Wintersonett von Rakushina (Which dreamed it?) ================================================================================ Konzert V - ##### ME, 1. Satz, Allegro pianissimo Cis-Moll ---------------------------------------------------------- 𝄡   „Was denkst du über Gleichheit?“ Noch am Folgeabend, nachdem Sanzomon sich entschlossen hatte ihrer Furcht Lebewohl zu sagen und sich ihren Gefühlen zu stellen, suchte Myotismon sie in ihrer Bibliothek auf und erwischte sie dabei, wie sie am großen Holztisch saß auf dem Türme aus Papier und Büchern in die Höhe ragten. Es war das reinste Chaos und daran sah man, wie sehr Sanzomon grübelte. Schließlich grübelte sie gerne, entsprechend war ihr Arbeitsplatz immer ein Chaos. Als Myotismon den Raum betrat, der diesmal mit weit mehr wie nur einer Kerze erhellt war und sich gegenüber von Sanzomon setzte, schob sie ihre wichtigen, geheimen Unterlagen unter einen Stapel und klappte stattdessen ein Buch auf, dass sie nebenbei übersetzte. Jijimons und Babamons alte Bücher mochten wirr sein, teilweise sehr anstößig, stellenweise sogar noch aus der Hand alter Digimon Hoheiten stammend, die Rassismus unter den Typen salonfähig machten. Sanzomon war jedoch der Überzeugung, gerade der Digiwelt durch diese Bücher zu zeigen, wie es früher zuging, als nur allein der Typus wichtig schien bei der Frage, ob man ein Recht auf Leben hatte oder nicht, würde mehr die Augen öffnen als so zu tun, als sei das alles niemals passiert - so in etwa das Motto der Meister der Dunkelheit, die alles zerstörten, was auch nur im entferntesten auf die alte Apartheid hindeuten könnte. „Wie kommst du auf dieses Thema?“, fragte sie vorsichtig. Myotismon lächelte sie schelmisch an und Sanzomon wusste nicht, wie sie dies einordnen sollte. „Weil die Meister der Dunkelheit dich nicht sehr mögen.“ „Vielleicht fehlt ihnen der Sinn für Literatur“, witzelte sie und tat, als wäre sie dabei Sätze aus der alten Schrift in die Zeitgemäße zu schreiben. Babamons Handschrift zu entschlüsseln war schwierig. Ihre Gedankengänge und ihre Sprache zu übersetzen ein Nervenakt. „Weil du von Andersartigkeit und Individualität sprichst und es dich nicht stört.“ „Man muss mit Kritik leben. Man kann es nicht jedem Digimon Recht machen.“ Insbesondere der Herzkönigin nicht. Irgendwo verstand Sanzomon Piedmons Ansicht, vermutlich war auch er ein Digimon, dass unter den Nachwehen der Typus-Apartheid gelitten hatte, so wie alle Meister der Dunkelheit vielleicht auch. Aber war alle gleich machen zu wollen wirklich die Lösung? Die Auslöschung allen, dass den Pfad verließ? Das Verweigern, dass die Digiwelt mehr wie nur ein Schatten war, aber eben auch nichts eigenes, sondern ein Teil der Realen Welt, die eben auch mehr war wie das Produkt urbaner Erzählungen? Und das auch jedes einzelne Digimon entsprechend mehr war? Grenzte das nicht schon an Zensur? War es richtig Essen und Wohnraum so strikt zu kontrollieren, damit bloß keiner mehr wie der andere besaß? War es richtig Literatur und Kunst so einzuschränken? War es richtig Digimon in feste Arbeit und Aufgaben zu stecken, obwohl sie diese vielleicht gar nicht wollten? Zugeben, die Kriminalität war wesentlich geringer, als zur Zeit der Rassenkriege und sie konnte nicht bestreiten, dass die Meister der Dunkelheit nicht dazu getragen hatten. Aber war so viel Autorität und Kontrolle und Gleichmacherei richtig? Wo war das Individuum? Der freie Wille? Wo? Nein, für Sanzomon war dies nicht richtig. Ihre Artgenossen pflegten eine ähnliche, aber mildere Form eines solchen Lebensstils auf ihrem Weg der Erleuchtung, zwangen aber kein Digimon dazu. Die Meister der Dunkelheit waren eine extreme Form und schadeten allen. Das Auferstehen der vier Souveränen zeigte doch schon, dass Individualität hohes Potenzial besaß zum Wohle der Digiwelt etwas beizutragen und wie wertvoll und vielfältig das digitale Leben war. Die Gefühle dieser Menschen, die mit ihnen kamen. Zwar hatte Sanzomon diese Menschen, die sogenannten Digiritter nie getroffen, aber so hell wie dieses Licht der vier Souveränen war, mussten diese Gefühle sehr stark sein. Jener Tag – da lebte Tinkermon noch nicht bei Babamon – war ein düsterer Tag gewesen, man glaubte die Welt ginge unter. Das Wetter spielte komplett verrückt. Und dann, so wusste Sanzomon noch, regnete es Schwärze. Dunkelheit. Gerade als man glaubte, der Orkan würde die Digiwelt davon wehen, erschien eben dieses Licht am Horizont. Dann war der Sturm vorbei und nur wenige Digimon, zu denen auch Tinkermon und ihre späteren Schüler gehörten sahen in der Ferne vier Lichter in die verschiedenen Himmelsrichtungen davonfliegen. Diese Lichter waren die Souveränen und sie glühten im Schein des Herzens der Digiritter. Genau das war es, was die Digiwelt brauchte. Das Leuchten und Strahlen, rein wie ein unschuldiges Kinderherz aus einem Märchenbuch. Wer weiß, vielleicht waren sich diese Welten nicht so unähnlich. Vielleicht würden die Grenzen beider Welten irgendwann verwischen. Aber das wollten die Meister der Dunkelheit nicht hören. Myotismon wohl schon, sonst würde er nicht hier sitzen. Sanzomon fragte sich unwillkürlich, ob es ihm nicht unangenehm sein müsste, hier mit ihr in diesem Raum zu sein. Das letzte Mal endete es mit einer Ohrfeige. „Wie passt das damit zusammen, dass wir alle gleich sind und etwas wie die Apartheid ein Verbrechen gegen die Seele und das Ich sei? Sollen nicht alle gleich behandelt werden, in deinen Augen? Was glaubst du unterscheidet dich und deine Lehren von der Propaganda der Meister der Dunkelheit?“ Sanzomons Blick wechselte zwischen Myotismon und ihren Büchern hin und her. Die Spitze ihrer Feder schwebte in der Luft. Der Satz, den sie eben schreiben wollte war ihr entfallen, dafür dachte sie zu sehr über seine Frage nach. „Wir sind alle Lebewesen“, begann sie, vorsichtig und sah Myotismon dabei ins Gesicht, um jede noch so kleine Reaktion von ihm wahrzunehmen. „Lebewesen, die leben wollen. Und wie sie wollen und niemand soll dafür verurteilt werden.“ „Und wenn Serums nun mal die komplette Kontrolle haben und Viren nun einmal zerstören wollen? Ein Verhalten, dass nun einmal nicht zu leugnen ist. Es ist Teil unseres inneren Netzwerkes, bis zum tiefsten Punkt des Digikerns.“ Darauf lief es also hinaus, dass hätte Sanzomon kommen sehen müssen. Schließlich glaubte er ja nicht an dieses Ich in einem Digimon, an ein Herz, an eine Seele. Nur an Daten. Umstimmen würde sie ihn auch nicht können. Aber sie könnte ihren Standpunkt verteidigen. „Das würde ich auch niemals wagen anzuzweifeln. Ich kann den Urkern unseres Wesens nicht leugnen. Es geht nur darum, dass unter solch rein triebhaften Verhalten, das aus unseren Daten hervorgeht, viele leiden, das ist eine nötige Erkenntnis und wir sind zu solchen Erkenntnissen fähig. Dies ist der erste Schritt zu einem Lernprozess und Lernen ist der Grundstein von Leben. Wir haben unsere Rechte und Pflichten gegenüber allem Leben. Ein Es, wie unsere Daten, aber auch ein hohes Bewusstsein, wie unser Herz, unser Verständnis und unsere Erkenntnis. Und dazwischen irgendwo liegt unser Sein. Wir werden aus beidem geformt, nicht nur aus dem einem.“ Der Satz, der Sanzomon entfallen war kehrte wieder in ihre Gedächtnis zurück und sie schrieb ihn schnell auf das Papier. Die schwarze Tinte zog schnell ein, aber erst als Sanzomon sich sicher war, dass sie so weit getrocknet war, dass nicht all zu viel verschmieren konnte wagte sie wieder Myotismon in die Augen zu schauen. Er saß ganz entspannt da und lächelte amüsiert. Aber seine Mimik wirkte nicht herablassend. „Deswegen wird auch immer Chaos herrschen. Jedes Digimon hat seine eigenen Vorstellungen von Rechten und Pflichten, Ordnung und Chaos. Serums, Dateien und Viren sind nun einmal von Grund auf verschieden.“ „Aber man kann versuchen es in einer Balance zu halten. Eine Welt muss nicht perfekt sein, aber ausgeglichen. Deswegen funktioniert auch eine absolute Gleichheit nicht. Sie obliege der Gewalt einer homogenen Einheit oder eine absoluten Kontrollgruppe, deren Sichtweisen, wie auch Fehler unreflektiert übernommen werden würden. Die Folge wäre, dass man Fehler wiederholt, für neuaufkommende Probleme keine Lösungen findet und Alternativen übersieht. Und für Probleme benötigt es verschiedene Sichtweisen. Wir müssen verschieden bleiben und gleichberechtigt behandelt werden. Gleichheit ist keine Gleichberechtigung. Für eine Gleichheit müsste man das Ich, das Individuum und den freien Willen komplett dafür auslöschen. Und dann sind wir wirklich nicht mehr wie Daten.“ „Also möchtest du Digimon-Gruppen untereinander am besten vermischen und sie sollen zusehen, wie sie miteinander auskommen?“ „Bei Shakamon, Nein! Du weißt auch, dass ich es nicht so meine“, schimpfte Sanzomon. „Ich würde niemals Fangmon in eine Horden Sheepmon drängen wollen. Oder Hanguromon zusammen mit Sukamon oder Divermon, dass sind zu unterschiedliche Digimon, die auch andere Lebens-Bedingungen haben. Zwei Extreme zusammenführen endet meistens nicht gut. Aber wenn eins von einhundert Fangmon unter Sheepmon leben will und es sich den Bedingungen anpasst und die Sheepmon nichts fürchten müssen, sich sogar vertragen, warum sollte man dem Fangmon einreden, dass es die Sheepmon zu fressen hat, weil es bei neunundneunzig anderen Fangmon auch so ist?“ „Das Prinzip der Täuschung ist dir vertraut?“ „Das ist meinen Augen aber kein Grund irgendetwas zu kontrollieren oder zu regulieren. Geschweige denn etwas zu verbieten oder zu verwehren. Ich setze meine Schüler, die sonst als eher schwierige Digimon gelten auch nicht vor die Türe oder kontrolliere sie übermäßig, weil ihre Artgenossen bekanntermaßen so schwierig sind. Oder dich und deine Truppen.“ Erst als sie sich wieder ihren Schriften widmete bemerkte Sanzomon, dass ihre Antwort tatsächlich etwas Schlagfertiges hatte und empfand einklein wenig Freude dabei. Myotismons Lächeln wich, aber seine Gesichtszüge blieben genauso entspannt wie seine Haltung. Er schien nachzudenken und hätte man Sanzomon in diesem Moment gefragt, was für die den wichtigsten optischen Reiz ausmachte, sie hätte mit absoluter Sicherheit geantwortet, dass es dieses Gesicht in diesem Moment war, das ehrlich und intensiv über ihre Worte nachdachte. „Vielleicht ist durchaus etwas dran, was du sagst. Auch ich sympathisiere nicht wirklich mit den Vorstellungen der Meister der Dunkelheit.“ „Willst du mir sagen, dass du an Individualität und an ein Ich-Bewusstsein glaubst?“, sagte Sanzomon mit einem kleinen, versteckten Lachen im Unterton und sie war überrascht, dass auch Myotismon sich zu so einem kurzen, tiefen Lachen mitreißen ließ. „Ich habe nur begriffen, dass eine absolute Gleichheit, wie die Meister der Dunkelheit es sich vorstellen, nicht existieren kann. Sie streben nach absoluter Dunkelheit. Sie glauben, die Digiwelt war nie etwas anderes als eine sündige, schlechte Welt, eine Bühne für Betrüger, Diebe und Tyrannen, eben wie schick sie sich präsentieren. Und was schon bedeckt mit Ruß und Asche ist, kann auch tiefer darin versinken, bis kein sauberer Fleck mehr darauf liegt, so ihre Logik. Aber es wird immer Digimon geben, die sich dagegen wehren und jeden Rußfleck beseitigen, egal zu was man sie zwingt, weil sie eben auch Ideale haben, seien es Daten, sei es eine Seele. Eines habe ich vor mir sitzen.“ Sanzomon warf nur einen kurzen Blick zu Myotismon hinüber, ehe sie sich weiter ihren Schriften zuwandte, nicht sicher ob das eine Stichelei oder ein Kompliment war. „Man kann Digimon kein Verhalten aufzwingen, wie dunkel es auch um ihn herum wird, da stimme ich dir zu. Wir leben in einem System der Dreifaltigkeit. Serum, Datei, Virus. Ordnung,Wachstum, Chaos. Solche Komponenten sind ewig und erlöscht ein Vertreter, wird ein anderer sie ersetzen. Man kann sie nicht gleich machen. Das ist wider unseres natürlichen Systems.“ Myotismon wartete kurz, ob Sanzomon etwas einzuwerfen hätte, aber sie schwieg. Nun schlug sie ihr Buch zu und behielt ihren Blick aufrecht, die Arme verschränkt auf dem Holz abgelegt. „Die Methoden der Meister der Dunkelheit übersehen, dass auch Dunkelheit und Triebhaftigkeit etwas Lebendiges ist. Zum Lebendigen gehört, dass es sich entwickelt und verändert. Rund um die Uhr wirken die Gewalten von Ordnung und Chaos, Licht und Dunkelheit auf die Digimon und lässt sie wachsen, während sich Licht und Dunkelheit gegenseitig regulieren. Deswegen funktioniert ihre Gleichheit auch nicht. Man kann diese drei Dinge niemals aus dem Leben entfernen. Das ist unmöglich.“ „Was ist dann für dich Gleichheit?“, fragte Sanzomon angespannt. Myotismon lächelte düster. „Die einzige, absolute Gleichheit, die in allen Welten und für alle Wesen omnipräsent ist, ist die Gleichheit des Todes“, erzählte er weiter, mit etwas in der Stimme, dass Sanzomon zu frösteln brachte. „Tod? Sagt du das, weil du ein untotes Digimon bist? Du bist auch nicht gleich mit Phantomon oder deinen Bakemon. Ihr basiert nur auf der Idee von etwas Totem, seid es aber nicht. Nicht ganz zumindest.“ „Physisch und mental mag das zutreffen. Aber weil wir mit einem Fuß im Grab stehen, sind wir fast so etwas wie befreit.“ „Befreit, wie von dem Drang irgendwo hinzugehören?“ Myotismon zögerte kurz bei seiner Antwort. „Von sogenannten Pflichten in diesem System. Von Regeln wie auch Bedürfnissen. Mehr eine paradoxe Lebensform. Darum heißt es ja auch untot. Wir leben auf eine bizarre Weise und sind dem Nahe, auf was alles Leben nun einmal hinausläuft. Wir haben nichts zu verlieren und auch nichts zu gewinnen. Wir passen in diese Dreifaltigkeit nicht wirklich hinein. Wir sind ein unvollständiger Stillstand. Darum hassen Digimon die Untoten so. Wer will sich schon mit dem Endgültigem einlassen?“ Was er sagte klang erschreckend düster. Viel mehr noch wie er es sagte. Hätte Sanzomon dieses Wie beschreiben müssen, sie hätte es mit ihrer Tinte verglichen, die man über die beschrifteten Seiten goss, bis nichts mehr zu sehen war. Nur tiefe, vollendete Schwärze. Und keine Chance das Geschriebene zu retten. Wann hatte er solche Ansichten angenommen? Als Tsukaimon klang er nicht so. Die Gänsehaut kam über sie, aber Sanzomon wollte mehr hören. Also verließ sie ihren bisherigen Platz und setzte sich an die Tischseite direkt neben Myotismon. Um zu sehen, ob sich der Schneesturm in seinen Augen ebenso wie seine Miene verändern würde, um dass, was er dachte nicht nur hören, sondern auch sehen zu können. „Der Tod ereilt uns alle einmal. Im Tod interessiert es keine Macht, ob wir gerecht waren oder nicht, ob wir einen Sinn haben oder nicht. Wir hören irgendwann alle auf zu existieren. Wirwerden zwar wiedergeboren, aber ein erheblicher Teil unserer Daten geht dabei verloren und es besteht immer wie Chance, dass wir selbst dies nicht mehr schaffen, weil unsere Daten krank oder zu alt werden. Jede Welt ist nichts als ein übergroßer Friedhof.“ Sanzomon saß noch angespannter da, den Oberkörper noch weiter nach vorne gelehnt, um nichts in diesem Gesicht zu verpassen, selbst wenn seine Maske einen Teil davon verdeckte. Man sah, dass sie ebenso angestrengt über das Gesagte nachdachte, ebenso auch, dass Myotismon genauso wissen wollte, was sie dachte. Er nahm selbige Sitzpose wie Sanzomon ein und direkt über der Tischecke trafen sich ihre Blicke. „Das ist eine sehr traurige Sicht der Dinge, wenn du mich fragst“, sprach Sanzomon weiter, nachdem es lange still um sie beide war und sie sich nur auf seine Augen konzentrierte. „Bist du deswegen zu so einem Digimon geworden?“ „Du meinst untot?“ „Ich meine, so respektlos den Lebenden gegenüber. Erscheint dir ein Leben so wertlos?“ „Ich sagte doch, es kann befreiend sein, an nichts gebunden zu sein. Nicht einmal an das Leben selbst. Keine Pflichten. Keine Rechte. Keine Regeln. Keine verzweifelte Suche nach einer führenden Hand, etwas, das einen leitet und führt, eine Bestimmung... Und dann kann man sich sein kleines Wunderland, das man im Kopf hat leicht selbst kreieren.“ Auch wenn seine Aussprach noch schwärzer und schwerer klang wie ihre Tinte, sie blieb dabei, dass diese Ansicht mehr wie traurig war. So leer und nichtig – so tot eben – , selbst wenn man berücksichtigte, dass Myotismon von sich behauptete ein Befürworter des Nihilismus zu sein. So morbid hatte sie diese Philosophie nicht in Erinnerung. „Ist eine solche Ablehnung dem Leben gegenüber nicht zu einfach? Ohne zumindest den Versuch zu wagen seine Chancen zu ergreifen?“ „Diese wären?“, fragte er herausfordernd und beugte sich etwas tiefer zu Sanzomon. „Chancen, etwas aus sich zu machen, nachdem man von Digimon, die man als Familie sah abgelehnt wurde. Oder, nachdem man sein Gedächtnis an seine Vergangenheit verlor sich zumindest eine Zukunft aufzubauen.“ Sanzomon beugte sich etwas näher zu Myotismon und rückte mit ihren Armen nach vorn, bis sie seine berührte. Draußen war es Nacht geworden und eigentlich hätte Myotismon längst seiner Arbeit nachgehen müssen, aber er blieb sitzen. „Das ist das Leben also für dich? Chancen nutzen, die irgendwelchen moralischen Regeln unterliegen? Eine Wahnvorstellung, dass ein jedes Digimon eine Bestimmung hat?“ „Oder selbst eine finden. Deswegen suchen wir doch nach dieser – nach jenen Ort, wo wir hingehören. Selbst Digimon brauchen das, egal ob sie jetzt nur Daten sind oder nicht.“ „Und das hier ist jener Ort, den du suchtest?“ „Ja. Schließlich suchte ich als Tinkermon danach“, antwortete sie, bekam aber als Antwort erst wieder nur ein Lachen. „Regeln und Moral sind die Feinde der Freiheit.“ „Aber die Helfer für Sicherheit.“ „Also gibst du zu, dass Freiheit und Sicherheit, ähnlich wie Ordnung und Chaos nicht zu einem werden können?“ Grinsend lehnte sich Myotismon in seinen Stuhl zurück, die Hände ineinander gefaltet. „Ja, sie sind nicht vereinbar. Aber sie können durchaus koexistieren und dazu benötigt es eine Balance, aber eben durch Regeln. Genau wie Ordnung und Chaos. So viel Freiheit wie möglich, um Ideen ausleben zu können, aber so wenig Regeln wie nötig, dass eben kein Digimon fürchten muss, diese Ideen umzusetzen.“ „Und wer bestimmt über diese Regelung und ihre Notwendigkeit? Wer bestimmt was Moral ist? Eine einzelne Obrigkeit?“ Myotismon löste seine Hände voneinander, eine Hand schwenkte er dabei zur Seite. „Höhere Existenzen im Namen des Volkes? Du weißt, die Apartheid begann auch mit ihrem Gerede von Regeln und Moral, die den Typen Privilegien in unterschiedlichen Maßen zusprachen.“ „Die Hohen Digimon haben ihre Freiheiten ausgenutzt. Sie haben ihre eigenen Regeln missachtet. Deswegen geriet die serumische Politik ins Unglück. Wer sich nicht an seine eigenen Regeln hält oder an seine Pflichten, die man als Obrigkeit – Nein, als Digimon anderen Digimon seines Schlages hat, warum sollte man dann erwarten, dass andere Digimon diesen folgen, wenn diese nur Leid bringen?“ „Für was dann überhaupt Regeln und Moral?“ Sanzomon schnaufte. Die Diskussion war anstrengend und Myotismon mehr wie nur hartnäckig. Das Pochen in ihrer Brust war so stark, dass sie es bis in ihre Finger spüren konnte. Aber es war ein angenehmes Pochen. Daten, die wie Adrenalin in ihrem Körper wirkten bewegten sie aber dazu nicht klein beizugeben oder Myotismon einfach so das letzte Wort zu schenken. Das und der unmittelbare Wunsch, ihn auf der Stelle küssen zu können. Stattdessen aber entschied Sanzomon ihren Rücken durchzustecken und ihren Kopf hoch zu halten. „Weil Regeln und Moral der Triebhaftigkeit ihre Grenzen setzt, genau wie Licht und Dunkelheit das auch tun. Sie garantieren die Basis für ein soziales Miteinander, egal ob unter gleichen oder unterschiedlichen Typen oder Rassen. Und auf diesem Grundstein ist es möglich etwas aufzubauen. Oder möchtest du mir sagen, dass du deine Gefolgschaft ganz ohne Regeln führst?“ „Aber gewiss nicht“, antwortete Myotismon und klang dabei sehr amüsiert. „Aber wir leben für uns. Wir sind eine kleine, untote Gruppe und existieren einzig für uns alleine. Wir untereinander funktionieren. Wir unter anderen Digimon – Ich muss es nicht erklären, oder? Und du kennst unseren schlechten Ruf.“ „Das haben ich und meine Schüler auch. Zusammen haben wir voneinander gelernt, haben Ansichten angenommen und andere erweitert. Und auf dem haben Gokuwmon, Cho-Hakkaimon, Sagomon und ich dies hier aufgebaut. Nicht mit Steinen, aber mit Regeln, mit Aufgaben. Mit Zielen. Vielleicht kannst du das auch?“ Sanzomon fand ihre Worte selbst etwas zu kitschig formuliert und Myotismon merkte man an, dass er es ebenso empfand. Aber er dachte darüber nach. Seine Mundwinkel bewegten sich nach oben, seine Eckzähne wirkten sogleich viel länger. „Vielleicht kann ich das wirklich.“ Das Lächeln auf seinen Lippen war zwar mit dem, mit dem er seine Häme gerne zum Ausdruck brachte ähnlich, aber doch irgendwie anders, wie Sanzomon für sich feststellen wusste. Er hatte einen Hintergedanken, vielleicht sogar schon klare Vorstellungen. Sanzomon hätte zu gern gewusst welche, aber Myotismon würde sicher nicht damit so direkt rausrücken. Vielleicht war das vorerst auch besser. Wie er sie ansah machte sie doch noch etwas nervös. Diese Zweideutigkeit, die sie nur schwer einordnen konnte. Aber beirren lassen durfte sie sich auch nicht. „Wusstest du, als du damals fort gingst, wie dieser Ort aussah, den du suchtest?“, fragte Sanzomon, ganz erwartungsvoll, so finster Myotismons Gerede war und kam ihm wieder etwas näher. „Ist das so interessant für dich? Ich suche nicht mehr danach. Es ist also irrelevant.“ „Ich würde es dennoch sehr gerne wissen.“ „Da könnten aber sehr düstere und sehr anstößige Dinge mitunter sein.“ „Damit komme ich klar.“ „Auch wenn Blumen und Nonsens-Reime gänzlich fehlen?“ „Das macht nichts.“ „Du bist viel zu neugierig, ehrfürchtige Hohepriesterin. „Ich weiß.“ Beiden war nicht ganz bewusst gewesen, dass sie mit jedem Satz, der ausgesprochen wurde immer näher aneinander rückten. Die Oberkörper so weit nach vorne gebeugt, das sich ihre Wangen berührten und es fühlte sich gut an, dass die Kälte, die von ihm ausging Sanzomons warm gewordenes Gesicht etwas abkühlte, genauso wie seinen Geruch einzuatmen und zu hören, dass er das gleiche tat. Sie hörten kurz wie die Tür aufging, gerade als Sanzomon ihn küssen wollte, auch wie ein Digimon noch „Entschuldigung, ich w-wusste nicht das - “, stotterte und sofort wieder ging. Sanzomon war so weit weg von der Realität gewesen, dass sie nicht mal wusste welches Digimon sie da gestört hatte und sie und Myotismon, der scheinbar auch nicht mitbekommen hatte wer es war, nichts weiter tun konnten, als sich fragend anzuschauen. „War das einer deiner Schüler oder einer meiner Untergebenen?“ „Ich… habe nicht darauf geachtet“, seufzte Sanzomon und sie dachte an Gokuwmon, Cho-Hakkaimon und Sagomon und erinnerte sich an ihre Blicke zurück, einer Mischung aus Wohlwollen und Skepsis. Cho-Hakkaimon stachelte sie nach ihrem Geständnis. Ihr war es immer noch peinlich, obwohl alle drei betonten, dass dies einem Digimon niemals sein sollte. Gokuwmon und Sagomon blieben dennoch etwas zurückhaltender mit ihrem Enthusiasmus. Sagomon hatte im Krieg bereits schlechte Erfahrungen mit untoten Digimon gemacht und Gokuwmon war von Natur aus extrem skeptisch. Ein Krieger musste seiner Auffassung nach immer skeptisch sein. Aber, so sagten sie, für ihren Meister würde sie ihrem Schlossgespenst, wie sie Myotismon hin und wieder heimlich bezeichneten gerne eine faire Chance geben und ihr Misstrauen und ihre Bedenken auf ein Minimum reduzieren. „Was denkst du -“, fragte Sanzomon, nachdem sie für einige Sekunden in Gedanken versunken war, „ - würden Jijimon und Babamon sagen, wenn sie hiervon wüssten?“ „Vermutlich gar nichts. Vermutlich hätten sie uns beide eine… schwere Lektion erteilt.“ Beide konnten es sich lebhaft vorstellen. Bei Jijimon vielleicht weniger. Zwar trainierte er die aufgenommen Digimon im Kampf, so wie Gokuwmon und Sagomon es nun taten, aber er beschränkte seine Kräfte wirklich nur auf das Training und war auch ein Pazifist, wie es Sanzomon war. Babamon hingegen hätte so lange mit dem Besen auf sie eingedroschen und geschimpft, bis sie wieder zu Rookies zurückdigitiert wären und sich das Thema erledigt hätte. Die Bedeutung von Gefühlen wie diesen, von Anziehung oder ähnlichem begriffen die meisten Digimon zumeist mit dem Champion-Level. Intensivere Gefühle,insbesondere die einhergehende körperliche Anziehung entstanden erst mit dem Ultra-Level und das nur bei humanoiden Digimon. „Meinst du, sie wurden wiedergeboren?“ „Vielleicht. Nur werden sie sich nicht mehr hieran erinnern. Das sind die großen Tücken der Wiederherstellung.“ Myotismon glaubte wirklich nicht an eine Seele, dass wurde Sanzomon nun deutlich bewusst, schon wie er Wiederherstellung sagte, statt Wiedergeburt. „Selbst wenn, würde es Ewigkeiten dauern, bis sie wieder so sind, wie sie zuvor waren“, fügte er noch hinzu. Diese Erkenntnis war Sanzomon zwar bewusst, aber es machte sie traurig. Digimon konnten sagen was sie wollten, trotz der Tatsache, dass sie nach ihrer Vernichtung wiederkehrten, das, was sie ausmachte war wieder bei Null. Im Grunde starben Digimon doch. Die Erinnerungen an Jijimons und Babamons Tod kamen wieder in ihr hoch, gerade als Myotismon bemerkte, dass es längst dunkel war und er schließlich eine Pflicht zu erfüllen hatte. Beim Aufstehen streifte seine Hand noch über Sanzomons Gesicht. Die Berührung holte sie aus ihrer kurzen Trauer. Sie hinderte Myotismon am Gehen, indem sie ihn an seinem Ärmel packte. „Kommst du Morgenabend wieder vorbei?“, fragte sie fast zu sehnsüchtig und sie ihn dabei in die Augen sah, in denen sich das Kerzenlicht spiegelte. „Nachdem wir beide offensichtlich nicht die selben Meinungen teilen?“ „Das ist egal. Ich teile auch nicht jede Meinung meiner Schüler und sie auch nicht immer meine. Aber wir respektieren einander und oftmals sind gegensätzliche Ideen und Vorstellungen die, die einen am meisten bereichern.“ Eine der Kerzen ging aus und tauchte die Bibliothek in ein dunkles Rotorange, zumindest dort, wo das Licht hinfiel, wie in Myotismons Augen, an denen sich Sanzomon kaum satt sehen konnte. Nur zögerlich und wieder mit dem Gefühl, dass ihr Gesicht rosa wurde, brachte sie ihre Worte heraus. „Ich… möchte mehr von dem hören, was du denkst.“ „Du willst also wirklich mehr von Tod und Friedhöfen hören?“ „Willst du denn mehr von Moral und Wunderländern hören?“ Obwohl es durchaus albern klang, schien Myotismon darüber nachzudenken, bückte sich leicht nach vorn, um Sanzomon besser anschauen zu können. Und er schien mit ihrer Idee zu sympathisieren. „Dann bis Morgenabend, zur selben Zeit“, und mit einem kurzen Lächeln - aber nicht seinem hämischen - gab er Sanzomon noch einen kurzen Kuss, eher er den Raum verließ. Trotz allem, dass ihr Halstuch zwischen ihren Lippen war, hatte sie alles ganz deutlich spüren können. Noch während sie sich fragte, ob etwas von Myotismons Geruch an ihrem Halstuch hängen geblieben war, drehte er sich noch einmal um und stand wieder vor ihr. „Nach getaner Nachtarbeit bekommen ich aber wieder eine Belohnung von dir, oder?“ „Hattest du die nicht heute Morgen schon?“, fragte Sanzomon, aber nicht schüchtern, nicht verlegen und das überraschte Myotismon dann doch etwas, wenn auch positiv. Sie wirkte selbstbewusst und stand gerade und mit erhobene Brust vor ihm. Seine Arme verschwanden hinter dem Rücken, ihre daraufhin ebenso. Einzig ihr Größenunterschied von fast mehr einem ganzen Kopf störte diese Symmetrie. Sanzomon musste zu ihm hochblicken und Myotismon sich weiter etwas hinunterbeugen. „Über deine Lippen kommen eben interessante Vorstellungen und Gedankengänge ans Licht. Trotz deiner Nonsens-Ferse, scheint da doch sehr viel hinter deinen Worten verborgen zu sein. Und Verborgenes hat nun einmal seinen Reiz, dem man schwer widerstehen kann.“ Das Wort, was er wohl versuchte zu umschreiben, war Neugierde. Ihr ging es schließlich nicht anders. Genauso wie Sanzomon hören wollte, was in seinem Kopf vorging, wollte sie die süße Fäulnis schmecken, die diesem Kopf gehörte und sie nicht mehr so sehr an das Dasein als Untoter erinnerte. Es störte sie nicht. „Dann bis Morgenfrüh, zur selben Zeit.“ Dieser Satz sollte nun immer nach einem Treffen zwischen ihnen beiden fallen. Was erst als kleiner Zeitvertreib gedacht war, entwickelte sich zu einer täglichen Tradition. Da Tag und Nacht ihren Pflichten gehörten, blieb ihnen hierfür nur die kurze Dämmerungszeit. Was sie sagen mussten, um ihre Diskussionen und ihren Meinungen den richtigen Ton zu geben lernte sie schnell. Die Gespräche gingen in tiefere Ebenen und wurden vertrauter. Es war nicht nur wie früher, sondern fühlte sich für Sanzomon noch intensiver an. Mit jedem Mal war sie sich sicherer, es war das Richtige ihre Gefühle zu offenbaren. Sie war verliebt. Bei allen Himmeln, sie war so verliebt.   𝅗𝅥 Sanzomon kam mitten in der Nacht zu sich. Es war stockfinster, aber das realisierte sie erst, als sie sich die Augen rieb. Kurz darauf überfiel sie die Erkenntnis, dass sie noch in der Bibliothek war. Allein. Wie ungewohnt. Seit Wochen hatte Sanzomon kaum mehr Zeit hier allein verbracht. Sonst war immer Myotismon neben ihr gesessen, hatte sich mit ihr unterhalten und hin und wieder einen kurzen Blick in ihre Machwerke geworfen (und sich nicht selten darüber amüsiert). Er war etwas früher zu seinem Dienst angetreten, versprach aber nochmal zu ihr zu kommen. Doch er war nicht zurückgekehrt, ansonsten wäre Sanzomon auch nicht hier. Er hatte es sich in den letzten paar Wochen zur Angewohnheit gemacht, sie bei ihren Schülern abzugeben, wenn sie bei der Arbeit einschlief und manchmal hörte sie ihn im Halbschlaf über diese Peinlichkeit spotten. Manchmal gab sie sogar Widerworte, was nicht mehr wie Gemurmel war, dennoch gab Myotismon ihr immer Antwort, Zuspruch oder Kontra. Einmal, als Myotismon sie Gokuwmon überreichtem nachdem er sie erneut im Halbschlaf irgendwo aufgabelte, nicht wissend für was sie ihre ganze Kraft verbrauchte, fragte Gokuwmon erstaunt, ob er das wirklich verstehen würde, was sie da im Schlaf plapperte. „Nicht ein Wort“, hatte Myotismon darauf nüchtern geantwortet. Doch an diesem Abend saß sie seit langem einmal wieder alleine in ihrem dunklen Arbeitszimmer und würde alleine den Weg in ihr Gemach finden. Nochmal sah Sanzomon auf ihre Unterlagen, an denen sie weiter gearbeitete hatte, während sie auf Myotismon wartete, wenn Schmierzettel eine treffendere Bezeichnung gewesen wäre. Sie waren voll mit Schlagwörtern, die Sanzomon wild über das Papier geschrieben hatte, mit Formeln und Randbemerkungen, die sie fast selbst nicht mehr entziffern konnte. Die Daten der nächsten auserwählten Digiritter waren in dieser gedruckten Form nicht mehr wie ein Wirrwarr aus Symbolen und Zahlen. Herauszufinden welche davon besonders präsent waren, war nicht so schwierig, wenn man einmal den Dreh raus hatte und mehr wie simple Mathematik und ein paar gute Sprachkenntnisse waren nicht von Nöten. Problematisch war in eben jener markanten Tugend die Zusammenhänge zu anderen Eigenschaften zu erkennen, die davon angetrieben wurden oder eben besagte Tugend förderten. Oder Erinnerungen. Oder Entscheidungen. Schwierig, aber machbar. Das Rätsel für Sanzomon blieb nur, wie eben diese Tugend das Licht im Herzen erwecken sollte. Oder sollte das Licht der Tugend Macht verleihen? Was war es dieses… Etwas? Dieses gewisse Etwas? Was war es, was einem die Erkenntnis gab Etwas zu erkennen? Sanzomon rieb sich die Schläfen. Sie sollte langsamer arbeiten (ihre Schüler warnten sie bereits oft genug vor Überarbeitung und die Sorge kam nicht von ungefähr), sich Zeit lassen zum nachdenken. Sie hatte vor ein paar Tagen das vierte Wappen fertig bekommen und an dem Fünften würde sie frühstens weiter machen können, wenn Gennai wieder genug Digizoid hatte, um das dazugehörige Amulett schmieden zu können. Geschweige denn, dass er noch drei herstellen musste. Ihr blieb also noch etwas Zeit. Sanzomon versteckte ihre Unterlagen in einem kleinen Spalt, der sich in einem der Bretter eines Bücherregals befand und blies die letzte Kerze aus, ehe sie den Raum verließ. Nun, da sie auf den Beinen war und nachdachte, war sie nicht nur nicht mehr so müde, sondern wünschte sich ein Digimon her, dem sie von ihren Gedanken erzählen könnte, dafür aber würde es zu spät sein. Cho-Hakkaimon und Sagomon schliefen selbst schon und Sanzomon wollte sie nicht wecken, weil sie selbst das Bedürfnis nach einer Unterhaltung hatte. Sie schaute, ob Gokuwmon bereits da war, aber sein Bett war leer. Immer noch. Sie machte sich Sorgen. Er wollte doch nur ins Reich von ShogunGekomon, verhandeln, Ware eintauschen und wieder zurückkommen. Bei Gokuwmons Tempo hätte das wenn zwei Tag gedauert, aber nun waren es schon drei und das gefiel ihr nicht, auch wenn Verspätungen seitens Gokuwmon keine Seltenheit waren. Doch gerade nachdem, was dem armen Bakemon zugestoßen war... Aus dem Gang hinter ihr hörte Sanzomon Schritte. Als sie ihren Blick über die Schultern warf, sah sie erst niemand, aber die Schritte wurden lauter. Dann schließlich lief Sistermon Noir schlaftrunken um die Ecke, mit dem weinenden SnowBotamon im Arm. „Hohepriesterin? Ihr seid noch auf?“ „Das könnte ich dich genauso fragen.“ Sistermon Noir öffnete den Mund, aber nur ein Gähnen kam heraus. SnowBotamon blieb weiter in ihrem Arm, schluchzend. „SnowBotamon hat mich geweckt. Vermutlich hat es schlecht geträumt und hat sich dabei in unser Zimmer verirrt. Es schläft aber nicht mehr ein“, erklärte Sistermon Noir müde, schaukelte das verheulte Baby-Digimon etwas. Was immer es geträumt hatte, es hatte SnowBotamon ziemlich aufgewühlt. Vermutlich ein böser Traum, wie es von der Stadt des Ewigen Anfangs gewaltsam fort kam und dann im Nirgendwo landete. Passierte schließlich häufig, da passte man nicht auf und wurde als mögliche Mahlzeit geschnappt und fortgetragen und wenn einem die Flucht gelang landete man irgendwo an einem fremden Ort. Oder man hatte diesen Ort, wo man hingehörte, bis die Meister der Dunkelheit diesen zerstörten. Oder man wachte dort auf, wo einst die Digimon wiedergeboren wurden und musste feststellen, dass man sich bei seiner Geburt nur zwischen Trümmern befand. In Zentrum Servers stand eine Stadt, die Stadt des Erwachens, wo Digieier erschienen und Baby-Digimon geboren wurden. Eins der wenigen Dinge, dass von der Apartheid übrig blieb, wenn dieser Ort nicht gar noch älter war. Diese Stadt war vermutlich sogar, wie all die Städte und Dörfer der Digiwelt wo Baby-Digimon geboren wurden noch aus der Alpha-Ära. Doch die Dunkelheit zerstörte die Stadt. Baby-Digimon kamen nur noch selten zur Welt, zum Wohlwollen der Meister der Dunkleheit. Weniger Digimon hieß weniger Probleme. Wenn dann Digimon hier auf Server geboren wurden, schlüpften sie irgendwo hier auf diesen Kontinent. Allein. „Ich kann es für dich weiter in den Schlaf wiegen, Sistermon Noir.“ „Aber Hohepriesterin -“, sprach Sistermon Noir, sie wurde von einem Gähnen unterbrochen. Sanzomon nahm ihr das Baby-Digimon ab, kaum dann begann sie mit ihren Armen sachte das Baby-Digimon zu wippen. „Kein Aber. Du bist Morgen mit den Feldarbeiten dran. Du musst ausgeruht sein, wenn du auf die Ausbildungs-Digimon aufpassen möchtest“, erklärte Sanzomon, Sistermon Noir nickte nur. „Okay... Und Ihr?“ „Ich kann ohnehin nicht schlafen. Ob ich mich jetzt noch schlafen lege oder nicht, ist gleich. Geh zu Bett. Vielleicht bist du nach deiner Arbeit dann auch wach genug, um an meinem Unterricht teilzunehmen.“ Sistermon Noirs überraschtes Aufblinzeln sah Sanzomon erst nicht, da sie SnowBotamon in die verheulten Knopfaugen sah und mit ihren Finger die kaum vorhandenen Gesichtskonturen entlang streichelte, bis es weniger traurig wirkte. Als sie wieder Sistermon Noir ansah, war deren Verblüffung fort, aber sie wirkte genauso wenig enthusiastisch wie zuvor. „Nicht?“ „Doch. Gerne, aber -“ „Du möchtest nicht ohne deine Schwester die Lehre beginnen, oder?“ Sie sagte nichts, aber wie Sistermon Noir den Kopf hängen ließ war Antwort genug. „Sistermon Blanc ist noch nicht so weit. Wir hatten ein sorgloses Leben, bis die Armee der Meister der Dunkelheit alles zerstört hat. Ich bin nicht einmal das Sistermon Noir, dass von Geburt an an ihrer Seite war. Wir haben unser passendes Gegenstück verloren. Ich versprach ihr, an ihrer Seite zu bleiben, wie es ihre richtige Schwester getan hätte. Wenn ich ohne sie die Lehre beginne, denkt sie vielleicht, ich lasse sie im Stich. Das möchte ich nicht.“ Sistermon Noir rieb sich über den Arm. Eine Gänsehaut überkam sie. „Piedmons Gesicht werden wir nie vergessen. Ich werde ihm nie vergeben für den Tod meiner Schwestern und für den Tod Ophanimons. Er hat die Stadt des Erwachsen mit Dunkelheit besudelt.“ Sanzomon versuchte resigniert zu wirken, doch ihre Finger krampften. Sie verstand durchaus, das Ophanimon unter den Sistermon und anderen heiligen Digimon großes Ansehen genoss. Selbst Cho-Hakkaimon, die von ihr selbst verbannt wurde verlor kein allzu schlechtes Wort über sie. Jedoch war sie einst die Krone der Apartheid und an vielen Dingen mitschuldig, auch wenn sie all die Jahre nach dem Fall der Apartheid sich komplett zurückzog und sich an den Rassenkriegen kaum beteiligte, da sie das Interesse an Politik gänzlich verlor, so hieß es. Sie zu töten jedoch empfand selbst Sanzomon als falsch. „Vergebe und vergesse nicht. Aber Wut ist das falsche Motiv, merke dies. Eine Emotion ist nur so lange lehrreich, wenn sie das rationale Denken nicht übernimmt“, erklärte Sanzomon ihr ernst. Das erschrak einige Digimon manchmal, wenn Sanzomon so genau, klar und wenig emotional sprach, aber aus vollster Überzeugung, was sehr selten geschah. „Was soll ich dann tun?“ „Lernen. Selbst und vielleicht wenn du auch am Unterricht teilnimmst mit Sistermon Blanc. Möglicherweise hilft es, wenn auch sie einen Anreiz hat. Ein Digimon zu dem sie aufsehen kann und sie ermutigt, den nächsten Schritt zu vagen. Ich sage nichts, wenn Digimon Zeit brauchen und unsicher sind, wohin es sie verschlägt, aber irgendwann müssen wir alle beginnen zu reifen.“ Schweigen. Sistermon Noir stimmte Sanzomon zwar zu, aber es hob ihre Laune nicht. Sobald sich zwei Sistermon fanden, digitierte die eine zu Sistermon Noir und blieb an der Seite der anderen. Auch wenn dieses Sistermon Blanc nicht ihre Digitation ausgelöst hatte – Sistermon Noirs echte Schwester war vernichtet worden, sowie Sistermon Blancs Schwester auch, die sie beschützen wollte – spürte sie eine gewisse Verbundenheit. Sie waren sich grün, obwohl Sistermon Blanc ängstlich und schüchtern war. Sie war verspielt, lies sich führen und leicht beeindrucken. Das war schon süß. Sie waren nicht zwei Seiten einer Medaille, eher zwei Stücke, die aneinander geklebt wurden, aber es passte irgendwie doch zusammen. „Ich verstehe, dass du warten willst“, seufzte Sanzomon etwas. „Und ich helfe dir. Wenn Sistermon Blanc von selbst mit der Lehre anfangen will, wurdest du dann auch beginnen?“ „Was habt Ihr vor, Sanzomon?“ „Lass dies meine Sorge sein. Ich überlege seit längerem, wie ich Cho-Hakkaimon etwas fordern könnte. Ihr fehlen Erfahrungen, die Gokuwmon und Sagomon bereits durchlebt haben. Vielleicht lassen sich zwei Probleme zu einer Lösung vereinen.“ Sanzomon lächelte unter ihrem Halstuch und Sistermon Noir tat es ihr gleich. Anders wie Gokuwmon und Sagomon fehlte Cho-Hakkaimon der Sinn für Verantwortung und Eigeninitiative. Aber sie kam sehr gut mit den beiden Sistermon aus. Daraus ließe sich etwas machen. „Habt Ihr denn Zeit für so etwas, Meister Sanzomon?“ „Ich werde Zeit finden.“ „Ich meinte nur, na ja, wegen...“, stotterte sie und allein als Sanzomon sah, dass Sistermon Noir wegschaute und rot im Gesicht wurde wusste sie, auf was sie hinaus wollte. „Nur weil ich auch Zeit mit Myotismon verbringe, lasse ich meine Arbeit nicht liegen. Meine Pflichten sind mir ernst, ihr müsst also keine Angst haben, dass ich diese liegen lasse.“ „Oh, das dachte ich gar nicht. Um ehrlich zu sein, würde es uns nichts ausmachen, wenn Ihr eure Arbeit etwas reduziert. Wisst Ihr, seit man Euch öfters mit Myotismon sieht, wirkt Ihr entspannter.“ Mit uns tippte Sanzomon auf Cho-Hakkaimon und die beiden Sistermon. Gokuwmon, Sagomon und Sirenmon würden sich zwar auch nicht beklagen, wenn Sanzomon mit ihrer Arbeit einen Schritt kürzer trat, allerdings würden sie ihr nicht empfehlen, die gewonnene Freizeit noch mehr mit diesem Vampir-Digimon zu verbringen, dem sie nur so viel Vertrauen schenkten, wie sie es als nötig empfanden. Über diese Digimon gab es einfach zu viele negative Geschichten und Gerüchte. Zur Apartheid gab es viel mehr Myotismon. Ihr Sadismus war bekannt, ihre Hinterlist und natürlich der Blutdurst. Sie waren Strategen darin Digimon um sich zu sammeln, Macht und Reichtum aufzubauen, waren selbst eher unparteiisch und lebten nur für sich, aber benutzten Kontakte zu anderen Digimon, um ihre Interessen durchzusetzen. Kein Digimon wusste wie stark sie sein konnten, aber angeblich haben selbst die hohen Serums sie gefürchtet. Für Sanzomon wollte sich immer noch nicht erschließen, wie ihr alter Freund seine Wege zu solch einer Digitation fand, die als aus der Digiwelt verschwunden galt. „Geh nun schlafen. Es ist spät“, sagte Sanzomon, SnowBotamon schniefte wieder und jammerte, weinte aber noch nicht. Sistermon Noirs „Gute Nacht“ ging in einem Gähnen verloren, dann erst ging sie langsamen Schrittes zurück in ihr Gemach, während Sanzomon sich nun SnowBotamon widmete. Es weinte kaum mehr, nur das Wimmern und Schniefen kam in unregelmäßigen Abständen wieder hoch. Tränen liefen über sein Gesicht, wie damals, als Sanzomon es in einem kleinen Loch in einer Schlucht fand, wo es sich versteckte, aber nicht mehr alleine herauskam und vielleicht gestorben wäre, hätte sie es bei ihrer Patrouille um die Bergkette nicht zufällig entdeckt. SnowBotamon war zu jung um sich bewusst daran zu erinnern wo es geschlüpft oder zuvor gewesen war. Aber als Albträume getarnt kamen diese Erinnerungsfetzen wieder hoch. „Hab keine Angst. Ich bin bei dir. Mach ruhig die Augen zu und schlafe bis Morgenfrüh. Morgen wird wieder ein guter Tag sein, an dem du spielen kannst.“ SnowBotamon starrte lange in Sanzomons Augen. Es verstand nicht, welche Motivation dieses humanoide Digimon hatte, weshalb oder warum sie bestimmte Dinge tat und auch die Bedeutung der Worte begriff es nicht. Aber Sanzomon besaß warme Hände und eine weiche Stimme, die Geborgenheit garantierten. Einige Male lief Sanzomon die Gänge, nur erhellt von blauen Mondlicht auf und ab, begann das kleine Digimon in ihrem Armen etwas zu schaukeln, bis es zu Schluchzen aufhörte und sich mit den Bewegungen tragen ließ. Erschöpft, aber nicht müde vom Weinen drückte SnowBotamon sich enger an Sanzomons Brust und lauschte ihrem Summen und Gesang von Kinderliedern, die sie selbst alle von Babamon erlernte. Selten jedoch fragte Sanzomon sich, woher Babamon diese Lieder kannte. „Der Sandmann kommt im Zug samt Wa-gen, die Fenster aus Mondlicht, von Stern'n getragen. Still, mein Kleines, hab keine Angst in der Na-cht, der Mann im Mond hat all die Wunder er-dacht.“ Zusammen mit dem sachten hin und her Wiegen, fiel auch SnowBotamon schließlich nach langer Zeit doch der Dösigkeit zum Opfer, aber Sanzomon wagte es noch nicht dass schlafende Digimon wieder zu seiner Wiege zu bringen. Sie schlang ihren eigenen Schal so um SnowBotamon, dass es darin sicher einwickeln war und drückte es an sich. „Irgendw-o über dem Regenbo-gen, wo man die Sterne si-eht. Da gibt es ein Land von dem ich hö-rte einst, in einem Wiegenlied.“ Zusammenhangslose Geräusche ertönten zwischen ihrem leisen Gesang. SnowBotamon plapperte irgendwas vor sich hin, aber war für ganze, deutliche Sätze noch zu klein, aber dass würde sich mit der Zeit ändern. Sanzomon war erst einmal erleichtert, dass es sich hat beruhigen lassen. Und dass es nur SnowBotamon war, sie hatte schon Nächte hinter sich, wo sie in ein ganzes Zimmer voller schluchzender und weinender kleiner Digimon hineinkam und die Nacht dort blieb, manchmal sogar ihre Schüler wecken musste. Dann saß sie zwischen gut eindutzend Digimon, hielt sie fest, streichelte sie und sang ihnen etwas vor, hin und wieder ließ sie sich auch zu Geschichten hinreißen, denen sie lauschen konnten. Das hatte sie schon lange nicht mehr, ging es Sanzomon durch den Kopf, während sie weiter SnowBotamon schaukelte. Es war schon lange nicht mehr nötig gewesen. Seit sie die Bakemon als Spielkameraden zweckentfremdete, waren sie in der Nacht zu erschöpft für Albträume und die Ausbildungs-Digimon schliefen fast immer ruhig und selig. Schade eigentlich, sie mochte die Geschichten, die sie von Jijimon und Babamon erzählt bekommen hatte. Ihre Liebste, neben Alice im Wunderland selbstverständlich, war die über das Rosemon. „Es war einmal…“, fing Sanzomon an zu murmeln und schaute dabei aus dem Fenster. Der Mond schien so hell, dass man ihn deutlich hinter der Nebelwand sah. Die Nacht war tiefblau und Dank dem Mond hell. Sanzomon verlor sich bei diesem Anblick, während der Rest der Geschichte nur in ihrem Kopf erzählt wurde. Es war einmal, zu einer Zeit des Ungleichgewichts ein mächtiges Rosemon und weil sie wusste, dass sie mächtig war kniete sie weder vor dem Dunklen nieder, noch ließ sie sich mit dem Licht mitreißen. Sie lebte, wie es ihr beliebte und ließ sich aufgrund ihrer Stärke und ihrer Schönheit von allen anderen Digimon verehren oder verfluchen. Aber eben weil Rosemon war, wie sie war, war sie auch recht einsam und die Digiwelt war ihr so gut wie gleichgültig, solange sie keinen Nachteil erfuhr und man sie in Ruhe leben ließ. Eines Tages aber kreuzte ein Wisemon ihren Weg. Ein sehr komisch gestricktes Digimon, wie sie fand, dass aufgrund seiner großen Neugier und Offenherzigkeit weder bei seinesgleichen noch bei anderen Digimon einen Platz fand und als dämlich und irre betitelt wurde, obwohl er nicht mehr wollte wie sein Wissen zu erweitern und dem, was er bereits wusste Kund zu tun. Und er fand jenes Rosemon, dass seine ohnehin große Neugier weiter entflammte. Auch Wisemon verehrte Rosemon, nicht aber weil sie stark oder schön war, sondern wegen etwas, was sie nicht ganz verstand. Da Wisemon ein Störenfried war sollte er hingerichtet werden, aber Rosemon entschied sich ihn mitzunehmen, hoffend er wäre trotz seiner komischen Art für einen Zeitvertreib zu gebrauchen. Am Anfang teilten sie sich nur Tisch und Bett wenn Rosemon danach war und ihr erkaufter Leibeigener ließ es über sich ergehen ohne sich ein einziges Mal zu beschweren. Irgendwann aber begann sie ihn nicht mehr zu ignorieren oder nach einer gemeinsamen Nacht wieder fortzuschicken, sondern zuzuhören. Wisemon erzählte, er käme aus einer anderen Welt, hätte dort Magie studiert, doch der Wunsch mehr zu sehen brachte ihn in viele Welten, auch in diese. Aber nach vielen Jahren des Alleinseins sei er auf der Suche nach jenem Ort, wo er Ruhe finden würde und von dem, was er erlebt hatte anderen zu verkünden. Rosemon hörte ihm zu, hörte ihm sogar sehr gerne zu, von all den Dingen, die er schon sah und hörte, die aus seinem Mund wie Märchen klangen und ertappte sich dabei, wie sie sich von seiner Faszination für alles mitreißen ließ - auch wenn sein Kopf nicht mehr wie ein Schatten unter eine Kapuze mit zwei gelb glühenden Augen war - , sei es noch so banal. Sie zeigte ihm die geheimen Winkel der Digiwelt, egal wie schön oder abstoßend sie waren, mit dem Ziel vielleicht jenen Ort zu finden, nach dem Wisemon sich sehnte und auch Rosemon, nachdem sie so lange von ihrer eigenen Gleichgültigkeit eingenommen war. Jedoch sollte es nicht lange dauern, bis sie merkten, dass, egal welchen Ort sie suchten und fanden, solange sie beide zusammen waren, war jeder Ort der Richtige. So blieben sie zusammen und der Mann im Mond, der auf dieses ungleiche und doch interessante Gespann aufmerksam wurde, in einer Welt die Ungleichheit strafte, schenkte ihnen das Glück von sieben kleinen Gänslein, die so schön musizieren konnten und den ganzen Tag Lieder für ihre Mutter Gans sangen. Selbst, als Rosemon und Wisemon ihre Kräfte und Jugend für eine längere, gemeinsame Zeit einbüßten, blieben sie unzertrennlich, wie er ihr einst Schwur, besiegelt mit einem blauen Lavendelstrauß. Sanzomon mochte diese Geschichte und wurde immer ganz rührselig, wenn sie daran dachte. Unzertrennlich bis ans Ende. Ein ewiges Versprechen. Welch schöner und romantischer Gedanke, den sie versuchte ihren Schützlingen mitzugeben, wenn Gokuwmon insbesondere solch eine Idee überaus kitschig wie zu optimistisch empfand. Außerdem verstanden Baby-Digimon das doch gar nicht. Fünfundzwanzig Digimon zog Sanzomon gleichzeitig groß und wären die Wappen vollständig, und damit auch die Digieier für die acht auserwählten Kinder, würde sie diese besonderen Digimon auch hier großziehen, bis die Digiritter hierher kämen, würde ihnen die gleichen Lieder vorsingen und die gleichen Nonsens-Reime und Märchen vorlesen. Während Sanzomon SnowBotamon nach einiger Zeit wieder in sein Schlafzimmer brachte, sanft in sein Körbchen legte und penibel darauf achtete, keines der anderen zu wecken, überlegte sie sich, wie sie ihrer Gefolgschaft erklären sollte, wo diese acht Digimon auf einmal herkämen, wenn sie irgendwann schlüpften. Ihre Schüler wussten von dem Plan des Mann in Mondes, waren aber damit auch die Einzigen. Aber schließlich hatten sie öfters kleine Digimon im Ewigen Wald, an dessen Rande oder sogar schon auf der Bergkette selbst gefunden und bei dieser Geschichte zu bleiben wäre für Sirenmon, den Sistermon und den Swanmon und Reppamon genug. Ob dass Myotismon jedoch reichte zweifelte sie an, er würde merken, dass da was faul war. Vielleicht würde er sogar spüren, dass an diesem Digimon etwas anders war. Vielleicht, und dieser Gedanke beschäftigte sie schon eine ganze Weile, aber vielleicht müsste sie ihm nichts vormachen. Wenn sie ihn einweihte? Nicht sofort, auch nicht während sie noch die Wappen herstellte, aber danach. Schritt für Schritt. Immerhin war er ein sehr mächtiges Digimon und nicht zuletzt der Grund, dass sie hier auf dem Schloss, im Tal und auch die Digimon im Ewigen Wald nachts ruhig schlafen und Kräfte sammeln konnten. Sie würde sich weiter an das halten, was sie Gennai geschworen hatte. Kein Digimon, außer ihr und ihren Schülern durfte von ihrer heimlichen, heiligen Mission erfahren. Und danach, wenn dieser erste, große Schritt Richtung Frieden vollendet war... Ihr Vorhaben, sich endlich schlafen zu legen, wurde von dem Bedürfnis eingenommen nochmal nach den acht Digieiern zu schauen. Gennai war nicht da, sie waren allein, nur das schwere Tor und eine digitale Mauer zu ihrem Schutz um sie herum. Sanzomon lehnte an den warmen Brustkasten und summte den Digimon in diesen Digieiern Lieder vor. Vier farbig, vier immer noch blass, eine Folge eines Prozesses, der einige Daten dieser Digimon gelöscht hatte. Ein notwendiger Prozess, um das Digimon auf seinen Partner abzustimmen. Und wären die Wappen fertig, wären auch diese Digimon wieder vollständig. Doch den Wappen fehlte immer noch das Leuchten. Sie übersah etwas. Oder sie begriff noch etwas nicht, aber sie wusste nicht was. „Ich werde mich bemühen, dass ihr bald alle vollständig seid“, murmelte sie zu ihnen und legte eine Hand auf das warme Glas, dann ihre Stirn. Das Wappen des Mutes, der Freundschaft, der Liebe und des Wissens funkelten sie an. Letzteres war gerade einmal einen Tag alt und Sanzomon fühlte sich immer noch so schwach. Aber seit Myotismon hier war erholte sie sich deutlich schneller und sie war überzeugt, dass sie bald mit dem fünften weitermachen konnte, sobald sie ein wenig geschlafen und anständig gegessen hätte. „Ich… wir beschützen euch. Ihr braucht vor nichts Angst zu haben. Schlaft gut, hört ihr? Morgen komme ich wieder. Wenn ich dann nicht so müde bin, lese ich euch auch etwas vor. Ich kenne sehr viele Geschichten und Lieder. Ich hoffe, ich kann sie euch bald alle beibringen. Sie werden euch ganz bestimmt gefallen." Der Schwindel der Müdigkeit überkam sie. Besorgt über Gokuwmon, fragend, wo Myotismon blieb und in Gedanken zwischen den beiden Sistermon und den Wappen, zwang Sanzomon sich schließlich doch ins Bett. 𝅘𝅥 Am Morgen nach einer Nacht des Kopfzerbrechens, saß Sanzomon nach ihrem morgendlichen Ritus aus Meditation im kalten Wasser und Sutras, vor einem ihrer Schützlinge. Sie hasste diese Momente, wenn sie auch froh darüber war, dass diese kleinen Digimon, die vielleicht hätten tot sein können heranwuchsen und bereit waren ihren eigenen Weg zu suchen. Aber es schmerzte, gerade an dem Morgen, wo sie sich nicht nur fragte wo Myotismon blieb - immerhin war es schon hell - sondern sich immer noch um Gokuwmon sorgte. Nun aber saß Leormon vor ihr, dass aus dem kleinen Frimon digitiert war und er hatte schließlich, nachdem er für seinen Digitation zum Rookie so viel trainierte und lernte ihre volle Aufmerksamkeit verdient, zumindest die, die sie aufbringen konnte. „Du möchtest also losziehen?“ „Ja, Sanzomon“, nickte Leormon eifrig. „Ihr habt mir beigebracht nach meinem Weg zu suchen und ich habe lange darüber nachgedacht. Auch wenn ich nicht mehr weiß wie ich hierherkam, weiß ich doch, dass ich zurück nach Hause muss. Ich muss nach File Island zurück.“ „Ich bin erfreut über diesen Eifer. Dennoch, möchtest du nicht noch etwas hier verweilen? In Zeiten wie diesen ist es als Rookie gefährlich. Gokuwmon und Sagomon werden sicher weiter mit dir trainieren, so oft du willst, damit du schnell zum Champion digitieren kannst.“ Leormon senkte seinen Kopf etwas, sein Schwanz schlug langsam hin und her wie ein Pendel, während er nachdachte. Die Andeutungen eines Schattens, den die Morgensonne warf folgte ihm. Und wenn das Licht warm wirkte und der frische, aber kühle Wind einer frühen Stunde in den Raum kam, dachte Sanzomon nur wieder daran, wo Myotismon blieb. Er löste sich nicht im Staub auf, wenn Sonnenlicht ihn berührte und seine dunkle Kleidung war dick, aber er vertrug die Hitze nicht und die Sonnenstrahlen auf seinem Gesicht glichen dem Gefühl - so seine Umschreibung - wenn man raues Salz über wunde Haut streute. Mal abgesehen von der Tatsache, dass er bei sonnigen Tagen wie diesen (ob kühl oder nicht) nur noch halb so stark war. Er musste, das betonte er deutlich, bei Sonnenaufgang in seinem Sarg sein. Vielleicht hatte er dennoch irgendwo einen Unterschlupf gefunden. Und Gokuwmon? Sie hoffte, mit dem Tagesanbruch käme er wieder nach Grey Mountain und dass er nur so spät war, weil er noch irgendwo etwas trinken war, wen er denn schon einmal vom Berg weg kam. „Ich danke Euch, Sanzomon. Aber mein Herz sagt, dass ich jetzt gehen muss.“ „Das ist eine sehr gute Antwort“, lobte Sanzomon das kleine Löwen-Digimon, lachte auch etwas und hätte fast gegähnt, konnte es aber unterdrücken, um nicht respektlos zu wirken. Sie war so schrecklich müde. Leormon schien zu merken, dass Sanzomon noch nicht ganz wach war, aber sie bemühte sich nicht all zu viel davon anzumerken. „Außerdem wartet Dolphmon auf mich. Er ist schon lange ein Champion und lebt bei den Swanmon, seit er digitiert ist. Er stammte von einer Whamon-Gruppe in der Nähe von File Island. Wir wollten zusammen zurück. Die Stadt des Ewigen Anfangs soll dort auf dieser Insel sein und sie werden Hilfe brauchen. Gerade weil das Nest dieser schrecklichen Krähe auch dort ist, die zur Herzkönigin gehört. Wir dürfen nicht zulassen, dass es dem Dorf so ergeht wie der Stadt des Erwachsens.“ Sanzomon erklärte ihren Findelkindern nie, was es mit den Synonymen auf sich hatte, die sie und ihre Schüler benutzten, aber sie unterschätzte ihre Mündel wohl. Sie waren klug genug um Zusammenhänge zu erkennen. „Dann erlaube mir dich auf diesen Weg zu unterstützen. Ich werde die Kyubimon bitten, dass sie dich bei Abenddämmerung schnell zum anderen Ende der Bergkette führen, dann habt ihr beide die Sicherheit der Nacht bei euch. Dolphmon wird sich die unterirdischen Wasserströme zu nutzen machen, nehme ich an? Dann müsstet ihr euch am Ende des Ewigen Waldes treffen. Von da an seid ihr aber auf euch alleine gestellt“, erklärte Sanzomon Leormon, sie hörte ihre eigene Besorgnis. Aber Leormon blieb überzeugt. Er war wirklich bereit aufzubrechen. „Ich danke Euch, Sanzomon“, sagte er und sprang zu ihr, mit den Pfoten auf ihren Schultern abgelegt und sie umarmte ihn kurz. „Ich bin froh, dass ihr euren Weg findet, egal mit oder ohne mich. Aber sei nicht traurig und genieße diesen Tag noch. Ich sorge dafür, dass heute Abend alles reibungslos abläuft.“ Leormon nickte zufrieden, doch Feuchtigkeit sammelte sich in seinen Augen. Der Abschied schien nicht nur ihr schwer. Dabei hatten sie noch ein paar Stunden, genug zu tun und wollten den kleinen Digimon und vor allem Sirenmon nichts anmerken lassen, bis es soweit sein würde. Wenn es Digimon gab, die mit Abschieden noch schwerer umgehen konnten als Sanzomon, dann war sie es. „Na, habt ihr alles besprochen?“ Sagomon wartete vor der Tür, scheinbar hatte er sich gleich freiwillig dazu bereit erklärt, einem seiner Schützlinge die ersten Schritte Richtung Erwachsenwerden ebenfalls etwas zu erleichtern. Leormon, zwar traurig auf dass, was ihm noch bevorstand rannte jauchzend und übermäßig euphorisch zu Sagomon, erzählte ihm, was Sanzomon über seine Pläne dachte und ob sie beide noch ein bisschen kämpfen können, damit er sich für die Reise warmmachen konnte. „Später, nach meiner Patrouille“, meinte Sagomon, aber er würde sich beeilen und sie liefen dicht zusammen den Gang hinunter. Sanzomon schlug eine andere Richtung ein, mit zahllosen Gedanken und Müdigkeit im Kopf, aber der prägnanteste Gedanke war, noch mal nachzuschauen ob Gokuwmon oder Myotismon endlich zurück wären. Noch in Schlaftrunkenheit versunken merkte sie gar nicht, dass sie an ihrem Handgelenk gepackt und um die Ecke gezerrt wurde. Sie hatte erst gedacht, dass sie von dem Schlafmangel einfach umkippte – wäre nicht das erste Mal gewesen –, aber sie fiel nicht, sondern wurde gegen die grauen Steinmauern gedrückt und sah vor sich den Schneesturm. Damit war ihre Müdigkeit mit einem Schlag dahin. „Diese elende Sonne… Lännger hätte ich nicht mehr durchgehalten...“ Myotismon ließ Sanzomons Handgelenke los und stützte sich stattdessen an der Wand ab. Er war außer Atem, er musste sich ziemlich beeilt haben, um den Sonnenstrahlen zu entfliehen. Warum er so spät war interessierte Sanzomon herzlich wenig, Hauptsache er war da. Wenn jetzt noch Gokuwmon endlich wiederkäme, wäre sie gänzlich beruhigt. „Wo warst du nur?“, seufzte Sanzomon erleichtert auf, nutzte ihre neu gewonnene Kraft und Wachheit, um sich mit einen Satz um Myotismons Hals zuwerfen und sich an ihm hochzuziehen. „Warst du besorgt?“ „Es ist schon lange hell draußen, natürlich war ich das.“ „Verzeih. Ich wollte noch mal zu dir kommen, aber ich hatte zu viel zu tun. Es sind so viele zwielichtige Digimon hier unterwegs.“ Korrekt gewesen wäre, dass Phantomon zu viel zu tun hatte, zwielichtige Digimon von Grey Mountain fernzuhalten, während Myotismon zu viel damit zu tun hatte, die Orchesterprobe zwielichtiger Digimon wie Piedmon eines war über sich ergehen zu lassen. „Was ist passiert?“ „Einige Moosemon sind vom Norden hierher gewandert. Ich denke, sie sind vor Machinedramons Truppen geflüchtet. Sie haben einen Unterschlupf auf den höheren Ebenen gefunden, haben sich jedoch mit den Grizzlymon um den Platz gestritten. Es hat lange gedauert, aber man hat verhandeln können, ehe es Verletzte gab.“ Das war nicht einmal gelogen. Sich Lügenmärchen auszudenken war schließlich gegen Myotismons eigenen Codex. Nur sagte er nicht, dass es bei seinen Untergebenen, die seine Aufgaben übernommen hatten, solange er bei der Orchesterprobe war, nicht klappen wollte mit dem Verhandeln. Als Myotismon aber kurz vor Sonnenaufgang dann doch noch nach dem Rechten sah, ließ er die richtige Worte mit dem entsprechenden Ton sprechen und das schüchtert die Digimon weit genug ein um sich fürs erste zurückzuziehen. Und weil das eben alles stimmte, witterte Sanzomon sein falsches Spiel nicht. Dies und ihre Gefühle, die ihm blind glaubten. „Es gab einige Probleme in dieser Nacht. Ich wäre sonst eher hier gewesen. Aber macht dir keine Sorgen, alles verläuft wieder in geregelten Bahnen.“ „Egal, du bist da und das ist wichtig. Zu warten macht mir wenig aus.“ „Wie ich dich kenne, hast du deine Zeit gut genutzt.“ „Du weißt, ich bin stets fleißig und liebe meine Arbeit.“ Ein Seufzen unterdrückte Sanzomon, als sich Dank plötzlich Wachheit noch etwas hochzog, bis nur noch ihre Zehenspitzen den Boden berührten. Aber ein Schmunzeln verkniff sie sich nicht. „Ich kann mir vorstellen, welchen Nonsens du wieder zu Papier gebracht hast.“ „Es gibt aber genug Digimon, die meinen Nonsens gerne hören. Du gehörst schließlich auch dazu.“ Sistermon Blanc, die eben aufgewacht war und Soulmon, das schlafen gehen wollte liefen zusammen, in einer Unterhaltung vertieft, um die Ecke. Als sie ihre beiden Meister, eng umschlungen und küssend vor sich sahen, machten sie sofort wieder kehrt und taten so, als hätten sie nichts gesehen. „Ich höre dir zu, weil ich selten so albernes Zeug gehört habe.“ „Spotte nur über mich. Ich wette, heute Abend bist du wieder bei mir und hörst dir meine Worte an.“ „Eben weil ich gerne über dich spotte.“ Während Sanzomon spürte, wie sich seine Arme immer fester um sie legten, sah sie weiter in sein Gesicht, dass wieder dieses Grinsen auf den Lippen trug, dass sie nicht mochte. Und es war nicht schwer zu erraten, dass Myotismon eben das nur tat, weil er wusste, dass sie es manchmal hasste. „Nachdem du mich hast Warten lassen solltest du deine Unverschämtheiten etwas zügeln. Du weißt, ich verzeihe nicht so leicht. Du möchtest doch nicht, dass ich wütend werde.“ „Wenn dieser Blick die Strafe dafür ist, nehme ich das gerne in Kauf.“ Sanzomons Kräfte in ihren Armen ließ nach und sie begann wieder hinunterzurutschen, aber Myotismon hielt sie fest. Nur die Kraft seiner Arme, die sich hinter ihr kreuzten und an seinen Körper presste hielten sie weiter in der Luft und es kostete ihn kaum Mühe. Von Zeit zu Zeit vergaß sie, wie viel physische Kraft Myotismon eigentlich besaß, trotz dass er so schlank wie groß war. Wenn er wollte, könnte er sie sicher zerquetschen. Gruselig der Gedanke. Und Myotismon dachte tatsächlich einen kurzen Moment daran, dass auch zu tun, während sie ihn verträumt ansah. Aber er beherrschte sich. Sanzomon hauchte ihm noch einen Kuss auf den Mundwinkel, als sie die Erschöpfung in seinen Augen bemerkte, ohne zu ahnen, woher diese überhaupt resultierte. „Geh schlafen. Du siehst so müde aus. Ich möchte, dass du ausgeruht bist, damit ich heute Abend ein wenig Zeit mit dir verbringen kann, ehe du auf Patrouille gehst. Nicht, dass du beim Erzählen noch einschläfst.“ „Du meinst, damit ich nicht bei deiner kleinen Unsinns-Märchenstunde einnicke?“ Sanzomon verengte, ein wenig verärgert darüber ihre Augen, ihre roten Lippen spitzten sich zusammen. Kraft kehrte in ihre Arme zurück und sie zog sich wieder hoch, damit sie direkt in Myotismons Gesicht sehen konnte. So erschöpft er war, für schnippische Kommentare reichte es allemal. „Du überspannst den Bogen. Und solltest du dabei einschlafen, glaube ja nicht, dass ich dich dann wach küsse. Die Kleinen können dich dann mit ihren Mutter-Gans-Liedern aus deiner Traumwelt reißen.“ „Wie kindisch und grausam von dir.“ Sanzomon tat, als wollte sie ihm noch einmal küssen, aber noch bevor sich Myotismon überhaupt darauf einlassen konnte, strich sie mit ihrer Hand erst über seine Wange und nahm dann sein Ohrläppchen zwischen ihre Finger. Er knurrte leise, aber sie schaffte es ihm ein Seufzen zu entlocken, als sie über seine Ohrmuschel strich. Kurz darauf stellte Myotismon sie jedoch wieder auf ihre eigenen Füße, packte beide Hände und schob Sanzomon von sich fort. „Ich glaube, du bist diejenige, die den Bogen ein wenig überspannt“, keifte er mit geknirschten Zähnen, aber er ließ Sanzomon los und sie zog ihr Halstuch wieder hoch. „Ich sagte doch, ich verzeihe nicht so leicht. Und ich muss noch überlegen, ob ich es dir verzeihe, dass du mich versetzt hast.“ Auch wenn ihr Blick, jener Blick, Erzürntheit zeigte, lächelte Sanzomon unter ihrem Tuch. Er merkte, dass sie sich über ihn amüsierte, trotz Halstuch, aber er konnte nicht all zu böse auf sie sein. Hätte man Myotismon gefragt, was für ihn den optischen Reiz ausmachte, dann wäre es dieser Blick gewesen, den er einerseits so hasste, weil es ein unergründlicher Blick war und das ohne jeden Abgrund darin. Man sah das Strahlen von Träumen und Wünschen, aber das war nur die Spitze des Eisberges. Darunter war mehr, viel mehr, sehr viel widersprüchliches und sinnfreies, dass genauso wenig zusammengehörte wie Wunderländer und Gruselkonzerte. Nicht kindlich oder naiv, dafür war Sanzomon zu ernst. Zu idealistisch, diplomatisch und - wie bizarr - vernünftig. Man wollte wissen, wie diese ungleichen Dinge in einem so queren Geist zusammenpassten und was sie verbargen. Verborgenes hatte eben seinen eigenen Reiz. Und Sanzomon stand dieser Blick nun einmal sehr gut. So gut, dass sich Myotismons Arme hinter seinen Rücken kreuzten. Sanzomon dachte, diese Haltung und diese Geste wären ein Zeichen seiner Belustigung ihr gegenüber, so oft wie er das tat. Dabei war selbst diese Haltung nichts mehr wie reine Selbstdisziplin. Zusammen mit diesem hämischen, unheimlich Lächeln, dass all seine düsteren Gedanken versteckte, unausgesprochen ließ und ihn davon abhielten Sanzomon, allein weil sie glaubte ihn irgendwie lenken zu können, zu erwürgen - oder etwas anderes – während sie dastand. Verträumt. Verspielt. Verliebt. „Dann hoffe ich inständig, die ehrfürchtige Hohepriesterin ist gnädig und hat mir bis heute Abend verziehen.“ Die Ernsthaftigkeit und die gespielte Verstimmtheit blieb in Sanzomons Gesicht, jedoch wussten beide, dass sie kein allzu nachtragendes Digimon war. Jedoch überlegte sie sich, ob sie ihn nicht doch noch etwas necken sollte, schlicht um zu erfahren, was er dann tun würde. Vermutlich wütend werden. Oder es ihr mit selbigen Getue heimzahlen. Das war das Schöne an ihren Zusammentreffen, die kaum länger waren wie eine, allerhöchstens zwei Stunden, je zu Morgen- und Abenddämmerung, jeder war doch irgendwo immer für eine Überraschung gut. Man mochte es Wahnsinn nennen, aber sie fanden beide immer etwas Neues heraus, dass das Interesse weckte. Oder man dachte sich was aus und wollte wissen, wie der andere darauf reagierte. Sie mochten zwar andauernd anecken, aber dass war ihre Motivation. In ihrer Art waren sie sich dann doch gleich, wie sie beide zugleich von besonnenen Gemüt waren, gerne redeten und dachten, wenn auch oft um mehr als nur ein paar krumme Ecken zu viel. Sanzomon hätte damals nie gedacht, dass sie einmal so mit Tsukaimon reden könnte. Fast genauso schön nach solchen Treffen war das Kribbeln im Inneren danach, wenn sie Myotismon wie in diesem Augenblick hinterher saß. Es war Zeit für ihn. Nicht die Müdigkeit zwang ihn, aber die Schwäche und die Vorfreude auf den Abend war groß bei ihr. Seit über drei Monaten ging das und ihre Gefühle schienen zuzunehmen mit jedem Mal. Und Sanzomon ertappte sich dabei, wie sie wieder an Babamons alte Geschichte über das Rosemon dachte, dass sie in keinem Buch fand und kein anderes Digimon kannte und sie wünschte sich eine ähnliche Geschichte wie diese. Obwohl auf Grey Mountain und auch im Ewigen Wald nirgendwo Lavendel wuchs, glaubte Sanzomon ihn doch zu riechen und wünschte sich einen Strauß so wie das Rosemon im Märchen einen besaß.   ♫ Kaum dass Myotismon in seinem Gemach verschwunden war und die Tür schloss, lehnte er sich gegen die dunkle Tür und kämpfte mit dem Bedürfnis, irgendwo hinein beißen zu wollen. Er biss sich auf die Zähne, seine Finger krümmten sich und seine Nägel kratzten über das Holz, doch Dank der Handschuhe blieb es weitgehend unbeschadet. Er widerstand, trotz dem Hunger, der ihn nun wieder überkam, nachdem er vor ein paar Minuten noch etwas wie Sättigung empfunden hatte, obwohl seine Jagd erfolglos war. Nun aber drehte sich sein Magen. Nach dieser Folter und den Gedanken, die Piedmon ihm versuchte einzuflüstern büßte er mehr seiner Nerven und Kräfte ein, wie durch jeden Kampf, den er bisher bestreiten musste, so amüsant die Folter wäre, wenn er nicht die Hauptattraktion des abends gewesen wäre. Ganz zu schweigen von gewissen Gedanken und Ideen, wie er dieser Volksverräterin den Gnadenstoß versetzte, während Sanzomon ihn weiter so anhimmelte. Mittlerweile hatte Myotismon sich dazu entschlossen, Sanzomon einen schnellen Tod zu schenken, statt sie zu quälen. Schließlich war er ein Gentleman und verstand sich gut mit ihr, ihr einen schmerzlosen Tod zu schenken war das Mindeste an Wertschätzung. Aber er musste sich noch etwas beherrschen, wenn sein Appetit ebenso eine Folter war. Er hatte kein Glück bei der Jagd, jedes Digimon, dass als Mahlzeit in Frage gekommen wäre - und so kurz vor Sonnenaufgang war Myotismon wirklich nicht mehr wählerisch - entwischte ihm. Er war zu angespannt. Zu sehr in Gedanken. Zu durcheinander. Alles Piedmons Schuld. Rotwein. Vielleicht half Rotwein etwas. Besser wie gar nichts. Eine Flasche Rotwein stand noch auf dem Tisch und während Myotismon sie ansah und auf eine bizarre Weise schrie diese Flasche regelrecht TRINK MICH. Er wollte zwar, aber in der Sekunde wie er die Flasche erblickte verging ihm die Lust und in Gedanken hing er an Sanzomon fest, die permanent mit einem ISS MICH-Schildchen durch das Schloss stolzierte. Zu gern, aber nicht an diesem Tag, auch nicht so schnell an irgendeinem anderen Tag, aber irgendwann in der Zukunft würde er dieser Bitte gerne nachkommen. Sein Ohr zuckte. Das Gefühl von Sanzomons Fingern flackerte kurz in seinem Gedächtnis auf. Sie war nicht zu zaghaft, aber sie packte auch nicht zu fest zu. Sie spielte. „Dieses kleine, verdorbene Ding mit ihrem genauso verdorbenen Wissensdurst... Unschuldig und unscheinbar, dass ich nicht lache.“ Obwohl er sich ärgerte, schmunzelte Myotismon letztendlich doch. Sanzomon war kein Deut besser wie er und manchmal fragte er sich, ob er auch so ein Schild um den Hals trug und was Sanzomon auf diesem las. Manchmal wüsste er das wirklich gerne, was sie in ihm sah und was es war, dass sie in seinen Bann zog, wenn doch jede Magie bei ihr versagte. Was war er auf ihrem wunderlichen Schachbrett? Der König, dass wäre seine Antwort gewesen, wenn sie schon die Königin war. Er war der Schwarze König. Er war ein König mit Volk, Macht und einen Thron in Aussicht, den er anstrebte. Wenn er jedoch vor Piedmon stand, fühlte er sich nicht wie einer. Für Piedmonw war er eine ordinäre Schachfigur. Nicht einmal wirklich wie ein Musiker, obwohl die Meister der Dunkelheit dies stets beteuerten. (Wer bist du? sprach das Raupentier) Myotismon hatte Kopfschmerzen. Vielleicht lag es an der Luft in diesem Raum. Die Fenster waren immer zu, damit es dunkel blieb und er hatte vergessen zu lüften, nachdem er aufgestanden war. Der Geruch verbrannter Kerzen lag immer noch in der Luft und – es war eine Halluzinationen, sehr, sehr wahrscheinlich sogar, dennoch sah Myotismon es – Rauch und Qualm tanzten vor seinen Augen. (Alice antwortete ziemlich zaghaft Ich – ich weiß es kaum zur Zeit Sir – jedenfalls weiß ich wer ich war als ich heute Morgen aufstand) „Ein Musiker ohne Instrument. Genauso jämmerlich wie ein König ohne Thron.“ (Was meinst du damit? Sprach das Raupentier unbewegt Erklär dich Näher! Mich näher erklären ich fürchte das kann ich nicht! sprach Alice Denn sehen Sie ich bin nicht ich selber! Sehe ich nicht! Sprach das Raupentier) Wie erklärte man dies nur? Musiklaische Digimon waren so selten geworden. Digimon wie er und die Meister der Dunkelheit… die gab es kaum. Anders, wie im Falle des Instrumentes würde sich das mit dem Thron in naher Zukunft klären, wenn auch nur irgendetwas an diesen Geistergeschichten dran war. Früher, noch vor der Apartheid sprach man von Prophezeiungen. Einer Prophezeiung, die Digimon wie ihn an der Spitze der Welten sah und nur jene die unter dem Schutz des Tifaret standen könnten ihm gefährlich werden. Da es außer ihm sonst keine Myotismon mehr gab – alle in den Typus-Kriegen gelyncht worden, wie Phantomon erzählte – war dies seine Bestimmung. Das musste er werden. Er musste von dem weg, was er war und zu etwas anderem werden, wie es die Natur der Digimon verlangte. Sanzomon mochte es anders sehen, aber Digimon waren nun einmal so. Ein Ich war hinderlich, weil ein Ich nicht digitierte. Ein Ich lernte und das konnte die Digiwelt nicht. War es denn wirklich so schwer für sie, dies zu begreifen? (Nun du hast es vielleicht bis jetzt noch nicht so empfunden! Sprach Alice Aber wenn du dich in ein Ultra-Level verwandeln musst – und das hast du ja bereits – und danach dann zu einem Mega dürfte dir doch ein klein wenig komisch zumute werden nicht wahr? Kein bisschen! Sprach Tsukaimon) Myotismon schüttelte den Kopf, es half aber nicht, dass das Pochen nachließ. Warum dachte er gerade zu diesem Zeitpunkt daran und an dieses bescheuerte Buch, mit den ebenso bescheuerten Reimen? (Nun deine Gefühle mögen ja vielleicht anders sein! Sprach Alice Ich weiß nur das zu erleben wäre sehr komisch für mich! Dich! Sprach Tsukaimon Aber wer bist du? Ich weiß es nicht Tsukaimon! Sprach Alice traurig Ich weiß es nicht mehr! Wer bin ich denn? Warum bin ich denn hier? Warum hat man mich geboren? Wer bist du? Wer sind wir? Ich weiß es nicht mehr ich weiß es nicht ich weiß es nicht ich weiß es nicht) Und mit den Reimen und dem Qualm löste sich das Bild des blauen Raupentieres auf. Doch Alice blieb mitsamt der traurigen Stimme. Es lag an der kalten Wind draußen, ganz sicher. Sie schmeckte und roch ganz winterlich und obwohl Myotismon Schnee nun eher mied, als suchte, blieb ein gewisser Hauch an Sentimentalität zurück, wenn auch nur ein kleiner, mickriger Rest, der ihn glauben ließ Irgendetwas stand ganz dicht bei ihm. ( – da machte Tsukaimon plötzlich einen Luftsprung und befreite sich aus Alice Arm. Wir sind ein Orchester! Ich bin ein Musiker! Rief er entzückt aus Und du bist mein Kapellmeister! Und ich als Schwarzer König ich bin immer bei dir und du bist immer bei mir es ist doch egal als was wir geboren werden das hast du doch gesagt richtig? Ist es so?) Und was Piedmon sprach, war Nonsens. Man konnte einen Kapellmeister seines Amtes nicht entheben. „Wenn ich erst einmal das bin, was ich werden muss, wird alles besser. Wir bekommen schon noch unser Wunderland, Alice. Ohne Regeln. Ohne Pflichten. Ohne Kriege. Auch ohne den Rest des Orchesters. Wer braucht sie schon, wenn mein ewiger, dunkler Winter erst einmal über die Digiwelt und deine Welt kommt?“ Es war nur ein kleiner, kalter Luftzug, der sich seinen Weg durch die Schlossmauern bahnte und Myotismons Finger streifte. Und doch glaubte er für einen winzigen Moment, dass das blonde, blasse Irgendetwas – Nein, nicht Irgendetwas, kein Etwas, sondern Alice, Alice! – nach der Hand des Schwarzen Königs griff. Der Qualm verwandelte sich vor Myotismons Augen in Polarlicht.   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)