Wintersonett von Rakushina (Which dreamed it?) ================================================================================ Konzert IV - CAUCUS RACE, 1. Satz, Adagietto unisono Dis-Dur ------------------------------------------------------------ 𝄞   Dracula war für Yuki so was wie die erste große Schwärmerei. Eine Phase die viele kleine Mädchen mal durchliefen (laut ihrer Oma), die scheinbar nötig war um sich irgendwann von der Bewunderung des Vaters abzunabeln. Yuki hatte in der Schule eine Freundin, die trotz eines bösen Arms Klassenbeste war, die mit den anderen Mädchen für die Jungs von Kinki Kids schwärmte und sie und die anderen konnten sich nicht entscheiden, wen sie süßer fanden. Und diese erste große Schwärmerei, egal ob die zentrale Figur dessen nah oder fern war, fiktiv oder nicht, war immer etwas besonderes (hatte ihre Oma auch gesagt). Dracula begleitete Yuki durch eine harte Zeit und dass machte ihn, eine Figur die nur auf Papier existierte sehr besonders. Diese Zeit begann, als sie sechs wurde und sie eigentlich in die Grundschule müsste, sich aber aufgrund der Blindheit als schwierig erwies. Ihre Mutter wollte mit ihr im Jahre 1997 nach Odaiba ziehen, da hatte sie einen Job bekommen, die Wohnungen waren etwas billiger und die Schule, auf die Yuki gehen sollte, eine Schule mit Klassen für Kinder mit einem Handicap, wäre nicht so weit weg gewesen wie von ihrem damaligen Wohnort aus. Doch die Schule wollte sie nicht ohne weiteres nehmen. Man sagte zu ihrer Mutter, dass Yuki zumindest die Brailleschrift können müsste. Sie zu schreiben hätte sie, mit Hilfe des richtigen Equipment in der Schule gelernt, aber dass sie diese Schrift lesen könnte war eine Bedienung, die sie nicht erfüllen konnte und da Yuki schon sechs war, schlug man vor sie ein Jahr später zur Schule zu schicken und vorher nur ein Jahr Vorbereitung bekommt. Dies alles war jedoch nicht ganz umsonst und die kleine Familie konnte es sich nicht leisten in Shinagawa zu bleiben. Also blieb Yuki keine Wahl als zu lernen, als hinge ihr Leben davon ab. Nein, sie lernte, eben weil ihr Leben und dass ihrer Mutter davon abhing. Einfache Bücher, damit sie einen sachten Einstieg bekam stellte man ihr netterweise zur Verfügung, wo sie Schritt für Schritt erst die einzelnen Worte und Zeichen lernen konnte. Und es war schwer. Es gab keine Kanji und oft konnte sie nicht klar erahnen, welche Punkte welches Zeichen darstellen sollten. Manchmal hätten es beide gerne hingeschmissen, aber für Yuki war es trotz des junges Jahres klar, dass dies unausweichlich war. Ihre Mutter schimpfte, dass sie es selbst hatte schleifen lassen, in der Hoffnung die Schule würde es Yuki beibringen, da sie es ja selbst nicht konnte und über die Vorschule, die keinerlei Anstrengung für ein blindes Kind investieren wollte. Es dauerte lange und manchmal machte Yuki die Nächte durch, bis sie es mehr oder weniger gut verinnerlicht hatte. Die Bücher halfen ihr, es waren Geschichten auf dem Niveau Dreijähriger, aber sie war froh darum sie zu haben, obwohl sie sich nicht ganz sicher war, ob sie die Bücher wirklich las oder einfach nur aufsagte, da sie den Inhalt bereits auswendig kannte. Die Schulleitung war nur mittelmäßig überzeugt, aber sie gaben ihr eine Chance auf den Vorbereitungsunterricht zu verzichten und Yuki gleich in den regulären Unterricht aufzunehmen, der teilweise auch gemischt mit nichtbehinderten Kindern stattfand. Man konnte Aufatmen und stellte fest, dass sich in Yuki die Lust mehr lesen zu wollen entwickelte. Bücher würden ihre beste Freunde. Bücher waren im Grunde genommen auch blind, sie sahen nicht, sie erzählten nur und beschrieben. Yukis Vorteil war, dass sie mal sehen konnte. Sie kannte Farben, sie kannte Formen, den Unterschied zu Hell und Dunkel und die Bücher erzählten ihr von der Welt, die sie selbst nicht mehr so erkunden und entdecken konnte, wie andere Kinder in ihrem Alter. Bücher wurden von Menschen geschrieben, die sehen konnten und diese Bücher ließen Yuki an dieser Seherwelt teilhaben. Die gewonnene Leselust kam ihrer Mutter zwar komisch vor, aber sie war glücklich, weil es Yuki glücklich machte und entschied sich dieser Passion nachzukommen. Sie ging davon aus, die Freude an Büchern wäre etwas, dass ihr Vater ihr mit seinen Genen gab, wie so viel anderes. Auch er las immer gern. An einem warmen Wochenende war sie mit ihr in eine große Buchhandlung gegangen. „Du hast nur Kleinkinderbücher zu Hause, aber wenn du wirklich lesen willst, brauchen wir etwas Besseres. Etwas, das auch dir hilft die Blindenschrift besser zu lernen. Such dir ein Buch aus, die ganze Reihe zu deiner Linken sind Bücher in Brailleschrift. Eins kauf ich dir für den Anfang.“ Das Strahlen in Yukis Gesicht war gigantisch, ihr Gesicht strahlte wie ein Leuchtturm bei Nacht. Aufgeregt tastete sie sich durch die Reihe und durch die Bücher, die alphabetisch und nach Genre geordnet waren. Die Reihe selbst war nicht lang, es waren nur drei Regale, einmeterfünfzig hoch und einmeterzehn breit, aber für Yuki hatte allein das die Ausmaße eines All-You-Can-Eat-Buffets. Ihre Mutter machte sich keine Sorgen, als Yuki, in der Zeit in der sie sich was am Kaffeeautomaten der Bibliothek geholte, vor dem Regal stand, an dem ein kleiner, neongelber Zettel mit der schwarzen Aufschrift FANTASY befestigt war. Sie dachte, Yuki würde sich vielleicht etwas wie DIE UNENDLICHE GESCHICHTE oder GRIMMS MÄRCHEN herausnehmen. Oder ALICE IM WUNDERLAND, das war die Lieblingsgeschichte ihres Vaters (dieses sollte aber erst ihr zweites Buch werden). Als sie jedoch genauer hinsah, hielt Yuki ein Buch in jeder Hand. In ihrer rechten hielt sie Bram Stokers Dracula, in der linken Mary Shelleys Frankenstein. Jemand war wohl der Meinung, Bücher wie diese gehörten nicht in die Horrorabteilung, weil die Bösen Fabelwesen waren, über die man sich in Kinderfilmen und Komödien lustig machen konnte, statt Menschen wie Tsutomu Miyazaki. „Yuki? Liebling, ich glaube nicht, dass die was für dich sind.“ „Und ich glaube, du irrst dich, Mama.“ Yuki konnte sich das Gesicht ihrer Mutter ganz genau vorstellen. Ihre Mutter stand neben ihr und starrte sie mit geschlossenem Mund an und blinzelte einmal mit ihren Augen. Einmal und das sehr langsam. Sie schloss sie langsam, bis ihre dunklen Wimpern die unteren berührten und öffnete sie wieder, genauso langsam um dann weiter zu starren. Yuki kannte dieses Blinzeln, das war ihre Antwort, jedes Mal wenn schon Papa zu ihr sagte „Ich glaube, du irrst dich, Liebes“, da tat sie das auch. Nur einmal gab es auf diese Aussage eine verbale Reaktion: „Und ich glaube, du verarschst mich doch gerade!“. Daher taufte Yuki es auf Mamas Du-verarschst-mich-doch-gerade-Blinzeln. Sie hätte Gift drauf nehmen können, dass ihre Mutter genau dieses Blinzeln von sich gab, während sie selbst noch überlegte welches Buch sie nehmen sollte. Das von dem Monster aus Leichenteilen, dass nur missverstanden in seinem Innern war und nur Einsamkeit und Rache kannte, oder die des Vampir-Grafen, der einem im Dunkeln auflauerte, mit der Gestalt eines Menschen, aber mit der Seele eines Raubtieres, dass sich nach der Welt sehnte? Yuki entschied sich für den Grafen. Anfangs fühlte es sich an wie ein Fehler. Das Englisch des späten 19. Jahrhundertes, mit der eher dürftigen Übersetzung war für ein kleines Kind schwer zu erfassen und dann noch in einer Schrift, die man ebenfalls erst lernen musste. Oft träumte Yuki von Graf Dracula und bekam manchmal Albträume, obwohl sie nicht aufhören konnte die Zeilen immer und immer wieder zu lesen. Manchmal träumte sie, der Graf stehe neben ihrem Bett und wollte sie beißen oder sie seinen Wölfen im Wald zum Fraß vorwerfen. Auch manchmal, dass er Yuki an einen Stuhl band und sie zwang weiter Blindenschrift zu lernen, bis ihre Finger blutig waren. Es dauerte gut ein Jahr, bis Yuki es durch hatte, da war sie schon in der Grundschule und beherrschte die Brailleschrift fast besser, wie die anderen Kinder in ihrer Klasse. Dracula begleitete sie bei diesem Lernprozess, egal ob sie Freude beim Lesen empfand oder frustriert das Buch in die Ecke warf und anschließend mit ihren Plüschtieren, Schneeball - eine weiße Katze - und Kitty - bizarrer Weise ein schwarzer Hund - sich ins Bett kuschelte. Sie wollte weitermachen und tat es. Eine Romanfigur war der Ersatz für den fehlenden Vater geworden und über die Jahre, in denen Yuki das Buch tatsächlich noch ein zweites Mal in die Hand nahm und sich irgendwann heimlich doch noch das Buch mit Frankensteins Monster holte, nachdem sie dann auch Alice im Wunderland und Alice hinter den Spiegeln durch hatte und Kinderlexika, wo in einer in ihrem Alter gerechten Art erklärt wurde was Vampire waren, stellte sie für sich selbst fest, dass dieser Graf gar keine so üble Person war. Gut, übel vielleicht doch, aber nicht das übelste Übel der übelsten Sorte. Ihr neues Onkelchen war vielleicht auch so. Zumindest nach den paar Worten, die sie gewechselt hatten und es ihm auch etwas besser ging, schien er nur halb so unsympathisch wie am Anfang. Es war also doch ganz gut, dass sie ihm noch eine Chance gab und Dracula war wie so viel anderes fester Bestandteil in Yukis Fantasie, die es nur in ihrem Kopf gab und niemand sehen konnte, nur sie. Dann entstieg ein echter Vampir aus der Dunkelheit des Kaninchenbaus. Es war, als sei nicht Alice ins Wunderland gelangt, sondern das Wunderland sei zu ihr gekommen.   #   Ihr Kopf hing noch immer im den Loch und Yuki ließ kein Geräusch unbemerkt. Sie hörte Wellen, die hörte Tropfen, sie hörte sogar Sand und Schutt rieseln. Aber dass, was sie dachte gehört zu haben und ihr Angst machte hörte sie da unten nicht. Auch von Onkelchen hörte sie nichts. Er saß neben ihr und atmete ganz ruhig. Er schien nachzudenken und sie hätte gerne gewusst worüber. „Geht es dir wieder nicht gut, Onkelchen?“, fragte sie ganz vorsichtig. Es dauerte etwas, bis er etwas sagte. Er schien wirklich tief in Gedanken gewesen zu sein. „Ich habe nur nachgedacht.“ „Worüber hast du denn nachgedacht?“ Yuki konnte ihn leise, aber böse knurren hören und zog ihre Schultern angespannt nach oben. Sie hatte wieder die Spielregeln vergessen. Aber sie konnte ihre Neugierde nur so schwer zurückhalten. „Entschuldigung, Onkelchen. Du bist dran…“ Yuki zog ihren Kopf aus dem Loch und rutschte, weiter aber auf dem Bauch liegend zurück. Der Boden unter ihrem Händen war sehr warm. Die Sonne drehte sich weiter in ihre Richtung, ihr Schatten war so gut wie nicht vorhanden, den er verschwand im Loch vor ihr. „Komm, wir gehen rein. Da hast du mehr Schatten, Onkelchen.“ Während sie sich aufrichtete griff Yuki nach ihm, bekam seinen Mantel zu fassen und zog daran, was ihn aus seiner Trance holte. Onkelchen wehrte sich, folgte Yukis Aufforderung schließlich der Situation und der Umständen Willen. Viel Schatten war nicht geblieben und bald beherrschte die Sonne das ganze Feld dieser Baustelle für sich. Direkt neben ihnen ging es ins Gebäude hinein, keine Türe die sie aufhalten könnte, da war nur ein rechteckiges Loch in einer dicken Betonwand. Keine Türen, Fenster ohne Glas, es gab eine Treppe, die nach oben führte. Steine lagen hier, Rohre, Stahlträger und Staub und der Geruch stauender Hitze und Wasser. Für Onkelchen war es geradezu langweilig, aber es erfüllte seinen Zweck. Yuki versuchte sich vorzustellen, dass dieser Ort eine Höhle war, mit Malereien verschiedener Tiere an der Wand, die sich bewegten und verändern konnten und hängenden Pflanzen von der Decke, in denen Insekten saßen und im kompletter Dunkelheit würde man sehen, dass ihr Leuchten und ihre Position Sternbilder darstellten, die sich auch schnell ändern konnten. „Was genau macht ein Kind wie du an so einem Ort? Meines Wissen spielen Kinder nicht an solchen Plätzen“, fragte Onkelchen, während er Yuki zusah, wie sie sich an der Wand entlang tastete, um jene Stelle zu finden, die sich nur fünf Schritte von einem Stahlträger entfernte. Nach besagten fünf Schritten stieg sie auf ihn auf und balancierte mit weit ausgestreckten Armen über den metallischen Pfad. Der Stahlträger war breit, aber Yuki musste sich dennoch bemühen ihre Balance zu halten. „Mama und ich sind einmal hierher, weil ein paar Jungen ihren Ball über den Zaun geschossen haben und sich nicht getraut haben ihn zu holen. Da haben Mama und ich das alles ein bisschen erkundet. So ein Ort der so verlassen und leer ist, findet man selten. Man hört nicht einmal die Geräusche von der Straße.“ Onkelchen sagte nichts, er schien aufzuhorchen um zu prüfen, ob dies der Tatsache entsprach. Tatsächlich stellte er fest, dass die Wände hier gut isoliert waren. Auch wenn Fenster fehlten, alle waren zum Meer gerichtet. Man hörte nur ihr Rauschen. „Dir gefallen also solche… Plätze?“ „Oh ja, sehr. Ich stelle mir dann vor, was man hier alles sehen könnte. So wie dieser Stahlträger. Was glaubst du ist das? Ein großer, feuerspeiender Tausendfüßler? Der Faden eines großen Spinnennetzes? Oder der Hals eines längst ausgestorbenen Tieres, das aussieht wie, hm… Wie ein ganz, ganz dünnes Pferd? Mit einem kurzen Schnabel wie von einem Papagei? Und Flügeln einer Fledermaus, aber sie haben Muster, wie von Motten?“ Etwa auf der Hälfte ihres Weges drehte Yuki sich gleich einer Ballerina um die eigene Achse. Während sie ihre Pirouette vorführte, spürte sie geradezu wie Onkelchen nur wartete, dass sie fiel und sich verletzte, man sah es kommen wie der Schreckmoment in einem Film, den man schon zum zweiten oder dritten Mal sah, wurde aber durch die Ernüchterung abgelöst, da nicht das geschah, was man doch erwartete. Die halbe Drehung schaffte Yuki soweit problemlos. Statt ihrem Onkelchen den Rücken zu kehren, starrte sie wieder in seine Richtung. „Komm, sag schon etwas“, forderte Yuki ihn auf. „Du lebst doch sicher auch an einem ganz verlassenen und verborgenen Ort, mit Tieren, die niemand kennt. Oder?“ „Verlassen?… Ja. Verborgen? Wie man es betrachtet.“ „Lebst du auch in einem Schloss auf einem Berg im Wald, wie Graf Dracula?“ „Ich weiß nicht, wer das sein soll - aber ja, ich lebe in einem Schloss. Auf einem Berg, umgeben von Wäldern.“ „Ui. Dann kennst du solche Städte wie Tokyo ja gar nicht“, stellte Yuki fest, als sei es eine bahnbrechende Erkenntnis. „Das muss dir ja alles ganz neu und spannend erscheinen.“ „Unter Spannung verstehe ich etwas anderes“, brummte er. Seine Schritte hallten laut, während er weiter in den Raum trat, der in Yukis Vorstellung aber voll eigenartiger und merkwürdiger Dinge war. „Mich interessiert diese Stadt und ihre Bewohner nicht so sehr, wie du vielleicht denkst.“ „Und für was interessierst du dich dann?“, fragte Yuki gespannt. Sie dachte oder wollte gerne, dass er sagt, dass er wie sie Bücher mag oder Musik. Er kann spielen, also musste er Musik mögen. Sie hoffte sogar dass er das sagen würde, doch stattdessen kam: „Das, was du an deinem Hals trägst, zum Beispiel.“ Reflexartig umklammerte Yuki die Kette und den Anhänger und durch ihr Zucken ging ihr Gleichgewicht dahin. Sie fiel aber nicht, sondern landete, wenn es auch ungeschickt aussah sicher auf den Füßen. „Weißt du denn, was das Zeichen darauf symbolisiert?“ Sie hatte es ganz vergessen. Schließlich war Onkelchen deswegen bei ihr. Wegen diesem Ding, mit dem hellblauen Glas darin. Und das Zeichen? Yuki fand, es sah wie eine Seerose aus, ihr Vater meinte, es sei eine Eisblume. Eisblumen an den gefrorenen Fenstern erschienen in allerhand Formen und Mustern, aber wie ihr Vater darauf kam verstand sie nicht und sie sah darin nicht wirklich eine Ähnlichkeit. Aber es hatte eine Bedeutung. Das hatte er auch gesagt. Eine sehr wichtige Botschaft. „Gerechtigkeit.“ „Und du verstehst das Prinzip? Was ist Gerechtigkeit in deinen Augen?“ Yuki fand, dass das eine wirklich schwere Frage war und sie dachte sehr lange nach, aber statt darüber nachzudenken - er hatte Recht, sie dachte wirklich zu viel - , dachte sie an ihren letzten Unterricht vor den Sommerferien. Da ging es um die Römer und die hatten eine Göttin, deren Name Yuki nicht einfiel, aber sie wusste, dass diese Gottheit auch blind war. Ob sie auch darauf achtete, wie die Leute redeten und ob ihre Hände zuckten, wenn sie offensichtlich logen? Yuki überlegte, mit den Händen auf ihrem Schoss, ziemlich eifrig sogar. Wie man gerecht handelte, dieses Prinzip verstand sie schon. Das man eben Dinge zu gleichen Teilen teilte, das man Dinge, die man sagt oder macht auch andere machen lässt, ohne sich im Nachhinein zu beschweren und das man auf die Beamten, wie zum Beispiel auf einen Polizisten hören sollte, weil sie sorgten dafür, dass alles im Rahmen der Gerechtigkeit blieb. Man verstand es, ohne das man es wirklich erklärt bekommen musste. Nur wie in Worte fassen? Dann hatte sie einen Geistesblitz. „Walross und Zimmermann!“, rief sie plötzlich auf und klatsche in ihre Hand, das durch den Widerhall wie das Knallen eines Feuerwerkskörpers klang, aber sogleich erlosch. „Wie bitte?“ „Das Walross und der Zimmermann, die sind aus Alice hinter den Spiegeln. Kennst du die Geschichte, Onkelchen?“ „Ja“, antwortete er und Dank des Echos des Halls hörte Yuki gerade so noch sein unterdrücktes „leider viel zu gut.“ „Das Walross und der Zimmermann haben doch die Austern gefressen. Also haben sie sie damit auch getötet und etwas Schlimmes getan, weil es hat ihnen geschadet. Jemand anderen schaden ist schlecht. Der Zimmermann hat weniger Austern gegessen und damit weniger Schlimmeres getan. Aber er hat nur so wenig gegessen, weil das Walross viel größer, stärker und schneller war als er. Das Walross hat mehr Austern auf dem Gewissen, aber am Ende tat es ihm unsagbar Leid. Es weiß, dass es etwas Furchtbares getan hat und hatte Mitleid. Obwohl beide etwas Schlimmes getan haben, hat das Walross bewiesen, dass es zumindest Einsicht und Mitgefühl besitzt. Also sollte das Walross zwar schon bestraft werden, aber nicht so, wie der Zimmermann, der keinerlei Einsicht oder ein Gewissen hat.“ „Also ich Gerechtigkeit für dich das Unterscheiden zwischen Gut und Böse“, fasste Onkelchen zusammen und lachte abfällig auf. „Wie primitiv und einfältig.“ „S-S-Soll das heißen, dass du das dumm findest?“, fragte Yuki empört. „Andere hätten beide gleich bestraft! Oder das Walross mehr, weil es mehr Austern getötet hat. Es gibt mehr wie nur gut oder nur böse.“ „Und das Gut und Böse rein subjektiv sind? Weißt du dies? Das sind Dinge, die du wissen solltest, wenn du schon über Gerechtigkeit philosophieren möchtest.“ Er kam näher auf sie zu. Seine Gang wirkte plötzlich schwer. Yuki spürte wie seine Aura sich über sie erstreckte und verschlang. Onkelchen sagte nichts, aber Yuki stellte sich vor, wie er blinzelte. Fast wie Mamas langsamen Blinzeln. Nur bedrohlicher. Furchteinflößend. „Aber wenn man seine Fehler begreift und Einsicht hat und mit einem anderem mitfühlt, kommt es von Herzen“, verteidigte Yuki sich. Sie atmete scharf ein, merkte wie ihre Lippen zitterten und sie, obwohl sie doch sonst immer fest an das glaubte, was sie dachte, unsicher wurde. „Das ist ehrlich und aufrichtig. Also kann etwas, was von Herzen kommt nichts Schlechtes sein. Oder Unrecht.“ „Auch Hass kann von Herzen kommen.“ Der Friedhofsgeruch streifte Yuki. Unangenehm, nicht aber der Geruch an sich. Es war nicht, als wäre es nur der Geruch des Körpers, eher eine Aura. Böse Geister, die Onkelchen umgaben und hin und wieder versuchten nach ihr zu fassen. Vielleicht um sie wegzustoßen. Vielleicht um sie in seinen Bann zu ziehen. „Aber Hass ist nicht aufrichtig oder ehrlich. Hass kaschiert eigentlich nur, dass man wütend oder verzweifelt ist.“ „Darf ich raten, dies kam auch von deinem schlauen Vater?“, fragte Onkelchen, wieder deutlich betont, deutlich herablassend und langsam begriff Yuki, warum der Geruch so stark war. Onkelchen musste ganz nah sein, Gesicht an Gesicht. Er sah ihr direkt in die Augen. „Ja...aber nicht so richtig“, antwortete sie und schluckte anschließend. „Ich weiß nicht, ob ein Digimon das verstehen kann, aber Papa hatte so, nun ja, so graue und trübe Gedanken im Kopf. Er hat gesagt, sie sind wie ein matschiger, klumpiger, dreckiger Schneehaufen am grauen Straßenrand. Sie sind hässlich und machen alles um sie herum ebenso hässlich und grau.“ Yuki berührte mit ihrem Zeigefinger ihre rechte Schläfe, weniger eine Geste, mehr ein Affekt, um sich die Erinnerungen wieder selbst ins Gedächtnis zu rufen. „Deswegen hätte er so viel gehasst. Weil er traurig war, aber hassen ginge leichter. Hass ist unehrlich. Hass verdeckt, was man wirklich fühlt. Papa sagte, als er das verstanden hat, ging es ihm besser.“ „Nun gut“, sagte Onkelchen, er ging dabei etwas zurück, die Aura der bösen Geister folgten ihm und die langen, knochigen Arme, die sich Yuki vorgestellte erreichten sie kaum mehr. „Und was ist mit jenen, die unehrlich sind? Was ist ihre Strafe, du Möchtegern-Justizia? Gefangenschaft? Schmerz? Tod?“ „Einsamkeit… Denke ich.“ Sie hörte Onkelchen wieder schnauben, aber es klang nicht verärgert, sondern eher sogar etwas überrascht. „Verstehst du denn überhaupt Einsamkeit, kleines Fräulein?“ „Ein bisschen vielleicht...“ Nicht so sehr wie ihr Vater. Aber Yuki konnte es sich zusammenreimen. Als sie mit vier Jahren von ständigen Kopfschmerzen und der zunehmenden, schwammigen Sicht gequält wurde, lag Yuki so oft über Tage im Krankenhaus und ihre Eltern konnten nicht immer über Nacht bleiben. Das waren die allerschlimmsten Nächte, auch wenn die Nachtschwestern sich manchmal zu ihr gesellten, wenn sie Zeit hatten und versuchten sie zu trösten. Es war der pure Horror für so ein kleines Kind und Yuki vergaß danach viel aus ihrer Krankenhauszeit, aber nicht das. Schrecklich dieses Gefühl. Nicht dasselbe, wie Mama sich fühlte, nachdem Papa starb. Sie fühlte sich sehr, sehr lange einsam und konnte lange Zeit nicht lachen. Oder wie Papa sich fühlte. Er mochte seine Familie nicht. Er mochte die Stadt nicht. Papa mochte seine Freunde. Menschen, die er sehr, sehr lange kannte. Er war lange einsam sagte er. Hat dumme Dinge gemacht und wurde noch einsamer. Er wollte das nie, aber er war zu dumm um die Zusammenhänge zu begreifen. Dann hat er versucht sich zu bessern und dann war er nicht mehr einsam. Irgendwann kamen Papas Freunde in den Himmel und nun war auch er bei ihnen. Also war er auch im Tod nicht einsam. „Ich glaube, niemand will einsam sein. Aber die, die unehrlich zu sich sind strafen sich selbst damit, indem sie alles um sich herum kaputt machen, egal ob sie die Wahrheit sagen oder lügen. Aber unehrlich zu sich und anderen zu sein ist viel einfacher und das ist denen, die versuchen sich selbst ehrlich zu sein nicht fair, weil das ist sehr, sehr schwer. Und deswegen werden die, die so sein können gerecht belohnt. Die sind nicht einsam.“ Wieder überkam Yuki der Stolz, dass sie es doch geschafft hatte ihre Worte zu ordnen. Nur das keine Reaktion von Onkelchen kam irritierte sie dann doch etwas und machte sie schließlich unsicher. „Macht das Sinn, Onkelchen?“, fragte sie. Yuki befürchtete schon ein klares Nein, aber Onkelchen sagte gar nichts, sondern schien darüber nachzudenken. Sie stellte sich vor, wie die Lippen schmal wurden, sich eine Augenbraue hob und die Augen kurz nach oben wanderten, ehe er sie wieder fixieren würde. Das war dem, was ihr Onkelchen wirklich tat, als er über ihre Worte nachdachte sehr nahe. „Ein kleines bisschen vielleicht.“ Das war besser wie ein Nein und Yuki freute sich darüber. Vielleicht hätte sie ihm auch ein Nein verziehen, Hauptsache Onkelchen hatte darüber nachgedacht und nicht gleich gesagt, sie würde spinnen. Es war als Kind schon schwer genug ernst genommen zu werden. Selbst Oma und Opa schüttelten über ihre queren Gedanken manchmal. Meinten, sie hätte das von Papa, er soll auch so krumme Gedanken im Kopf und über Unsinn nachgedacht haben. Vielleicht war Onkelchen auch so krumm im Kopf und deswegen verstand er das, was sie sagte. Aber waren Vampire nicht eher listig, statt krumm? Was hieß eigentlich krumm im Kopf zu sein? Schloss sich das denn aus? Da fiel Yuki auf, dass Onkelchen nichts mehr sagte und sie befürchtete schon, er hätte keine Lust mehr auf das Spiel. Er stellte komplexe Fragen, vielleicht waren ihm ihre daher zu langweilig. Warum einer wie er sich überhaupt für ein Kind wie sie interessierte? Yuki würde sich nie beklagen, wann traf man schon einen echten Vampir? Vielleicht war es bei ihm auch nur reines Interesse, wer weiß wie Onkelchens Welt war. Und Dracula war ja auch irgendwo neugierig gewesen, sonst hätte er nicht so viele Bücher über England gelesen, sogar die Sprache gelernt und über die Kultur geschwärmt. Wenn Yuki aber auch gestehen musste, dass sie doch etwas weniger zu bieten hatte im Vergleich zu einem ganzen Land. Ob alle Vampire so waren? „Komm, du bist wieder Onkelchen.“ „Wieso ich?“ „Na, ich hab dich gefragt, ob meine Frage Sinn macht und du hast geantwortet. Also los, frag was. Oder magst du nicht mehr? Ich weiß, ich bin nicht interessant genug.“ „Ich werde nur aus deiner Logik nicht schlau“, brummte er auf, fragte aber dennoch nach einigen Augenblicken: „Kennst du noch mehr Kinder, die auch so eine Uhr haben? Oder eine Kette? Oder bist du einem Digimon begegnet, das sich damit auskennt?“ „Umhmm.“ Wieder schüttelte Yuki den Kopf und merkte, dass ihre Haare dabei ins Gesicht rutschten. „Du bist das erste Digimon, dass ich treffe. Aber woher soll ich wissen, ob ich mal eins getroffen habe?“ „Nun, der Name eines Digimon endet grundsätzlich mit einem -mon am Ende.“ Sie dachte nach, weil ihr das vertraut vorkam. Sie hatte mal von jemanden gehört, der auch mit -mon endete. Abgesehen von Solomon Grundy, einer Mutter-Gans-Figur. Ihr Vater kannte viele solcher Kinder-Reime. Aber nur gehört, getroffen hatte sie diesen nie. Statt darüber aber zu grübeln, dachte sie darüber nach, dass Onkelchen, wenn er ein Digimon war ja auch mit -mon enden müsste. Kurz nannte Yuki ihn in ihrem Kopf Onkelchenmon, aber selbst sie musste zugeben, dass das absolut bescheuert klang und löschte es deswegen sogleich wieder aus ihrem Gedächtnis. „Dann habe ich nie ein anderes Digimon getroffen. Du bist das Erste. Und Kinder, die auch eine Kette oder eine Spieluhr haben kenne ich auch keine.“ Frustriert griff sie nach der Spieluhr in ihrer Hosentasche. Papas Spieluhr konnte die Melodie von Vivaldis Winter im zweiten Satz. Sie mochte das Lied, Vivaldis vier Jahreszeiten war eins der wenigen großen Lieder, dass Papa auf dem Klavier noch spielen konnte und wollte und der Winter klang bei ihm einfach am Schönsten. Vielleicht hatte er es in die Spieluhr eingebaut? Einprogrammiert? Aber sie konnte es nicht hören, weil sie nicht wusste wie. Bei Papa hatte es immer geklappt. Vielleicht, weil er sagte, dass es nur zwei gab, die wirklich verstanden, was diese Uhr oder eben Spieluhr war. Einer war Papa. Der andere, das wusste sie nicht. Vielleicht einer von seinen Freunden, die mit ihm nun im Himmel waren. Doch bei Onkelchen fing sie plötzlich an zu spielen. Und Yuki wollte wissen warum. Und wer er war. Aber die Frage nach dem Wer war schwierig, wenn man nicht mal wusste, wie dieser Wer aussah. Und dann kam ihr ein Gedanke, der Onkelchen sicher nicht gefallen würde und vielleicht auch sehr unhöflich war. Mama würde mit ihr schimpfen, wenn sie das erfuhr. So was machte man nicht bei Fremden, die man vielleicht ein oder zwei Stunden kannte. Aber die Neugierde war eben größer. „So, ich bin wieder dran“, sagte Yuki, merkwürdig euphorisch, wie ihr Onkelchen in diesem Moment fand. Yuki blickte in sein Gesicht, wenn man von blicken sprechen konnte, aber so betrachtet konnte man wirklich denken, ihre Augen würden ihn eindringlich ansehen, statt der Tatsache, dass sie starr und nichtssagend waren. Dafür war ihr Gesicht plötzlich der Farbe der Morgensonne getaucht. „Sag schon, was willst du wissen? Es kann nichts Gutes sein, ich sehe es dir bereits an.“ Man sah in Yukis Gesicht, dass sie vor Spannung fast platzte und tat es schließlich auch. „Darf ich dein Gesicht berühren, Onkelchen?“ Gespannt wartete sie auf ein Geräusch, dass seine Reaktion verriet. Oder zumindest ein entsetztes Wie bitte? Jedoch sie hörte nichts, aber dass hieß nicht unbedingt, dass er nicht überrumpelt war. Weit aufgerissene Augen und ein Mund, der erst aufklappte und sich wieder langsam schloss hörte man nicht. Und eben weil Yuki nicht sah, wie ihr Onkelchen genau das tat, wagte sie einen weiteren Schritt. „Ich möchte wissen, wie du aussiehst.“ „Kann ich dir das nicht beschreiben? In Worten?“ Mit der zunehmender, gemeinsamen Zeit hatte Yuki gemerkt, dass ihr Onkelchen bestimmte Silben und Wörter so betonte, wenn ihm etwas nicht gefiel, so wie in diesem Moment. Das hätte eigentlich reichen sollen um sie abzuschrecken. Wenn dieser Drang nach Wissen nur nicht wäre. „Das geht mit meinen Händen besser. Keine Sorge, ich wasche sie mir immer ganz gründlich!“ „Hatten wir nicht eine Vereinbarung? Keine Pflicht?“ „Du musst doch gar nichts machen, nur dasitzen und stillhalten.“ Das Rauschen von außen wirkte durch die einsetzende Stille laut und nun ganz besonders. Ein,zwei, starke Welle prallten an die Mauern, Wassertropfen prasselten auf den Asphalt wie fallende Reiskörner. Direkt danach noch einmal, als betonten sie die Missgunst, die Yuki regelrecht ins Gesicht sprang. Vielleicht war es das auch wirklich. Er seufzte genervt. „Dann tue eben, was du nicht lassen kannst.“ Yuki hörte, wie er seine Sitzposition veränderte und da der Wind sich in diesem Moment drehte, kam ihr wieder der Friedhofsgeruch entgegen, der sie abschrecken wollte, aber verschrecken ließ Yuki sich nicht. Dafür hatte sie Papa schon zu oft dort besucht. Und doch ergriff Yuki die Nervosität, als sie ihre Hände ausstrecke und als erstes den Stoff von Onkelchens Fedora berührte, den sie abnahm und beiseite legte. Sie dachte an Dracula und ob Onkelchen auch so aussah, wie Jonathan Harker ihn in seinen Briefen beschrieb: (Innerhalb dessen stand ein hochgewachsener alter Mann, glatt rasiert, mit einem langem weißen Schnurrbart und schwarz gekleidet von Kopf bis zu den Füßen; kein heller Fleck war an ihm zu sehen) Was zumindest stimmte war, dass dieser Vampir vor ihr ein hochgewachsener Mann war. Yuki began an den Schultern und es waren sehr breite Schultern. Leute mit breiten Schultern waren - meistens - entweder sehr groß oder hatten sich vom vielen Krafttraining starke Muskeln aufgebaut. Aber obwohl Onkelchen einen dicken Mantel trug (ob Onkelchen darunter einen schwarzen Anzug und einen langen schwarzen Umhang trug?) spürte sie, dass das unter dem Mantel mehr Stoff als Fleisch war. Seine Arme waren lang, obwohl Yuki sie nur bis zu den Ellenbogen abtastete. Er war wirklich groß und dünn. Aber der Hals an seinem samtigen Kragen war kräftig und da merkte sie, wie entsetzlich kalt Onkelchen war. Yuki spürte es ja bereits, als sie ihn mit aller Kraft in die Büsche schob, wenn es auch nur ein kleines Stück war und das Gefühl sie überkam, ihr würden die Arme abreißen, aber seine bloße Haut war glatt und kalt wie Eis. Genauso wie sein Gesicht, dass so lang und schmal war. Aber sein Kinn und sein Kiefer fühlten sich so kräftig an, dass Yuki es kurz mit der Angst zu tun bekam. Aber klar musste der kräftig sein, wenn man (Menschen in den Hals biss) Blut trank. Sie fuhr mit ihren Händen sein Gesicht nach oben, bis sie seine Ohren berührte, die komischerweise sich so spitz anfühlten, doch er begann zu wimmern, als Yuki sie weiter abtastete, also hörte sie auf und griff in seinen Haarschopf, und sein Haar fühlte sich dicht und glatt an. „Welche Haarfarbe hast du denn?“, fragte sie. Einzelne, lange und dicke Haarsträhnen fielen tief in Onkelchens Gesicht und Yuki versuchte sie wieder zurück auf den Kopf zu streichen, aber sie blieben nicht dort, wo sie bleiben sollten. „Weißt du denn was Farben sind?“ „Klar, weiß ich das. Also die Farben vom Regenbogen kenne ich noch von früher.“ Sie spürte mit ihren Händen, wie Onkelchen die Stirn runzelte. Er hatte Zweifel. „Ich weiß, dass meine blond sind, das ist irgendwie wie gelb oder gold, glaube ich. Und Mama hat rote Haare“, erklärte Yuki, bis ihr einfiel, dass ihre Mutter zwar rote Haare hatte, aber dass vermutlich nicht ihre echte Haarfarbe war. Manchmal rochen ihre Haare nach diesem beißenden Chemiecocktail, mit dem sie sich diese bleichte. „Blond. Aber meine sind dunkler wie deine. Kannst du damit etwas anfangen?“ „Ich denke schon. Und deine Augen, Onkelchen?“ Die Vampire, über die sie las hatten immer dunkle, rote oder gelbe, was scheinbar unheimlich sein sollte. „Die sind blau.“ „So wie meine?“ „Ich habe bestimmt nicht die gleichen, leeren Augen wie du.“ Es war fies gewesen, aber er hatte Recht. Yukis Hände wanderten wieder Richtung Gesicht und merkte, das auf der Höhe der Augen etwas großes und stabiles im Weg war. Erst dachte sie an eine Brille, aber dafür war sie zu breit und sie trug kein Glas. „Wieso trägst du eine Maske, Onkelchen?“ „Ausstrahlung.“ „Das verstehe ich nicht.“ Sie überlegte kurz, ob sie die Maske abnehmen sollte, aber sie gab Onkelchens Augenpartien gut wieder, also ließ Yuki es bleiben. Die mandelförmige Vertiefung der Augen und hohen Wangenknochen fühlten sich nicht wie von einem Einheimischen an, eher wie die von den Touristen aus Europa. Zumindest dachte sie das, so viele hatte Yuki noch nicht getroffen, die ihr erlaubt hatten das Gesicht abzutasten. Die meisten mochten keine neugierigen Kinder. „Es gibt jene, die das Verborgene fürchten und jene, die es anlockt. Eine Maske hat den Sinn etwas zu verbergen und das weckt Neugierde. Und das ist für jemanden wie mich, sagen wir, ganz praktisch“, sagte er, mit einer Begeisterung und einem tiefen, leisen Lachen in der Stimme, dass Yuki fast mehr Angst machte wie sein Knurren. „Ich glaube, das verstehe ich.“ „Glaube mir, das verstehst du nicht.“ „Ich sehe nichts, aber ich will das hören und berühren, was ich nicht sehen kann. Ist das nicht auch Neugierde?“ „Das wovon ich spreche, ist eine ganz andere Art von Neugierde. Dafür bist du noch zu jung.“ Sie meinte gespürt zu haben, dass Onkelchen grinste. Yuki nahm seine Erklärung aber einfach mal so hin und ließ die Maske Maske sein – obwohl sie noch intensiv darüber nachdachte, was das heißen sollte und über dieses nachdenkliche Gesicht schmunzelte Onkelchen vor ihr dann doch nochmal länger, wie eigentlich geplant -, die aber nur die Augen und den Nasenrücken einnahm, der gerade, lang und nicht zu schmal war. Dann blieb sie an seinen Lippen hängen. Er hatte volle Lippen, aber sie waren kalt und da konnte Yuki etwas spüren, dass sich wie Eiszapfen anfühlte. Sie wollte ihre Hand nicht gleich wieder wegreißen, weil sie dachte das sei unhöflich, aber bei den Gedanken, dass sie wirklich die Zähne eines Vampir berührte - ob Digimon oder nicht - wurde ihr mulmig. Erst als sie das Gefühl überkam viel zu lange ihre Finger auf den spitzen Zähnen zu haben, nahm sie ihre Hände ganz langsam wieder zu sich. Yuki Handflächen brannten, als hätte sie in eine Kiste hineingegriffen, die bis obenhin voll mit kleinen, spitzen Nadeln war. Oder als hätte sie Schnee angefasst. „Zufrieden?“, fragte Onkelchen sie und Yuki nickte, ebenso langsam, wie sie ihre Hände von ihm weggenommen hatte. „Ja, und vielen, vielen Dank, Onkelchen. Mir hat das wirklich sehr geholfen. Ich habe das Gefühl mit einer Person zu sprechen, statt nur mit Lauten, die zufällig wie eine Stimme klingen.“ Sie meinte, ein ganz leises „Gern geschehen“ gehört zu haben, war sich aber nicht sicher, da es mehr wie ein Seufzen oder Stöhnen klang. Dann bemerkte sie ihren eigenen Fehler und ihre kaltgewordenen Finger berührten ihren Mund. „Oh, entschuldige, ich meinte natürlich, mit einem Digimon zu sprechen.“ „Hattest du keine Angst? Ich hätte auch ein grausames Monster sein können. In meiner Welt gibt es Maschinen und Drachen, die wie Menschen sprechen und die einem ganz schnell die dürren Ärmchen abbeißen.“ Er übertrieb, das hörte Yuki wie er es sagte. Sein Satz klang wie etwas, was er nicht allzu sehr ernst meinte, mit einer sehr trockenen Art von Humor. Yuki selbst beschränkte sich nur auf ein sachtes Kopfschütteln. „Hm, ich weiß nicht, ob ich das mutig oder dumm nennen soll. Wobei das eine das andere nicht ausschließt“, bemerkte Onkelchen abfällig. Währenddessen setzte sich Yuki wieder hin, mit angezogenen Knien und legte ihre Arme um diese. „Ich habe keine Angst davor, Fremdes anzufassen. Weil ich eben nicht sehe, darf ich erst Recht keine haben. Papa sagt, wenn man zu sehr Angst hat auch mal über den Tellerrand zu schauen, bleibt die Welt, die man im Kopf hat immer klein und mickrig.“ „Da hat dir dein Vater immerhin etwas Kluges beigebracht“, sagte Onkelchen, immer noch nicht sonderlich begeistert, aber zumindest weniger abfällig wie zuvor. Aufmerksam lauschend saß Yuki weiter da, versuchte das Knistern von kleinen Kieseln zu hören, tat es aber nicht. Onkelchen saß ganz ruhig vor ihr. Er schien also der eher ruhige Typ zu sein. Geduldig. Achtsam und beäugte das Meiste skeptisch. Erinnerte sie schon etwas an ihren Papa, wenn dieser auch gewiss viel liebevoller war. „Dennoch solltest du nicht immer so leichtsinnig mit deiner Hand überall hin. Irgendwann rächt sich Neugier und dann verletzt du dich nur.“ „Ich weiß, Onkelchen“, seufzte Yuki und als sie die Erinnerung aus ihrem Gedächtnis holte, spürte sie einen Druck an ihrem rechten Handgelenk. „Ich habe Papa berührt. Als er schon tot war. Oma hat mich erwischt und richtig fest zugepackt, dann hat sie mit mir geschimpft. Sie sagte, Tote anzufassen ist -“, Yuki überlegt, versuchte sich wieder an den Wortlaut zu erinnern, „- ich glaube, unrein hat sie gesagt.“ „Ich sehe schon. Die Reale Welt hat vor ihren Toten genauso viel Angst, wie die Digitale“, sagte Onkelchen ziemlich abwertend. „I-Ich hab keine Angst. Wirklich. Nur ist es...“ Sie schwieg. Yuki presste fest ihre Lippen aneinander, kaute etwas auf ihnen. Sich an Papa zu erinnern, an ihn als Toter war fast noch seltsamer wie sein kaltes Fleisch damals unter ihren Fingern. Und schmerzlich. „Sprich es aus.“ „Als ich Papa berührt habe, war es so seltsam. So kalt. Von innen“, berichtete Yuki, war mit der Umschreibung jedoch wenig zufrieden, wenngleich ihr auch nichts einfiel, was den Nagel eher auf den Kopf traf. Nett klang es nur nicht so wirklich. „Seltsam?“ „Ja. Oh, dass heißt nicht, dass du dich seltsam anfühlst“, stammelte Yuki los, im Glauben sie hätte mit ihrer Aussage Onkelchen beleidigt. War er nicht. Nur unsicher, was er über Yuki denken sollte, besonders als sie ihn anlächelte. Vor allem wie sie es tat. „Im Gegenteil, ich finde, du bist hübsch, Onkelchen.“ Zwar sagte sie es, aber eigentlich hatte Yuki keine Ahnung, was hübsch wirklich war. Sie verglich die Gesichtszüge - vielleicht sogar unbewusst - mit denen von Dracula verglichen. Dracula hatte das Gesicht eines Raubvogels, oder anders gesagt, er war alt, aber dennoch sei er anziehend gewesen, so stand es im Buch zumindest. Das war scheinbar die abgeschwächte Form von hübsch (wenn der Graf wohlgemerkt mit zunehmender Zeit und mehr Mahlzeiten doch so was wie hübsch wurde). Aber Onkelchen war jung. Er war ein Vampir wie Dracula und jung. Er fühlte sich wie ihr Vater an. Müsste sie raten, würde sie sagen er wäre nur ein wenig älter, wie ihre Eltern. Und dass ihr Vater für Yuki der hübschste Mann der Welt war erklärte sich von selbst. In Yukis immer mehr aufkommenden Schwärmerei für ihr Onkelchen, einem fleischgewordenem Bücherhelden, gepaart mit den äußerlichen Eigenschaften einer Vaterfigur, kam in ihr der Drang hoch, ihm einen Kuss auf die markanten Wangenknochen zu geben, genierte sich aber zu sehr. Stattdessen rechnete Yuki sich aus, wie viele Jahre und Monate sie noch warten müsste, bis sie heiraten dürfte. „Ein Kompliment von einer blinden Göre“, schnaufte Onkelchen. „Damit gewinne ich nicht einmal einen Blumentopf.“ „Oh. I-Ich dachte nur, weil -“ Bei der Bemerkung verwarf Yuki ihre Heiratspläne sofort und begann sich zu schämen. Aber sie warf die Flinte nicht ins Korn. Vielleicht könnte sie ihn ja mit ihrer Mutter zusammenbringen. „Du denkst zu viel, kleines Mädchen. Und sagst du so was eigentlich immer so ungeniert heraus? Wenn du schon denken musst, dann denke vorher darüber nach, was du sagst, sonst nutzt irgendein Kerl das aus und dann bist du diejenige, die heult.“ „Du meinst, so wie in dem Mutter-Gans-Reim von Georgie Porgie?“ Onkelchen sagte erst nichts, schnaufte nur wieder tief und sehr wütend. Er schlug sich die Hand gegen die Stirn und in Yukis Ohren klang es, als hätte er sich selbst eine Ohrfeige verpasst. „Nicht noch mehr von diesen Nonsens-Reimen, hört das denn nie auf?“ Yuki wollte ihn belehren, dass das kein Nonsens-Reim war, denn diese hatten schließlich die Eigenschaft, dass sie eben keinen Sinn machten, zumindest auf den ersten Blick nicht. Vielleicht machten sie für einen Vampir oder eben für ein Digimon tatsächlich keinen Sinn und dann - Papa hätte gesagt Im Gegenteil, aber das konnte Mama absolut nicht leiden, weil es dämlich klang - wäre das Wort doch ganz treffend und es wäre tatsächlich Nonsens. Dass Onkelchen aber solche Kinderreime kannte fand Yuki witzig. „A-Aber du hast Recht, ich habe nicht richtig nachgedacht. Oder ich habe zu viel und zu falsch gedacht. Also entschuldige“, sagte sie ganz eifrig, in der Hoffnung es würde seine Laune verbessern, wenn sie sich artig verhielt. Yuki konnte ihn einmal tief atmen hören. Es klang noch genervter. Dann wie ein erschöpftes Seuzfen und dann erst bemerkte sie, wie sich die Wärme hier drinnen staute. „Dir geht es nicht so gut, wie?“ „Ich bekomme von deinem Unsinn Kopfschmerzen.“ „Vielleicht denkst du auch zu viel, Onkelchen. Manchmal muss man Unsinn Unsinn sein lassen. Denn wenn man versucht Sinn im Unsinn zu finden, wäre es kein Unsinn mehr.“ „Hat dir das auch dein ach so schlauer Vater beigebracht?“ Yuki hörte auf hin und her zu schaukeln und kräuselte beleidigt die Lippen, ehe sie wieder damit anfing. „Nein, aber Papa war schlau. Er hat gesagt, er muss schlau gewesen sein, sonst wären er und Mama immer noch Yankee.“ „Was ist das? Dieses Yankee oder wie du es nennst?“ „Keine Ahnung, aber Mama und Papa sagen, es wäre besser wenn ich damit nicht anfange. Das sei kein Unsinn, sondern nur dumm und dumm möchte ich nicht sein.“ Das kam ihr so selbstbewusst über die Lippen, dass Yuki kurz selbst stolz auf sich war. Sie saß kerzengerade da und streckte den Kopf weit nach oben, bis ihr Nacken weh tat. Kurz darauf spürte sie Onkelchens Hände, die zwar kalt waren, aber nicht so kalt sie sein Gesicht, der ihren Kopf packte und ihn etwas senkte. „Den Kopf nicht so weit nach hinten und nur das Kinn nach vorn. Ansonsten sieht es verkrampft und lächerlich aus, so nimmt dich keiner ernst“, schimpfte er, hielt aber Yukis Kopf für ein paar Augenblicke in den Händen. „Aber es scheint, da drin wären noch ein oder zwei vernünftige Gedankengänge enthalten.“ Etwas gerührt war Yuki von den Worten schon. Die meisten verstanden nicht was sie sagte und manchmal verstand sie ihr eigenes Geplapper auch nicht wirklich. Also freute sie sich innerlich und irgendwo in ihrem Hinterstübchen grub Yuki ihre kindischen Heiratspläne still und heimlich wieder aus. Wieder seufzte er tief und schwer und Yuki dachte, dass es wegen der Sonne wäre, auch wenn das Seufzen nicht nach Erschöpfung klang sondern, nun, anders eben. Vielleicht dachte sie das auch nur und es lag an der Sonne. Sie hatte sich nicht zu ihren Gunsten gedreht und schien in den Raum. Sein Hut lag immer noch auf dem Boden. (Fledermaus, Fledermaus, komm unter mein Hut und bau dir n Haus) Yuki hob ihn auf und reichte ihm den grauen Fedora, den Onkelchen auf gleich wieder an sich riss. Auch wenn er es offensichtlich nicht mochte, wollte sie ihm noch einmal etwas von dem Blutorangensaft anbieten, eher er noch austrocknete (gleichzeitig fragte sie sich, ob Vampire das überhaupt konnten), merkte aber dann, dass ihre Hosentaschen sich viel zu leicht anfühlten, als dass da eine Plastikflasche hätte darin sein können. „So was blödes. Bleibst du hier, Onkelchen? Hier ist noch schattig genug. Ich geh dir noch mal das Getränk holen.“ „Wie willst du dich zurechtfinden?“ „Ich weiß, wo die Flasche liegt.“ „Du bist blind!“, und wieder betonte er die Worte so deutlich, als ob sie diese offensichtliche Tatsache vergessen hätte. „Ich bin nicht das erste Mal hier. Und ich habe mir den Weg gemerkt, den du gelaufen bist. Ich muss nur spiegelverkehrt denken.“ Stille, nur das Rauschen des Meeres und dem Wasser unter ihnen. Während Yuki vorsichtig aufstand sah sie das Gesicht ihres Onkelchens vor sich und wie er erneut mit den Augen einmal langsam blinzelte, bei so viel Skepsis. Grimmig verzog Yuki ihr eigenes. „Neun Schritte gerade aus, dann Zehn Uhr, vier Schritte durch die Türe, zwölf Schritte gerade aus, dann rechts fünf Schritte, dann wieder elf Uhr mit fünfzehn Schritten bis zur Schaukel. Und jeden Schritt mal zwei, weil du ein Erwachsener bist, Onkelchen.“ Yuki hielt inne, sie dachte an seine breiten Schultern und die schlanken, langen Arme. „Vielleicht sogar mal drei.“ „Dann geh.“ Ihr Onkelchen schwang seine Hand zur Seite, um dem Gesagten mit dieser Geste Ausdruck zu verleihen. Bei Yuki kam diese Geste nur als leichter Lufthauch an ihrem Hals und ihrem Gesicht an. Also drehte sie sich nach links und begann in ihrem Kopf bereits die Schritte mal zwei zu zählen. Ihren Blindenstab würde sie aber erst rausholen, wenn sie aus der Tür war, damit Onkelchen sah, dass sie auch wirklich sehr gut zurechtkam. Yuki ging ein paar Schritte aus dem Gebäude, aber die Zahlen wollten nicht in ihrem Kopf bleiben, dieser Mutter-Gans-Reim hatte ihr einen Ohrwurm versetzt und der Takt passte nicht zu dem Weg. Aber es war okay. Musik half auch, sich die Schritte zu merken. So summte Yuki die Melodie von Funkel, funkel, Fledermaus, wenn es auch immer noch die von Funkel, funkel, kleiner Stern war. Aber Fledermäuse waren cooler. „Und unterstehe dich zu singen!“, rief Onkelchen ihr nach, der Ton mehr wie deutlich. Mit hängenden Schultern und gekräuselten Lippen lief Yuki weiter, nachdem sie erst vor Schreck stehen blieb. Sie wollte etwas wie Spielverderber murmeln, wagte es aber nicht. Drei Schritte ging sie gerade aus, bis das Geräusch von knallenden Plastik Yuki erneut zum Stillstand brachte. Und es kam näher angerollt und dann spürte sie etwas leichtes, dass an die Spitze ihrer Schuhe stieß. Da daraufhin nichts mehr folgte, wagte Yuki danach zu greifen und hielt besagtes Plastik in der Hand. Eine Plastikflasche. Eine Plastikflasche, die die selbe Form hatte wie die vom Blutorangensaft und die leer war und sie war sich ganz sicher, dass die vorhin noch mehr wie halbvoll gewesen war. „So was Fieses! Wer war das?“ Dann hörte Yuki etwas und ihr lief ein Schauer über den Rücken. Sie hörte Flügelschlagen. Yuki hatte in ihrem achtjährigen Leben zwei Arten von Albträumen kennengelernt. Die Schlimmen, die gut ausgingen und die Schlimmen, die bis zum Ende hin auch schlimm blieben. Die Albträume von Graf Dracula gehörten zu Ersteren. Dieser böse Vampir quälte sie in ihren Träumen mit der Brailleschrift und er drohte ihr, würde sie die Zeichen falsch deuten oder sich verlesen, würde er die Bücher durch Spinnen, glühende Nadeln und spitze Glasscherben austauschen und sie müsste dann hinein fassen. Aber manchmal gingen die Albträume gut aus, da machte sie alles richtig und dann bekam sie von ihrem Bücherschwarm mit den langen Zähnen ein unheimliches, aber aufrichtiges Lob und ein Streicheln über den Kopf. Der Zweitere ging nie gut aus und die Albträume fürchtete Yuki wirklich. Und in diesen Träumen war sie die kleine Alice Liddle, die vor dem grässlichen Jabberwock stand. Einem Ungetüm, den sie nur aus diesem Unsinns-Gedicht und einem Fühlbild kannte. Eine Mischung aus Vogel, Drache und haarlosen Kaninchen, das brüllend und fauchend vor ihrem Geiste erscheinen zu lassen. (Hüt' dich, mein Kind, vorm Jabberwock!) Und dieser Albtraum wurde wahr, als nach ihrem Schrei ein Beben folgte und dann wieder dieses Geräusch, dass Yuki die letzte Nacht schon vor ihrem Schlafzimmerfenster hörte. Das Geräusch großer, schwerer Flügel im Wind, wie sie nur der Jabberwock haben konnte, der lachend im Baum saß. (Als unterm Tamtam-Baum der stand und Selbstgespräche führt ) Yuki wollte wieder schreien, aber sämtliche Luft war aus ihren Lungen verschwunden. Die Wärme der Sonne war plötzlich fort, sie musste im Schatten von dieser Kreatur stehen, im Schatten seiner großen Flügel und vermutlich starrte er sie mit seinen Flammenaugen an, während seine Kralen aufblitzen im Licht, Krallen so scharf und schmerzlich wie die von Vögeln, die vom Himmel lautlos herabstürtzten und in Hände und Haare krallten. „Was willst du hier?“ Onkelchens Stimme riss Yuki aus ihrer Angststarre und weckte gleichzeitig ihre tiefsten Urinstinkte, die sie kurz vergessen ließen, dass dieser Körper nicht sehen konnte. Erst auf dem Hosenboden gefallen, krabbelte sie rückwärts wieder zurück, erst die eine, dann die andere Hand hinterher, um die Orientierung in der Angst nicht zu verlieren, Richtung Onkelchens Stimme, bis sie an ihn stieß. (Onkelchen ist da Onkelchen ist da mir passiert nichts Onkelchen ist da) Panisch griff sie nach einem Stück des Trenchcoats, an dem Yuki hochzog. Der Jabberwock war Yuki nachgegangen, sie hörte seine schweren Schritte und das Beben darunter und verängstigt wie sie war, presste Yuki sich an Onkelchen und spürte seine ebenso schlanken und langen Beine unter dem glatten Stoff des Trenchcoats. „Jetzt hör auf zu zittern. Dieses Digimon tut dir schon nichts.“ Yuki schreckte kurz bei Onkelchens Worten auf. Digimon? Der Jabberwock war auch ein Digimon? „Meister Myotismon. Ich bin überrascht Euch hier zu begegnen. Und das bei Tage.“ Er schnalzte, fiel Yuki auf und das gefiel ihr nicht. Man hörte es kaum, aber es war zwischen einzelnen Silben gut versteckt gewesen. Eine Zunge schnalzte nicht so beim Reden. Es gab Leute, die taten dass, weil sie nervös waren, wenn sie den Mund aufmachen mussten, da wurde der Mund trocken und dann leckte man sich über die Lippen. Yuki hatte Klassenkameraden, die so waren. Das Schnalzen des Jabberwock jedoch war keine Nervosität. Aber dieser respektvolle Ton war interessant. Zwar war da, zusammen mit dem Schnalzen eine gewisse Häme drin, aber er sprach trotzdem höflich zu Onkelchen. Er hatte ihn Meister genannt. War dieser Sabbsabb-Vogel so etwas wie ein Diener? Und Onkelchen wirklich so etwas wie ein Graf, so wie der echte Dracula? Und so mächtig, dass sogar der Jabberwock vor ihm Respekt hatte? Und er hatte ihn Myotismon genannt. Mit einem -mon am Ende. Das war also Onkelchens Name. Yuki drückte ihr Gesicht in den Mantelstoff, als sie fürchten musste jemand könnte merken, dass ihre Wangen knallrosa anliefen. „Noch einmal: Was willst du hier, NeoDevimon? Antworte!“ „Ich bin nur zufällig hier und habe Euch hier zuerst sitzen sehen. Erst war ich verwundert, da dass eigentlich gar nicht sein kann. Dann aber habe ich Eure Stimme vernommen.“ Auch der Jabberwock endete mit einem -mon, es schien also wahr zu sein. Onkelchen sagte ja, in seiner Welt gäbe es Drachen und Maschinen, die auch wie Menschen reden konnten. Da war ein solches Ungetüm sicher auch möglich. „Die Stimme meines Meisters würde ich sofort erkennen und ich war neugierig, was Ihr hier treibt, wo man mir doch versicherte, dass Ihr ruhen würdet. Und dann sehe ich Euch mit einem kleinen Mädchen“, sagte NeoDevimon, wieder schnalzend und Yuki hörte seinen Atem, aber spürte und roch nichts. Sein Atem klang gedämpft, als hätte er eine Maske auf, die aber, anders wie die von Onkelchen, das gesamte Gesicht verdeckte. „Ist sie jenes Kind, Meister Myotismon?“ „Geht dich nichts an.“ Myotismon betonte einzelne Worte und Silben wieder so deutlich und Yuki machte es Angst wie deutlich er diesmal war dabei. Das man ihn mit ihr hier fand ging ihm deutlich gegen den Strich und nicht mal Yukis Fantasie reichte um sich vorzustellen wie erbost er war. „Wieso diese Geheimniskrämerei so plötzlich? Sind wir nicht deswegen hier?“ „Kennst du dieses Kind, NeoDevimon? Wieso hat sie solche Angst vor dir?“ „Ich weiß nicht. Ich sehe dieses Kind zum ersten Mal, Meister Myotismon.“ „Der Kerl lügt wie gedruckt! Ich höre ihn Zischen und mit der Zunge schnalzen, wenn er was Unehrliches sagt!“, rief Yuki empört dazwischen, dabei klammerte sie sich zitternd fester an den Mantel, bis ihre Handknöchel weiß wurden. „Und dieses Geräusch habe ich sofort wieder erkannt. Das Geräusch seiner Flügel. Er ist seit gestern hinter mir und Mama her und um unsere Wohnung herumgeschlichen. Die ganze Nacht habe ich seine schweren Flügel in der Luft schlagen hören. Und die Erde bebt unter seinen Klauen, sobald er auf ihr landet. Ich habe es die ganze Nacht gehört. Des Klauens Krall, wie der Jabberwock in Alice hinter den Spiegeln.“ Vielleicht war es nur, weil Onkelchen bei ihr war, aber ihre Angst verging, weil dieses Jabberwock-Digimon ihm so dreist ins Gesicht log. Sie versuchte NeoDevimon böse anzufunkeln. Allerdings sah Yuki nur zornig auf den Boden. Zumindest wollte sie zeigen, dass sie es versuchte. Der Stoff des Trenchcoat bewegte sich, vermutlich sah Onkelchen abwechselnd zu ihr, beugte sich dabei etwas zu Yuki hinunter, und dann zu NeoDevimon. Das tat Myotismon auch wirklich. Myotismon hatte ebenso wie Yuki gemerkt, dass NeoDevimon nicht zufällig hier war. Er erinnerte sich an den Schatten, fragend, was für ein großer Vogel über ihnen hinweggeflogen war und nun wurde ihm die Situation klar. Wer weiß, wie lange NeoDevimon sie schon beobachtete. Und wie viel er mitbekommen hatte. „Stimmt das, was das Mädchen sagt?“ „Es waren lediglich Nachforschungen, ob sie das gesuchte Kind ist, Meister Myotismon. Dieses Mädchen hat ein Digivice. Aber das werdet Ihr sicher schon bemerkt haben.“ Während Yuki sich fragte, was ein Digivice sein sollte, wanderte Myotismons Blick weiter zwischen ihr und NeoDevimon hin und her. Und entschied sich weiter mit verdeckten Karten zu spielen. „Und wenn es so wäre?“ „Wenn es so wäre, ist es nicht gleichzeitig erstaunlich, dass die Kopie nicht reagiert? Das wird Euch doch nicht entgangen sein. Oder?“ Wieder dieses leise Schnalzen und Yuki hatte eine schreckliche Ahnung. Ihm ging es nicht um sie, wenn sie auch nicht verstand warum dieser Jabberwock die ganze Nacht vor ihrer Wohnung gesessen hatte. Ihm ging es um Onkelchen. In ihrem Kopf entstand ein Bild des Jabberwock mit besonders scharfen Krallen, der mit seinem flammenden Blick auf die jüngere, blonde Version von Graf Dracula herabsah. „Besteht vielleicht die Vermutung, dass die Kopien, die Ihr uns gegeben habt nicht funktionieren?“ „Sie funktionieren. Und dieses Mädchen ist kein Digiritter. Dieses Digivice ist nichts als eine dämliche Spieluhr, mehr auch nicht.“ „Und das Wappen um ihren Hals sieht auch nur ganz zufällig aus wie das eines Digiritter?“ Myotismon blickte noch einmal kurz zu Yuki herunter, deren Blick irgendwo zwischen Angst und Zorn lag, während ihre Hände seinen Mantel festhielten und ihr Gesicht an sein Bein lehnte. Aber nichts in ihrer Mimik sagte aus, dass sie das, was er und NeoDevimon sprachen verstand. „Eine Fälschung. Vermutlich eine Falle der echten Digiritter, um mich in die Irre zu führen.“ „Na, wenn sie nur ein Köder ist, sollten wir sie dann nicht loswerden?“, sagte NeoDevimon, aber beugte sich hinunter zu Yuki, die immer noch versuchte böse zu schauen und die Körperhaltung anzunehmen, die ihr Onkelchen beigebracht hatte. Myotismon schob sie zurück. „Vergeude deine Kräfte nicht für diese Göre. Ihr Tod würde auch keinen Vorteil verschaffen. Und Unnötige Tode sind mir zu wider.“ „Vielleicht habt Ihr Recht.“ Er schnalzte schon wieder und Yuki wurde immer wütender darüber. Wie konnte er es wagen sich so vor Onkelchen zu benehmen, wenn das doch sein Meister war? Aber Yuki musste schlucken, als sie hörte, wie seine Klauen sich streiften, wie zwei Messer beim Schärfen. (des Klauens Krall) „Wenn sie wirklich etwas mit den Digirittern zu tun hat, weiß sie ja vielleicht, wer und wo das achte Kind ist.“ „Nein!“ Myotismon hatte Yuki weiter zurückgeschoben und nun stand er genau zwischen ihr und NeoDevimon. Seine Finger hatten dabei kurz ihren Haarschopf und ihre Hand, die noch in den Mantel gekrallt war berührt und genauso kurz hatte sie sich vorgestellt - und es sich auch irgendwo gewünscht - dass ihr Vater von den Toten auferstanden wäre und sie vor dem schrecklichen Jabberwock beschützte. „Das habe ich auch gedacht. Aber sie weiß absolut nichts.“ „Wenn sie nichts weiß, warum wollt Ihr Sie dann am Leben lassen? Etwa als Mahlzeit? Dafür ist aber viel zu wenig an ihr dran.“ Myotismon sagte nichts. Yuki gespürte, wie sein Körper zusammenzuckte, kurz bevor NeoDevimon sie am Arm packte und sie von ihrem Onkelchen wegriss. „Aua, du tust mir weh!“, schimpfte sie und hielt dagegen, gingen in die Knie und kippte ihr Gewicht nach hinten, aber NeoDevimon war viel zu stark für ihren kleinen Körper gewesen. Trotz der langen Krallen hatte er fast menschliche Hände. Dennoch sah er in Yukis Fantasie weiterhin wie der Jabberwock mit einer großen Maske aus. „Oder kann es sein, dass Ihr wisst, was es mit diesem Wappen und dem Kind auf sich hat, Meister Myotismon? Mir kommt es sehr bekannt vor…“ Das Geräusch von Eis, das brach drang in Yukis Ohren. Genauso klang es, dann wurde ihr klar, dass es kein Eis sein konnte, weil es immer noch Sommer war und weil NeoDevimon sie nicht mehr festhielt. Sie hörte seine Flügel in der Luft, aber nicht weil er flog und auf diese Erkenntnis folgten die Geräusche von Stahl, der in sich zusammenfiel, bröckelnden Stein und Onkelchens wütendes Schnaufen direkt neben ihr. „H-H-Hast du ihn geschlagen, Onkelchen?“ „Hätte ich es nicht getan, hätte er dich vermutlich in kleine Stücke geschnitten. Wäre dir das lieber gewesen?“ Yuki schüttelte den Kopf. Er klang wieder so böse, aber sie verstand nicht warum. Myotismon aber war nur wütend, weil er, als NeoDevimon sie schnappte sah, wie er unter seiner Maske grinste und auf einmal schien sein ohnehin zwielichtes plötzliches Auftreten noch verdächtiger. Er wusste Dinge. Über das Wappen und dieses Kind und Yuki von diesem Digimon fernzuhalten, ehe Myotismon wusste wie alles miteinander zusammenhing war das Sicherste. Also schlug Myotismon ihn mit seiner Albtraumkralle gegen einen Haufen Strahlträger und gestapelte Ziegelsteine. Bevor Yuki irgendetwas fragen konnte, packte Myotismon sie unter den Arm und sprang mit ihr auf die oberen Etagen, deren Boden zwar schon fast komplett gefliest waren, aber ohne Wände so gut wie einen Schatten gaben, die ihn schützen. „Onkelchen? Was hat dieserKerl vor?“, fragte Yuki, während sie noch immer unter seinem Arm hing, wie ein unbeholfenes kleines Tier. „Ich weiß es nicht, aber wir sollten zu sehen, dass wir hier we-“ „Schuldkralle!“ Yuki wurde noch fester an Myotismon Körper gepresst, als NeoDevimon hinter ihnen auftauchte und mit seinen viel zu langen Armen und den spitzen, goldenen Krallen nach ihnen schlug, aber nur den Boden traf. „Wage es ja nicht loszulassen, verstanden!“ Yuki tat, was Myotismon ihr befahl und klammerte sie mit all ihrer Kraft an den Stoff des Trenchcoats, während er sie mit noch einem Arm um ihren Körper festhielt. Sie hörte, wie die Krallen des Jabberwock dicht an ihr vorbeirasten und in den Boden aufschlugen. Sie hörte, wie Onkelchen etwas wie „Albtraumkralle!“ schrie, von peitschenden Geräuschen gefolgt und dem Zischen von Strom, mit dem Geräusch, wie sie an den Metall des Jabberwocks Krallen abprallten. Sie kämpften. Sie kämpften wirklich! „Na warte,Schuldkralle!“ Myotismon spürte, wie er mit jedem Schlag schwächer wurde. Der Hunger in ihm wurde größer, die Sonne, die auf seiner Haut, trotz des dicken Stoffes brannte entsetzlich und er hatte das Gefühl von innen heraus zu verglühen. Und mit dem blinden Gör im Schlepptau war er eingeschränkt. Er konnte so nicht kämpfen. NeoDevimon traf ihn frontal, seine mit Klauen besetzte Hand packte seinen Kopf und schlug Myotismon zu Boden. Beim Aufprall verlor Yuki selbst ihren Halt und überschlug sich ein paar Mal, bis sie ein paar Meter neben Myotismon auf dem Boden liegen blieb. Sie konnte ihr Onkelchen stöhnen hören. Während NeoDevimon neben dem auf dem Boden kauerten Myotismon stand, mit der Hand weiter auf seinem Gesicht und einem Fuß auf der Brust, war der Fedora mit Yuki davongeflogen und sein Gesicht den Lichtstrahlen ausgeliefert. Es fühlte sich an wie Säure. „Hat sich also doch gelohnt zu warten. Was spaziert Ihr aber auch bei Tag durch die Gegend? Wart Ihr so einsam, dass Ihr Euch die Gesellschaft einer kleinen Blindschleiche anlachen musstet? Das ist erbärmlich, genau wie dieser Anblick.“ „Du wagst es mich so zu nennen, dabei traust du dich auch nur mich am Tage anzugreifen und ich ein Kind am Rockzipfel habe!“ Yuki zuckte zusammen, als sie Stromschläge hörte, nachdem NeoDevimon, dieser fiese Jabberwock „Betäubungskralle!“ brüllte und bevor sie Onkelchen kurz schreien hörte. „Mag sein. Aber wenn Ihr irgendein anderes Kind getroffen hättet, hätte ich meinen Auftrag weiter hinausziehen und noch eigene Pläne schmieden müssen. Aber Ihr seid genau an die Richtige geraten. Welch ein glücklicher Zufall. Das erspart mir viel Zeit.“ Irgendwas in ihr verriet Yuki, dass der Jabberwock mit der Maske sie ansah und vor allem wie. Tat er Onkelchen etwa wegen ihr weh? Hatte sie etwas angestellt und deswegen tat er das? „Was für ein Auftrag?“, fragte Myotismon und im selben Moment sah er statt NeoDevimon ein andere Digimon vor sich, eines in grellen Farben gekleidet und einer geschminkten, falschen Visage. „Hat dieser wahnsinnige Clown dich mir etwa auf den Hals gehetzt?!“ „Ich würde nicht einmal deinen Sarg polieren, egal wie gut Piedmon mich bezahlen würde. Du weißt immer noch nicht, wer ich bin? Ist doch so? Keine Sorge, ich helfe deinem Gedächtnis gerne auf die Sprünge. Die kleine Alice darf auch gerne mitspielen. Das macht es nur amüsanter.“ Wieder das Geräusch von Stromschlägen, aber kein Stöhnen, dass Yukis Sorge noch mehr entfachte. „Lass Onkelchen gehen!“, versuchte sie zu schreien, aber ihre Stimme war so hoch und leise wie das Pfeifen einer Maus. Aber es amüsierte NeoDevimon so sehr, dass er kurz sein Interesse an Myotismon verlor. „Wie süß. Nennt sie dich etwa die ganze Zeit so? Weiß sie, wer oder was du bist?“ „Das hat dich nicht zu interessieren!“, knurrte Myotismon ihn weiter an und NeoDevimon seufzte. „Also bleibst du dabei, dass du absolut keine Ahnung habt, was geschehen ist? Nichts? Absolut nichts? Gar nichts? Tse, das ist fast noch erbärmlicher wie alles andere.“ „Lass ihn!“, sagte Yuki, nun mit der Stimme einer etwas lauteren Maus und schaffte es zumindest wieder auf ihre Knie. Ihre Sturheit nervte NeoDevimon langsam, wenn ihr kümmerliches Auftreten doch sehr belustigend war. „Sag das doch noch mal, kleine Alice. Der Wind war zu laut, dass ich dein zartes Stimmchen nicht hören konnte.“ „Du hast mich genau gehört, du blöder Jabberwock! Du sollst Onkelchen in Ruhe lassen!“ Yuki hatte nur die kurze Wärme auf ihrer Brust gespürt und hielt es für Sonnenstrahlen. Myotismon bekam es gar nicht mit und das war auch ganz gut so. NeoDevimon jedoch sah, wie das Wappen nur einen ganz kleinen Moment begann zu glühen. Und dieses Glühen sah er schließlich dann auch, für einen ebenso kurzen Moment wieder in Myotismons Augen, dieses Leuchten, dass NeoDevimon sehen wollte. Genau das, dieser Blick von diesem widerlichem Volksverräter einer Fledermaus – wie ironisch, wie absolut ironisch, dass er dieses Schimpfwort selbst in den Mund nahm – , ein Verräter an seinem eigenem Typus, der ihn und seinen Meister unter dem Schutz dieses Wappens einst ins Meer der Dunkelheit wegsperrte. Doch alles ging zu schnell und NeoDevimons Euphorie erstarb. „Gruselflügel!“ Die Schar Fledermäuse riss NeoDevimon wie ein schwarzer Blizzard davon. Yuki hörte nur ihr entsetzlich hohes Fauchen und Pfeifen. Und dann, wie in der Ferne etwas, der Jabberwock selbst, mit einem lauten Knall und Platschen ins Wasser fiel. Aber kein Geräusch, dass danach folgte deutete darauf hin, dass er wieder aufgetaucht sei. Es war ruhig, wenn man die Rufe und das Geschrei der Leute ignorierte, die von der anderen Seite des Mizuno Hiroba Parks aus (aber noch weit genug von der Baustelle entfernt) die Wasserfontäne und die Fledermäuse erblickten und spekulierten, ob dass wieder das Werk dieser Monster war, die man seit dem Vortag öfter in Tokyo begegnete. Am Wichtigsten für Myotismon blieb, dass er diesen von Piedmon angeheuerten Meuchelmörder, wenn auch vorerst, losgeworden war. Er hätte ahnen müssen, dass Piedmon Wind von der ganzen Sachen hier bekäme und Spione anheuern würde, die Myotismon im Falle des Falles auslöschen würden. Dieses größenwahnsinnige Digimon hatte ihm nie vertraut. In seinem Ärger über Piedmon vergaß Myotismon darüber nachzudenken, wo die Kraft in seinem Körper hergekommen war. Das Gefühl von Salzsäure auf der Haut und der Hunger war für gerade einmal eine Sekunde fort gewesen, eine kurze Zeit, jedoch für einen Gegenangriff ausreichend, während sich NeoDevimon über Yuki lustig machte. Wohl auch, da diese Kraft genauso schnell gegangen, wie sie gekommen war und damit das Brennen wiederkehrte, schenkte Myotismon diesem Phänomen keinerlei große Beachtung mehr. Doch mit ihrem Verschwinden kehrte der Hunger wieder. „Geht es wieder, Onkelchen? Bist du schwer verletzt?“ Yuki kam auf ihm zu, mit seinem grauen Hut in der Hand. Sofort nahm Myotismon ihn ihr weg und setzte ihn auf, aber es half nur geringfügig. Er war vom Hunger zu kraftlos geworden, selbst das Atmen löste wieder das Brennen in seiner Kehle aus und Yuki, die besorgt neben ihm stand konnte es hören, wie schwer er nach Luft schnappte. Sie wusste, er musste schon die ganze Zeit Hunger gehabt haben und nun, nach dem Gefecht mit dem Jabberwock muss es noch schlimmer geworden sein. Vielleicht war er sogar verletzt. Vielleicht war sie sogar irgendwie Schuld daran. „Onkelchen...“ Yuki wagte es, seine Schulter zu berühren, spürte sein Zittern, aber er schlug ihre Hand gleich wieder fort. Wie schrecklich warm ihm wohl unter dem Mantel war? Wann hatte er eigentlich das letzte Mal etwas zu essen, wenn er sogar am Tage unterwegs war? Abgesehen von dem doofen Saft. Vampire brauchten keinen Saft. Vampire mit Tomatensaft oder so was handzahm zu machen ging im Fernsehen, aber in der Realität - was paradox war, da Vampire eigentlich doch nur Fabelwesen waren - ging das überhaupt nicht. Das wäre, als würde man einen Hund jedes mal nur die Soße vom Teller lecken lassen, als ihm ein anständiges Stück Fleisch zu geben. „W-W-Wenn du so Hunger hast, dann ist das okay. D-Dann...“ Yuki konnte es nicht sagen, sondern griff nach ihrer Spieluhr, nicht das sie wieder losging und Onkelchen schwindlig wurde, wie beim letzten Mal. Mit zugeknifften Augen griff sie nach dem Kragen ihrer Bluse und riss sie, so weit wie sie konnte herunter, damit ihr Hals frei war. Und versuchte dabei sich nicht sein Gesicht vorzustellen, wie er sie und ihren Hals ansehen würde. Aber sie spürte diesen Blick. Deutlich. „N-Nur bitte nicht so fest, okay?“ Alles in ihrem Körper verkrafte sich. Sie spürte wie eine von Onkelchens Händen sie an der Schulter packte und sie wartete nur auf den stechenden Schmerz und dass es schnell vorbei sein würde. Sie ließ in ihrem Kopf sogar sämtliche Lieder und Kinderreim wie auf einer Kassette abspielen, um den Geräuschen, die hierbei entstehen würde nicht zuhören zu müssen. Sie mochte erst acht Jahre sein, aber der Hunger in Myotismon war so groß gewesen, dass ihm das vorerst auch gereicht hätte. Diese Welt kostete ihn zu viel Kraft, diese Unruhe raubte ihm zu viel Kraft, dieser Kampf, dieses Kind ganz besonders, dass er vermutlich die ganze Stadt aussaugen müsste, bis er endlich wieder das Gefühl hätte richtig satt zu sein. Ihre Mutter hatte schließlich schon einen so schönen, warmen Hals und Myotismon hat diese Hingebung in ihrem Blut so deutlich schmecken können, wie selten sonst. (So wie bei dir Sanzomon) Und so, wie dieses Mädchen ihn die ganze Zeit angehimmelte, würde es sicher genauso gut schmecken. Der Druck auf Yukis Schulter war fester und statt an ihre Nonsens-Reime und Märchen zu denken, die sie ablenken sollten, konnte sie nur an seine Zähne denken, die sie vorhin berührt hatte und wie kalt sie waren und wie ekelhaft sie sich erst in der Haut anfühlen würden. Sie konnte ihr Wimmern nicht unterdrücken, aber es war besser wie zu weinen oder zu schreien, was ihr Körper eigentlich viel lieber getan hätte. Da war dieses Wimmern besser, auch als Onkelchen sie noch fester packte, damit sie aufhören würde. Er hasste dieses Gewinsel. Furcht war etwas Wunderbares, wenn man loyale Untertanen wollte, aber nicht für eine Mahlzeit. Darum schließlich hypnotisierte Myotismon seine Opfer, damit er diese jämmerlichen Geräusche nicht hören musste, das verdarb ihm nur den Appetit. Furcht schmeckte nicht so gut, wenn keine Leidenschaft dabei war oder der Wille sich dem Verderben und dem Verdorbenem hingeben zu wollen. Der Hunger wurde von Wut beseitigt. Wut darüber, dass sie mit Blindheit gestraft war. Hätte sie ihn sehen können, wäre alles so viel leichter gewesen und Myotismon könnte längst wieder in seinem Sarg liegen. Aber so blieb nicht nur seine anfängliche Neugier, sondern auch sein Hunger unbefriedigt. Yukis ängstlichen Winseln ließ nicht nach, trotz dass sie versuchte es so leise wie möglich zu halten. Sie wartete auf den Biss, der aber nicht kam. Stattdessen packte die Hand ihres Onkelchens sie nun am Kragen, so wie wenn man eine Katze am Genick packte. „Als ob ich so verzweifelt sein müsste! Ich wette, dein Blut schmeckt genauso wie dieser widerliche Saft!“, keifte er Yuki an. Ihr Winseln wurde jedoch statt leiser nur lauter, obwohl sie sich wirklich anstrengte, das Gegenteil zu erreichen. „Wieso muss ich immer an so treudoofe, neugierige Dinger geraten, die einem nur Ärger machen? Und wage es bloß nicht zu weinen. Ich kann heulende Kinder nicht ausstehen.“ Ihr Gewinsel machte Myotismon wütend, dass hatte sie begriffen, aber Yuki konnte nicht aufhören, so sehr sie es versuchte. Aber sie würde nicht weinen, bestimmt nicht, ganz sicher nicht. Yuki wollte nicht, dass Onkelchen noch mehr mit ihr schimpfte. „Ich habe genug von dir.“ Sie konnte das Flattern von schweren Stoff hören. Und dann war Yukis Welt schwarz geworden. Kein Dracula. Kein Jabberwock. Nur Schwärze und das Geräusch von Fledermäusen.   𝅘𝅥𝅯 Während NeoDevimon im Salzwasser langsam versank, immer noch mit diesen ohrenbetäubenden Schrei der Fledermäuse im Ohr und das Wasser um ihn von Azurblau, zu Dunkelblau und schließlich zu Schwarz wechselte, überfiel ihn die Nostalgie. Die Apartheid hatte durchaus ihre Vorzüge. Man wusste immer, wo man hingehörte. Da wurde nicht lange gefackelt, gefragt welche Wertvorstellungen man hatte, so wie es nun war, man beschränkte sich auf den Typus und man gehörte dazu und das war ein sehr bequemes Herangehen. Alles was dazwischen war wurde akzeptiert, solange der Typus stimmte und Gleiches unter Gleichen war. Und trafen sich zwei ungleiche Digimon, kämpfte man bis einer gelöscht war. Gefressen und Gefressen werden, war ja auch Jahre nach der Apartheid nicht anders. Nur haben dass die Serums nicht so sehen wollen, wie die Viren. Die Serums plädierten auf Vernunft und waren gleichzeitig die größten Heuchler, denn wer auf Vernunft pfiff, wurde ausgelöscht. Und die Dateien konnte man getrost vergessen, sie waren wie laue Lüftchen im Wind, die sich dem anschlossen, der ihnen gerade gelegen kam. Dass die so verhasste Typus-Apartheid überhaupt entstand war die Schuld der Serums. Hätten sie die Viren einfach Viren sein lassen, hätte es so schlimm gar nicht sein müssen. Viren zerstörten halt gerne, das war ihr Urinstinkt, der Urkern ihrer Daten und es gehörte dazu, aber Zerstörung ruinierte das System und mit Unordnung, Unlogik und Chaos konnten die Serums nichts anfangen. Dann, eines Tages, kamen, unter der Hand der Allmacht der Digiwelt und einem zickigen, wenn auch starken Rosemon sieben Gänslein in die Lande. Sieben kleine, menschliche Gänslein. Unschuldige Kinder, die Unsinn und Chaos liebten, aber sich auch nach der Ordnung sehnten und keinen Sinn für Zerstörung hatten. Ihre Namen? Wen interessierte das? Keiner hatte sich die Mühe gemacht und bald schon wusste man Mär von Wahrheit nicht mehr zu unterscheiden, ob diese Kinder wirklich mal existierten oder ob sie nur Fabelwesen aus Märchenbüchern waren. Hänsel und Gretel, Bruder und Schwester, die Hand an Hand durch den Wald liefen. Momo, die sich immer Zeit nahm jedem zuzuhören. Krabat, der über diese chaotische Truppe wachte. Bilbo, der so ängstlich war und sich kaum getraute hinter die nächste Ecke zu schauen, aber Abenteuer erleben wollte. Humpty Dumpty, der glückselig auf seiner Mauer saß. Und selbstverständlich Alice. Sie erzählten den Digimon von ihrer Welt und brachten Märchen und Nonsens-Reime mit. Sie sprachen von Gleichheit und Individualität, als wäre es ein und dasselbe und für keinen der drei Typen machte das Sinn. Sprachen von Gefühlen und hatten diese mit Musik zum Ausdruck gebracht. Wie widerlich. Aber sie boten diesen Digimon die Stirn, Serums wie Seraphimon, Ophanimon, Cherubimon und Huanglongmon (einem Datei, der sich den Serums anschloss) und wie sie nicht alle hießen, den Mumm musste man ihnen lassen. Wenn dieses Geschwätz von Gefühlen nicht gewesen wäre, hätte man diese Gören Ernst nehmen können. Die Begeisterung unter den Viren war groß, schließlich stopfte jemand den Hohen Digimon endlich das vorlaute Mundwerk und zeigte ihnen mit ihrer eigenen Medizin, was man von ihrer tollen Ordnung hielt. Nur waren diese Kinder nicht allein Gegner der hohen Serums, sondern gingen genauso gegen die Dateien vor, die das ausnutzen wollten, als auch gegen die Viren, die eben Chaos und Zerstörung verbreiten wollten. Und eben eines jener hohen Digimon der Virus-Typen, wenn auch kein Dämonenfürst, war Meister Dragomon, dem NeoDevimon schon damals als IceDevimon diente. Diese sieben Gänslein waren allesamt total unscheinbar und er verstand nicht, was an denen und ihren Digimon, die sie begleiteten so besonders sein sollte, wenn auch die Tatsache, das erste Mal überhaupt Menschen zu sehen ganz interessant war. Bilbo war der Jüngste von ihnen, ein kleiner Bursche, der panische Angst vor ihm hatte und sich hinter seinem Digimon versteckte, dass ihn mit Flammen bedrohte, die so rotorange waren wie der Haarschopf seines menschlichen Partners. IceDevimon hatte sich über den Kleinen amüsiert. Dann war sein Partner jedoch digitiert und nahm ihn mit zwei weiteren Digimon in die Mangel. IceDevimon sah, dass sie alle digitieren konnten, wie sie lustig waren. Zu Champions. Zu Ultras. Irgendetwas hatten sie an sich, sonst hätten sie nicht so einfach digitieren können und Meister Dragomon, mitsamt aller seine Anhänger, zu denen auch IceDevimon gehörte nicht ins Meer der Dunkelheit verbannt. Nicht immer hieß dieser Ort so. Früher war es nur ein sehr abgelegener Teil der Digiwelt, ein Niemandsland, dann wurde es ihr Gefängnis. Anfangs war es auch nicht einmal so schlecht. Sien Meisterverschmolz mit diesem von den Göttern verlassene Land und machte es für Virus-Digimon bewohnbar. Sie hatten sogar Essen, sie hatten Platz, obwohl sie Gefangene waren, umzingelt von Wasser und Dragomons Gesang, der sich nur wenigen erschloss. Für die Meisten war es nur ein tiefes Brummen, manche wie IceDevimon klang es wie die Schläge einer schweren Glocke, deren Rhythmus früher oder später alle in den Whansinn trieb. Einige on ihnen zog es ins Wasser, um nahe bei Dragomon zu sein undsie wurden zu etwas, was man nicht einmal wagte auszusprechen. Andere verzogen sich in tiefe Höllen und mauerten sich ein und den Klängen zu entkommen. Man wusste nicht, was aus ihnen wurde. Man wollte es auch nicht wissen. Doch manchml warfen Digimon ihr Essen hinein und alles was zu hören war war ein unnatürliches Gebrüll und Geschmatze ihres Haustieres. Man wollte nicht wissen, was aus den Digimon, oder den Daten von ihnen dort unten wurde. IceDevimon hatte diesen Kindern nie verziehen, dass man sie in diese ewige Hölle eingesperrte. Zwei davon ganz besonders nicht. Ein Junge mit glatten, rabenschwarzen Haar, der so unscheinbar und freundlich aussah, mit einem Virus als Partner, das eigentlich als so hinterhältig galt, aber an dessen Seite brav wie ein Sheepmon war. IceDevimon erfuhr erst, nachdem er zu NeoDevimon digitieren war, dass dieses Balg kurz nach diesem Kampf mit Meister Dragomon verreckt war und er bedauerte es zutiefst, nicht dabei gewesen zu sein. Das andere Gänslein war Alice. Ein blasses, blondes Ding mit einem Blick in den blauen Augen, der etwas in sich barg, was einem in die Weißglut treiben konnte. Und dicht an Alice schwebte eine ebenso vorlaute, dreckige Fledermaus. Es war der Gedanke der Rache, der NeoDevimon verhalf nach Jahren aus dem Meer der Dunkelheit zu fliehen. Er wollte sich an diesen Kindern und an ihren Digimon rächen, für all die Viren, für Meister Dragomon und für ihn selbst. Was konnten sie denn dafür, dass sie Viren waren und halt das taten, was ihnen ihre Daten mitgegeben haben, nämlich ihren Trieben, wie immer sie auch aussehen mochten, freien Lauf zu lassen? Sie zerstörten. Das war normal. Alles wurde früher oder später gelöscht. Es war natürlich. Ordnung erzwingen, schwache Daten beschützen, in ungleichen Gruppen leben, zu trauern um ein digitales Ding, als digitales Ding überhaupt zu fühlen – war dies nicht die wahre Sünde? Nun war von den Kindern keines mehr übrig. Sie waren fort, an einen Ort, an dem NeoDevimon sie niemals erreichen würde. Aber ihre Digimon existierten noch. Er erfuhr es erst, als er seinen Unterhalt als Kopfgeldjäger für Piedmon verdiente, was mit denen geschehen war. Und es entwickelte sich ein heimtückischer Plan, als Piedmon ihn darum bat (oder doch eher befahl) den Herrn von Grey Mountain, Myotismon, mal genauer unter die Lupe zu nehmen, da Piedmon fürchtete Myotismon würde sich nicht - wie nannte er es? - an die vorgegeben Musiknoten halten. Und er wusste, als dieses Gatomon NeoDevimon nach Grey Mountain brachte und ihm ihren Meister vorstellte und er diesen Blick in diesen Augen sah, dass Myotismon genau der war, an dem er seine Rache und seinen Zorn ausleben konnte. Myotismon hatte ihn nicht erkannt. Zu Schade fast, er hätte ja gerne gewusst, was er dann getan hätte. Vielleicht hätte NeoDevimon ihn auch gleich umbringen sollen, während er in seinem Sarg vom Schnee träumte. Oder von seiner ehemaligen Geliebten, diesem Mönch-Digimon, dass vorher auf Grey Mountain lebte. Es war fast schon dreist. Hätte die Apartheid noch existiert, wäre Myotismon für so ein Verhältnis von seinen eigenen Artgenossen zerstückelt worden, auch wenn Piedmon sagte, die Romanze hätte kein Happy End gehabt. Aber allein, dass dieses vorlaute Drecksstück einer Fledermaus von damals zu so einem Digimon wurde, ein Digimon, dass nur zerstören konnte verschaffte NeoDevimon Genugtuung. Und dann fand er auch noch dieses Mädchen. Mit dem selben Blick und dem Wappen der Gerechtigkeit um den Hals. Das wurde immer besser. Sie konnte ja nichts dafür, dass sie geboren wurde. Sie hatte halt Pech. Aber wenn noch irgendetwas von dieser Fledermaus von einst in Myotismon übrig war - und da war Irgendetwas - würde es ihm eine Freude machen die kleine Alice vor seinen Augen zum weinen zu bringen. Nur ein wenig. Einfach um zu sehen, wie dieser Blick in Myotismon wieder hochkam, um ihm kurz danach wieder auslöschen zu können. Und diesmal für immer. „NeoDevimon, Mega-Digitation zuuu-!“   ♭ „Kagome, Kagome...“ Yuki war besonders glücklich und gut gelaunt an diesem Tag. Normalerweise wurde Yuki nach dem Kindergarten von Mama abgeholt. Besonders gute Laune bekam sie, weil sie früher abgeholt wurde wie sonst. Yuki mochte zwar den Kindergarten, aber sie war lieber zu Hause. Zu Hause war ihr vertrautes Umfeld, ihre Sachen, bekannte Gerüche und Geräusche. Hier im Kindergarten jedoch wirkte alles so vollkommen fremd. Sie war seit einem Monat blind und war gerade einmal eine Woche hier. Oder zwei? Oder nur einen Tag? Yuki zählte die Tage nicht. Der zweite Grund für ihre Freude war, dass Papa sie abholte. Das kam selten vor, dass kam darauf an wie schnell Papa mit seiner Arbeit fertig wurde. Papa gab Klavierstunden und hatte viele Schüler und an manchen Tagen dafür keine Zeit. Manchmal rannte er morgens wie das weiße Kaninchen umher, weil er zu spät dran war und Angst hatte die Bahn zu verpassen. „Fledermaus, dein Hohesang…“ Dass er sie abholte stimmte Yuki so glücklich. Doch sie konnte noch nicht gehen, denn ihr Vater redet noch mit der Erzieherin. Draußen, weit weg hörte sie die anderen Kinder spielen. Etwas näher hörte sie die Stimmen der Erzieherin und ihres Vaters, gedämmt durch die Türe. Yuki hörte bruchstückhaft, was sie sagten, aber war zu jung, um die Worte zu begreifen und verlor sich in dem Tagtraum einer saphirblauen Nacht und fliederfarbener Wolken, und schwarze Fledermäuse kreisten umher, manche hatte grüne Augen, manche pinke, manche gelbe und sogar rote. „Der Zustand ist doch erst seit einem Monat, sie muss sich noch daran gewöhnen.“ „Dann hätten Sie sie nicht schon hierher bringen sollen, sondern noch zu Hause lassen. Sie kommt doch so gar nicht zurecht.“ „Sie sind doch Erzieher, ist es nicht ihr Job auf die Kinder aufzupassen und ihnen etwas beizubringen?“ „Wir sind keine Betreuungsstätte für behinderte Kinder und schon gar nicht für Blinde. Sie kann nicht lesen, nicht schreiben und sie kann kaum an Aktivitäten teilnehmen, nicht mit den anderen spielen, nicht mal ihre Platz aufräumen.“ Und eine war aber nicht so nett, aber in Yukis Tagtraum wechselte der Übeltäter immer, wie in dem Spiel. An diesem Tag war es die mit den kalten, blauen Augen in Yukis Fantasie, die eigentlich böse war und ihr die Mütze oder die Schleife wegnehmen wollte, um sie zu ärgern. Weiter reichte Yukis Verständnis von Gemeinheiten zu diesem Zeitpunkt noch nicht. „Sie muss auch erst einmal lernen, sich in ihrer Umgebung zurecht zu finden. Wenn sie das kann, kann man ihr immer noch lesen und schreiben beibringen. Sie ist ja nicht der erste blinde Mensch auf der Welt.“ „Sie stört aber damit die anderen Kinder. Weil wir ihr mehr helfen müssen, kommen die anderen zu kurz.“ „Ein blindes Kind braucht halt etwas mehr Hilfe. Ich und meine Frau tun alles, damit sie nicht zurückfällt, aber da benötigen wir auch etwas Unterstützung von euch. Wir müssen alle an einem Strang ziehen, damit sie mithalten kann.“ „Das ist Ihre Aufgabe. Sie wollen, dass ihr Kind hier lernt, also soll es auch lern- und anpassungsfähig sein. Und mithalten wird sie mit den anderen nie können. Sie wird eine Belastung für alle.“ „Mein Kind... ist keine Belastung.“ Da der Schall durch die Tür gedämpft wurde wirkte die Stimme ihres Vaters wesentlich gefasster und verbarg seinen Zorn, den er aber unterdrückte. „...wann holst du uns in deinen Bann? Wer hat da in tiefster Nacht...“ Fledermäuse waren ulkige Tiere. Die konnten wie Yuki auch nicht sehen und flogen trotzdem problemlos durch die Luft. Die anderen Mädchen fanden sie gruselig und die Jungs interessierten sie nicht besonders. „Sie wird immer auf Hilfe angewiesen sein.“ „Yuki ist sehr lernfähig und selbstständig für ihr Alter. Ich habe großes Vertrauen in mein Kind, dass sie die Hürden überwindet. Zudem wäre es nicht falsch, Kinder frühzeitig mit solch sensiblen Dingen zu konfrontieren. Das schult vielleicht das soziale Miteinander, wenn man lernt anderen, die eine Beeinträchtigung haben die Hand zu reichen, anstatt sie als sonderlich abzustempeln.“ „Also bitte, Sie können nicht erwarten, dass sich alles und jeder nach ihrer Tochter richtet.“ „Das habe ich nie gesagt.“ „Wir tolerieren schon genug. Yuki bringt den anderen Kindern gruselige Reime und Geschichten bei. Nun fängt sie an von musizierenden Fledermäusen zu singen beim spielen, die sich in schwarze Männer verwandeln. Fledermäuse! Sie sind uns eine Erklärung schuldig.“ „Na ja,“ lachte Yukis Vater auf, „Sie hat eben doch eine blühende Fantasie. Meine Frau und ich lesen gern europäische Lektüre, da haben Fledermäuse einen etwas… skurrilen Ruf.“ „Dann unterlassen sie solche Geschichten, wenn Sie sich nicht in Zukunft vor den anderen Eltern rechtfertigen wollen.“ „Ich bitte Sie. Kinder erfinden manchmal schaurige Dinge und neigen zu Übertreibungen, dass wissen Sie genauso gut wie ich.“ Doch es kam nur ein leises Schnaufen. Yuki langweilte sich allmählich. Wie lange brauchten sie denn noch? „...Wal und Mann zu Fall gebracht?“ Sie schloss die Augen und legte die Hände auf sie. Es machte eigentlich keinen Unterschied, doch der Erkenntnis über die Blindheit war der Gewohnheit und dem tief verankerten Instinkt unterlegen. Auch im Spiel schloss sie die Augen, um im Kreise ihrer Spielkameraden den Schein zu wahren, dass zwischen ihnen kein Unterschied lag und sie doch wie die Anderen war. Auch ihre Trefferquote bei Kagome, Kagome lag mit der der anderen Kinder etwa gleich auf. Manchmal erkannte sie an den Klang der Schritte, wo wer war. Wie unterschiedlich Schritte klingen konnten. Das war ihr nie aufgefallen. „Nun gut. Ich werde meine ausländische Lektüre nicht all zu sehr vor ihr präsentieren.“ „Und das, weswegen ich Sie überhaupt angerufen habe?“ „Ich habe gesagt, was ich dazu denke. Ich arbeite daran, Yuki zu fördern. Ich tue es aber, um ihr Normalität zu schenken, nicht damit andere es leichter mit ihr haben. Guten Tag noch.“ „Das sollte aber das Mindeste sein, wenn Sie nicht wollen, dass andere sie als Last empfinden“, rief die Erzieherin Yukis Vater nach, dies hörte Yuki aber nun viel deutlicher. Die Tür war auf gegangen. Sie hörte Schritte, die auch gleich neben ihr stehen blieben. Die Türe knallte zu. „Schwarzer Mann oder großes Tier? Wer steht nun hinter dir?“ Sie nahm die Hände von ihren Augen. Es änderte sich nichts vor ihr, aber doch gaukelte Yukis Kopf ihr vor, es wäre vor ihr klarer und heller geworden. „Papa!“, lachte sie auf. Zwei Hände griffen unter ihre Arme und hoben ihren kleinen Körper hoch. Ihre Finger klammerten sich an den schwarzen Mantels ihres Vaters, der aus einem weichen und doch gleichzeitig schweren Stoff bestand, der Duft seines Rasierwasser umgab ihn. Sie hörte sein Lachen. Er freute sich, sie zu sehen und Yuki freute sich, bei ihrem Vater zu sein. Sie liebte ihn so sehr. In ihrer Vorstellung war ihr Vater so perfekt, wie es ein Vater für seine Tochter sein konnte. Zu dem Zeitpunkt wusste Yuki es noch nicht, aber ihr Vater sah nicht japanisch aus. Sein Gesicht war anders und hell, sein Haar war wie Gold und die Augen wie der Himmel und all das hatte er an sie vererbt. Er war größer als die meisten Männer und auf seinen Schultern zu sitzen und über die Köpfe aller hinwegzuschauen gab Yuki das Gefühl, als könne sie auf die ganze Welt blicken und die Sterne ergreifen. Auch nun, wo sie blind war, glaubte sie weiter, auf seinen Schultern könnte sie die Wolken und Sterne berühren. „Gehen wir Heim, Papa?“ „Ja.“ „Spielst du dann mit mir?“ „Ja, aber nicht lange. Ich muss leider nachher noch Unterricht geben. Aber erst, wenn Mama wieder zu Hause ist“, erklärte er. Erst war Yuki enttäuscht, aber es war Zeit mit ihrem Papa, die sie verbringen konnte, also klagte sie nicht. Er setzte sie ab und nahm ihre Hand. Seine Hände wirkten so fein, wenn sie so an die Hände ihres Opas dachte und die der männlichen Ärzte, die sie untersuchten. Yuki war überzeugt, dass die Finger so fein sein mussten, damit sie sich schnell bewegen konnten beim spielen. Sie wollte auch gern Klavierspielen lernen. Nun aber schien dieser Wunsch unmöglich. Fast. „Sag Yuki, man sagte mir, du erzählst viele Geschichten über Fledermäuse. Was ist da los?“ „Opa hat mir von Fledermäusen erzählt“, sagte Yuki fröhlich und unbedarft. „Fledermäuse sind auch blind und können fliegen. Ist das nicht toll?“ „Warum erzählt Opa dir das?“ „Weil ich Angst hatte, dass du mir kein Klavierspielen mehr beibringen kannst. Und dann hat er mir von den Fledermäusen erzählt.“ Ihr Vater blieb stehen. Seine Finger krampften und Yukis fröhliches Gesicht trübte sich. „Yuki, wir haben doch drüber geredet. Ich kann es dir nicht beibringen.“ „Doch kannst du! Du bist Lehrer“, schimpfte Yuki beleidigt. „Du willst nur nicht.“ „Ja… Richtig. So ist es.“ Dann schwang etwas um. Ein beklemmendes Gefühl, dass ihren Vater umgab. Graue Gedanken kreisten um ihn. Keines ihrer Sinnesorgane war fähig diese wirklich zu begreifen oder zu erfassen, aber sie existierten und ließen alles farblos, schwer und kalt erscheinen. Es einfach graue Gedanken zu nennen war vermutlich auch nicht ideal, aber es verschaffte Yuki ein wenig Verständnis dafür, was ihren Vater in seinen unerbittlichen Würgegriff hielt wie eine große Schlange. Nein, vielleicht eher wie eine Qualle. Unscheinbar, aber mit vielen Armen, mit versteckten Stacheln in ihnen, die sich ins Fleisch verharkten und unerträgliche, kaum vorstellbare Schmerzen verursachten. Sie hörte, wie ihr Vater sich mit der Hand über das Gesicht fuhr, dann durch die Haare. Jene Hand, die Yuki hielt wirkte steif, aber es mangelte ihr an jeder Kraft. So war es schließlich Yuki, die an diesen langen, angewinkelten Fingern zog, die kalt vom Winterwetter waren. „Komm, Papa. Je früher wir daheim sind, um so mehr können wir spielen“, lachte Yuki, als hätte sie nicht bemerkt, dass ihr Vater von seinen eigenen Geistern verfolgt wurde und die grauen Gedanken ihn regelrecht erfrieren ließen. Er nickte nur, vergaß, dass seine Tochter das ja nicht sah und versuchte, bis sie zu Hause waren diese Gedanken wieder in seinem Unterbewusstsein zu vergraben. Zu jung um sich ernst damit zu beschäftigen, dachte Yuki nicht mehr daran, sondern dachte an Fledermäuse. Große, schwarze Fledermäuse. #♫ Bei dem plötzlich Wechsel von Hell zu Dunkel wäre Yuki fast schlecht geworden und sie fürchtete, ihr Frühstück käme wieder hoch, konnte sich aber noch beherrschen. Was immer das gewesen war, die schrillen Geräusche der Fledermäuse klingelten ihr immer noch in den Ohren und es war entsetzlich und trotz Blindheit hatte sich alles vor ihren Augen gedreht. Aber sie waren nicht mehr am Mizuno Hiroba Park, das war ihr klar. Die Gegend hörte sich ganz anders an. Viel ruhiger. Sie konnte Blätter rascheln hören und irgendwo in der ferne das Lachen der Leute. Myotismon hatte sie von der Baustelle weggebracht und war erst als Schwarm Fledermäuse und dann in komplette physischer Gestalt mit Yuki am Rande des Fountain Square aufgetaucht, zwischen schattigen Bäumen versteckt und weit weg von den Menschen, die das hätten bemerken können. Oder von NeoDevimon, der vermutlich noch am Leben war. Er hatte zwar sein Versteck auf Bird Island angestrebt, aber für mehr hatte Myotismon in seiner momentanen Verfassung nicht aufbringen, zumal er dieses Kind noch mit dabei hatte. Aber Hauptsache weg von dort. Yuki taumelte kurz, hielt sich dabei an Myotismons Trenchcoat fest und schlecht gelaunt wie er war, wäre es ihm lieber wenn sie Abstand lassen würde. Aber sie fing sich schnell wieder. „Es reicht mir mit dir. Nichts als Ärger hat man mit Kindern!“, knurrte Myotismon und packte Yuki fest an den Schultern. Er positionierte sie vor sich und drehte Yuki in die Richtung, in der sie direkt durch die Bäume hinaus blickte und aus der auch die Laute der anderen Menschen herkamen. „Einfach geradeaus, dann kommst du auf den Weg. Den Rest, wo immer du hin willst, schaffst du sicher alleine. Du kannst doch angeblich so gut auf dich selbst aufpassen.“ Er nahm die Hände von ihren Schultern, aber als er es tat, schubste Myotismon sie gleichzeitig nach vorn. Yuki zog die Schultern hoch und wollte sich entschuldigen, für was auch immer sie getan hatte. War Onkelchen wütend wegen dem Jabberwock? War sie doch schuld? Oder weil sie ihm Blut anbieten wollte? Sie hatte es doch nicht böse gemeint, ihr tat Onkelchen nur so Leid, weil er Hunger hatte. Irgendwie spürte Yuki, was für ein erbostes Gesicht ihr Onkelchen zog und sie hatte absolut Recht damit. Myotismon war wütend, extrem wütend, aber nicht wegen NeoDevimon. Verräter verdienten es beseitigt zu werden und dass er dieses Kind traf, dass indirekt diesen Verrat aufdeckte war nicht das Problem. Das eigentliche Problem war, dass sie nicht das achte Kind war. Dass sie keinen Sinn machte. Dass sie unbrauchbar war und Myotismon es trotzdem nicht fertig brachte sie umzubringen. Normalerweise verschmähte er unnötige Tode, unnötig im Sinne davon, wenn sie nicht zur Sättigung von Hunger oder Lust dienten, schließlich war er nicht Piedmon. Er wollte ihr den Hals umdrehen, dafür dass sie ein Digivice und ein Wappen besaß, dass nicht sein sollte, dass sie diesen Blick hatte, obwohl sie blind wie eine Fledermaus war und dann auch noch Nonsens-Reime und dumme Ideen vor sich hin plapperte. Er wollte sie am liebsten zerfetzen und dann so tun, als sei niemals etwas passiert, dass konnte er am besten. Und konnte es letztendlich doch nicht. „Onkelchen?“, rief Yuki ihm nach, als sie das Gras hörte und Myotismon dabei war zu gehen. Bei diesem Namen lief ihm immer noch ein Schauer über den Rücken. „Wenn ich dich verärgert habe oder so, dann tut mir das Leid. Das war nicht so gemeint. Ich dachte einfach nur -“ „Was dachtest du? Habe ich dir nicht gesagt, dass du weniger denken sollst?“ Er klang überhaupt nicht mehr freundlich - wann war er das je gewesen? - aber dass klang alles andere als gut und Yuki fuhr wieder zusammen, Myotismon selbst schüttelte nur den Kopf darüber. Dabei hatte sie vorhin noch so eine große Klappe. Yuki hätte sich vielleicht sogar noch mehr gefürchtet, hätte sie sehen können, wie das orangegelbe Licht der Nachmittagssonne in Myotismons Augen fiel und sie unheimlich aufglühen ließen, als wären sie der Abgrund ins Purgatorium. „Geh nach Hause. Ich habe die Schnauze voll von deinen Kinderspielchen. Und sei froh, dass ich noch so gnädig bin und dich gehen lasse.“ „Aber Onkel-“ „Und gewöhne dir dieses Onkelchen ab!“ Mit seinem Schrei begannen auch die Fledermäuse zu fauchen, die sich in den Bäumen versteckt hielten, weil dass Licht noch immer zu grell war. Yukis Kopf versank noch tiefer in ihren Schultern. Sie hörte zwar ihr eigenes Wimmern in ihrer Stimme, dennoch hatte sie Myotismons verächtliches Schnaufen vernommen und kurz darauf wieder das Geräusch der Wiese unter seinem Gang. Vielleicht dachte sie wirklich zu viel, ein anderes Kind hätte geheult und hätte das Onkelchen aus seinem Kopf gestrichen. Aber Yuki dachte eben doch zu viel und sie dachte, dass in den wenigen Sätzen, die zwischen ihnen ganz vernünftig klangen, er so ehrlich war. Nicht freundlich, okay, aber ehrlich. Aber jetzt war er nicht ehrlich und sie sollte sich darüber ärgern, aber auch dass konnte sie nicht. Dafür erinnerte sie Myotismon zu sehr an ihren Vater, auf eine sehr komische Weise. Äußerlich vielleicht ein bisschen, von Verhalten her fast überhaupt nicht. Aber da war - Irgendetwas. Irgendetwas, was ihre Uhr zum spielen gebrachte und sie wollte wissen, was es war. Sie musste es wissen. Und noch ehe sich das Wort Furcht überhaupt in Yukis Kopf bilden konnte, wurde sie wütend. Nicht so sehr wie Onkelchen, aber doch wütend genug. Was immer er für ein Problem hatte, sie war nicht Schuld. Sie hatte den Jabberwock nicht gerufen und gesagt, dass er auf Onkelchen losgehen sollte. Sie hatte auch nichts Falsches gemacht. Sie war nur ehrlich gewesen und sie hatte ehrliches Mitgefühl und hatte ehrliche Sympathie - an das Wort, dass mit Ver- anfing und mit -liebheit endete wollte sie nicht denken -, warum sollte sie bestraft werden? Das war nicht gerecht! „Ich finde es so mies von dir, dass du mich anschreist, dabei habe ich dir gar nichts gemacht!“ Sämtliche Geräusche verstummten abrupt. Myotismon schnappte tief nach Luft, ehe er, mehr als nur wütend zu ihr zurückschaute und wenn dieses Irgendetwas nicht wäre, hätte er seine Fledermäuse in diesem Moment auf sie gehetzt. Er kam mit großen Schritten zu ihr zurück und blieb vor diesem mickrigen, dünnen und blassen Körper stehen. Myotismon packte sie am Kopf, um sie wie einen Schraubverschluss zu sich zu drehen, dann ging er vor ihr in die Hocke. Yuki schluckte. Ja, sie konnte wirklich von Glück reden, dass da dieses Irgendetwas war, mitsamt seiner eigenen Moral. Und dieses andere, dass ihn schon bei Tage aus seinem Versteck gelockt hatte, diese Unruhe, die ihn als Tsukaimon schon quälte und nun, wo er in ihr Gesicht sah wiederaufkam, ohne zu wissen warum. „Ich dachte, du kennst dich so gut mit Vampiren aus. Solltest du nicht wissen, dass es keine gute Idee ist so mit mir zu reden? Weißt du, was ich mit Kindern und Digimon anstelle, die es wagen so weit den Mund aufzureißen?“ „Wenn du das ernst meinen würdest, hättest du es schon getan! Und vor Vampiren habe ich keine Angst, das solltest du auch wissen“, moserte Yuki weiter. Vermutlich schaufelte sie sich ihr eigenes Grab, aber sie wollte nicht zeigen, dass sie Angst hatte. Beide sahen sich in die Augen (Yuki konnte es nur erahnen, aber sie hatte wieder das Gefühl, böse Geister tänzelten um sie herum). Und während Yuki über den Geruch von Friedhof nachdachte, der Onkelchen umgab und gleichzeitig so stechend kalt war, dachte Myotismon darüber nach, wie ein blindes Gör es schaffte genau diesen Blick in ihren Augen zu haben, den er so hasste. Dann dachte Yuki an ihre Spieluhr. Wenn er ihr etwas tun würde, vielleicht spielte sie dann wieder. Sie könnte sich wehren. Er war wütend, ein wütender Vampir, oder eher ein digitales Wesen, dass so war wie Dracula und seine literarischen Abkömmlinge. Und Yuki fiel ein, warum das Aussehen der Vampire immer als anziehend und hübsch beschrieben wurde. Weil sie in ihrem Inneren nun einmal ziemlich hässlich waren. Unehrlich. Aber Yuki widerstand dem Bedürfnis, nach ihrer Uhr zu greifen und sie Onkelchen vors Gesicht zu halten. Dann würde sie nur gestehen, dass sie Angst vor ihm und seinem hässlichen Inneren hätte. Myotismon sah nur kurz, wie ihre Hand ihr Digivice, dass noch in der Hosentasche war greifen wollte, aber wie sie genauso schnell diesen Gedanken verwarf und ihre Hände hinter dem Rücken versteckte. „Geh – Jetzt!“ „Wann treffe ich dich wieder, Onkelchen?“ Ihre Stimme zitterte, aber es hatte nicht so ängstlich geklungen, wie sie befürchtet hatte und es machte Myotismon noch wütender, wenn er auch erst ziemlich verdutzt darüber war. „Spielst du immer noch dein blödes Spiel mit mir?“ „Wann treffe ich dich wieder, Onkelchen?“ Ihre Fäuste ballten sich hinter ihrem Rücken, sie hielt den Atem an. Yuki hörte nichts um sich herum, und das war komisch. Vielleicht war sie so nervös, dass sie umfiel und alle ihre anderen Sinne würden versagen, wurde sie wieder Luft holen. „Ich spiele dein blödes Spiel sicher nicht weiter. Digimon wie ich sind keine amüsanten Bücherfiguren, in denen das Gute immer siegt. Das ist eine Traumwelt und wenn du unbedingt in diesen Träumen bleiben willst, dann lass dich vom Mann im Mond ins Bettchen bringen und lies weiter deine Nonsens-Reime und Mutter-Gans-Märchen, anstatt Geschichten über Untote und Blutsauger. Passt besser zu dir.“ Seine tiefe Stimme klang genauso spöttisch wie entsetzlich bedrohlich, dass Yuki regelrecht hören konnte, wie er die Zähne vor ihr fletschte. Myotismon tat dies zwar nicht, aber er biss fest auf diese und sie wirkten im richtigen Winkel und im Licht mehr als nur gefährlich scharf. Nicht nur die Eckzähne, die ganze Zahnreihe, als wäre er wieder ein Dobermon. Er kam noch näher, bis Yuki seinen Atem riechen konnte. Er roch nach alten Herbstblattwerk und verwelkten Blumen im Winter. „Deine letzte Chance. Wach auf und geh nach Hause, kleine Alice. Denn wenn der Schwarze König erst einmal aufwacht, hörst du auf zu existieren!“, zischte er noch einmal laut und stand wieder auf. Zwar brauchte er noch einen Moment, um nicht doch noch einen Versuch zu vagen der Kleinen an die Gurgel zu springen, auch wenn zu viele Zeugen hier in der Nähe wären, aber er ließ es. Vorerst. Myotismon wollte einfach hinter den Bäumen verschwinden und warten, bis die Sonne fort war, bis er ebenfalls Gras hinter sich hörte, sich noch einredete, dass er das nur dachte oder es einfach ein Insekt oder ein Nagetier im Gestrüpp war und nicht das Wahrscheinlichste. Es war das Wahrscheinlichste. Die Göre lief ihm nach. „Muss ich noch klarer werden?“ „Sieh es als Strafe dafür, dass du dich so unehrlich benimmst“, keifte Yuki, rümpfte dabei ihre Stupsnase und kräuselte die Lippen so fest, dass sie von rosa zu rot wechselten. Myotismon musste seine Stimme dämpfen, wenn er wirklich so laut werden würde, wie er wollte, würde die ganze verdammte Stadt wissen, dass er hier war und es würde keine fünf Sekunden dauern, bis er dann noch die (richtigen) Digiritter am Hals hätte. „Ich lüge nicht. Ich mein meine Drohung ernst.“ „Du lügst nicht, aber du benimmst dich nicht ehrlich. Keine Ahnung was dich stört, aber lass es nicht an mir aus. Und du bist gar nicht so unehrlich, ich habe es gespürt. Das passt nicht zu dir.“ „Was weiß ein kleines, blindes Menschenmädchen schon?“, sagte er verächtlich und setzte sich wieder in Bewegung. Doch Yuki ließ ihn nicht gehen. Sie wollte das Onkelchen, dass zwar nach Friedhof roch, aber so spannend war wie der Gedanke, was nach dem Tod kommen könnte, nicht einfach so gehen lassen. Aber sie war nur einen Schritt gegangen, als eine von Myotismons Albtraumkrallen auf den Boden direkt vor ihr aufschlug. Yuki selbst hörte nur den Knall, dieses elektrische Geräusch wie von vorhin und wie kleine Erdbrocken und Steinchen gegen ihre Beine und Arme flogen, bis sie selbst durch den Gegendruck auf das trockene Gras und die ebenso trockene Erde fiel. „Hau ab! Und wenn du mir noch einmal zu nahe kommst, ziele ich auf dein Gesicht!“ Sie blieb auf dem Boden und rührte sich nicht, aber ihr trotziger Gesichtsausdruck blieb. Statt dem Grasrascheln hörte Yuki nur noch die Fledermäuse, die sich vor ihr in alle Richtungen verstreuten und von Myotismon keine Spur zurückließen. Kurz blieb sie noch sitzen, die Sonnenstrahlen trafen sie und sie waren angenehm warm, nachdem Onkelchens Atem und seine ganze Präsenz sie so gefröstelt hatte. Und sie stellte sich in ihrem Kopf Dideldum und Dideldei vor, die sie auslachten, weil sie sie noch gewarnt hatten, dass man den Schwarzen König schlafen lassen sollte. Und die Dorfbewohner und Zigeuner tanzten und lachten mit ihnen, weil sie trotz Warnung zur Burg Dracula gegangen war. „Dabei dachte ich, er wäre -“ Eigentlich wusste Yuki gar nicht, was sie gedacht hatte. Vermutlich zu viel. ♭ „Mama.“ Yuki klang ungewöhnlich schüchtern, was an der geladenen Ausstrahlung ihrer Mutter lag zusammen mit der Hitze. Sie schwitzte, dass lag aber nicht nur daran, dass es so schrecklich warm an diesem Tag war. Ihre Mutter hatte sich gestritten. Mit ihren Lehrern. Sie war gerade einmal drei Monate in der Grundschule und schon wurde ihre Mutter zu den Lehrern bestellt. Yuki war es so peinlich. Das sie böse sein musste merkte man auch daran, dass sie noch etwas in der Gegend umher liefen und einen längeren Weg zu den Straßenbahnen gingen, um wieder runter zu kommen, wie ihre Mutter gesagt hätte. Yuki konnte nicht sagen, wo in Minato sie genau umherliefen. Zu sehr war sie damit beschäftigt zu denken, was ihre Mutter wohl dachte, die sie an der Hand hielt und von der sich Yuki hinterher ziehen ließ, darum achtete sie auch nicht sonderlich darauf, was um sie herum war. Yuki hörte Leute an ihnen vorbeilaufen, Personen in Zweier- oder Dreiergruppen, die sich aufgeregt unterhielten, Mütter kamen mit ihren Kinderwägen entgegen. Autos brummten irgendwo von ganz weit weg und ratterten auf der Straße, aber Yuki hörte keine Reifen (klang nach Mittagsstau). „Also, was ist passiert?“, fragte ihre Mutter schließlich ohne jeden wirklichen Kontext. Kies knirschte, als ein Fahrradfahrer sie überholte. Kinderrufe kamen aus einer anderen entfernten Ecke, aber sie waren näher als die Autos. „Haben die Lehrer nichts gesagt?“ „Doch. Aber ich möchte auch deine Version hören. Das wäre nur fair. Und ich hoffe, ich habe mich nicht umsonst im Lehrerzimmer so aufgeregt.“ Aufgeregt war eine beschönigte Formulierung. Yukis Mutter hatte regelrecht getobt, warum diese Leute als Lehrer nicht in der Lage waren einen normalen Streit unter Kindern in Griff zu bekommen. Kinder müssen sich hin und wieder streiten. Eine Schlägerei hätte sie verstanden, aber nicht wenn es nur ums Packen am Handgelenk und um einen kräftigen Schubs ging, bei dem sich niemand verletzt hatte. „Das war dieser Shiro wieder. Der aus meinem Kindergarten. Er hat mich gesehen und wollte mit mir wegen Papa reden. Er hat geredet und geredet, obwohl ich ihm nicht zuhören wollte. Dann hat er nur noch dumme Sachen über Papa gesagt und ich habe gesagt, dass er ein Lügner sei. Dann hat er mich gepackt und es tat eben weh.“ „Hast du ihn deswegen gehauen?“ „Ich habe ihn nur geschubst, obwohl ich ihm gesagt habe, er soll aufhören! Außerdem hat diese Heulsuse doch angefangen! Er hatte nur Glück, dass Frau Ichikawa mal wieder zu spät ins Klassenzimmer kam und nicht alles gesehen und gehört hat“, motzte Yuki trotzig und schmollte deutlich. Ihre Mutter schüttelte den Kopf und ehe sie darüber nachdenken konnte, ob sie Yuki dafür wirklich ausschimpfen sollte - schließlich hätte sie in der Situation nicht anders gehandelt, auch wenn es falsch war – blieb Yuki stehen, was sie jedoch erst durch den Zug an ihrer Hand bemerkte. Die Stirn ihrer Tochter war nicht mehr gerunzelt und auch die Lippen nicht mehr gekräuselt. Ihr Haarreif mit einer kleinen Schleife saß schief und obwohl Yuki dass eigentlich immer störte, schenkte sie dem diesmal keine Beachtung. „Mama... Hat Papa etwas schlimmes gemacht?“ Yuki spürte und hörte auch, wie ihre Mutter vor ihr in die Knie ging, um ihrer Tochter direkt ins Gesicht zu sehen. Sinnlos eigentlich, konnte Yuki ihre Mimik doch nicht erwidern, aber dass sie dennoch so normal mit Yuki umging rührte sie irgendwie. Um so mehr versuchte sie zu spüren, was ihre Mutter fühlte und sie lag damit meist richtig. Sie standen unter dem Schatten einer Baumkrone, durch dessen Blätter und Zweige einzelne Sonnenstrahlen fielen und das spürte Yuki, da nur kleine Stellen in ihrem Gesicht durch das Licht warm wurden, nicht aber ihr ganzer Kopf. Sie versuchte sich vorzustellen, wie die knallroten Haare ihrer Mutter wohl in dem Licht aussahen. Vielleicht wie Feuer, vielleicht wie ein Haufen glänzender roter Edelsteine, aber Yuki schaffte es sich nicht darauf zu konzentrieren. So sah sie nichts. Absolut nichts. Und denken konnte sie nur an ihren Papa. „Unsinn. Schätzchen, wie kommst du auf so etwas?“ „Weil Shiro das gesagt hat. Er hat das gesagt, was die Nachbarn sagen.“ Die Finger ihrer Mutter zuckten. Ein Pochen in der Hand. Ihr Daumen, fuhr über die Hand ihrer Tochter. „Ich verstehe“, sagte ihre Mutter leise und in Gedanken. „Sie sagen, das es schlimm ist. Feige. Und un... undehr... unehrhaft?“ „Ich glaube, unehrenhaft haben sie gesagt.“ Ihre Mutter sprach weiter leise, über ihre Lippen fuhr ein langes Seufzen und ein ebenso leises, langes Einatmen. Und wieder schämte Yuki sich, diesmal weil sie ihren Vater in solch einem negativen Kontext erwähnte. Obwohl ihre Mutter es nach zwei Jahren durchaus schaffte locker über ihren verstorbenen Mann zu reden, sie vermisste ihn und manchmal gab es dann Augenblicke wie den, wo ihr klar wurde wie sehr sie ihn vermisste. Und wie er gestorben war. „Warum sagen sie das dann, Mama? Wissen sie, dass Papa graue Gedanken hatte?“ „Nein, ich glaube nicht, dass sie es wussten. Und wenn, würde es sie nicht interessieren. Die meisten Menschen interessieren sich nicht für andere Menschen, nur für ihre Werte um sich darüber zu echauffieren“, erklärte ihre Mutter weiter und Yuki hörte, wie sie wieder aufstand. Yuki rückte näher an sie heran, als die lauten Kinderstimmen näher kamen und den Aufprall eines Fußballes auf den Asphalt in ihrer unmittelbaren Nähe vernahm. Der Ball rollte den Weg entlang, die Kinder rannten schreiend hinterher. Was echauffieren hieß wusste Yuki nicht, aber dem Ton ihrer Mutter zu urteilen war es nichts Nettes. „Woher weißt du so etwas, Mama?“ „Du kennst doch Onkel Eri. Du weißt, er und dein Papa waren mal in so einer albernen Schlägertruppe. Ich war auch in so einer.“ „Eeeeeeecht?“ Die beiden setzten sich in Bewegung. Noch etwas überrumpelt von dieser Information ließ Yuki sich mehr von ihrer Mutter ziehen. Sie dachte nach und glaubte sich zu erinnern, dass sie das eigentlich schon wusste, aber diese Information nie ganz bewusst aufnahm. Zumal Yuki sich bei genaueren Überlegen eher vorstellen konnte, dass ihre Mutter mit solchen Leuten unterwegs war, wie ihr Vater. Der wirkte so gar nicht wie jemand, der andere bestahl oder ihr Eigentum kaputt machte, weil ihm danach war, geschweige denn sich irgendwo mit anderen Typen prügelte. „Als ich ein Teenager war, fingen wir Mädchen an das Gegenteil von dem zu machen, was unsere Eltern eigentlich von uns erwarteten. Dann kommen solche Mädchen daher, die sich tagsüber schminken und nachts heimlich Sachen zu sich nehmen, die nicht für sie gemacht sind. Sie sagen, du bist eine von ihnen. Sie sagen, du gehörst zu dieser Gruppe, weil du anders bis wie die anderen und so bist, wie sie sind. Sie sagen alles ist gut und die Eltern ernennen sie zum Feind, den man bekämpfen muss. Die Familie. Schulen. Das System. Was oder wer das auch immer sein soll, aber Hauptsache du hast einen Gegner, denn du angeblich aktiv bekämpfst, obwohl dein sogenannter Gegner absolut passiv ist. Lachhaft. Aber solange du mitspielst ist alles gut. Doch schießt du einmal quer, kratzen sie dir die Haut vom Gesicht. Dann merkst du, dass alle gleich sind. Und manche eben noch gleicher.“ Der Gang ihrer Mutter wurde langsam, dass Yuki sie schließlich überholte, doch als sie das bemerkte reduzierte sie auch ihre Geschwindigkeit. Sie wunderte sich. Um sich zu Fragen, ob ihre Mutter irgendwelche Dinge von damals nicht gut verkraftet hatte, ob sie Scham oder Sehnsucht empfand, dafür war sie zu jung. Aber sensibel genug um zu merken, dass ihre Mutter mit einem schweren Gefühl an die vergangenen Tage zurückdachte, nicht zuletzt, da sie es ihrem Mann zu verdanken hatte, dass sie diese Zeit zurücklassen konnte. Anderen fiel das schwerer. Andere merkten es viel zu spät. Aber Mama hatte keine grauen Gedanken, dass war für Yuki essenzieller. Und doch fragte sie besorgt: „Mama?“ „Schon gut, Yuki. Ich erzähle dir Dinge, die du noch gar nicht verstehen kannst. Was ich dir sagen will ist, dass die Nachbarn nur einen Grund suchen um über deinen Papa zu schimpfen, weil er eben... anders war. Viele denken immer noch anders zu sein sei schlecht, was totaler Blödsinn ist. Und so ein Verhalten ist nicht nett. Über Tote zu schimpfen schon gar nicht.“ Obwohl das keine Tadel, noch eine Beschwerde war nickte Yuki eifrig mit dem Kopf, als hätte sie etwas ausgefressen und versprach damit, es nie wieder zu tun. „Ich will aber auch nicht mehr, dass du deswegen jemand anderen weh tust. Ich habe es dir schon einmal gesagt – wehren ist okay, aber schlage nicht als Erste zu oder auf jemanden, der schon am Boden liegt. Versuche es erst irgendwie friedlich zu regeln. Oder zumindest ohne das jemand am Ende weint.“ „Ja, Mama. Das mache ich.“ „Und Morgen entschuldigst du dich trotzdem bei deinem Schulkameraden.“ Yuki stöhnte. Ruckartig fielen ihre angespannten Schultern, dann ließ sie sich von ihrer Mutter hinterziehen. „Ja. Mama. Mache ich“, kam etwas verzögert und nicht gerade euphorisch zurück. Sie wollte nicht, aber sie würde es wohl müssen. Nur wie, das fragte sich Yuki, aber darüber würde sie sich Gedanken machen, wenn es soweit war. Ihre Gedanken waren längst bei den Hausaufgaben und dass sie weiter versuchen musste Dracula zu lesen. Zwei Seiten pro Tag musste sie mindestens schaffen, vielleicht auch eine mehr. Und dann musste sie noch Papa Lieblingsbuch lesen, wenn sie es aber eigentlich schon auswendig kannte. In Yukis Kinderzimmer lag genau neben Dracula nämlich Alice im Wunderland. Beide Bücher waren aus England, ungefähr auch zu selben Zeit geschrieben, wenn sie sich recht erinnerte. Achtzehnhundert-irgendwann auf jeden Fall. Obwohl zwischen Alice im Wunderland und Dracula doch mehrere Jahre lagen, fragte sich Yuki ob die beiden Herren – Carroll und Stoker – sich kannten und sich in London zum Tee trafen und sich austauschten. Ob Dracula Alice kannte? Yuki hörte einmal, dass Dracula und Alice Liddle eigentlich wahre Figuren waren. Und wenn die Bücher etwa zur selben Zeit geschrieben wurden bestätigte dies Yuki schon automatisch, dass sie sich ja kennen mussten. Ob Alice mit Dracula mal Tee getrunken hatte, als er in London war? Tranken Vampire überhaupt Tee? Yukis Theorie ging zwar an vielen Stellen nicht auf, was sie auch selbst merkte – den Umstand, dass solch eine Situation gänzlich unmöglich war ignorierend -, doch gefiel ihr die diese ulkige Vorstellung von Dracula, im bunten Ohrensessel sitzend und Alice daneben, während Fledermäuse und Butterbrotfliegen um sie kreisten und der Graf von seinem bisherigen Leben erzählte. Ein Leben in Krieg und Dunkelheit, eine Epoche in der niemand etwas zu gewinnen hatte, dass in den Ohren eines kleinen Mädchens, dass nur Teepartys, Schule und Wachsmalstifte kannte so erschreckend klang, fast erschreckend wie die Art Draculas selbst. Und doch würde sie gern mehr hören. Yukis Mutter konnte sich nicht im geringsten vorstellen, welche Gedanken im Kopf ihrer Tochter aufkeimten, dem strahlenden, abwesenden Grinsen konnte sie jedoch entnehmen, dass es etwas absolut albernes und realitätsfernes war.     Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)