Wintersonett von Rakushina (Which dreamed it?) ================================================================================ Konzert IV - CAUCUS RACE, 2. Satz, Adagio ----------------------------------------- 𝄡   Woher Myotismon seinen Sinn für Musikalisches besaß war für ihn nie ein besonders bedeutsames Thema. Für ihn war es selbstverständlich, dass es so war. Erst nach und nach fiel ihm auf, wie ungewöhnlich seine Neigung damals schon war. Sicher, es gab Digimon, die sich auf Musik und Takte spezialisierten, aber es war nicht das Gleiche und je öfter er solche Digimon traf, umso mehr stieg sein eigenes Verlangen. Dann stand da ein Klavier vor ihm. Es war schwarz wie die Nacht, im Lichtkegel waren die Tasten beißend weiß, geradezu blendend. Nie sah er so etwas, er musste es sich ja einst sogar von Jijimon erklären lassen, was so ein Ding war, wie es überhaupt funktionierte, aber nun als er sah überkam ihm eine Welle der Nostalgie, wie wenn etwas Wichtiges wieder zu ihm zurückgekehrt war. Das Gefühl, als seine Finger die Tasten berührten, als die ersten Töne erklangen, der Hall dieses fragilen Lautes und zu dem sich noch viele weitere hinzufügten, zu Worten, gar ganze Sätze einer urbanen Sprache reihten, die Myotismon jedoch problemlos verstand. „Er ist es wirklich… oder?“ „Schwer zu sagen...“ „Er ist es nicht. Er kann es nicht sein.“ „Ich wäre mir da nicht so sicher.“ „Er weiß nichts.“ „Das könnte sich ja noch ändern.“ „Oder bleiben. Auf dem Ultra-Level, aber keine Erinnerungen? Das kann nicht sein.“ „Wer sagt, dass das kein Hochstapler ist? Wie können wir uns ganz sicher sein?“ „Ich bin mir sicher, dass er es ist.“ Um Myotismon war nur Schwärze. Er sah nichts, aber er wusste, er war von den Meistern der Dunkelheit umkreist, die ihn beäugten und der Lichtkegel, in dem er und das Klavier standen war so grell, dass er nichts in dieser Finsternis erkennen konnte, nicht einmal Konturen, obwohl er selbst in den finstersten Nächten alles sehen konnte. Unangenehm, zugegeben. Er würde sich vielleicht wie Beute fühlen, wüsste er nicht genau, dass sie ihm nicht tun würden. „Bitte, bitte. verehrte Kameraden. Mitmusiker. Wer wird denn deswegen gleich so wütend? Wir haben uns schließlich alle sehr verändert. Es ist alles eine Frage der Zeit.“ Dies war Piedmons Stimme. Er kam in das Licht hinein, fast schon tanzend und feierlich, wenn Myotismon auch nicht klar war was daran so feierlich sein sollte. Nur das Piedmon für seinen Geschmack viel zu nah an ihm dran war. Bei dem Versuch aber den Blickkontakt zu vermeiden und Abstand zu gewinnen, packte Piedmon ihn mit einem Griff um die Schultern und drückte ihn an sich. Piedmon grinste breit und verlogen freundlich und Myotismon widerte allein das an. „Ich weiß, wer du bist. Dich würde ich unter Tausenden deiner Art wiedererkennen. Mein Freund.“ Ohne etwas zu sagen, dafür knurrend stieß Myotismon Piedmon von sich. Dieser fand das erst merkwürdig, fing aber doch an zu lachen und nahm es nicht ernst, was Myotismon nur noch mehr reizte. „Warum so wütend? Ich will dir doch nur ein fantastisches Angebot. Ich möchte hier an dieser Stelle, bevor wir über die Details reden nur eins: Einen kleinen Vertrauensvorschuss.“ Misstrauen jedoch blitzte in Myotismons Augen auf. Aber auch das brachte Piedmon nur zu lachen und Myotismon hasste alles daran. Abrupt hörte das Gelächter auf, das Grinsen jedoch nicht. Ohne den Blickkontakt abzubrechen strichen Piedmons Hände über einige der Klaviertasten und erzeugte wenige Töne, die jedoch nicht so stimmig und geordnet klangen, wie wenn Myotismon es tat. „Sag mir was du hörst.“ Er spielte schneller. Diesmal nun klang die Melodie passender und wie von jemanden, der Ahnung davon hatte was er tat. Die Laute breiteten sich aus, er und die damit verbundenen Bilder zogen an Myotismon vorbei wie ein lauer Wind, dann verloren sie sich in diesem finsteren Raum. „Schnee“, hauchte Myotismon schließlich. „Mehr nicht?“, fragte Piedmon nach, stachelnd und fordernd. Seine Hand legte er diesmal nur vorsichtig auf Myotismons Schultern ab. „Ich weiß, dass du mehr hörst. Sag es ruhig. Es gibt keinen Grund, es zu verbergen. Das ist gegen unsere Natur.“ Myotismon konzentrierte sich jedoch nur auf die Tasten. Wie weiß die Tasten waren. So weiß wie der Schnee in seiner Vorstellung von jenem Ort, wo er immer hin wollte. „Ich höre einen Namen. Ich höre jenen, der diesen Namen trägt mich rufen. Schon immer…“ Er begann auf den Tasten zu spielen. Eine Melodie. Eine sehr vertraute Melodie die nicht nur wie eine Böe an ihm vorzog, sondern ihn wie einen Sturm umkreiste und nie mehr los lassen wollte. „Alice…“ lx   ( Ding... Ding... Ding... Ding...) (Dong... Dong... Dong... Dong...) (Ding Dong Ding Dong Ding Dong DongDongDong) (Ding Dong Ding Dong Ding Dong Ding DingDingDing ) „Meister...“ Myotismon schien nicht zu reagieren, aber er hatte Phantomon deutlich gehört und spitzte ein Ohr, falls sein neuer Diener ihm noch etwas sagen wollte. Das Andere schenkte er einzig und allein der Glocke, die im Kirchenturm läutete. Man hörte sie kaum und nur der Wind wippte sie leicht hin und her, jedoch hin und wieder war ein Luftzug kräftig genug und sie gab doch einen Klang von sich und schenkte somit diesem trostlosen Friedhof eine Melodie, die doch keiner zu würdigen wusste. Sie war kaum hörbar, selbst der Wind und das Rascheln der Bäume war lauter, aber Myotismon hörte sie. (Dong Ding Dong Ding DongDong Ding Ding DingDingDing Dong Ding Dong Ding DongDongDong Ding Ding DingDingDing) „Meister? Hört Ihr mir zu?“ „Ja“, antwortete Myotismon laut und fast schon gereizt. „Was willst du, Phantomon?“ Die Glocke läutete weiter schwach. (Dong Ding Dong Ding Dong Ding Ding Dong Ding Dong Ding Dong DingDingDingDing) Es schneite. Phantomon wunderte sich darüber. Hier hatte es nie geschneit, obwohl ihr Friedhof so weit nördlich lag, zumindest hatte er es nie bewusst erlebt. Die Geist-Digimon kamen nur bei tiefster Dunkelheit heraus, ansonsten versteckten sie sich im Untergrund der Kirche. Katakomben, ein Labyrinth aus Steinen, auf denen im fahlen Licht der Fackeln manchmal Fratzen erschienen, waren ihre Ruhestätte. Generell waren Geist- und Untote-Digimon keine Digimon, die sich gerne draußen aufhielten. Myotismon hingegen stand schon eine ganze Weile dort vor der Kirche. Seit es zu schneien begonnen hatte um genau zu sein. Auf seinem Umhang lag mittlerweile so viel Schnee, dass es schien er trug einen weißen Pelzmantel. Auch in seinen Haaren hingen Schneeflocken, während er weiter zur Glocke hochschaute. Ohne jede Erhabenheit, ohne jede Ausstrahlung wippte dieser Klumpen dunkles Metall einige Millimeter nach links, dann wenige Millimeter nach rechts. (Ding DongDongDing Ding DongDongDing Ding DongDongDing DongDingDongDingDongDingDongDingDing ) „Ich wollte fragen, wie es Euch ergangen ist“, sagte Phantomon. Myotismon schaute ihn nun mit hochgezogenen Augenbrauen an, als verstünde er die Frage nicht. „Bei den Meistern der Dunkelheit. Ist etwas passiert?“ „Nein“, antwortete Myotismon weiterhin überaus monoton und Phantomon stutzte. „Nichts?“ „Nein. Nichts. Hast du daran etwas auszusetzen?“ „Oh, Nein, Nein, ganz gewiss nicht. Ich bin mehr wie erfreut, dass Ihr wieder hier seid. Aber die Meister der Dunkelheit sind sehr... wie soll ich sagen?“ Unter seiner Kutte begann Phantomon wild zu gestikulieren, während er sein inneres Wörterbuch einmal komplett durchblätterte, um die perfekte Umschreibung zu finden. Was Phantomon jedoch fand war nicht gänzlich treffend, aber nah dran. „Eigen? Normalerweise fackeln sie nicht lange damit Konkurrenz auszuschalten.“ „Ich weiß“, meinte Myotismon, sah wieder weg und widmete sich allein der Glocke. „Wenn du Angst haben solltest, ist diese unbegründet. Sie tun euch nichts mehr. Dafür sorge ich.“ „Wirklich?“, harkte Phantomon erstaunt nach. Er versuchte seine Freude etwas zu dämpfen, denn es klang fast zu gut um wahr zu sein. Nach all den Jahren in denen Phantomon nach dem Ende der Rassenkriege hier auf diesem Friedhof hauste und auf die Geist-Digimon aufpasste, die sich hierher verirrten und nicht wussten wohin, hätte er nicht mehr geglaubt, dass jemals mehr ein Digimon, dass nicht so wie sie war irgendwas auf solche wie sie geben würde. „Selbstverständlich. Das ist doch meine Aufgabe als euer König. Oder nicht?“ „Natürlich ist es das, Meister. Ich bin ehrlich gesagt nur überrascht, dass das so einfach ging. Wie habt Ihr diese Digimon von Euch überzeugen können?“ „Ich bin eben auch, wie sagtest du... eigen?“ Phantomon wurde mulmig. Die fragenden Blicke seines Untergebenen ignorierte Myotismon weitgehend und starrte wieder zur Glocke hinauf. Wer oder was, fragte Phantomon sich, brachte sie überhaupt zum läuten? Wirklich nur der Wind? Von den Geist-Digimon war es sicherlich keines. Die Töne, die diese Glocke von sich gab, wenn sie mal laut genug läutete waren so tief, dass sie unheilbringend wirkten. (Dong... Dong...) Kirchen und Gebäude wie diese wurden kurz nach Ende der Apartheid viele gebaut, zum Gedenken an die Opfer der Apartheid und der Kriege zwischen Serum und Viren, um so ihrem Bedauern Ausdruck zu verleihen und Andenken zu ehren, auch wenn es keine Leichen gab und ein paar von diesen Geschöpfen gar längst wiedergeboren waren. Es wirkte fast sinnlos um die Gefallenen zu weinen, wenn man so darüber nachdachte. Und doch verstanden Digimon das Prinzip von Trauer. Trotz dass die schweren Klänge der Glocke in Phantomons Kopf unangenehme Schmerzen hervorriefen, dachte er weiter darüber nach was Myotismon ihm erzählte. Er war zwei Tage fort, nachdem er mit Piedmon in jener Nacht mitging. Phantomon verstand nicht einmal was er am wenigsten begreifen konnte: Dass Piedmon ihn mitnahm, oder dass Myotismon mitging und sogar wiederkehrte. Doch was geschehen war behielt Myotismon für sich. Die Meister der Dunkelheit ließen Digimon, die eine eventuelle Bedrohung sein könnten nie lange am Leben und schließlich waren Myotismon gefürchtete Digimon. Die Erzählungen und Legenden über diese Digimon waren älter als die Apartheid. So ein Digimon würden sie nicht leben lassen, es sein denn... „Habt Ihr... Habt Ihr Euch etwa entschlossen für sie zu arbeiten?“ „Ich arbeite für niemanden. Niemals“, entgegnete Myotismon wütend, als wäre das, was Phantomon sagte eine Beleidigung, beruhigte sich aber wieder und sprach dann ganz besonnen: „Aber wir einigten uns auf einige Kompromisse. Wir vertreten schließlich ähnliche Ansichten, ähnliche Vorstellungen und ähnliche Ziele. Fast wie... Seelenverwandte.“ Dass Myotismon solch ein Wort in den Mund nahm wunderte Phantomon fast mehr, wie die Vorstellung dass die Meister der Dunkelheit bereit waren zu verhandeln. Es passte nicht zu den Geschichten die er kannte. Die Meister der Dunkelheit (das sagten die Gerüchte) sollen plötzlich auf der Bildfläche erschienen sein, als der Ärger in der Digiwelt über eine mangelnde Ordnung und die Willkür einiger starker Digimon, die Schwächeren ihren Lebensraum wegnahmen zunahm. Auf dieser Unzufriedenheit aufbauend stachelten Piedmon, Puppetmon, MetalSeadramon und Machinedramon andere Digimon an ihnen zu folgen. Sie versprachen Gleichheit unter den Digimon und dieses Wort klang aus dem Mund dieser Digimon noch unheilbringender wie die Töne dieser glanzlosen Glocke. Was Devimon und Etemon jedoch mit ihnen zu tun haben wollten erschloss sich Phantomon nicht so ganz. Er vermutete, dass sie hohe Generäle waren, so viel Privilegien wie sie genossen und aufgrund ihres niedrigen Levels nicht bei den vier anderen direkt mitmischen durften. Warum gerade die beiden wusste man nicht. Und da überkam Phantomon ein Gedanke. Würde man unter Phantomons Kapuze etwas sehen können, könnte man erkennen dass sein Mund weit offen stand. „Sie haben Euch in ihre Runde aufgenommen?“, fragte Phantomon schließlich und mit großem Misstrauen. Er sagte dies sogar mehr im Scherz und erwartete nicht einmal eine ernstgemeinte Antwort, da er dies für so unwahrscheinlich hielt. Wer wusste denn schon wie es bei den Meister der Dunkelheit unter sich zuging und das was man hörte war abschreckend und man fragte sich, was für Digimon das sein sollten. MetalSeadramon und Machinedramon lebten sehr zurückgezogen, doch besaßen sie die Kontrolle über wichtige Ressourcen und sie genossen es an der Spitze der Wirtschaft zu sein, zur Freude ihrer Soldaten und Befürworter, zum Leid ihrer Kritiker und der Mehrheit der Digimon. Puppetmon war wie ein launisches Kind, aber dieses launisches Kind war stark und behandelte Diener wie Gefangene und Spielzeug, das nicht selten kaputt ging. Devimon soll angeblich an Digimon herumexperimentieren und Etemon pflegte einen ausschweifenden Lebensstil gepaart mit Vandalismus, den jene zu spüren bekamen, die ihn oder die Meister der Dunkelheit nicht bedingungslos huldigten. Doch Piedmon war der Schlimmste von ihnen. Der Lebensstil dieses Clowns war nicht nur ausschweifend, sondern Gerüchten zufolge absolut obszön und damit waren nicht einmal seine Spielchen mit seinen Maitresen gemeint. Myotismon blieb im Gegensatz zu Phantomon ernst und schwieg. „Wie habt Ihr das gemacht?“, fragte Phantomon, jeder Fassung beraubt. „Ich bin eigen, Phantomon. Nein. Eher... anders.“ (Ding Ding Ding Dong Ding Ding Ding Dong DingDingDingDing Ding Dong DingDingDingDing) Man sah für einen Augenblick ein Lächeln über Myotismons Lippen huschen, dass er aber sofort zu unterdrücken versuchte, was ihm abgesehen von dem leichten Zucken, dass Phantomon trotz schwacher Helligkeit noch erkannte auch gelang. Anders, das würde Phantomon sogar unterschreiben. Dies war nicht das erste Myotismon, dass er traf, aber er konnte sich nicht erinnern, dass er sich je in der Anwesenheit eines solchen so gefühlt hätte wie in diesem Moment. Myotismon waren keine angenehmen Zeitgenossen, das war allgemein bekannt, auch wenn sie seit den Rassen-Aufständen als ausgerottet galten. Ein Digimon wie dieses zum Feind zu haben galt als ein sicheres Todesurteil. Doch wenn Phantomon so an die Myotismon zurückdachte, für die er einst arbeitete kam er zum Schluss, dass er sich noch nie so erdrückt, allein durch deren Anwesenheit gefühlt hätte. Nur bei diesem, dass nicht einmal zuvor ein untotes Digimon war, sondern aus einem ordinären Tier-Digimon heraus digitierte (zu Zeiten der Beta-Ära wäre dies ein Unding gewesen). Ihre Blicke trafen sich wieder und Phantomon fühlte Scham. Myotismon sagte nichts, noch tat er etwas, aber doch fühlte Phantomon, das sein Meister wusste was er dachte und fühlte sich ertappt. „Es waren nur ein paar Verhandlungen nötig“, erzählte Myotismon weiter, als würde er Phantomons Scham nicht bemerken. „Sie lassen euch in Ruhe. Ob ihr für die Armee der Meister der Dunkelheit kämpft oder nicht entscheide einzig und alleine ich. Dafür sind wir aber auf uns alleine gestellt. Keine Ressourcen, keine Versorgung, kein Anteil an den Ländereien. Ich besitze daher nichts. Ich gebe somit nur einen sehr spärlichen Monarchen ab.“ „Und wenn schon. Wir Geist-Digimon sind lieber für uns und wir geben auch nichts auf Prestige oder Wohlstand“, meinte Phantomon nur schulterzuckend, aber auch sehr ernst. „Für uns zählt, ob Ihr ein guter Anführer seid oder nicht.“ „Und an welchen Kriterien machst du dies fest?“ „Ich habe ein Auge dafür, glaubt mir, Meister. Ich habe schon genug anderen Myotismon gedient und ich kann Euch vergewissern, dass auf meine Intuition Verlass ist. Und das Ihr uns nicht an die Meister der Dunkelheit verkauft habt spricht schon einmal für Euch.“ Auch Phantomons scharlachroter Umhang war weiß geworden und er klopfte sich die Schneeflocken vom Stoff, ehe er die Nässe einzog und feucht wurde. Geister oder nicht, Kälte spürten Digimon wie er oder die Bakemon dennoch. „Doch wo ist der Haken? Die Meister der Dunkelheit werden doch etwas für Euren Eintritt in ihren teuflischen Zirkel verlangen.“ „Durchaus.“ Doch ohne näher darauf einzugehen schwieg Myotismon wieder, starr zur Glocken schauend. (Ding Dong) Dieses monströse Etwas bewegte sich kaum, und doch hörte Myotismon das Donnern ihrer Schläge. Die Jahre hatten der Glocke jeden Hauch von Heiligkeit genommen. Sie hatte Risse und es war fast unvorstellbar, dass sie überhaupt noch einen Laut von sich gab. Früher musste sie einmal kupfern gewesen sein oder aber aus Gold, was mit Kupfer gestreckt wurde, nun jedenfalls war sie tief dunkelgrün, in der Nacht sogar fast schwarz. Fast wie verrottet. (DongDingDongDongDingDongDingDongDingDongDingDongDongDingDongDongDingDongDingDong) „Du wirst früher oder später erfahren, was es ist. Wir sollen etwas suchen.“ „Und was?“ „Das musst du nicht wissen. Es reicht, wenn ich es weiß. Aber es trifft sich hervorragend. Sie suchen, was ich ohnehin auch suche und brauchen werde. Also werden sie mir nicht in die Quere kommen“, erklärte er weiter und Phantomon verstand sofort, was er meinte. Die alten Legenden... Phantomon kam nicht dazu zu fragen, woher Myotismon diese kannte. Er könnte es von den Meister der Dunkelheit erfahren haben (schloss Phantomon aber aus). Er könnte es einfach irgendwo aufgeschnappt haben. Die urbanen Erzählungen waren nicht gänzlich unbekannt. Vielleicht auch gehörte es einfach zu dem Wesen dieser Digimon und das Wissen kam automatisch mit der Digitation. Ebenso wie die Besessenheit. Warum auch sonst hat ausnahmslos jedes Myotismon in der Geschichte der Digiwelt versucht dieses Ziel zu erreichen? Myotismon klopfte sich den Schnee von den Schultern und schüttelte einmal seinen Umhang, damit die Schneeflocken abfielen. Nun war er schwarz mit verschieden großen, weißen Punkten. „Wir werden weiterziehen. Das hier ist nicht der geeignete Ort. Wir brauchen ohnehin einen besseren Unterschlupf, der sich nicht nur für mich eignet, sondern auch euch Geist-Digimon genug Freiraum und Schutz bietet.“ „Wo sollen wir dann hin, Meister?“ (DingDongDingDongDingDingDingDongDongDongDingDongDingDongDingDingDongDongDongDingDingDingDongDingDongDingDongDingDing) Myotismon blieb stehen und Phantomon, noch darüber nachdenkend, was sein Meister ihm erzählte und was er über seinen Meister denken sollte sah zwar das rote Licht, nahm aber die Albtraumkralle nicht wahr. Erst als hinter ihm etwas herunterfiel und in Stücke brach. Die Glocke. „Verzeihung“, sagte Myotismon, aber nur aus reiner Höflichkeit, nicht weil es ihm wirklich Leid tat Phantomon erschreckt zu haben. Das Geist-Digimon schaute über seine Schultern und sah sich die Überreste der Glocke und der Turmspitze an, die nun verteilt auf dem Boden vor der Kirche lagen. Ein paar Bakemon kamen heraus oder erschienen zwischen den Nebelschichten, um zu sehen was geschehen oder ihrem König etwas passiert war, aber wie Phantomon beäugten sie nur irritiert das, was von der Kirchenglocke übrig war und die zerbrochenen Steine. „Ich hasse Glocken“, schnaubte Myotismon und verschwand ins Innere der Kirche, deren Doppeltür von zwei Soulmon aufgehalten wurde und dann, als ihr Meister ins Innere verschwand zufiel. Phantomon, immer noch in einer Art Zwischenstadium zwischen Angst und Faszination sah auf die Überreste der Glocke. Nur noch Scherben waren übrig und doch hörte man einen letzten Klang, wie ein Hilferuf. Oder eine Warnung. (Dong…)   𝅝# Mit seiner Ultra-Digitation hatte Myotismon immer mehr Probleme was das Essen betraf. Tsukaimons Problem war, dass es einfach zu wenig gab, woran die Meister der Dunkelheit einen großen Beitrag dazu geleistet hatten. Dobermon hatte das Problem, dass er normal aß, aber der Drang zu Reißen wuchs. Aber er widerstand seinen niederen Bedürfnissen. Als Myotismon hingegen erwies sich das alles ziemlich schwierig. Normales Essen, wenn man es so nennen wollte bekam er runter, aber nach einer gewissen Zeit wuchs das Verlangen nach einem warmen Hals deutlich. Ein zartes Stück Fleisch half noch einmal eine gewisse Zeit, dem Bedürfnis in etwas Lebendiges hinein zubeißen und Rotwein hob die Laune etwas, aber auch diese Befriedigung hielt nicht lange. In der Realen Welt würde Myotismon ziemlich große Probleme deswegen bekommen. Er blieb ein Haufen Daten aus einer Datenwelt, was die Reale Welt eben nicht war. Und ihr Essen auch nicht. Myotismon blieb schwach und es setzte keine Sättigung ein, wie gut das Fleisch und wie gut der Wein war. Zu seinem Glück liefen genügen potenzielle Opfer umher und glich das Malheur aus. In der Digiwelt, gerade in der Zeit, als er sich auf Grey Mountain niederließ, mit einer Schlossherrin, deren Augen ihn jeden Abend anfunkelten wie die Sterne, die sie aufgrund der Nebelwand nicht sahen, hatte er diese Probleme nicht. Da konnte er essen was er wollte und wenn Myotismon das Verlangen nach digitalen Blut verspürte, suchte er sich eben seine Opfer. Schließlich hatte er nun den Vorteil nicht mehr wie ein Hund jagen zu müssen. Viel lieber brachte Myotismon seine Beute dazu, freiwillig in seine Arme zu laufen. Nur diese Beute finden, dass war das Problem in dieser Lage. Auf Grey Mountain durfte er nicht riskieren irgendeinem Digimon an die Kehle zu springen. Sobald irgendein Digimon die Bissspuren am Hals eines anderen bemerken würde, fiele der Verdacht sofort auf ihn. Erneut Sanzomon anzuknabbern riskierte Myotismon auch nicht. Das ging beim letzten Mal schon schief. Also hob er sich dies für den Schluss auf, wenn sein Plan durch war, auch wenn – dass musste Myotismon sich wohl oder übel eingestehen – Sanzomon durchaus seinem Beuteschema entsprach. Überaus ärgerlich fast, schließlich gab es nichts schmackhafteres wie in einen zierlichen, schlanken und warmen Hals zu beißen und die ebenso warme und weiche Haut in den Mund zu saugen. Nur zu dem Vergnügen würde Myotismon nicht so schnell kommen. So trieb er sich also manchmal stundenlang draußen herum, bis er ein Digimon für eine potenzielle Mahlzeit fand, immer mitten in der Nacht. Für den Fall, das unangenehme Fragen aufkommen sollten deckte ihn Phantomon. Er wusste möglichst weit weg von Grey Mountain jagen. Er musste den Schein waren, dass er ganz leicht auf Blut verzichten konnte, wenn er Skepsis und Konflikte vermeiden wollte. Ob Wälder oder Steppen, Hauptsache irgendwo, wo weder Sanzomon, noch ihre Schüler etwas davon mitbekommen konnten. Manchmal trieb es ihn sogar bis zum Rande des Kontinents, wo an der Meeresbucht AncientMermaidmon saßen, die zwar schön anzusehen, aber in nicht seltenen Fällen fast genauso durchtrieben waren. Sie sahen ein Digimon, dass ihnen gefiel, verführten sie und zogen sie dann in die Tiefe, wo die Beute jämmerlich ertrank und dann gefressen wurde. Der Name deutete schon an, dass diese Digimon einen besonderen Status genossen. Sie galten als große Krieger, bereits vor der Apartheid. Als diese jedoch begann, zogen sich diese Digimon komplett zurück und wurden selten und seltener. Deswegen auch hütete MetalSeadramon die AncientMermaidmon wie einen Schatz und hielt sie möglichst sogar aus Kämpfen heraus, wenn diese Digimon jedoch gar stärker waren wie die blichen Digimon, die MetalSeadramon in seiner Armee beherbergte. Nicht so kostbar wie LadyDevimon es für Piedmon war, viel mehr platonisch, nicht zuletzt fühlten sich auch diese femininen Meeres-Digimon zum Herrn Violinist hingezogen und verehrten ihn, als wäre er Neptunmon persönlich. Wie ungewöhnlich also, dass in einer von Mondlicht erfüllten Nacht eines von ihnen ganz alleine an einer Bucht saß. Vielleicht war es das Mondlicht, vielleicht seltene Muscheln, die sie anzog. „Verzeiht, wenn ich stören sollte. Aber ich hätte ein paar Fragen. Vielleicht könnt Ihr mir helfen?“ Das AncientMermaidmon hatte Myotismon schon bemerkt und ihm war das klar, auch wenn es bezüglich Fähigkeiten und Stärke solcher Digimon kaum Wissen gab. Sie saß da, ihren Schweif im Wasser hängend, mit ihrem silbernen Haar spielend und wartete vielleicht sogar selbst, dass ein Abendsnack vorbeikäme. Und entweder war sie mit Digimon wie Myotismon nicht vertraut, oder aber auch er entsprach auch ihrem Beuteschema, ansonsten wüsste Myotismon nicht, wieso sie sich auf ihn einließ. „Und die wären?“ „Ich bin auf der Suche nach MetalSeadramon. Ihr gehört doch zu seiner Gefolgschaft, richtig? Könntet Ihr mir sagen, wo ich ihn antreffen könnte?“ „Was wollt Ihr von Meister MetalSeadramon? Er hat nie erwähnt, dass er mit untoten Digimon verkehrt“, fragte AncientMermaidmon vorsichtig, aber ihre Körpersprache deutete nichts dieser Skepsis an. Vielmehr entsprach ihre Haltung einer Einladung, die Myotismon dankend annahm. „Ich denke, er hat es nicht erwähnt, weil wir keine Freunde sind. Aber ich bin der Pianist eines Orchesters, für das auch MetalSeadramon als Violinist spielt.“ AncientMermaidmon wurde hellhörig und hob den Kopf an. Ein riskanter Zug, dennoch wäre Myotismon mehr wie überrascht gewesen, hätte MetalSeadramon seinen Lieblingen, Digimon die er wie eigene Töchter behandelte (die Tatsache mal ignorierend, dass Digimon keinen eigenen Nachwuchs bekamen), die Erkenntnis der musikalischen Schönheit verwehrt. „Ihr scheint die Wahrheit zu sagen. Aber ich kann Euch nicht sagen, wo Meister MetalSeadramon ist.“ „Wie schade. Aber vielleicht würdet Ihr mir ja etwas von Eurer Zeit schenken?“ „Ich...“ Auch wenn AncientMermaidmon einen Helm trug, sehen konnte sie allemal. Sie sah die Augen dieses Digimon, dass ihr durchaus optisch zusagte und ihr war daher erst nicht klar, dass diese Anziehungskraft kein Resultat von etwas wie Sympathie war. Und die Neugierde, was im Abgrund war nicht echt. „Ich weiß aber nicht viel, dass Euch helfen könnte.“ „Das macht nichts. Ich bin überzeugt, Ihr könnt mir sehr behilflich sein.“ Lächelnd reichte Myotismon ihr die Hand und AncientMermaidmon zögerte nicht, sie anzunehmen. Ihr war kalt geworden, was irgendwie fernab ihrer Logik war, schließlich war sie ein Meeresbewohner. Auch die Logik, warum sie glaubte, bei Myotismon würde sie den Mangel an Wärme wieder ausgleichen, wenn er selbst doch eiskalt war, erschloss sich ihr nicht. Aber jede einzelne Datei in ihr sehnte sich danach dieses Digimon zu greifen. Schnee. Es fiel Schnee vom Nachthimmel ins Meer. Es gefror. Für AncientMermaidmon war es einerseits beunruhigend und gleichzeitig genauso gleichgültig. Das Vampir-Digimon vor ihr war interessanter. Seine dämonische Aura zog sie immer weiter Richtung Abgrund. „MetalSeadramon ist ein wenig schüchtern, wisst Ihr? Er erzählt nicht so viel von sich. Als ein Mitglied seines Orchesters kränkt mich das etwas. Dabei würde es mich sehr interessieren, welche Pläne er verfolgt.“ „Meister MetalSeadramon, er...“, sprach AncientMermaidmon, stoppte, als ihr bewusst wurde wie kalt es wirklich war. Die Bucht war ganz weiß geworden. Schneeweiß und doch so dunkel. „Er redet gewiss nicht viel von seinen Plänen. Er steht im engen Kontakt mit Machinedramon und einem Devimon. Meister MetalSeadramon befahl den Divermon, etwas im Meer auszubreiten, dass er Dunkles Netzwerk nannte.“ Schwindel überkam sie. Der Schneefall – kein echter, nur eine Halluzination – wurde zu seinem Sturm. Aber statt sich Sorgen darüber zu machen, dass sie sich im wahrsten Sinne die Schuppen abfror, war sie heilfroh, dass dieses unheimliche Digimon da war, dass ihr nicht nur die Hand gereicht hatte, sondern auch erlaubte, dass sie die Arme um ihn legen durfte. „Wofür braucht er das?“ „Ich weiß es nicht. Mich und meine Schwestern lässt er aus den politischen Streitereien. Meister MetalSeadramon hat mir und meinen Schwestern versprochen, dass er die Meere ausbreiten und die Grenzen für Meeres-Digimon wie uns sprengen würde. Er sagte wir wären dann alle... alle gleich.“ „Er scheint euch ja sehr gerne zu haben“, sagte Myotismon, unheilvoll lächelnd. „Spielt er euch AncientMermaidmon oft etwas auf seiner Violine vor? Hat er nicht für solche besonderen Anlässe ein spezielles Modell entwerfen lassen?“ „Selten... Dabei klingt es so schön. Wenn wir ihn fragen, woher er das kann, schweigt er. Er redet darüber nicht. Er bezahlt die Gekomon manchmal, die ihr Königreich weiter östlich haben, dass sie für ihn spielen. Das Stück... Ich weiß nicht mehr, wie es heißt. Aber es ist schön… so wunderschön. Es klingt wie Regen...“ Im Gegensatz zu ihr wusste Myotismon genau, welches Stück es war. Das Orchester hatte hier und da Stücke und Komponisten als individuelle Favoriten, aber in zwei Dingen waren sie sich immer einig und jeder von ihnen würde es nicht nur im Halbschlaf problemlos spielen können, sondern es auch immer einem anderen vorziehen. Das eine war Stand by me. Es war das erste Stück, was sie spielen konnten. Es war ihr Anfang. Ein simpler Anfang. Nummer Zwei, Vivaldis Jahreszeiten, war ihr Meisterwerk. Das, was sie wirklich mit Musik und allem, was darum war verbanden. Dieses Musikstück, von dem sie nie loskamen. Jenes, dass sie hörten, wenn sie es wagten selbst in ihren Abgrund zu schauen, ehe sie sich abwandten und sich wieder ihrer verkorksten Welt widmeten, die bedauerlicherweise kein bisschen an die erinnerte, die sie aus ihren Märchen kannten. In MetalSeadramons Abgrund spielte Vivaldis Sommer im zweiten Satz. Ein Regenschauer. „Er beschwert sich immer, dass sie schrecklich spielen. Doch er geht immer wieder zu ihnen und bezahlt gut. Niemand weiß, warum. Für uns macht Meister MetalSeadramon manchmal eine Ausnahme... Er sagt wir erinnern ihn an jemanden... Aber wenn er selbst spielt, ist er danach oft so wütend.“ „An wen erinnert ihr ihn denn?“ „Ich weiß es nicht... Ich weiß nichts mehr. Verzeiht mir.“ „Ihr müsst Euch nicht entschuldigen. Ihr habt mir wirklich sehr geholfen. Und wenn Ihr erlaubt, würde ich mich für diese Hilfe gerne erkenntlich zeigen...“ AncientMermaidmon verstand durchaus was das hieß, war sich aber den Folgen dessen aufgrund ihres Zustanden nicht bewusst, oder sich diesen nicht bewusst werden. Sie ignorierte es, wie auch wie in Myotismon die Gier in den Augen aufblitzte. Mit der Beute zu spielen war eine Leidenschaft, die Myotismon genoss und er ließ sich meist sogar viel Zeit damit, bis sie sich freiwillig hingaben und ihren Hals freimachten. Der Biss selbst war nur die Krönung von allem. Doch in letzter Zeit... Bevor er zurück nach Grey Mountain kam konnte Myotismon sich noch soweit beherrschen, um seinen Opfern noch wenigstens so viel Blut übrig zu lassen, um sie in einer anderen Nacht wieder aufzusuchen und das Spielchen wiederholen. Aber nun wurden die Abstände zwischen all seinen Mahlzeiten länger und mit jedem Tropfen, den er aus der Kehle saugte wurde sein Hunger nur noch größer, anstatt dass er Sättigung empfand, wie bei diesem AncientMermaimon, dem Persiamon davor, dem Lilimon davor und auch - wenn Piedmon das jemals herausfinden sollte, würde er ihn einen Kopf kürzer machen, da war sich Myotismon sicher - dem LadyDevimon davor und was für Digimon noch alle davor waren. Weil er einfach nicht satt wurde. Weil er, sobald er sich über seine stöhnenden Opfer legte an etwas anderes dachte. Weil keines dieser Digimon das Digimon war, dass er eigentlich beißen wollte. An jenem Abend, als dieses meerjungfraugleiche Digimon seine Beute wurde und er sich dabei vorstellte, dass sie Sanzomon hätte sein können, hatte ihn MetalSeadramon schon in flagranti erwischt. Myotismon vernahm erst nur sein Knurren und als er aufsah, konnte er dessen Schweif auf sich zurasen sehen. Er konnte aber noch ausweichen, dass AncientMermaimon war mit dem zerschlagenen Stück Land zurück ins Wasser gefallen und trieb, mehr tot als lebendig an der Wasseroberfläche. „Störst du andere Digimon immer so beim Essen?“, rief Myotismon zu MetalSeadramon, mit dem Handrücken auf den Lippen, um das Blut, was noch daran hing zu entfernen. Das riesige Seeschlangen-Digimon stand entgegen des Mondlichtes und er sah aus wie eine lange, dicke Gewitterwolke, die aus dem Wasser stieg mit roten Blitzen in den Augen und Donner, der aus dem Maul kam, zusammen mit diesem salzigen Meeresatem. Seine Mähne wirbelte im Wind, als hätten sie ein Eigenleben entwickelt. „Da bin ich endlich dieses lästige Zhuqiaomon losgeworden und schon muss ich mich mit solchen Parasiten wie dir rumärgern!“ Er stutzte kurz. Der Name war Myotismon selbstverständlich geläufig. Einer der Souveränen. Ein Pönix, rot wie Feuer. (Wer erschoss ihn, den rot Robin? Ich, rief der Fisch, mit Fauch und Zisch) Bei dem Gedanken runzelte sich Myotismons Stirn schwach. Sanzomons alberne Nonsens-Briefe ergaben plötzlich doch Sinn und diese Erkenntnis war für Myotismon fast unheimlich. Das AncientMermaimon streckte die Hand nach ihrem Meister aus, versuchte etwas zu sagen, bekam aber die Worte nicht zusammen. Das Wasser um sie herum war rot durch ihre eigenen Daten geworden. MetalSeadramon sah sie lange an, schien zu überlegen und dafür, dass er so lange überlegte kam sein Angriff, der Powerfluss, überaus überraschend und traf damit dass wehrlose AncientMermaimon. Zu Myotismons Leidwesen sah man nicht einmal, wie der Wasserstrahl sie durchbohrte, nur wie ihr Datenstaub im Meer zerfiel, wie Algen oder Gischt über der Wasseroberfläche trieb und dann vollständig verschwand. „Wie kaltschnäuzig. Hätte ich einem wie dir gar nicht zugetraut.“ „Selbst wenn sie sich erholt hätte, hätte sie mit der Schande leben müssen von einem wie dir angefasst worden zu sein! Dein Gift hätte ich niemals vollständig aus ihr herausbekommen! Hast du keine Achtung vor solch legendären Digimon?“ Myotismon kümmerte sich jedoch wenig um das Gewitter, dass sich in MetalSeadramon - oder eher in dessen Abgrund - anbahnte. Interessanter war mehr dieser große Bluttropfen, der noch an seinem Handgelenk hing und glänzte wie ein fein geschliffener Edelstein, ehe er sich in feine Daten auflöste. Erst als dieser Bluttropfen verschwunden war, schenkte Myotismon MetalSeadramon wieder Beachtung. „Ich hatte eben Hunger. Und unter uns – Spiel dich nicht auf wie ein Samariter. Wäre sie ein Landbewohner gewesen, hätte es dich nicht nur nicht interessiert, sondern du hättest noch schadenfroh zugesehen.“ Und gerade weil das die reine Wahrheit war, flippte MetalSeadramon aus und gebe es nicht dieses Irgendetwas, inmitten eines Regenschauers in seinen Augen, hätte er Myotismon vermutlich wirklich in diesem Moment gefressen. Vielleicht war es auch ein Blitzschlag des Herr Dirigenten, der ihn rettete. Stattdessen standen sie sich praktisch Nase an Nase und sahen in den Abgrund des jeweils anderen. „Du spuckst zu große Töne für ein Ultra-Level. Nur weil du Puppetmon einmal ein paar Holzsplitter rausgezogen hast, heißt dass nicht, dass du mit uns allen so umgehen kannst!“ „Und nur weil ihr Mega-Level seid, werde ich nicht vor euch kuschen.“ Zwar rührte sich MetalSeadramon kein bisschen, dennoch begann das Wasser, indem er schwamm zu tosen und die Wellen schlugen gegen das Land. Dann drehte sich der Wind und MetalSeadramon erschnüffelte etwas in der Luft. Etwas war in seine Nase gekommen, dass weder wie das Meer, noch wie eine Gruft roch. „Woher kommt dieser Geruch?“ „Ich verstehe nicht, was du meinst“, sagte Myotismon, der sich wirklich erst nichts dabei dachte, auch nicht, als MetalSeadramon ihn einmal komplett umkreiste. „Dein Grabgeruch ist mir zwar vertraut, aber irgendetwas ist anders. Viel frischer. Viel blumiger.“ Und bei dem Wort blumig dämmerte es Myotismon so langsam. Er wusste, Sanzomons Lieblingsblumen würden ihm irgendwann einmal zum Verhängnis, doch hatte er eher erwartet, dass er eines Tages eher daran ersticken würde. „Ich bin viel unterwegs.“ „Aber ich kenne diesen Geruch. Sehr gut sogar. Es ist der Geruch der Seerosen, die meine AncientMermaidmon so lieben. Wieso aber riecht ein Untoter wie du nach -“, sprach MetalSeadramon und in dem Moment, als er Myotismon fixierte, der krampfhaft versuchte, dass sein Pokerface nicht zu bröckeln begann, verstand er. Die AncientMermaidmon waren nicht die Einzigen, die diese Seerosen liebten. Überhaupt aufmerksam auf diese einfachen Wasserpflanzen wurde er nur, weil seine geliebten Meerjungfrauen-Digimon diese Pflanzen auf dem Einband bestimmter Bücher wiedererkannten. Bücher über Ideale, die sich indirekt über das echauffierten, für was die Meister der Dunkelheit einstanden und MetalSeadramon in seiner Wut stets zerfetzte. Bücher, die bei der Opposition Anklang fanden, wie erst selbst schon sah. Die Bücher eines Sanzomon, die die Einbände ihrer Bücher mit diesen Seerosen zierte, wie auch die Spitze des Widerstandes. „Du... Du machst gemeinsame Sache mit dem Feind?!“, fauchte MetalSeadramon ihn an und wieder standen die beiden Digimon Nase an Nase. „Lässt du dich deswegen nicht mehr blicken, weil du dich mit dieser Volksverräterin vergnügst?“ „Ich mache keine gemeinsame Sache, das ist alles Teil meines Plans! Ich versuche nur an Informationen zu kommen.“ „Warum sollte der Widerstand ausgerechnet dich bei sich haben wollen?“ „Meine Kontakte die Kreise, in denen ich verkehre, haben dich nicht zu interessieren. Ich bin keinen von euch Rechenschaft schuldig.“ So viel Unverschämtheit auf einmal entfachte MetalSeadramons Zorn erneut, aber erneut hinderte ein Stromschlag ihn daran, Myotismon anzugreifen. Dieser Zweite war stärker wie der Erste und bereitete dem Leviathan von Net Ocean Kopfschmerzen. Die und die bebende Stimme ihres Dirigenten, der in der ewigen Dunkelheit seinen Stab führte und so seinen Violinist zwang, ruhiger zu spielen. Der Herr Pianist hatte ein Anspruch darauf, vor Publikum verhört zu werden, ehe man über ihn richtete. „...Tse. Der Herr Dirigent hat Recht. Warum verschwende ich meine Zeit überhaupt mit dir?“, zischte MetalSeadramon weiter und koch wieder zurück ins Wasser. „Bete, dass mein AncientMermaidmon in der Stadt des Ewigen Anfangs bereits auf mich wartet! Und wage es noch einmal so nah an mein Reich zu kommen oder du wirst derjenige sein, der gefressen wird, hast du verstanden?!“ „Dann tu es doch gleich oder hast du zu viel Angst vor dem Herr Dirigenten?“ Mit einer ziemlich großen Welle wurde die See wieder ganz still, aber man konnte in der Stille das Plätschern hören. MetalSeadramon entschied sich darauf nicht zu antworten, Myotismon würde es nicht verstehen. Schließlich wusste dieses Digimon nicht mehr, was da in dem Abgrund unter dem Schnee lag, was das Irgendetwas war, dass sie sieben zu einem Orchester machte. Das Irgendetwas hatte keinen Namen, keine Form, keine Farbe, aber es existierte irgendwo dort unten und auch wenn man es nicht beschreiben konnte, wussten sie alle, was es war. Zumindest sechs von ihnen wussten es und dass Myotismon es nicht wusste ärgerte MetalSeadramon fast noch mehr, als dass dieser eins seiner liebsten und schönsten Digimon seines Reiches auf dem Gewissen hatte. „Und ausgerechnet so ein widerwärtiges Suspekt wie du hat so viel Glück. Warum hast du von uns sieben allein das Glück erhalten vergessen zu dürfen?“, knurrte MetalSeadramon. Es klang wie ein Blitzschlag und als hätte ihn wirklich ein Blitz getroffen, wandt sich dieses Digimon im Wasser, krampfte und brüllte, während Myotismon selbst ihn unverständlich dabei zusah. „Ich will vergessen! Dieser Schmerz! Diese Qual! Der Abgrund! Das ist niemals passiert!“ MetalSeadramon warf sich nach hinten und ließ seinen Körper ins Meer fallen. Die aufkommenden Wellen waren groß genug, dass Myotismon selbst noch von ihnen erfasst wurde und es ihn fast von den Füßen riss. Sein Umhang und seine Fähigkeiten schützten ihn zwar, so dass er zwar nicht durchnässt war, aber der Stoff seines Umhangs hatte dennoch eine großzügige Menge Wasser aufgesogen und war so schwer, als hätte jemand Steine hinein genäht. Von MetalSeadramon sah man oberhalb des Wasserspiegels nichts mehr, aber zwischen dem Rauschen der Wellen konnte Myotismon, Dank seines doch empfindlichen Gehörs MetalSeadramons Brüllen hören, dass aus den Tiefen des Meeres kam. „Momo! Momo, wieso bist du fort? Wo bist du hingegangen, Momo? Momo! Wieso ließt du mich allein?Wieso kann ich dich nicht hassen, Momo?!“ Dann wurde es still. MetalSeadramon war in sein eigenes Unterwasser-Wunderland abgetaucht. Doch MetalSeadramons Wunderland war nicht Lewis Carrolls Nonsens-Welt, sondern ein zerfallenes Amphitheater, und er war kein Schwarzer König, sondern ein Tier, dass Kassiopeia gerufen wurde. Von einem Mädchen, von Momo, die ihn, wenn es regnete mit Violinenklängen heimsuchte und auf ihn einredete, statt auf die grauen Herren. „Garantiert wird er mich bei Piedmon verpfeifen“, schnaufte Myotismon, weiter das Meer anstarrend, die trügerisch ruhig war. Eine schreckliche Nacht. Hoffentlich würde es für seine Pläne keine Konsequenzen haben. Aber wohl oder übel müsste er sich demnächst bei den anderen blicken lassen müssen. Vielleicht täte es auch ein Brief, denn sehen wollte Myotismon keinen von ihnen. Er wrang das überschüssige Wasser aus seinem Umhang, dann verließ Myotismon die Bucht, hoffend, dass seine Truppen bessere Nachrichten für ihn hätten.   ♫ Wie Myotismon selbst hatten auch seine Truppen kein Glück, aber irgendwie rechnete er schon damit. Phantomon hatte ihm nichts zu erzählen und kein einziges Digimon, dass ihm gehorchte brachte brauchbare Informationen zu Tage. Er wusste es und war gleichzeitig doch so verblüfft, wie gut Sanzomon ihre Geheimnisse versteckte. Raremon schwamm die unterirdischen Flüsse entlang, wusste wo es versteckte Pfade gab, aber sie waren nicht zu erreichen oder zugemauert. In den Höhlen im Berg fand sich nichts. Ein, zwei Flaschen mit Briefen fing Raremon in den vergangenen Wochen noch auf und überbrachte sie seinem Meister, aber gelesen hatte er sie nicht. Wenn man im richtigen Winkel durch das Glas sah, erkannte man, dass eine ganz dünne Schnur in der Flasche gespannt war. Vielleicht auch ein Haar. Ein alter Trick von Babamon. Sie spannte ihre eigenen Haare an ihre Bücher, um feststellen zu können, ob irgendjemand sie heimlich herausnahm. Und wie bei den Büchern würde auch in den Flaschen das Haar reißen und man würde wissen, dass ein anderes Digimon sich an der Flasche zu schaffen gemacht hatte. Dabei war sich Myotismon sogar sicher, dass auch in dem Fall der Verdacht schnell auf ihn fallen würde. „Was nur verheimlichst du vor mir, Sanzomon?“, sagte Myotismon nachdenklich zu sich selbst und blickte durch die Nebeldecke hinunter ins Tal, aber außer schwarzen Wäldern gab es dort unten nichts und weil alles so normal und unscheinbar wirkte, so gar nicht verdächtig, ärgerte sich Myotismon. Er hatte Sanzomon tatsächlich unterschätzt. Myotismon hatte sich eigentlich vorgestellt, dass es sehr leicht wäre seiner alten Freundin die Informationen herauszulocken, aber sie war zu einem doch starken Ultra-Level Digimon geworden. Er bekam aus ihr nichts heraus und unter Hypnose schon gar nicht. Diese wirkte bei ihr ja nicht einmal. Jijimon mochte ihm zwar gelehrt haben, wie man in die Köpfe anderer Digimon schaute, Babamon dafür brachte Sanzomon bei, wie man sich eben genau gegen so etwas wehrte. Und ihren drei geliebten Schülern hatte Sanzomon dieses Wissen nicht verwehrt. Der Rest ihres Personales war nutzlos. Weder die Sistermon, noch Sirenmon hatten unter Myotismons Bann etwas Wertvolles zu seinem Plan beizutragen und als er das recht schnell bemerkte, schickte er sie erzürnt zurück auf ihre Zimmer. Am nächsten Tag wussten sie davon nichts mehr. Und dass die Swanmon oder die Reppamon mehr wussten, als die Digimon, die mit Sanzomon am selben Tisch saßen bezweifelte er sehr stark. Und so naiv wie sie war, sagte sie ihm doch nicht alles. Sie verheimlichte ihm bewusst Dinge, er roch es geradezu. Zwar saß er ihr direkt gegenüber, wenn sie ihre Bücher schrieb oder übersetzte, aber er hatte große Teile der alten Sprache verlernt und sie wusste das. Die Bücher, die es ihm wieder hätten beibringen können hielt sie unter Verschluss. Nicht zu vergessen, diese dämlichen Kinderreime dazwischen, die Nonsenssprüche und Schachtelwörter, die er als Tsukaimon schon gehasst hatte. Nicht selten sprach sie eben in solchen Kinderreimen mit ihren Schülern. Das war ein Code. Sie sprachen so miteinander und tauschen Informationen aus, weil sie wussten, dass er es nicht verstehen würde. Was immer sie heimlich in diesem Schloss für die vier Souveränen trieb, sie versteckte es sehr gut. Aber irgendwo auf Grey Mountain war das, was er suchte und er verbrachte alle seine Nachtschichten damit, es zu finden. Keine Eile, es würde alles von selbst kommen. Entweder würde er fündig werden, oder es würde sich die Gelegenheit ergeben, alles direkt von Sanzomon zu erfahren. Er durfte sich nur nicht erwischen lassen. Wo man schon dabei war – In einem der Zimmer in den mittleren Etagen brannte Licht und wenn Myotismon sich nicht irrte, war es eines der Zimmer, dass Sanzomon als Spielzimmer für ihre Findelkinder eingerichtet hatte, überwiegend mit Fabelbüchern und Babamons alten Schaukelstuhl in der Mitte. Für die Zeit jedoch ungewohnt, dass dort noch Licht brannte. Myotismon war nicht so neugierig wie Sanzomon, aber es war ungewöhnlich und etwas Ungewöhnliches brachte meist auch etwas Interessantes mit sich. Er sah sich noch um, ob ihn ein Digimon beobachtete, aber alles was ihm entgegen kam war grünes Blattwerk, dass sich teils auch schon rötlich verfärbte, dann erst flog Myotismon zum Fenster. Er blieb im Schatten der Schlossmauern versteckt, an die Wand gelehnt und spickte hinein und sah dort auch als erstes Sanzomon, die auf dem Boden vor Viximon kniete. Allen Anschein nach schien das Ausbildungs-Digimon etwas ausgefressen zu haben (Myotismon hatte nur vage mitbekommen, wie drei von Sanzomons Findlingen sich gestritten hätten, kurz bevor er seinen Nachtdienst angetreten war). Es kniff die Augen zu, sein buschiger Schweif lag eng am Körper. „Ich entschuldige mich nicht! Basta! Es geschieht ihnen Recht, sie haben angefangen!“ „Sie mögen angefangen haben, aber du hast sie angegriffen. Ich habe euch gelehrt, dass man bei einem Streit niemals zuerst angreifen soll. Sie mögen dich geärgert haben, aber du hast dich genauso falsch verhalten“, ermahnte Sanzomon Viximon und sie klang so ungewohnt ernst, was selbst Myotismon für einen Augenblick überraschte. „Sunmoon und Moonmon kriegen noch ihre Predigt und ihre Strafe, aber erst möchte ich, dass du dich bei Sunmoon entschuldigst. Es hat sich verletzt, als du auf es losgegangen bist.“ „Mir doch egal!“, keifte Viximon zurück. Nun legte es auch seine Ohren so weit es ging zurück. „Die beiden haben einfach mein Essen versteckt! Sie sind so gemein und bösartig gewesen!“ „Viximon, es war ein Scherz. Was sie getan haben war nicht richtig. Aber ich habe mit den beiden geredet und glaube mir, sie meinten es nicht böse. Sie dachten sich nichts.“ „Doch! Haben sie! Ich mag sie nicht mehr und nächstes Mal nehme ich ihnen auch ihr Essen weg!“ „Vixi-“ Sanzomon kam nicht dazu, weiter zu sprechen. Als sie ihre Hand nach dem kleinen Fuchs-Digimon ausstreckte, sprang dieses auf und biss ihr in die Hand. Sie zuckte, kniff ein Auge zu, aber sie wagte es nicht zu schreien. Jedoch begriff Viximon schnell, was es tat und ließ vor Schock Sanzomon los und weil es nicht nur schockiert war, sondern sich auch begann zu schämen, als es die Abdrücke seiner kleinen Zähne an Sanzomons Hand sah, rollte es sich ein und keinen Moment später hatte es sich in eine kleine Wolke gehüllt. Als diese verschwand, war Viximon zu Stein geworden. „Viximon, verwandle dich wieder zurück! Ich bin dir nicht böse. Aber sich zu verstecken bringt nichts“, redete Sanzomon auf es sein, aber der Stein, der nur mit viel Fantasie eine Fuchsform erahnen ließ rührte sich nicht. „Viximon!“ Das Digimon blieb stumm. Sanzomon schnaufte, blickte auf ihr Findelkind und wirkte recht ratlos. Dann aber streckte sie ihren Hand aus. Ein Licht flackerte auf, dann hielt Sanzomon ihre Mala-Kette in der Hand. „Glaube mir, ich mache das nicht gerne“, sagte sie noch, dann falteten sich ihre Hände, von ihrer Kette umschlungen. Sie senkte den Kopf, die Perlen ihrer Kette glühten und trotz, dass der Wind Myotismon um die Ohren pfiff und das vertrocknete Blattwerk raschelte, hörte er Sanzomons Sutra. Sie war in Trance, trotz allem war ihr Blick klar wie ihre Stimme. Ihr Sutra irgendwo zwischen Sprache und Gesang, der sich kaum von ihren Schlafliedern unterschied, betete die Worte vor sich hin, die von einem Ort und einer Zeit stammten, an die sich keiner mehr erinnerte außer Digimon die wie sie oder einer ähnlichen Art angehörten. Ein Fers. Zwei Ferse. Eine ganze Strophe. Ein kompletter Refrain. Sie hörte auf, als wieder eine kleine Rauchwolke aufstieg und Viximon sich zurückverwandelte. Statt aber verängstigt zu sein, starrte es nur mit halboffenem Mund. Das Digimon hatte Tränen im Gesicht und es dauerte, bis Viximon dies selbst bemerkte. Das Schluchzen kam verzögert, dann fing es an zu weinen. „Sanzomon... Sanzomon... M-Mein Essen... Sie haben mir mein Essen weggenommen. Sie haben mir alle mein Essen weggenommen!“, heulte es, wieder legte es Schweif und Ohren an und die kleinen Arme über den Kopf. „Sie haben mir alles weggenommen u-u-und ich hatte nichts. Sie haben mir alles weggenommen und mich alleine gelassen, obwohl ich so Hunger hatte! Ich verhungere! Ich muss verhungern!“ „Pscht, Viximon, es ist gut. Alles ist gut...“ Sanzomon nahm das heulende Digimon an sich, hielt es im Arm, dicht an die Brust gedrückt, was aber nur bedingt half. „Viximon, schau mich einmal an“, sagte Sanzomon zu dem Ausbildungs-Digimon, mit sachter Stimme, dann erst öffnete es seine großen und mit Tränen gefüllten Augen. „Du verhungerst nicht. Der Tag wird kommen, dann wirst du stark genug sein dein Essen vor anderen Digimon verteidigen oder es mit denen teilen können, die vielleicht nicht deine Stärke haben. Und solange bin ich da. Jeder von euch bekommt alles von mir, was er braucht. Dafür sorge ich mit aller Macht. Du brauchst keine Angst haben.“ Es war nicht ganz klar, ob Viximon alles hörte oder verstand, was Sanzomon ihm sagte. Während es Sanzomon ansah und sie mit warmer Stimme auf es einsprach, waren seine Augen wieder zugefallen. Als Sanzomon anfing, es in den Armen leicht hin und her zu schaukeln und zu summen – kein Sutra, diesmal wirklich eines ihrer Lieder, die Babamon schon ihren Findlingen vorsang, wenn ihre Stimme auch nicht so weich war wie Sanzomons –, schlief es ein. „Brichst du so immer den Willen deiner Findelkinder?“, rief Myotismon in den Raum. Sanzomon zuckte erschrocken zusammen, hielt Viximon fest im Arm, ehe sie es noch fallen ließ. Als sie aufblickte, saß Myotismon mit verschränkten Armen auf dem Fenstersims. „Musst du mich so erschrecken?“, sagte sie, sichtlich nicht erfreut und stand wieder auf. „Wie lange bist du schon hier?“ „Ein paar Minuten vielleicht. Lange genug, um deine Erziehungsmethoden beobachten zu können.“ „Das hier ist keine Erziehung.“ Ehe Sanzomon weiter erzählte, hielt sie inne und rührte sich keinen Millimeter. Dann verzog sich ihr Gesicht, und schob einen Teil ihres Schals unter das Gesicht des schlafenden Viximon. Myotismon überlegte noch, ob das passiert war, was er dachte, verkniff es sich aber ein schadenfrohes Schmunzeln. „Machst du das immer, Sanzomon? Bringst du so deinen Kindergarten Anstand und Manieren bei?“ „Zum letzten Mal, es ist kein Teil der Erziehung. Nicht im dem Sinne. Du weißt doch, was das für Digimon sind.“ Natürlich wusste er das. Sie waren Opfer der Kriege und dem Zerstörungswahn der Meister der Dunkelheit. Man sprach es nicht öffentlich aus, aber das, was hier in der Digiwelt geschah war Krieg. Und im Krieg gab es nun mal Opfer, vermeiden ließ sich das nicht. Geschweige denn achtete man darauf, auf was für einem Level sich diese befanden. Für Baby- und Ausbildungs-Digimon gab es nicht immer Mitleid oder eine Art Welpenschutz. Sie mussten lernen, die Realität zu akzeptieren, wenn sie überleben wollten. Grundgesetz Null – töten oder getötet werden. Warum mehr Mitgefühl für Ausbildungs-Digimon aufbringen, als für einen Champion oder ein Ultra (was Myotismon für diese schon nicht tat)? Myotismon war selbst gegen diese unkontrollierbaren Trümmerzüge und gab auch öffentlich zu, dass es ihm zuwider war, Digimon in den Krieg hineinzuziehen, die nicht einmal an die Front wollten. Es war so unnötig, solche Digimon zu töten. Aber sie hatten eben Pech und wer sich wehrte sollte eigentlich auch wissen, warum er dies tat und dass dies unter Umständen schwere Folgen haben konnte. „Sie alle haben ähnliche Dinge erlebt wie Viximon. Ich möchte ihnen nur helfen, dass sie das verarbeiten können, damit sie die Albträume, die sie im Herzen heimsuchen irgendwann bezwingen können.“ „Da gibt es doch bei weitem einfachere Methoden“, warf Myotismon ein und stand auf, ging direkt auf Sanzomon zu. „Hat Babamon uns beiden nicht einmal beigebracht, dass es da eine Pilzsorte gibt, die helfen könnte? Dann könnten sie das doch ganz leicht wieder vergessen. Sie könnten alles vergessen. Ist das nicht ein Segen?“ „Du meinst… Geierkrallen?“ Erschrocken und angewidert verzog Sanzomon ihr Gesicht. „Das den Kleinen vorzusetzen wäre das Letzte, was ich tun würde“, antwortete Sanzomon bestimmend. Einerseits gefiel Myotismon eben dieser Ton nicht, dass hieße, sie versuchte sich gegen ihn durchzusetzen. Keine Spur von Angst und ein Digimon, dass keine Angst vor ihm hatte war nicht vertrauenswürdig. Andererseits musste Myotismon sich eingestehen, gerade weil sie früher so ängstlich war, hatte dieser Klang in ihrer Stimme etwas, der ihn dazu animierte diese Diskussionen auf einer ruhigen Ebene weiterzuführen. „Wieso nicht?“ „Du liest meine Bücher offensichtlich immer noch nicht. Würden sie den Schmerz einfach vergessen, würden sie nie daraus lernen. Die Digiwelt lernt ohnehin schon zu wenig. Es zu vergessen mag einfach sein, aber man wächst daran nicht.“ Besorgt sah Sanzomon Viximon an, dann strich sie dem schlafenden Digimon über dem Kopf. „Aber sie sollen lernen. Vielleicht wird dann diese Generation von Digimon etwas in dieser Welt erreichen können. Ich will nicht, dass sie ihre Herzen verschließen. Dann heilen auch ihre Wunden. Narben werden immer bleiben, aber sie werden wissen, mit ihnen umgehen zu können.“ „Und aus welchen schlauen Buch hast du das?“ „Aus gar keinem Buch. Das sind nur wenige der vielen Dinge, die ich mir überlegt habe, während ich an Jijimon und Babamon zurückdenke oder meine Schüler ansehe.“ Und an noch ein Digimon. Das sagte Sanzomon zwar nicht, aber man konnte es in ihren Augen ablesen, als sie Myotismon ins Gesicht sah. „Woher weißt du, dass das, was du machst überhaupt funktioniert?“ „Als ich aufs Ultra-Level digitierte, habe ich die Stimmen gequälter Seelen immer gehört. Mit der Zeit habe ich gelernt, sie auszublenden. Aber besonders laute Stimmen kann ich nicht abschalten. Ich höre die Schreie und Hilferufe aus dem Herzen dieser jungen Digimon. Sie reißen mich aus dem Schlaf, so wie heute Nacht. Aber diese Hilferufe werden seltener. Dann weiß ich, dass ich Erfolg habe.“ Ihr Blick blieb an Viximon haften, als es begann unverständliches Zeug zu murmeln. Es schlief, aber etwas in ihr motivierte Sanzomon das Ausbildung-Digimon fester in den Arm zu nehmen und nochmal leicht hin und her zu bewegen. Dass sie mitten in der Nacht mal aufwachte, geschah also öfter, wie Myotismon heraushörte. Gut, dass er dies nun auch wusste. „Kennst du das auch?“, fragte Sanzomon anschließend. Myotismon überlegte, aber erst nicht darüber. Sondern eher, wie viel er ihr von seinem Blatt zeigen sollte. Aber wenn Myotismon wollte, dass sie weiter redete und ihr halbblindes Vertrauen blieb, musste er gezwungenermaßen einiges von sich Preis geben. Ungern. Aber es war ja Sanzomon, die ihn schon als schwachen Rookie kennenlernte, im kränklichen Zustand wie schlafend, Situationen die Myotismon viel zu intim waren. Auf den ein oder anderen Schatten mehr, über den er springen müsste, um ihr Interesse zu wahren kam es nun also auch nicht mehr an. „In gewisser Weise ja. Es sind die Toten, die ich höre. Daten der Digimon, die erst gelöscht wurden und deren letzte Erinnerungen im Wind verstreuen, ehe sie wiedergeboren werden oder für immer als Reste in dieser Welt umherirren. Schmerzensschreie, das Betteln um Gnade, alles was kurz vor ihrem Ableben geschah. Aber man lernt sie irgendwann zu ignorieren. Toten Digimon ist nicht zu helfen.“ „Sagt der, der um Asyl für eine Schar Geist-Digimon bat.“ Sanzomon lachte über die Ironie, Myotismon hingegen nicht, also ließ sie es schnell wieder und wartete, dass von ihm eine Reaktion kam. Eigentlich müsste Myotismon seinem Dienst nachgehen, nur war es offensichtlich, dass Sanzomon diese Pflicht gerade zweitrangig war und es eigentlich genoss, dass sie beide mal ganz allein in einem Raum standen, ohne Bedenken, dass ihre Schüler oder Myotismons eigene Truppen dazwischen funkten. Und tatsächlich war Myotismon dieser Situation auch nicht ganz abgeneigt. Zeit verbrachten sie beide ohnehin wenig gemeinsam – verschiedene Tag-Nacht-Rhythmen und viel Arbeit waren hinderlich – und wenn sich die Gelegenheit zum spielen gab, warum nicht ergreifen? „Hörst du auch mich, ehrfürchtige Hohepriesterin?“, fragte Myotismon. Der Abstand zwischen ihnen verringerte sich. Augenpaare, die direkt in die gegenüberliegenden schauten. Als sein Kopf sich nachdenklich zur Seite legte, neigte Sanzomon ihren mit. Er blinzelte, sie daraufhin genauso. Ihn zu mimen machte ihr Spaß. Sanzomon sah noch einmal zu Viximon, aber nicht um zu sehen, ob es schlief, sondern ob es wirklich tief schlief. „Nein. Ich glaube, bei den Kleinen funktioniert es nur, weil sie noch keine mentalen Wände um ihre Psyche gezogen haben. Das macht es leichter für mich zu ihnen durchzudringen, statt erst die Wurzel des Übels zu finden und auszugraben.“ „Ausgraben?“, fragte Myotismon. Sanzomon blickte erschrocken auf, als ob ihr das, was sie sagte peinlich gewesen wäre. Vielleicht war es das für sie auch. „Nur eine Metapher“, antwortete sie schließlich, die Gesichtszüge unter ihrem Halstuch komplett entspannt. Und dem verräterischen Leuchten in den Augen, dass Myotismon verriet, dass er sie da hatte, wo er sie haben wollte. „Würdest du denn gerne wissen, was in meinem Inneren vor sich geht?“ Die Worte flüsterte Myotismon Sanzomon direkt ins Ohr. Doch sie zuckte nicht, als der kalte Atem ihre Haut berührte. Kein bisschen und es war ärgerlich – gleichzeitig aber auch irgendwie faszinierend. „Zu gerne nur. Aber da wir beide wohl sehr verschlossen sind, muss ich auf die herkömmliche Art zurückgreifen und mich Stück für Stück vortasten.“ Das glaubte er ihr gerne. Ihr Ton und ihre Wortwahl verriet, was er schon erwartete. Sie hatte ebenso versucht zu ihm durchzudringen und wie Myotismon schon, hatte auch sie keinen Erfolg damit und viel denken tat sie sich dabei nichts. Sie hatte keine Ahnung, was Myotismon eigentlich dachte. Er wusste, dass sie mehr verbarg wie ein paar schmerzliche Erinnerungen und alberne Träume. Und wenn er es früher oder später rausbekam, so hoffte er, dass unter diesen kostbaren Dingen etwas gab, dass ihm behilflich sein würde seinen Plan in die Tat umzusetzen und was er ganz besonders hoffte – etwas, um die keifende Herzkönigin namens Piedmon endlich zum Schweigen zum bringen. Im besten Fall für immer. In Gedanken versunken merkte Myotismon erst nicht, dass Sanzomons Gesicht sich seinem nährte und bis er es merkte, küsste sie ihn bereits. Nur kurz, aber er kam gänzlich unerwartet. „Wofür war das?“ „Aus keinem speziellen Grund. Mir war schlicht danach“, sagte Sanzomon auf eine verspielte Art, die in letzter Zeit zunahm, ebenso ihre Versuche ihn dazu zu bringen, sich auf diese Spielereien einzulassen. Myotismon beklagte sich wenig, nicht zuletzt, da sie anfangs doch noch zu schüchtern war und sich leicht an seinen Eckzähnen die hübschen Lippen aufschnitt. Das wenige digitale Blut, was aus den kleinen Schnitt- und Bisswunden kam reichte nicht, als dass Myotismon etwas aus ihren Daten direkt hätte erfahren können. Bis er merkte, dass diese Methode genauso fruchtlos wie seine Hypnoseversuche blieb, hatte Sanzomon bereits gelernt, wie man Küsse nicht nur erwiderte, sondern auch anforderte. Zu behaupten, es wäre nicht schmackhaft, ob nun mit Blut auf den Lippen oder nicht, wäre die Unwahrheit und von diesen war Myotismon bekanntlich kein Freund. Und wer wäre er, würde er das Verlangen eines ansehnlichen Digimons abschlagen? „Ist etwas, Myotismon?“ „Weißt du, ich vermisse es, wie du dich anfangs immer an meinen Zähnen gestochen hast.“ „Ich hatte viele Gelegenheiten zum Üben.“ Kichernd stand sie da, und Myotismon hätte sich fast mitreißen lassen, weil sie so schrecklich ahnungslos war, dann hörte sie aber schlagartig auf. „Da fällt mir ein, dass du hier bist trifft sich hervorragend. Dann kannst du ja kurz einmal mitkommen.“ „Wohin?“ „Komm einfach mit, du wirst es schon sehen.“ „Sag es doch einfach.“ „Wieso, ich muss ohnehin dahin, also kannst du auch mitkommen. Also komm jetzt, bitte“, forderte Sanzomon in auf, zog Myotismon dabei noch am Ärmel, erst aber als sie wieder los ließ ging er ihr nach. Viximon bekam weiterhin nichts mit. Es schlief wie ein Stein. Schweigsam ging Myotismon Sanzomon nach, die Treppen hinunter zum ersten Stock, durchquerten den Speisesaal, der stockdunkel war, durch die Tür, die in den Gang der in die Küche führte. Dort zumindest brannte schon Licht, man hörte Geschirr und im Gang stand Sirenmon, die gerade einen Sack Kartoffeln aus der Vorratskammer holte. Erst fragte Myotismon sich, was dieses Digimon so früh schon hier trieb und ob das öfters der Fall war. Aber natürlich, sie war ja die Köchin für alle hier, es war logisch, dass sie mit ihrer Arbeit viel früher anfing. Daran hatte Myotismon nicht gedacht. Und hoffentlich hatte Sirenmon ihn oder seine Truppen nie dabei gesehen, wie sie die Gänge absuchten. „Sirenmon!“ „Oh, Sanzomon?“, rief sie auf, wollte fragen, was die Schlossherrin um die Uhrzeit noch in den Gängen herumlief, bis sie Myotismon hinter Sanzomon stehen sah. „Ah, ihr habt ihn mitgebracht. Dann können wir ja alles bereden.“ Mit einem Satz sprang Sirenmon auf Sanzomons Schulter. Mit Unverständnis sah Myotismon abwechselnd beide Digimon an. „Könntet ihr beide mich bitte aufklären?“ „Du weißt, ich kann nicht...“ Sanzomon stoppte, schüttelte den Kopf, dann begann sie von vorne. „Es ist schwer an Blut zu kommen und es über längere Zeit zu halten. Sobald es an die Luft kommt, löst es sich in seine Bestandteile auf.“ „Das Thema über meine Essgewohnheiten hatten wir schon, Sanzomon. Du weißt, ich habe Alternativen.“ „Ja, aber Alternativen sind ebenso begrenzt. Ich weiß, es ist nicht leicht und zufrieden bist du mit dem Essensplan auch nicht immer. Wir würden dir etwas entgegen kommen.“ Was Myotismon an der Aussage mehr wunderte, war dieses wir. Aber ein Blick auf Sirenmon reichte um zu verstehen. Und er ahnte, auf was dieses Gespräch hinauslief. „Sage uns, was wir tun sollen, damit dein Aufenthalt und die verbundenen Lebensumstände hier so erträglich wie möglich sind, damit, nun -“ „Ich nicht auf die Idee komme hier irgendjemanden im Schlaf anzufallen. Nenne die Dinge beim Namen.“ „Ich wollte es nur nicht so direkt formulieren. Oder so brutal“, sagte Sanzomon, in einer Art, die wie eine verzweifelte Entschuldigung klang. „Also, sagt schon. Was kann ich tun?“, forderte nun auch Sirenmon auf. Myotismon sah die beiden Digimon an und fragte sich, ob dass ihr Ernst war. War es augenscheinlich. Seine ehrliche Antwort konnte er hier an der Stelle nicht äußern und ganz sicher, ob Myotismon sich deswegen geschmeichelt fühlen sollte, wusste er auch nicht so wirklich. Das Angebot abschlagen wäre jedoch eine ebenso schlechte Entscheidung. Und vielleicht, wenn die Mahlzeiten eher seinem Geschmäckern entsprachen, würde sich auch dieser unstillbare Hunger endlich legen, der ihm keine Ruhe ließ, egal was er aß. „Ich will mein Steak blutig, hellrosa, nur die oberste Schicht sollte leicht Medium sein. Nicht dicker wie ein Blatt Papier! Und im eigenen Saft, aber so wenig wie möglich, damit das Fleisch nicht durchweicht. Wehe dem, ich finde ein Gramm Fett. Geschweige denn ihr kommt auf die Idee irgendetwas, was ihr mir vorsetzen wollt mit Knoblauch zu würzen. Selbiges gilt übrigens auch für Salz. Wenn überhaupt eine halbe Messerspitze, und kein Milligramm mehr.“ Es folgte erst keine Reaktion, es wurde nur still gewartet, ob noch ein Wunsch folgte. Sanzomon blickte schließlich Sirenmon an, die sich jedes Wort genau einpägte, wie es sich für eine gute Köchin gehörte. Myotismon konnte von Sanzomons Personal dieses Digimon am wenigsten leiden (zusammen mit dem Affen) und sie empfand nicht anders, aber wenn es um so etwas ging, behielt sie ihre Professionalität. „Bekommst du das hin, Sirenmon?“ „Die Herausforderung nehme ich gerne an“, sagte Sirenmon schließlich, teils überzeugt, teils sogar sehr von sich überzeugt. Ihr üppiges Federkleid plusterte sich auf und mit den Händen dort gestemmt, wo schätzungsweise ihre Hüfte beginnen sollte, sprang sie von Sanzomons Schulter, um dann direkt vor Myotismon zu landen, zu dem sie weit hochschauen musste. „Morgen Abend?“ „Morgen Abend“, nickte Sirenmon ab, mit erhobenen Haupt flog sie zurück in ihre Küche. Sanzomon und Myotismon sahen ihr noch kurz hinterher. Aus dem Raum hörte man Töpfe und Teller klappern, die sie benötigte um bis zum Morgen zumindest mit dem Frühstück fertig zu sein. „Ich dachte, ich bekäme keine Sonderbehandlung“, sagte Myotismon schließlich und runzelte fragend die Stirn. „Bekommst du auch nicht. Aber zu einer gewissen Stabilität innerhalb einer Gruppe, die so grundlegend verschieden ist gehört dazu, dass man auch auf existenzielle Bedürfnisse etwas Rücksicht nimmt. Außerdem, dachte ich -“, Sanzomon blickte kurz verlegen zur Seite, „- wir könnten dann auch zusammen zu Abend essen.“ Schweigen. Und mehr, als dass Myotismon skeptisch die Augenbrauen hob passierte auch nichts. „Ich dachte nur... Wir sehen uns nur kurz zwischen Tag und Nacht. Das ist wenig Zeit für intensive Debatten. Wenn wir zusammen essen hätten wir etwas mehr Raum dafür. Vielleicht nur ein paar Minuten, aber es ist besser wie überhaupt nichts.“ „Isst du nicht mit deinen Schülern und deinen Findlingen zusammen?“ „Werde ich auch weiter. Ich esse nur eine halbe Portion. Und die andere Hälfte mit dir. Ich möchte einfach nur ganz normal Zeit mit dir verbringen.“ Myotismon beobachtete, wie sie ihn ansah und versuchte, etwas in seiner Körpersprache zu lesen. Abneigung zeigte sich keine. Sanzomon mochte idealistisch sein – zu idealistisch, wenn man Myotismon fragte -, dennoch konnte man nicht bestreiten, dass sie ein sehr intelligentes Digimon war, dass wusste wie man eine Debatte um diverse Themen (überwiegend Philosophie und Politik) zu führen hatte und sich wusste auszudrücken. Das konnten nicht viele, vor allem nicht wenn man Digimon gegenüber saß, die eine so ganz andere Weltansicht hatten. Und manchmal war es wirklich schade, dass ihnen beiden die Zeit für solche tiefgehenden Gespräche fehlte. Etwas missfallen tat Myotismon es aber schon. Es hatte seine Gründe, dass er alleine speiste. Die Art, wie er aß war nur einer von vielen. Man hatte ihm beigebracht, wenn man mit Digimon an einem Tisch saß, dann verschwammen die Grenzen von Autorität und Rang und dies war in seiner Vorstellung ein Unding. Er hatte schon als Dobermon nicht mit den Devidramon zusammen gegessen, schon damals als Tsukaimon war es ihm unangenehm, zwischen fremden Digimon zu sitzen und er würde sicherlich nicht als Ultra-Level damit anfangen. Auch wenn Sanzomon sein Sitznachbar war und sie wesentlich interessanter war wie irgendwelche nervigen Digimon, zu denen er keine Bindung aufbauen wollte (zudem war sie auch hübscher anzusehen wie die Devidramon). Myotismon könnte Nein sagen und die Sache wäre vom Tisch. Tat er jedoch nicht. „Ich neige allerdings dazu, mein Essen zu genießen. Wenn meine Zähne schon nicht das tun können, wofür sie da sind, muss ich es anderweitig kompensieren. Ich bevorzuge mein Steak weniger wegen des Geschmacks, sondern eher aufgrund seiner, sagen wir, Konsistenz. Ich beiße gerne zu. Aber das weißt du ja.“ Ihr Halstuch lag eng an ihrem Gesicht, und der Stoff bewegte sich, als ihre Zähne auf ihre eigenen Lippen fuhr. Vermutlich über kleine Kratzer, die Myotismons eigene Zähne auf diesen hinterlassen hatten. Aber sie beklagte sich nicht. Anfangs mochte sie zwar Angst gehabt haben, aber nachdem Sanzomon diese überwunden hatte gewöhnte sie sich daran und lernte es irgendwo auch gerne zu haben, wenn ihre Küsse etwas rauer wurden. Vielleicht lag es daran, weil Sanzomon mal ein Virus-Typ war. Oder weil sie eben noch nie ganz dicht war. Zwischen ihrem Dasein als mehr oder minder kritischer Philosoph, ihrem idealistischen, verdrehten und sinnbefreiten Wunderland und ihrer pflichtbewussten, fürsorglichen Mutterrolle hatte Sanzomon doch noch etwas Verruchtes - Ihre eigene Neugierde. „Ich möchte trotzdem mit dir speisen.“ „Ich reiße mein Fleisch gerne, statt es zu schneiden, wenn mir danach ist.“ Tat er nicht wirklich, zumindest nicht so oft und so übertrieben wie Myotismon es zu suggerieren versuchte, aber er wollte einfach wissen, wie Sanzomon reagierte. Sie war kurz verblüfft, fing sich aber wieder.  „Trotzdem. Wenn es eben so ist, dann ist es so. Ich möchte nicht, das du dich verstellst“, sagte sie mit leuchtenden Augen. Ihr Kinn hob sich, ihre Schultern sanken. Würde sie Viximon nicht halten, hätte sie wie Myotismon in diesem Moment die Arme hinter ihrem Rücken gekreuzt. „Zudem traue ich dir zu, dass du in Anwesenheit eines weiteren Digimon deine Manieren bewahren kannst.“ „Vielleicht tue ich das wirklich. Und wenn nicht, ehrfürchtige Hohepriesterin?“ „Ich weiß noch nicht. Aber ich werde ganz sicher nicht wegschauen.“ „Das hoffe ich doch.“ Kein Zucken in ihren Augenlidern. Auch nicht im Gesicht. Sanzomon schien wirklich absolut überzeugt von dem, was sie vor hatte. Allgemein war sie in so ziemlich vielen, was sie tat und von sich gab sehr von sich überzeugt, nur hatten Digimon wie ihre Artgenossen und Babamons Strenge ihr Potenzial ziemlich unterbunden. Wie gut, dass er hierher kam, am Ende wäre diese Eigenschaft noch verkümmert. Hätte Sanzomon Angst vor ihm, wäre ihm das zwar lieber, aber sie so zu sehen, von ihr so angesehen zu werden gefiel ihm irgendwie besser. Sanzomon stand vor ihm und man merkte ihr an, dass in ihrem Kopf unzählige Gedanken kreisten, einige davon, die ihr Angst machten, die anderen von einer Natur, die Myotismon wenig nachvollziehen konnte. Eigentlich müsste es Myotismon stören, denn je selbstbewusster sie wurde, um so schwerer würde es werden, Sanzomon in seinem Bann zu behalten und sie in die Richtung zu lenken, die er benötigte. Aber es störte ihn weniger, wie es sollte. Zu sehen, wie mutig sie wurde und zu sehen, wie Sanzomon sich in bestimmten Situationen entschied, sich zu bestimmten Themen äußerte war wesentlich amüsanter zu beobachten, wie sie schlicht zu manipulieren, in der Hoffnung sie irgendwann zu brechen. Sanzomon war immer noch wie früher. Und dann doch nicht. Sie war irgendwie anders. Verrückt eben. „Wenn wir schon dabei sind, hätte ich da noch ein paar Punkte, die einen gewissen Redebedarf benötigen. Deine Schüler zum Beispiel -“ „Übertreibe nicht. Meine Schüler bleiben wo sie sind und sie behalten ihren Status“, antwortete sie störrisch. Und auch im Anblick von Myotismon nicht begeisterter Miene knickte sie nicht ein. Viximon brummte im Schlaf, gab schmatzende Geräusche von sich, aber es schlief weiter. Sanzomon begann es ein wenig zu schaukeln, bis es wieder ruhig wurde. „Du solltest dir ein Beispiel an deinen Findelkindern nehmen und auch ins Bett gehen.“ „Sollte ich wirklich“, und just in dem Moment rieb Sanzomon sich die Augen. „Und wenn es nur ein paar Stunden sind.“ „Ich werde mich auch wieder meiner Arbeit widmen. Meine Truppen erwarten mich sicher.“ Weiter etwas hier im Schloss abzusuchen würde er aber für diese Nacht aufgeben. Wenn Sirenmon schon zu so früher Stunde ihren Tätigkeiten nachging, war es doch etwas zu riskant. Er konnte von Glück reden, dass sie ihn oder seine Truppen bisher nicht beim Rumschnüffeln erwischt hatte. Sicher war sie mit ihrer eigenen Arbeiten beschäftigt, aber Vorsicht war besser wie Nachsicht. Sanzomon wollte sich verabschieden und noch eine Gute Nacht wünschen, dies ging aber in einem Gähnen verloren. Obwohl sie ihr Halstuch wieder ihr halbes Gesicht verdeckte, nahm sie automatisch die Hand vor ihren Mund. Statt sie aber wieder runter zu nehmen oder Viximon enger an sich zu drücken, blieb sie oben, zog erst den Stoff etwas von Sanzomons Gesicht und lag dann in Myotismons Nacken. Sanzomon stellte sich auf die Zehen und spitzte die Lippen, aber es war kein Kuss. Ihre Unterlippe berührten seinen Zahn und Myotismon spürte den Druck. Der Schmerz brachte Sanzomons Körper so stark zum zucken, dass selbst er es spürte. Dann ging sie einen Satz zurück und man sah den knallroten Abdruck auf ihrer Lippe, ehe ihre Finger sie verdeckten. Verdutzt blickte Myotismon sie an, blinzelte mehrmals, sich fragend, was das war. Und zugegeben, etwas sprachlos war er für einen Moment. „Du bist verrückt, ehrfürchtige Hohepriesterin.“ „Ist das ein Problem?“ Sie schwiegen sich an. Sanzomon hob erwartungsvoll den Kopf, als ob sie ihn herausfordern wollte. Myotismon schüttelte sachte den eigenen. Ein paar Küsse und schon wurde sie übermütig. Aber sie war nicht zu überzeugt von sich. Ihr überwiegender Charakter blieb ruhig und sachte. Durchaus, sie hatte nicht so viel Selbstvertrauen, aber eine gesunde Menge, wie eine leicht süße Unternote in einem trockenen Rotwein. „Keineswegs.“ „Also Morgen Abend?“ „... Morgen Abend.“ Sanzomons Lippen formten ein Lächeln, ehe sie ihr Halstuch wieder hochzog und mit Viximon in der matten Dunkelheit der Schlossgänge verschwand. Man hörte sie summen und Myotismon lauschte noch etwas, ehe die Entfernung Sanzomons Stimme verschluckte. Myotismon blieb noch stehen. Seine Finger berührten den Eckzahn, auf dem immer noch das Gefühl von Sanzomons Lippen ruhte. Sie hatte nicht kräftig genug zugedrückt. Aber dafür fühlte es sich warm an. Sein Zahn und seine Lippen, die sie nur gestreift hatte waren warm. Er schnaufte tief und lange. „Dieses Digimon ist absolut verrückt.“ Als Myotismon später an ihrem Zimmerfenster vorbeiflog lag sie in ihrem Bett. Viximon in ihrem Arm, eingewickelt in ihrem Schal. Man konnte nur erahnen, was für Bilder in Sanzomons Kopf rumspukten, während sie so unscheinbar da lag und seelenruhig schlief. Myotismons Inneres zog sich zusammen. Hunger machte sich wieder breit.   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)