührungen und überschritt gewisse intime Grenzen nur wegen des Hungers Willen. Und dann so etwas – dass, was Digimon eben taten, wenn man sich mehr wie nur sympathisch war – sein Meister, bei einem Digimon wie Sanzomon? Einer, wie Myotismon sagte, Anhängerin der Souveränen? Einer Volksverräterin?

„Ihr wisst, niemals würde ich Eure Pläne anzweifeln, Meister. Aber seid Ihr Euch wirklich sicher, dass dies gut geht?“

„Ich bin sehr überzeugt davon. Solange Sanzomon weiter glaubt, dass, was sie Gefühle nennt würde mir schmeicheln, genießen wir eine gewisse Sicherheit. Wir können in Ruhe alles absuchen und diese Digimon aushorchen. Dann finden wir heraus, was diese Volksverräter hier treiben. Hier ist etwas im Gange. Es hat einen Grund, warum bereits Jijimon und Babamon nicht wollten, dass die Meister der Dunkelheit sie finden. Das sie heimliche Anhänger der Souveränen waren war niemals der einzige Grund, da bin ich mir sicher. Und was immer dieser Grund ist, es könnte uns nützen. Umbringen kann man sie alle danach noch immer.“

Das Grinsen war wieder erschienen. Phantomon gefiel das nicht, zumal ihm der Plan nicht so zusagte wie seinem Meister. Sicher, so hätten sie geradezu Narrenfreiheit, aber selbst er musste zugeben, dass Meister Myotismons Vorhaben nicht die feine Art war. Andererseits, war die Digiwelt ein ständiges Kriegsfeld und Phantomon lernte im Krieg schon, dass für das Ziel stets alles erlaubt war. Wertlose Gefühle auszunutzen war noch das freundlichste. Wäre Sanzomon nicht der Feind, könnte man sie bemitleiden. Aber Myotismon war ihr gegenüber gütig und gewillt, dass ihr Ende schnell sein würde.

„Wir werden weiter verlaufen wie bisher. Jijimon und Babamon haben sie bewusst zu ihrer Nachfolgerin gewählt, sonst hätte sie uns nicht solche komplexe Magie und Sprachen eingetrichtert. Was immer diese Digimon hier heimlich treiben, wir müssen es herausfinden. Gib das auch den Soldaten weiter, verstanden?“

„Jawohl, Meister“, salutierte Phantomon deutlich und aufmerksam.

„Alles was verdächtig erscheint ist mir zu melden. Meidet Konflikte und verhaltet euch unauffällig. Und versucht weiter Sympathie zu erhaschen. Das gilt auch für dich, Phantomon.“

„Muss das sein, Meister?“

„Ja!“

Zu Nörgeln sparte Phantomon sich, bringen würde es ohnehin nichts. Aber er erinnerte sich wieder an Sagomons Einladung.

„Gut, ich bin dabei einen Draht zu Sanzomons Schülern aufzubauen. Ich werde mich bei der nächste Gelegenheit unter sie mischen.“

„Tu das. Aber nicht zu lange, hast du gehört? Du musst die Truppen im Auge behalten, während ich mich nach einer Mahlzeit umschaue.“

„Jawohl.“

Zwar nickte Phantomon dies ab, vielmehr wunderte er sich aber und hätte gerne genauer nachgehakt. Normalerweise, wenn er nicht so viel Kraft verbrauchte, reichte es Meister Myotismon, wenn er nur alle paar Tage an Blut kam. Aber in letzter Zeit war er fast jede Nacht auf der Jagd, irgendwo weit weg von Grey Mountain.

Als Myotismon mit wehenden Umhang hinausging sah Phantomon noch, wie er sich, gierig nach Blut in einen Fingerknöchel biss, der Blick stur geradeaus.

 
 


 

„Ihr seid schon wieder hier?“

Gennai hörte zwar schon von Weitem den Widerhall von Sanzomons Schritten, trotz den metallischen Geräuschen der Maschinen und Rohre, die wie Ungeheuer brüllten und knurrten, aber er dachte, er hatte es sich eingebildet, bis er Sanzomon wirklich die steinigen Treppen hinab kommen sah und ihr langer Schatten ihr die Felswände entlang folgte. Etwas war an diesem Digimon an dem Tag jedoch anders. Sie hatte eine rosige Farbe im Gesicht, was sie lebhafter und gesünder aussehen ließ und ihre Augen wirkten so klar. Da Gennai aber selbst nur ein Arbeitsprogramm war oder so etwas ähnliches, verstand er die Bedeutung dahinter aus emotionaler Sicht nicht ganz. Für solche Dinge waren er und seine elf anderen Brüder nicht gemacht.

„Selbstverständlich. Ich habe viel zu viel Zeit seit dem letzten Mal verstreichen lassen.“

„Weil Ihr Kraft braucht. Viel Kraft. Habt Ihr Euch vom letzten Mal überhaupt erholt?“

Nicht wirklich, aber sie musste weitermachen, als winkte Snazomon nur ab. Sanzomon und Gennai blickten zu einem Brutkasten in der Mitte des Raumes, mit acht Digieiern darin. Nur zwei von ihnen hatte jedoch bisher Farbe bekommen, in orange und schwarz und in blau und weiß. Weil sie mit den Digivice, dass Gennai hergestellt und den Wappen, die Sanzomon geschaffen hatte vollständig waren.

(Zwei von Acht. Eins für den Mut, zwei für die Freundschaft… Acht ganze Wunder.)

Die ersten Male waren alle Fehlschläge gewesen und Sanzomon hatte abermale die Daten, die man ihr gab durchgerechnet um den Fehler zu finden. Vielleicht ein Berechnungsfehler. Vielleicht Übermüdung. Vielleicht weil sie zu unerfahren war, im Gegensatz zu Babamon, die vor ihr bereits Wappen für die Digiritter und die Souveränen erschaffen hatte.

Komplett waren die Wappen immer noch nicht. Man sah das Symbol, sie hatten wie die Eier Farbe bekommen, aber es fehlte das Licht noch in ihnen. Bei ihrem ersten Versuch war Sanzomon ohnmächtig geworden. Sie hatte die Kräfte, die sie alleine für ein einziges Wappen aufbringen musste unterschätzt. Bei ihrem zweiten Mal war sie einer Ohnmacht nahe, hielt aber durch, wenn jedoch auch dieser Versuch zum Scheitern verurteilt war.

Sie wusste nicht nach dem wievielten Mal sie es geschafft hatte, das Wappen des Mutes kreieren zu können. Das Wappen der Freundschaft fiel ihr leichter, weil sie dann auch nicht mehr so müde und gestresst war. Dass Myotismon hierher zurückgekehrt war, war ihr Glück im Unglück. Nun hatte sie nachts Zeit ihre Kräfte zu sammeln und es kostete sie fast ihre ganze Kraft allein ein Wappen herzustellen. Und es mussten acht werden.

Zu Anfang würde sie sich aber erst darauf beschränken, dass die Wappen überhaupt eine feste Form erhielten, ehe sie sich die Frage nach dem inneren Licht stellte, sonst käme sie gar nicht vorwärts.

„Ich werde das schon schaffen. Was ist mit Rot' Robin? Wisst Ihr etwas, Gennai?“

„Nicht viel“, sagte er. „Meister Zhuqiaomon wurde beim Kampf um die südliche Küste schwer von MetalSeadramon verwundet. Es geht bergauf, wenn auch schleppend.“

„Wo ist er überhaupt?“

„Diese Information ist streng vertraulich“, antwortete Gennai. Sanzomon verstand, was das hieß. Sie hatte keine Befugnis für diese Informationen. Das sagte Gennai immer wenn sie fragte, woher er und seine Kameraden das Digizoid hernahmen, dass sie für die Amulette benötigten. Von den vier Souveränen kannte Sanzomon nur Meister Azulongmon.

„Doch wisst, es wird sich um ihn gekümmert. Otto ist bei ihm“, sagte Gennai, versuchte seine Stimme etwas emotionaler klingen zu lassen, um so Sanzomons Sorgen zu verringern. Die vier Souveränen waren die einzigen Digimon, die es bisher mit den Meister der Dunkelheit aufnehmen konnten. Einen von ihnen zu verlieren würde die Chance, die Digiwelt stabilisieren zu können sinken. Wo die Souveränen regierten waren Digimon freier, sie konnten selbst bestimmen, es gab weniger Autorität und Kontrolle, weniger Land zwar, dafür war dieses wesentlich großzügiger was Nahrung anging, die jeder anbauen und verkaufen durfte. Jedoch gab es trotz allem weniger Ressourcen und kaum Militär, diese hatten sich die Meister der Dunkelheit unter den Nagel gerissen. Nur wenige trauten sich Handel mit den Souveränen abzuschließen, ansonsten könnte der Zorn der Meister der Dunkelheit sie treffen.

Aber wie Meister Azulongmon schon sagte, sie könnten die Meister der Dunkelheit etwas in Schach halten, doch sie sollten nicht der Grund für ihren Sturz sein. Dies sollte jenen Digimon vorenthalten bleiben, die in diesen Eiern vor ihr ruhten, geboren und hier leben sollten, bis die Digiritter eines Tages in diese Welt treten würden. Solange würden sie hier in ihrem Brutkasten bleiben, in einer Höhle tief unter dem Schloss.

„Darf ich wenigstens erfahren, wo Eure Kameraden sind, Gennai?“

„Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht“, antwortete er nüchtern und wieder sehr monoton. „Zuletzt gehört habe ich etwas von Marz gehört, vor etwa zwei Wochen. Er und Febbra sind auf der Suche nach Digizoid, ansonsten kann ich keine weiteren Amulette herstellen.“

Beide schauten zum Tisch hinüber, an dem Gennai gearbeitete hatte, ehe Sanzomon gekommen war. Ein goldenes Amulett lag fertig da, ein weiteres angefangen.

„Und ohne Amulette keine Wappen. Aber die Materialien werden knapper und die Meister der Dunkelheit greifen jeden Ort an, von dem sie glauben, dass dort Widerstandskämpfer ihr Lager haben.“

Und Friedhöfe, dachte Sanzomon. Myotismon erzählte, dass Puppetmon aus diesem Grund Phantomon und die anderen Geist-Digimon angegriffen hätten. Sie verstand nicht, wie ein Digimon, geschweige denn sechs davon so niederträchtig sein konnten unschuldige Digimon anzugreifen die ihnen doch nichts taten, egal ob Rebellen oder nicht.

„Seht Ihr? Und aus diesem Grund muss ich so schnell wie möglich weiter an den Wappen arbeiten. Nun, da wir auch mehr Digimon sind, kann ich meine Kräfte sparsamer einteilen.“

Die Glaswand des Brutkastens ging automatisch nach oben, als Sanzomon darauf zulief und sie schnappte sich das nun dritte Digiei. Man konnte, wenn man sich konzentrierte und Acht gab spüren, dass etwas Lebendiges darin war, aber es war noch kalt und unvollständig. Das Digivice war mit einem dicken Kabel mit dem Ei verbunden, ebenso das Amulett. Jedoch war dieses hier, im Gegensatz zu seinen beiden Vorgängern noch grau und leer wie das Ei selbst.

Sanzomon schlug sich die Nächte damit herum, das gewisse Etwas

(ein Irgendetwas)

in den Daten der dazugehörigen Kinder zu finden. Bis auf zwei hatte sie bei allen ihre Berechnungen abgeschlossen. Mit Jijimons und Babamons Schriften und waghalsigen Berechnungen, die man vielleicht wirklich nur verstand, wenn man sie als Lehrmeister hatte und - wie böse Zungen sagten - genauso übergeschnappt war, hatte sie die Daten gefunden, die sie für die Wappen brauchte. Die eine Eigenschaft, die besonders hervorstach, die das Ich dieser Kinder ausmachte und auch das Ich ihrer Digimon ausmachen würde und ihnen so ermöglichte allein mit Gefühlen zu digitieren, anstatt durch unzählige Kämpfe und viel zu viel Zeit. Zeit, die sie nicht hatten.

Die hohen Digimon der Apartheid hätten dies als Volksverrat gesehen, als eine Art Terrorakt gegen die Ordnung und das Sein der Digiwelt. Gefühle bräuchte eine Welt aus Zahlen nicht, so ihre Devise. Für die Meister der Dunkelheit war es genauso, auch wenn sie sich selbst als Verächter der alten Zeit bezeichneten.

„Wer ist dieses Digimon überhaupt, dass die ganzen Geister hergebracht hat?“

„Er -“

Sanzomon überlegte, was sie antworten sollte von den vielen Möglichkeiten, die sie im Kopf hatte. Sollte sie das sagen, was er zu seinem Antreffen war oder wie sie ihn nun sah, nachdem sie ihre kindische Angst über Bord warf? Hatte Gennai mitbekommen, was zwischen ihnen war? Es gab im Schloss immerhin so viele geheime Wege, nicht einmal Sanzomon kannte alle. Wohl deswegen hatten Tinkermon, Tsukaimon und die anderen Findelkinder von Jijimon und Babamon auch gedacht, Gennai und seine Kameraden, die schon ewig hier lebten und durch eben diese Gänge huschten seien Poltergeister.

„Er war auch ein Schüler von Jijimon und Babamon.“

„Weiß er etwas hiervon?“

„Natürlich nicht.“

Etwas entrüstet schaute Gennai schon. Natürlich hatte er Sanzomons mehr als offensichtliche, amourösen Stimmungswechsel mitbekommen und gerade deswegen dachte er, sie hätte es sofort verraten. Sanzomon war so naiv, wie sie irgendwo auch wieder misstrauisch war. Babamon hatte sie gut erzogen. Vielleicht war es auch gerade Jijimons und Babamons schrecklicher Tod, der Sanzomon doch so vorsichtig machte, wie es nötig war.

Sanzomon saß, mit dem Ei eng an sich gedrückt auf ihren Knien vor dem Steintisch, mit dem man angeblich dieses riesige Eisentor vor ihnen öffnen konnte, dass in dem Moment aber nur die aufflackernden blauen und roten Lichter der Maschinen reflektierte. Als Jijimon und Babamon ihr das zeigten, kurz nach Sanzomons Wiederkehr von ihrer Reise und kurz vor Jijimons und Babamons Ableben wollte sie das alles nicht so wirklich glauben. Sie konnte nicht einmal glauben, dass die beiden Aktivisten waren. Oder dass sie einst die Souveränen großzogen. Aber es sollte stimmen und nach der Erkenntnis machte vieles an ihrem Verhalten plötzlich Sinn. Wie sie sich von der Außenwelt abschotteten, warum sie verbaten bestimmt Räume zu betreten oder bestimmte Bücher zu lesen oder warum sie ihr damals vehement die alte Sprache und ihr Wissen eintrichterten. Die Sammlung menschlicher Märchen. Es war gut behütetes und wichtiges Wissen, dass nicht verloren gehen durfte. Sie wussten, irgendwann würde sie sterben und dass Sanzomon die sein würde, die ihre Aufgabe weiterführte.

„Meine drei Schüler und ich haben Euch versprochen, dass niemand davon erfährt. Und dabei bleibt es vorerst.“

„Vorerst?“, harkte Gennai nach und klang nicht begeistert. Er war ein Programm, aber vielleicht hatte er auch irgendwo ein Ich-Sein und dieses war skeptisch und hoffte, sich doch verhört zu haben, während er die kleine Holzschatulle, mit floralem Muster auf dem Deckel holte (Sanzomon tippte darauf, dass Jijimon sie für Babamon gemacht hatte, er war ja so handwerklich und künstlerisch begabt gewesen), um den Inhalt Sanzomon zu überreichen.

„Habt Ihr vor das zu ändern?“

„Ich weiß es noch nicht“, antworte Sanzomon nachdenklich. Eigentlich war sie es Myotismon schuldig. Andrerseits - Nein, im Gegenteil - je weniger davon wussten, um so besser war es. Den beiden Sistermon, Sirenmon, auch den anderen Digimon auf und um Grey Mountain sagte sie davon nichts, zumindest nicht alles und das aus gutem Grund.

Gennai holte aus der Holzschachtel eine rosa Perle raus, die letzten Reste von Babamons Rosenkranz. Die Perlen waren das perfekte Material für die Wappen. Genauso magisch, genauso unkaputtbar, genauso in der Lage dem Etwas eine physische Form zu geben, solange die Kinder noch zu unerfahren waren, um ihre eigene Stärke greifen und beschreiben zu können. Unkaputtbar zumindest so lange, wenn man keine unerfahrene Sanzomon war, die schon einen Teil der Perlenkette bei ihren Fehlversuchen zerstört hatte.

„Aber seid Euch sicher, Gennai, bis nicht alle Wappen vollständig sind, bleibt es geheim.“

Sie atmete einmal tief durch, doch ihre Lungen fühlten sich noch immer schwer an. Erst nach zwei weiteren Malen war Sanzomon überzeugt, dass ihr Kopf frei war. Das Digiei lag auf ihrem Schoß, die Perle hielt Sanzomon in der Hand, während die Schnur des Amulettes um ihre Handgelenke gewickelt war. Sie durfte sich keine Fehler mehr erlauben. Sie hatte kaum Perlen mehr und einen passenden Ersatz würden sie nie finden.

„Bitte seid nicht allzu leichtsinnig. Ich glaube an Euer Urteilsvermögen, aber wir müssen Vorsicht walten, Sanzomon. Das hier ist wichtig. Ihr seid wichtig. Niemand sonst kann diese Wappen. Nur ein Digimon, dass die alte Magie und die Bedeutung eines Herzens versteht kann das.“

„Warum erzählst du mir Dinge, die ich schon weiß, Gennai?“, fragte Sanzomon und sie merkte selbst, dass sie zu gereizt dabei klang.

„Um Euch noch einmal klar zu machen, welche Rolle Ihr spielt. Also seid nicht so leichtsinnig. Das so ein Digimon hier herumspaziert ist… nicht gut.“

„Du misstraust ihm?“

„Denkt doch daran, was das für ein Digimon ist“, brummte Gennai, sehr aufgebracht für ein Wesen, das Emotionen angeblich nicht verstand (Sanzomon glaubte ohnehin nicht, dass das wirklich stimmte). Kurz erinnerte er sie an Gokuwmon, nur fiel es ihr bei ihm leichter, sein Misstrauen zu tolerieren, da Gokuwmon sie weniger bevormunden wollte.

„Er ist mein Freund, Gennai und hat hier auch gelernt. Außerdem…“

Beschämt schaute sie fort und begann das Ei in ihren Armen zu streicheln.

„Ich weiß, Ihr wollt das nicht hören. Habt aber ein wenig Verständnis. Und wenn Piedmon hiervon Wind bekommt -“

„Ich weiß.“

Sie konnte den Namen Piedmon nicht mehr hören. Ein Name, den sie nur mit Angst verband.

Gennai sagte noch etwas zu ihr, jedoch hörte Sanzomon dies nicht mehr. Sie war schon in ihr Sutra und in ihre Trance verfallen, die ihren Geist völlig von der Außenwelt abschnitt und jede Existenz verschlang, außer die des Digieis. Und in ihrer Trance, einem Delirium aus wirren Farben, Tönen und ihrer eigenen Stimme, die das Sutra sprach, sah sie das Mädchen, dass später dieses Wappen und dieses Digimon mit diesem Etwas bekommen sollte vor sich, wie sie die beiden Jungen bei den ersten beiden Malen schon sah.

Es würde ihr, wie bei jedem Mal Unmengen an Kraft rauben und Sanzomon würde auch wieder an diesem Abend torkelnd in ihr Bett fallen, wenn Gokuwmon oder Sagomon sie nicht wie so oft irgendwo vorher aufschnappten und sie in ihr Zimmer trugen. Aber Sanzomon würde noch rechtzeitig zum Sonnenaufgang erwachen, um ihren kleinen Schützlingen das versprochene Märchen vorzulesen und Myotismon den versprochenen Gute-Nacht-Kuss zu geben, wenn er von seinem Nachtdienst wiederkehrte.

Es waren nun Drei von Acht.

 

 



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