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Wintersonett

Which dreamed it?
von

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Konzert VI - MAD TEA PARTY, 1. Satz, Adagio accelerando poco


 

𝄞

 

Asami Amano, die vor elf Jahren noch Konoka hieß, schlug exakt um 19:43 Uhr ihre Augen auf, in ihrem Patientenzimmer auf der anästhesiologischen Intensivstation des Minato Universitätsklinikum. Die Wanduhr war das Erste, was sie sah, daher wusste sie auch die genaue Uhrzeit. Obwohl ihre Sicht noch sehr verschwommen war, konnte Asami durch den starken Kontrast zwischen Ziffernblatt und Zeigern doch die Zeit ganz gut ablesen. Das es nicht 7:43 Uhr, sondern 19:43 Uhr schloss sie durch den Himmel. Er war nicht in sattes Blau getaucht, sondern vermischte sich mit Gelb- und tiefen Orange-Tönen und dazwischen schwebten violette Wolken über den Hochhäusern.

Sie beschäftigte sich nicht eine Sekunde mit der Frage, wo sie war, sondern vielmehr, was für einen Mist sie zusammengeträumt hatte. Ihr Kopf tat weh, ihr Rücken ebenso, aber am schlimmsten waren die Schmerzen in ihrem Nacken. Kurz dachte Asami sogar, sie wäre fünfzehn, statt fast dreißig Jahre alt und ihre Wehwehchen wären das Resultat einer Schlägerei gewesen. Daher wunderte sie sich auch nicht, als sie die Infusionen sah, dass sie im Krankenhaus lag.

19:46 Uhr. Die Erkenntnis, dass sie eine erwachsene Frau war kam hoch. Ihre Augen waren schwer und sie wollte noch etwas schlafen und träumen. Asami hatte viel komisches Zeug geträumt, das Meiste davon zusammenhangslose Farben. Hatte sie etwa Gras geraucht? Oder zu viel getrunken?

Aber zwischen diesen Wellen und Strömungen in Regenbogenfarben hatte sie von Hisaki geträumt. Ein Junge, ein Jahre älter als sie und von seinen Kameraden aus den Yankii- und Bosozoku-Milleu ehrenvoll mit Senpai angesprochen wurde, als sie gerade erst anfing sich die Augenbrauen wegzurasieren, ihre Schuluniform mit pseudorebellischen Sprüchen und Symbolen zu besticken und ihre Augen mit der dunkelsten Tusche umrandete, während sie gleichzeitig ihre Haare so lange färbte und bleichte, bis sie irgendwo zwischen Hellbraun und Rot waren. Ihr fünfzehnjähriges Ich hatte sich sofort in diesen europäisch wirkenden, hübschen Jungen mit dem blonden Haar und den blauen Augen verliebt, trotz dass er sich lustig über sie gemacht hatte, was so ein naives und frühpubertäres Ding auf den Straßen Tokios zu suchen hätte. Sie liebte ihn, aber er wurde nicht ihr erster Freund, jedoch der Erste, bei dem sie Spaß und Lust beim Sex empfand. Da war sie sechzehn, hatte schon zwei Beziehung gehabt und war selbst Hisakis erste Freundin gewesen.

In ihren psychedelischen Träumen hatte Asami an viele dumme Ereignisse zurückgedacht, in denen Hisaki einfach nur an sie vorbei lief, ohne ihr Beachtung zu schenken, wie er ohne Schirm im Regen stand, weil er dachte, dass würde ihm einen gewisse Coolness verleihen oder wie er mit ihr im Kumin Park in Shinagawa saß, von seiner Zeit in der Schulband und am Klavier erzählte und dabei wie einer dieser spießigen Streber klang, die er sonst so gerne in den Dreck warf.

Hisaki hatte nicht oft gespielt, weil er dann an Zeiten dachte, die ihm unangenehm waren. Er war mal in diesen Wunderland Fall verwickelt - manch einer nannte es auch St. Martinsland Fall oder Nimmerland Fall, da noch ein Junge vermisst wurde -, erzählte aber nie davon. Und wenn, klang es so wirr, dass sie es nicht verstand. Aber sie war nun einmal neugierig und liebte es, diesem Mann zuzuhören. Und es tat ihnen gut. Ohne einander hätten sie wohl auch nicht den Ausstieg aus ihren Gangs geschafft und zurück in ein halbwegs normales Leben mit Rechten und Pflichten gefunden, zumal Hisaki kein ungeschriebenes Blatt war und weit mehr verbrochen hatte, wie Schwänzen oder mal was mitgehen zu lassen. Auch hier sagte er nicht, warum er die Gesellschaft von Yankiis und Bosozoku Gangs so lange bevorzugte. Er wollte seine Karten verdeckt lassen, aber sobald sie es mal schaffte ihn an ein Klavier zu setzen, sah Asami, was ihm auf der Seele lag. Keine Langeweile, so wie bei ihr, sondern Einsamkeit.

Viel hatte sie jedoch nicht zu hören bekommen, aber es war okay. Asami hörte, wie er Vivaldis vier Jahreszeiten spielte, oder Stand by me auf der Beerdigung eines Freundes, seitdem hasste er diesen Song (zumal er das auf insgesamt fünf Beerdigungen machen musste). Um so glücklicher war sie aber, dass er sich dazu überwinden konnte für sie auf ihrer Hochzeit etwas vorzuspielen, einfache Melodien, kitschige Melodien, die so gar nicht ihr Geschmack waren, aber sie sahen es beide mit Humor.

19:52 Uhr. Genau, da war etwas. Sie war ja kein Teenager mehr. Sie war mit Yuki auf dem Friedhof gewesen. Langsam kamen die Erinnerungen zurück, wie sie vor dem Grab stand, zu ihr sagte, dass sie gleich wiederkäme und während sie davonlief, sich den Kopf darüber zerbrach, ob sie zu Hause bei der Hitze wirklich noch was kochen oder einfach was bestellen sollte. Und ab da begannen die Lücken in ihrem Gedächtnis.

Drei Personen waren in ihr Zimmer gekommen, sie klangen alle wie Männer, aber sicher war Asami sich nicht. Ihre Stimmen hörten sich in ihrem Kopf eher danach an, als wären sie unter Wasser.

„Patient weiblich, neunundzwanzig Jahre alt, wurde heute Mittag eingeliefert. Sie ist auf dem Aoyama Friedhof von anderen Besuchern gefunden worden, die auch den Notruf kontaktiert haben. Komatös, Pupillenreflexe unauffällig, kein Verdacht auf Hirnschäden. Hämatome am Hals, links, zudem zwei Stichwunden. Weitere Hämatome an beiden Armen. Der Form zu urteilen hat sie jemand mit viel Kraft festgehalten.“

Hatte das jemand? Sie wusste wirklich nichts mehr von dem, was auf dem Friedhof geschehen war.

Die Kanüle in ihrer Hand kratzte in ihrem Inneren und war unangenehm und hätte Asami die Kraft gehabt, hätte sie diese sofort herausgerissen.

(denk nach Asami denk nach denk nach was ist passiert du wolltest Wasser holen ja genau und dann)

Das Rauschen in ihren Ohren nahm ab.

„Druckstellen zwischen den beiden Einstichstellen, Abdrücke einer oberen Zahnreihe. Die Halsschlagader wurde getroffen, was Grund für die akute Anämie war.“

„Also genau das Gleiche, was den anderen drei Frauen passiert ist, die man heute früh fand.“

„Haben Sie nicht Etwas, was helfen könnte diesen Irren zu finden, der das macht?“

„Hier sieht man die Zahnreihe gut, vielleicht ließen sich Abdrücke damit machen, die helfen den Täter zu identifizieren.“

Also hatte sie tatsächlich richtig geraten, es waren alles Männer.

Asami erinnerte sich wieder an den Kerl vom Friedhof, der gekleidet in einem hellgrauen Trenchcoat und einem Fedora auf dem Kopf plötzlich vor ihr aufgetaucht war, fast als sei er ein Geist gewesen. Vielleicht war er es auch. Sein Gesicht hätte sie nicht mehr beschreiben können, aber sie wusste noch, dass sie an Hisaki gedacht hatte. Eigentlich dachte sie immer an Hisaki, wenn sie in der Stadt Touristen aus Europa oder den USA sah, die genauso blond und hellhäutigen waren wie er zu Lebzeiten.

Hatte sie mit diesem Kerl auch nur ein Wort gewechselt? Nein, vermutlich nicht. Aber sie war ihm sehr nah gewesen. Sie hat seinen Körper und sein Gesicht von ganz nah gesehen, wenn sie sich an jenes weiterhin nicht erinnerte. Aber groß war er, sie hatte sich auf die Zehen stellen müssen um -

Auf diese weitere Erkenntnis folgte ein Kribbeln auf ihren Lippen. Sie hatte diesem fremden Kerl geküsst (sogar mit Zunge) und was dann passierte wurde von weißem Nebel in ihrem Kopf verdeckt. Da waren nur noch die Schmerzen gewesen. Und Hisaki. Gott, sie vermisste ihn so schrecklich.

„Wo ist meine Tochter? Wo ist Asami?“

Die Stimme ihrer eigenen Mutter pochte in Asamis Kopf. Ihr Gehirn bastelte sich schon eine Ausrede zusammen, warum sie hier lag, statt in der Schule, bis ihr wieder einfiel, dass sie schon seid elf Jahren keine Schulbank mehr gedrückt hatte. Dann erst fing sie sich an zu wundern, was ihre Mutter hier machte. Sollte sie nach Vaters Bandscheibenvorfall nicht mit ihm in Kyoto Urlaub machen?

„Gute Frau, beruhigen Sie sich doch.“

„Seit Stunden versuche ich sie auf dem Handy anzurufen und dann nimmt plötzlich eine Krankenschwester ab und sagt mir, Asami sei im Krankenhaus! Natürlich rege ich mich auf!“

„Saeko, bitte. Du blamierst dich nur.“

Von ihrem Vater Katsuya, der ihre Mutter beruhigen wollte hörte Asami kaum etwas, auch nicht von den Schwestern, die schon überlegten mit was für Medikamenten sie ihre Mutter ruhigstellen sollten. Die beiden Polizisten, die mit dem Arzt schon hier gewesen waren versuchten ihr die Situation zu schildern. Dass Asami vermutlich Opfer eines Serientäters wurde.

Asami hörte die Stimmen, aber die Worte kaum, nur zwischendrin einzelne Fetzen. Ihre Mutter jedoch hörte sie deutlich, da sie nicht daran dachte ihre Stimme zu senken. Saeko Konoka war großzügig, wie sie streng war. Zudem hatte sie diese aufdringliche Art, die Asami früher als überaus nervtötend und einengend empfand und sie deswegen in Straßenbanden voller Halbstarker trieb, die es cool fanden Mülleimer anzuzünden. Aber auch in Hisakis Arme.

„Und wo ist meine Enkeltochter?“

„Enkeltochter?“

„Die Tochter meiner Tochter! Wo ist sie?“

(Yuki)

Genau, Yuki. Oh Gott, war sie etwa noch immer auf dem Friedhof? Wieso wusste der Arzt nichts von ihr?

„Wie sieht Ihre Enkelin aus? Vielleicht hat jemand sie auf die Kinderstation gebracht.“

„Sie ist acht Jahre alt, hellblond und außerdem ist sie blind. Das muss doch jemanden aufgefallen sein.“

„Das Mädchen war heute Mittag noch hier.“

Sie war hier gewesen? Dann war sie zumindest nicht auf dem Friedhof zurückgelassen worden. Sie war hier. Hier gewesen. Aber wo nun? War sie etwa nicht mehr hier?

„Und wo ist sie jetzt?“

„Ähm, sie hat bei Nachbarn angerufen, hat die Empfangsdame gesagt, weil ihr Vater sie nicht holen könnte.“

„Welcher Nachbar soll sie bitte geholt haben? Und mein Schwiegersohn ist schon seit vier Jahren tot!“

Nun war kein Wirrwarr an Stimmen zu hören. Es herrschte absolute Stille. Niemand sagte etwas und Asami bildete sich das nicht ein. Sie bildete sich einiges noch in ihrem Dämmerzustand ein, aber dass niemand etwas sagte, weil sie alle entsetzt waren, weil keiner wusste wo Yuki war, war echt. Nicht mal, dass Asamis Puls in die Höhe schoss vor Aufregung bekam jemand mit, geschweige denn was sich in ihrem Kopf abspielte auf diesem Trip.

Es war fern jeder Logik, aber Asami war sich sicher, dass es ihre eigenen Mutterinstinkte waren die Alarm schlugen. Vielleicht steckte sie auch irgendwo im Delirium fest, deren Ursache im Blutverlust oder in den Medikamenten zu vermuten war, aber sie hatte ihre Tochter gesehen, ihr kleines Mädchen, dass Letzte was sie von Hisaki noch hatte und diesen großen, schlaksigen Kerl mit dem grauen Mantel (der im weiteren Verlauf ihres Albtraumes pechschwarz wurde), der sie einfach mitnahm.

Yuki!“

Asami saß aufrecht in ihrem Bett, schwer atmend, aber das Kratzen in ihrem Handrücken war fort. Sie hatte sich im Sprung die Kanüle rausgerissen. Eine der Krankenschwester sah, wie das Bett rot wurde und während sie losrannte, zog sie sich Handschuhe an und presste Kompressen auf die Austrittsstelle, ehe noch mehr Blut herausschoss und man Asami wieder eine Transfusion anhängen müsste.

Asamis Gesicht war weiß, aber nicht vom Blutverlust. So weiß wie das ihrer Eltern, der Polizisten und des Arztes, der eigentlich prognostiziert hatte, dass sie mindestens noch einen ganzen Tag durchschlafen würde. Vor ihren Augen sah Asami immer noch, obwohl sie örtlich und zeitlich vollkommen klar und orientiert war, diesen fremden Kerl, diesen Fremden mit der aschfarbenen Haut, den langen Zähnen, diesen Vampir, sogar diesen Jabberwock aus dem Alice-Buch, von dem ihr Kind seit dem Vortag glaubte, verfolgt zu werden. Vielleicht sogar

(Scheiße Scheiße Scheiße Nein Neinneinneinnein das kann nicht wahr sein)

wirklich verfolgt wurde!

„Yuki! Wo ist Yuki? Wo ist sie?

 
 

 

Um 17:45 Uhr huschte Gatomon in einen Busch, der ihr auf ihrer Flucht vor ihrer eigenen Ratlosigkeit ganz passable erschien. Ihr war schlecht und wäre sie eine richtige Katze, hätte sie ein Fellknäul herausgewürgt. Zumindest glaubte sie, dass reale Katzen das taten, wenn ihnen übel war.

Sie wusste nicht vor was sie wegrannte, aber Hauptsache sie konnte rennen, rannte die Straße entlang, bog schließlich dann irgendwo ab, als ihr zu viele Leute entgegenkam und auf noch mehr Menschen hatte sie keine Lust mehr. Vor allem Kinder konnte sie keine mehr sehen, die nur das weiße Kätzchen mit dem lustigen Muster, den flauschigen Ohren und den großen Augen sahen und um jeden Preis streicheln wollten, egal wie laut Gatomon fauchte.

Sie kam an einem Kindergarten vorbei - zumindest stand KINDERGARTEN auf dem Schild, zusammen mit WIR MACHEN SOMMERPAUSE - weiter weg, über die Wiese hinaus sah sie einen Spielplatz mit knallbunten Rutschen. Und noch mehr Kinder. Da wollte sie nicht hin, aber die Büsche und Bäume hinter ein paar Sitzbänken (auf denen keiner saß, da das Metall durch die Sonne viel zu heiß geworden war) sahen einladend aus und waren der perfekte Ort, sich kurz auszuruhen, damit sie ihre Gedanken sammeln konnte.

Also setzte sich Gatomon in den eher kläglichen Schatten unter den Baum und beobachtete durch die Hecke hindurch die Kinder auf dem Spielplatz, deren Eltern etwas entfernt standen und tratschten. Es waren fünf Kinder, aber Gatomon wusste instinktiv, dass keines davon das achte Kind war.

(Es gibt keinen Beweis dass sie das achte Kind ist)

Das sagte sie sich immer wieder, und ja, es gab keinen Beweis. Nur ein Indiz, dass sie Digiritter kannte. Als dieses Mädchen, dass Gatomon am Odaiba Beach traf Agumon erwähnte, klang es nicht, als würde sie über irgendein Digimon reden, sondern über ein Digimon, dass sie kannte.

Gerade Agumon. Das Digimon vom Kind des Mutes. Wenn Gatomon darüber nachdachte, hatte dieses Mädchen eine flüchtige Ähnlichkeit mit diesem Jungen - Taichi oder so hieß er, glaubte sie - gehabt. Möglicherweise waren sie verwandt. Da machte es Sinn, dass sie Agumon kannte und damit hätte Gatomon die Sache abhaken können, weil alles in sich schlüssig war.

Wenn da nicht irgendetwas wäre, nämlich ein großes Aber.

(Aber warum werde ich dieses komische Gefühl nicht los aber wieso bin ich ihr nach aber wieso konnte ich sie nicht töten?)

Auf die letzte Frage fand Gatomon sogar eine Antwort. Wegen Myotismon. Myotismon hatte ihr, nachdem sie unter langen und harten Training zum Champion digitieren war eine wichtiges Sache eingetrichtert, nämlich dass man unnötige Tode vermeiden sollte, dies stets auf beiden Fronten. Man wollte schließlich kein Untier, kein zügelloser Orkan sein. Untiere waren primitiv und triebgesteuert, Orkane einfach nur wahnsinnig. Töte so viel wie nötig, aber so wenig wie möglich. Töte mit Bedacht, gezielt und geplant.

Für Digimon wie ihr Meister eines war, war Tod und Töten etwas Besonderes, aber in diese Richtung, die über den Kampf hinausging konnte Gatomon nicht denken und wollte sie auch nicht. Es kam ihr so zotig vor zu versuchen dahingehend zu denken. So zu denken, wie es ihr Meister konnte, für den die Beschreibung zotig (nachdem was sie so alles von und über ihn gehört hatte) noch zu fromm klang.

Gatomon hatte gesehen, wie er an seine Beute kam und allein sich daran zu erinnern verschaffte ihr eine Gänsehaut. Sich allein nur vorstellen, wie er mit seiner Leibspeise umging - zierliche, feminine Digimon - brachte ihr Fell zum Sträuben. Gerade weil diese Digimon, obwohl sie sogar wussten, dass sie dabei draufgehen würden sich nicht wehrten, sondern breitbeinig auf seinem Schoß saßen oder sich an ihn klammerten und förmlich nach Schmerz und Tod bettelten.

Aber das waren nötige Tode, sagte Meister Myotismon, schließlich musste er essen. Warum daraus eine Gewissensfrage machen? Wenn sie sich so leicht verführen ließen, waren sie selbst an ihrem Unglück schuld. Er zwinge sie zu nichts, er sorgte nur dafür, dass sie beide etwas davon hatten. Und sobald sie blutleer, fast schon tot waren, verlor er das Interesse an ihnen und warf sie wie Abfall weg.

Dieses Mädchen zu töten, ohne jeden Beweis wäre jedoch absolut unnötig gewesen. Gatomon wusste, dass sie es nicht versuchen hätte sollen. Es war dumm und voreilig gewesen. Aber es war nicht Myotismons Stimme, die sie ermahnt hatte einen solchen unnötigen Fehler zu begehen. Es war etwas anderes. Nur was?

(Irgendetwas)

„Na guck an, wen wir da haben“, krächzte es über ihr. Gatomon hob rasch den Kopf, wusste aber gleich, dass es DemiDevimon war. Irgendetwas war passiert, sie sah es in dem Gesicht von diesem Digimon, etwas was ihm zu gute Laune verschaffte und das hieß für Gatomon meist nichts Gutes.

„Faulenzt du etwa in der Sonne? Wenn der Meister das hört.“

„Sagst ausgerechnet du? Sag schon, was grinst du so?“, fauchte Gatomon und sah zu, wie DemiDevimon sich fallen ließ und kopfüber am Ast des Baumes hing.

„Also weißt du es noch nicht?“

„Was?“

„Das mit SkullMeramon. Ich komme gerade aus einem anderen Stadtteil. Er hatte ein kleines Aufeinandertreffen mit den Digirittern und wurde vernichtet. Du hast echt nur Waschlappen angeschleppt, Gatomon.“

Gatomon rümpfte nur die Nase verächtlich, sagte aber nichts dazu, dass ärgerte DemiDevimon. Er hatte auf eine etwas ausfallender Reaktion gehofft, die sie aus der Fassung gebracht hätte. Aber innerlich schimpfte Gatomon nur mit sich selbst. Sie hätte wissen müssen, dass Digimon wie SkullMeramon und das Gesocks, dass immer in Digitamamons Bar rumhing nur eine große Klappe hatten, aber nichts dahinter. Was also aufregen?

Entschlossen, DemiDevimon einfach zu ignorieren schaute Gatomon wieder zu den Kindern hinüber. Sie waren nun zu sechst, hatten die Rutschen verlassen und tollten auf der Wiese herum, jauchzend wie junge Hunde, rannten einander hinterher, zogen sich dabei verspielt an Kleidern und Armen und sangen etwas wie Tooryanse koko wa doko no. Gatomon kannte die Melodie, allerdings unter den Namen London Brigde is falling down.

Ihr Fell im Nacken sträubte sich, ihre Nase rümpfte sich noch mehr, selbst die Schnurrhaare wurden steif.

„Selbst in dieser Welt kennt man diese albernen Kinderlieder. Ich krieg zu viel.“

„Was kümmert dich so ein irrsinniger Kram? Du solltest das achte Kind finden, wenn schon die Typen, die du angeheuert hast zu nichts zu gebrauchen sind!“, keifte DemiDevimon zu ihr hinunter. Wäre er nicht da oben auf dem Ast, hätte er sich solch einen Ton nicht getraut. Aber Gatomon war auch nicht danach, sich mit einem Digimon wie ihm zu streiten. Dafür war sie ihm in ihrer geistigen Entwicklung schon zu weit voraus, als sich auf so ein Niveau zu begeben.

„Typisch, nur ein Idiot würde Wissen mit Irrsinn verwechseln.“

„Wen nennst du hier einen Idioten? Ausgerechnet von dir, die statt sich mit dem achten Kind mit Kinderliedern beschäftigt. Das soll kein Irrsinn sein?“

„So irrsinnig kann es nicht sein, wenn sogar der Meister Ahnung von Kinderreimen hat“, keifte Gatomon zurück und war im Begriff zu gehen. Wohin auch immer, solange sie ihre Ruhe hatte. Jedoch hinderte DemiDevimon sie daran, nicht, indem er versuchte sie zu beleidigen, weil ihm für Zynismus der Sinn fehlte, sondern er setzte sich auf ihren Kopf. Seine Krallen waren scharf und taten auf ihrer Kopfhaut weh, aber Gatomon konnte sich einen Aufschrei verkneifen. DemiDevimon sah zu ihr runter und Gatomon sah zu ihm hoch. Seine ohnehin großen Augen hatten plötzlich den Umfang eines Suppentellers.

„Das musst du mir jetzt erklären.“

„Warum sollte ich?“

„Weil ich das wissen will. Die Vorstellung ist zu merkwürdig, als dass ich dir das glaube.“

„Du glaubst mir doch sonst auch nie etwas, selbst wenn es wahr ist“, bemerkte Gatomon schnippisch, eine Augenbraue hob sich skeptisch.

„Da geht es ja auch nicht um Meister Myotismon. Ich weiß sehr gut, dass der Meister keine Lügenmärchen mag, deswegen glaube ich auch nicht, dass du auf die Idee kommst, welche über ihn zu erzählen.“

Gatomon war tatsächlich ganz kurz überrascht, dass dieses Digimon doch in der Lage war weiter wie drei Minuten in die Zukunft und wieder zurück zu denken.

„Aber es will mir trotzdem nicht in den Schädel.“

DemiDevimon sprang von ihrem Kopf und setzte sich wieder zurück auf den Ast, hing aber nicht hinab, sondern saß da, seine Flügel eng an sich gelegt und mit immer noch großen, gelben Augen. Hätte DemiDevimon nicht den Charakter eines Aasgeiers, würde Gatomon sogar denken, dass er mit diesem Ausdruck im Gesicht niedlich aussah. Und gerade weil seine Augen groß vor Neugier waren - etwas, was sie selbst nur zu gut kannte, denn wie hieß es, Neugier war der Katze Tod - ließ sich Gatomon ein wenig weichklopfen, wenn sie auch erst lange überlegen musste, wo sie ansetzen sollte.

„Weißt du etwas über die Typus-Apartheid?“, fragte Gatomon vorsichtig. DemiDevimons Augen behielten ihre Größe, aber diesmal vor Unverständnis.

„Typus-was? Was soll das sein?“

„Ich bin nicht sicher. So wie ich das verstehe, muss es mal eine Zeit gegeben haben, in der die drei Typen stark verfeindet waren.“

„Ist das nicht heutzutage noch so?“

DemiDevimon dachte an sie beide. Er war ein Virus, sie ein Serum, dass könnte erklären, warum sie einander nicht so mochten. Wahrscheinlicher war jedoch - das wussten sie beide - dass sie sich nur so oft stritten, weil sie um die Aufmerksamkeit und das Lob ihres Meisters wetteiferten. Schon vom ersten Tag an. Wer weiß schon, warum Meister Myotismon dieses Digimon verschont hatte, dass sich in sein Schloss geschlichen hatte, um die Vorratskammer zu plündern.

DemiDevimon war tief auf die Knie gefallen, als man ihn erwischt hatte. Er war von seinen Geschwistern getrennt worden, hatte sich verirrt, wäre fast am verhungern und hatte nichts und keinen Ort, wohin er gehen könnte. Es könnte daran liegen, dass man DemiDevimon ansah, wie sehr er Meister Myotismon fürchtete, allein wenn er nur dessen Schatten sah. So sehr, dass DemiDevimon es nicht einmal wagte zu lügen wie es in der Natur eines solchen Digimon lag, denn Lügen hasste Myotismon am allermeisten.

Furcht garantierte absolute Loyalität und weil DemiDevimon eben sehr feige war, war er auch sehr loyal. Also hatte der Meister ihm eine Chance gegeben und Phantomon gab DemiDevimon den Tipp, den er schon Salamon gegeben hatte, als Myotismon sie im dunkeln Ewigen Wald genauso abgemagert und verloren fand (während Phantomon sich nebenbei beschwerte, wie bei Salamon auch, wie oft er in seinem untoten Leben eigentlich noch Babysitter spielen sollte, weil der Meister so einen extravaganten Geschmack hatte).

Regel Nummer Eins, schätze Musik, aber unterlasse es irgendwas zu trällern oder zu spielen, wenn man keine Ahnung davon hatte. Regeln Nummer zwei, lerne lesen, dann kam man nicht so grenzdebil rüber und der Meister schätzte intelligente Digimon. Also hatte DemiDevimon, wie Salamon schon - da sie beide eben von Musik mehr als nur keine Ahnung hatten - sich das Lesen beigebracht. Es hatte ihm, wie Gatomon schon ein paar mal den Hals vor Myotismons Launen gerettet, weil sie damit nicht ganz so dumm wie die Bakemon und damit in ihres Meisters Hierarchie mehr waren, wie schlichte Diener der untersten Sorte.

Von Kinderreimen und Mutter-Gans-Liedern hatte Phantomon allerdings nie etwas gesagt.

„Doch nicht so. Sie müssen untereinander Krieg geführt haben.“

„Und was hat das jetzt mit dem Meister zu tun?“

„Weil -“, Gatomon überlegte, wie sie es formulieren sollte, wackelte dabei mit ihrem schwarzen Näschen, „- es wohl Dinge aus dieser Zeit gibt, die der Meister nicht gerne hören will.“

Wie eben rassistische Kinderlieder, die sich die Typen um die Ohren warfen. An und für sich waren sie es nicht, aber so wie sie umgeschrieben wurden, ließen sich die Werte der damaligen Zeit leichter in die junge Generation eintrichtern, ohne dass es ihnen bewusst war und meist waren sie zu naiv oder zu stupide, um diesen unheilvollen Unterton in ihrem Gesang zu hinterfragen.

Gatomon war schließlich selbst schon Opfer dieser Kinderreime geworden.

Weder die Typus-Apartheid, noch die Typus-Kriege nach ihrem Fall hatte Gatomon, geschweige denn Salamon miterlebt, aber in so manchen Digimon steckte irgendwo noch etwas darin. Gerade bei den Viren, die doch am meisten unter den Gesetzen der Apartheid gelitten hatten.

Sie würde nie vergessen, wie argwöhnisch die Digimon von Grey Mountain Salamon angestarrt hatten, sie außen vor ließen oder mieden. Weil sie ein heiliges Digimon war, ein Serum-Typ. Myotismon war der Einzige, der Partei für die ergriff. Sie hatte zwei gesunde Arme und Beine, mit denen sie arbeiten konnte, sagte er. Digimon, die aussahen als taugten sie zu etwas waren immer Willkommen. Wen kümmerte da der Typus oder die Rasse, solange sie horchte, Grey Mountain vor Eindringlingen frei hielt und dafür sorgte, dass eine alternative Mahlzeit für den Meister immer da war, wenn er weniger Erfolg bei der Jagd hatte, oder - was sie sich nie verzeihen würde - half, entsprechende Beute anzulocken? Die Geschichten um den Ewigen Wald konnten noch so gruslig sein, auf ein heulendes Salamon sprang doch meist jedes Digimon an. Und wenn es den Fehler beginn, diesem armen Rookie, die bekanntlich nie etwas böses im Kopf hatten, helfen zu wollen, wurden sie wenige Sekunden später von den Schatten verschlungen.

Salamon hasste Grey Mountain und als Gatomon änderte sich das auch nicht. Das Schloss auf der Spitze der Bergkette war ein Pandämonium, ein Albtraum mit Myotismon als König dieses Schattenlandes. Sie hatte Angst vor ihm, panische Angst. Aber wenn es eins gab, was sie noch mehr tat wie ihn zu fürchten, dann ihn zu hassen. Und Myotismon wusste genau, wie sehr sie ihn hasste, er sah es in ihren Augen. Dafür, was er mit ihr tat, sie schlug, aus vollkommen stupiden Gründen.

Weil sie diesen Blick hatte, der eben verriet, dass sie ihn nicht so fürchtete, wie er es gerne hätte.

Weil sie über Dinge nachdachte, die er für schädliches Gedankengut hielt.

Weil sie Irgendetwas in ihren Augen hatte, aber es lag in keinem Abgrund.

Weil sie sich von allen Zimmern im Schloss, die ihr zur Wahl standen, ausgerechnet dieses aussuchen musste, das Hellste im Schloss, von dem sie glaubte, es roch ganz schwach nach Blumen.

Erziehung nannte Myotismon es. Gatomon nannte es Wahnsinn.

Es war nicht mit anzusehen, wie er mit seinen Bediensteten umging. Wie er mit den Digimon umging, die das Pech hatten als Mahlzeit herzuhalten. Gatomon wollte nicht einmal Rache, auch wenn ihre Narben am Körper etwas anderes verlangten. Nur, dass er einfach aufhörte. Dass das endete. Und sie hatte immer gehofft, es würde aufhören, wenn sie irgendwann einmal nicht nur ein Soldat, sondern einer seiner besten Soldaten war. Dass das Tätscheln über ihren Kopf, dass Myotismon ihr bei guter Arbeit manchmal gab, etwas Ehrliches an sich hätte und nicht diesen faden Beigeschmack der Tatsache, dass es nur den Zweck hatte sie zu manipulieren und abhängig zu machen, weil er wusste, dass sie das brauchte.

Aber das würde es niemals, das stand außer Frage. Dafür war Myotismon zu wahnsinnig.

Jedoch, zu ihrem Leid, konnte sie eine gewisse Dankbarkeit nicht abstreiten. Immerhin hatte Myotismon sie aufgenommen, ohne das es jemand von ihm verlangte. Sie hatte Essen und ein Dach über den Kopf. Und was immer die Apartheid genau war, er gehörte nicht zu diesem konservativen Schlag. Da gab es andere Digimon.

Mit dem Begriff Meister der Dunkelheit konnte Salamon nichts anfangen (Gatomon zu diesem Zeitpunkt genauso wenig), aber es war eins der Themen gewesen, dass Myotismon eisige Miene auftauen ließ. Nicht zum Guten. Wie auch immer er dazugehörte oder was auch immer er mit ihnen zu schaffen hatte. Obwohl sie sogar nach Grey Mountain kamen, bekam Salamon nie einen von ihnen zu Gesicht (außer Etemon später, der wie ihr Meister irgendwie dazugehörte und irgendwie auch wieder nicht). Immer nur ihre Diener, und die mochte sie schon nicht.

Die Vilemon mochte sie am allerwenigsten. Zu wem auch immer sie gehörten, ihr Meister kümmerte sich, anders wie Myotismon nicht um Erziehung. Sie waren nicht nur primitiv und wild, sondern machten sich über sie lustig, einfach weil sie ein Serum war, während diese hässlichen, geflügelten Kreaturen gleichzeitig doch beteuerten aufrichtig zu sein. Wenn, dann aufrichtig bösartig.

Sie zogen Salamon an den Ohren, zogen sie an ihrem Halsreif hoch - dass tat Myotismon schon, um sie zu quälen, aber auch wenn es weh tat, dass sie sich wünschte, sie würde ohnmächtig werden, ließ er sie irgendwann wieder los. Bei den Vilemon aber hatte sie wirklich die Befürchtung sie würden solange zerren, bis sie erstickte. Dann gab es da noch die Mutter-Gans-Reime.

„Hey, weißt du, aus was Viren gemacht sind?“, trällerten sie los, standen meist zu zweit oder zu dritt vor Salamon, während sie zitternd in einer dunklen Ecke des Schlosses kauerte, weil sie sie aus dem Hinterhalt überrascht hatten. Als Rookie mit doch zu wenig Kampferfahrung, hatte sie wenig Chancen und für Sarkasmus waren diese Digimon zu hohl, als hätte man sie damit abschrecken können.

„Aus Beph'moth Stärke und Scharfsinn, Drachens Feuer und schwarz' Schwing'. Und aus was sind Serums gemacht?“

„Aus Blindheit und Hochmut, Eis und geistiger Armut.“

Es klang fies. Wie sie das sangen und betonten und sich lustig über etwas machen, für dass sie doch nichts konnte. Genauso wie Myotismon sie nur wegen ihre Augen bestrafte, für die sie ebenso wenig etwas konnte, wie für ihren Typus. Sie war doch eben so.

Myotismons Albtraumkralle flackerte in Salamons Augenwinkel auf, dieses rote, grelle Licht und das zischende Geräusch von Blitzen war unverkennbar und automatisch zuckte ihr Körper zusammen, schlug ihre Arme über ihren Kopf, ihre Augen zugekniffen. Sie hörte den Knall, als diese Lichtpeitsche auf Haut traf, aber nicht sie wurde getroffen und erst als sie diese Erkenntnis für ein paar Sekunden in ihrem Kopf treiben ließ, wagte sie es die Arme wegzunehmen und die Augen, eins nach dem anderen wieder aufzuschlagen, gerade um Myotismons schwarze Stiefel und den Stoff des Umhangs vor ihr zu sehen. Salamon sah sein Gesicht, sein offensichtlich schlecht gelauntes Gesicht nur von der Seite, da er, nicht wie sie wartete hatte zu ihr, sondern zornig zu den Vilemon blickte. Die Albtraumkralle hatte ihnen gegolten und hatte diese drei Digimon in die Luft befördert, weit weg von ihr.

„Ich hoffe, dass ich mich einfach nur verhört habe, aber mir war, als hätten ein paar Digimon mit sehr schrillen Stimmen alte Mutter-Gans-Reime gekrächzt“, sagte Myotismon deutlich verächtlich.

„W-W-Wir wollten diesem Digimon nur klar machen, wie viel Glück sie hat in der heutigen Zeit leben zu können, Meister Myotismon.“

„Es weiß doch gar nicht, wie es früher hier zuging, der Glückspilz. Lebt hier mit Virus-Typen und darf das selbe Essen kosten und in den selben Betten schlafen wie alle anderen auch, ohne etwas dafür zu tun.“

Ohne sich zu bewegen, schaute Myotismon nun endlich auch zu ihr runter und Salamon senkte den Kopf noch tiefer. Seine Augen waren so kalt, dass sie immer eine Gänsehaut bekam. Kalt und Blau wie Eis. Aber nicht starr, sondern tosend und bedrohlich wie ein Schneesturm.

„Deswegen dieser schiefe Gesang, mit dem ihr alle Anwesenden im Schloss belästigt?“, fragte er, die Silben deutlich betont, deutlich wütend betont, dass selbst die Vilemon es verstanden. Dann begann er jedoch zu lächeln. Und das war noch beängstigender.

„Wenn ich etwas noch weniger ausstehen kann wie das, ist es Typus-Feindlichkeit. Aber ihr habt Glück, denn ihr gehört nicht zu meiner Dienerschaft, genauso wie ihr Glück hattet nur die Nachkriegszeit erleben zu müssen, statt wie es in der Typus-Kriegen oder in der Apartheid wahrhaftig zuging.“

Die Vilemon schluckten und entfernten sich zusammengekauert ein weiteres Stück von Myotismon fort. Es schien kälter in diesem Korridor des Schlosses geworden zu sein und dunkler, obwohl die Flamme der Kerzen, die an den Wänden hingen nicht kleiner geworden waren.

„Wärt ihr meine Diener, hätte ich euch für diese widerliche Tat, die ihr als unschuldigen Kinderreim tarnt lebendig gegrillt und dann gehäutet.“

„I-I-Ihr habt dem Meister geschworen, dass Ihr uns nichts tut“, krächzten die Vilemon, sichtlich verzweifelt, dass selbst in Salamon das Bedürfnis aufstieg, sie mit einem saftigen Tackle aus dem Schloss zu werfen. Rückgratlose Kreaturen, die sich hinter ihrem Meister versteckten. Meister Myotismon hätte ihnen so ein Verhalten schon lange ausgetrieben.

Salamon musste nicht einmal in Myotismons Gesicht sehen, sie wusste, er dachte das auch und dass er es fast bedauerte, dass dieser Haufen Elend nicht seine Diener waren.

„Das habe ich durchaus und da ich ein sehr ehrenhaftes Digimon bin, halte ich mich auch daran. Ihr hattet Glück, dass nur ich es war, der euren schiefen Gesang gehört hat. Man stelle sich nur vor, einer eurer Meister hätte das mitbekommen. Euch ist hoffentlich klar, dass wir alle große Verächter der alten Politik sind?“

Seine Arme verschränkten sich hinter seinem Rücken, so fest, dass man die Handknöchel knacksen hören konnte. Salamon kannte seine Körpersprache nur zu gut und wusste, was diese Haltung bedeutete. Er kochte innerlich vor Zorn. Sie sah durch diese Vorstellungskraft, wie seine Finger zuckten. Er wollte zupacken, malte sich in seiner Fantasie aus, wie es wäre dem aufkommenden Zerstörungstrieb freien Lauf zu lassen. Aber er beherrschte sich. Gerade so.

„Wer weiß, vielleicht bin ich nächstes Mal nicht der Einzige, der etwas von eurem schiefen Gejaule mitbekommt. Oh, stellt euch vor, der Sommersturm würde es mitbekommen. Und es wäre mir eine überaus große Freude einmal zusehen zu können, wie er seine Diener straft, die so auf die Gräber der Opfer der Apartheid spucken.“

Die Vilemon rannten davon, waren aber so eingeschüchtert, dass sie erst anfingen zu kreischen, als sie schon aus Meister Myotismons Sichtweite verschwunden waren. Seine Haltung entspannte sich, er murmelte etwas, was Salamon nicht hören konnte. Freundlich klang es nicht, aber den Vilemon geschah das Recht.

Lange sah Salamon in die Schwärze am anderen Ende des Ganges, der sich dahinter irgendwo zweigte, bis sie glaubte, die Schatten würden sich bewegen, dann schaute sie zu ihrem Meister. Er stand einfach da, rührte sich kein Stück und das war merkwürdig. Nicht so merkwürdig, wie die Tatsache, dass er sie verteidigt hatte. Aber Hilfe würde wohl weniger seine Intension gewesen sein. Vielmehr dieser gemeine Singsang.

Mutter-Gans-Reime. Typus-Kriege. Apartheid. Komische Begriffe, aber für Myotismon Bedeutung hatten.

„Meister? Erlaubt Ihr, dass ich Euch etwas fragen darf?“, fragte Salamon, zu verängstigt, zu eingeschüchtert, dass sie eigentlich gar nicht mehr mit einer Antwort seinerseits rechnete. Solche Töne in der Stimme verabscheute er. Aber sie würde an diesem Tag genauso viel Glück haben, dass hatten ihr diese kleinen, weißen Dinger auf seinem Umhang verraten. Schnee.

Es hatte in dieser Nacht geschneit und, wieso auch immer, Schnee schien auf ihren Meister eine besondere Wirkung zu haben. Man hinterfragte es unter der Dienerschaft nicht, sondern war froh darum. Wenn es schneite, konnte man sich etwas entspannter im Schloss bewegen, konnte auch mal den Kopf hängen lassen oder den Meister um ein, zwei kleine Dinge bitten oder eben fragen, die man sich sonst nie trauen würde.

Vielleicht mochte er Schnee. Vielleicht bekam er bessere Laune und war deswegen etwas großzügiger. Oder er war in Wirklichkeit weit schlecht gelaunter wie sonst und war nur so großzügig, weil er seine Ruhe haben wollte. In solchen Nächten glaubte Salamon auch manchmal ein Klavier zu hören. Sie hatte nie herausgefunden, woher es kam.

„Sprich.“

„Was ist diese Typus-Apartheid?“

„Das hat dich nicht zu kümmern. Sie existiert nicht mehr.“

Unter normalen Umständen hätte es Salamon dabei beruhen lassen, trotz dass sie neugierig war. Einzig der Schnee auf Myotismons Umhang verschaffte ihr etwas Sicherheit. Das Meiste war geschmolzen und nur mikroskopisch kleine Fetzen hingen am Stoff fest, aber durch die Schwärze des Untergrundes und dem Kerzenlicht im Korridor sahen diese Schneereste wie Sterne am Nachthimmel aus. Sie war zu fasziniert von diesem Anblick gewesen, als Angst zu haben und vielleicht hegte ihr Meister gerade deswegen so viel Sympathie für dieses Naturschauspiel. Kaum vorstellbar, dass Meister Myotismon so etwas Simples und Schlichtes mochte. Und dafür Blumen, insbesondere Seerosen, die bei lang anhaltenden, warmen Temperaturen auf dem Wasser blühten, so sehr verabscheute.

Also ließ Salamon ihrer Neugier ihren Lauf und - Schnee sei Dank - war Myotismon tatsächlich etwas gesprächiger.

„Hat man da oft solche Lieder gesungen?“

„Weniger. Aber manches Digimon weiß Musik eben nicht zu würdigen und verschandelt sie, damit sie ihren eigenen Wertvorstellungen gerecht wird. Seinen es Töne, seien es Reime.“

„Warum macht man das?“

Ihr Meister warf den Kopf ruckartig über die Schultern, um so zu Salamon hinunter zublicken. Ganz kurz war ihr kleiner Körper in sich zusammengefahren, lehnte sich mit dem ganzen Gewicht gegen die Steinmauern. Salamon hatte Myotismons Augen und den Schneesturm in ihnen nie gemocht. Sie war überzeugt davon, dass man selbst einfrieren würde, würde man zu lange hineinsehen.

Aber an diesem Abend war der Schneesturm ruhig und sachte gewesen. Es würde das einzige Mal sein, dass sie das erkennen würde und ihr Meister wohl etwas anderes in ihr sah, als einen Diener, den man schinden konnte wie es beliebte oder mehr nur wie die Augen, die er nicht mochte, mit Furchtlosigkeit und Irgendetwas darin.

„Was hast du gedacht, als sie dich verspottet haben?“

Salamon war überfordert gewesen, sie brauchte lange um zu antworten. Nach ihrer Meinung wurde sie nie gefragt. Und zum Denken, außerhalb des strategischen Kampfes nie aufgefordert.

„Das sie mich nicht Ernst genommen haben. Das war gemein. Hinterhältig und feige, weil sie sich nur wegen dem Typus für etwas Besseres hielten, dabei sind sie nur fast ekelhaft schwach. Trotzdem - “, ihr eigener Tonfall hatte Salamon erschreckt, also schluckte sie mit viel Mühe den Kloß, den ihre Wut in ihrem Hals erzeugt hatte wieder hinunter, „- war ich doch kurz traurig.“

„Da hast du deine Antwort.“

„Warum ist das so? Sind Reime so etwas wie Zaubersprüche, die einen traurig machen?“, fragte Salamon ihren Meister und ihr Kopf fragte sie gleichzeitig, wie sie auf diesen Vergleich kam. Aber wenn sie an Reime dachte, dachte sie immer an Zauber und Weissagungen, wie sie es in den Büchern gab, die ihr Phantomon in die Pfoten gedrückt hatte. Das oder es war eben nur zusammen gesponnener Nonsens, wie in Alice im Wunderland. Eine alberne Geschichte.

„So ähnlich. Kinderreime, Lieder und Worte an sich sind unschuldig. Es kommt drauf an, wie man sie singt und spielt. Dann sind sie wie Zaubersprüche, die alte Erinnerungen hervorrufen, die einen quälen und keine Ruhe lassen.“

Myotismon hatte den Blick von Salamon abgewandt. Eigentlich hätte sie das erleichtern sollen, aber gerade in so einer komischen Situation hätte sie sein Gesicht gerne gesehen, da seine Worte ungewohnt aufrichtig klangen. Ob er, als er das sagte, von sich oder von einem anderen Digimon sprach?

„Geh. Ich gebe dir eine Schonfrist für heute. Sieh zu, dass du wegkommst.“

Sie war erst skeptisch gewesen, deswegen behielt sie Myotismon weiter in ihrem Blick, während Salamon dabei von der Wand weg ging, dass erste Mal seit vielen, langen Minuten und ihr Gewicht wieder alleine halten musste. Mit langen, langsamen Schritten entfernte sie sich von ihrem Meister, den Kopf in den Schultern und das schien er trotz allem doch gemerkt zu haben. Salamon erstarrte, als die Blicke ihres Meister sie trafen, der Rest seiner Miene aber von seinem zu hohe Kragen verdeckt wurde.

„Schonfrist heißt nicht, dass du hier rumlaufen kannst, wie ein geschlagener Hund. Halt deinen Rücken gefälligst gerade und den Kopf hoch! Wer so gekrümmt herumläufst sollte sich nicht wundern, dass andere Digimon einen schikanieren und nicht Ernst nehmen“, schrie er sie an und Salamon machte dabei einen heftigen Satz von ihm fort, rechnete damit, dass sie doch noch eine Albtraumkralle abbekommen würde, oder die Fledermäuse sie anfauchen würden. Aber dies geschah nicht und überrascht davon und zitternd, bemühte sich Salamon ihren Rücken durchzustrecken und den Kopf, der sich anfühlte, als sei er an ihren Schultern festgeklebt, zu heben. Sie blieb so vor ihrem Meister stehen, zwar zitternd, aber er gab sich damit zufrieden. Sie hatte Angst. Und gleichzeitig hasste sie ihn.

„Wehe dem, ich sehe dich noch einmal so jämmerlich in einer Ecke kauern. Im Gegensatz zu den Vilemon kann ich mich persönlich um dich und deinen krummen Rücken kümmern. Und denke nicht, ich bemerke deinen unverschämten Blick nicht!“

Ja, sie hasste ihn. Aber sie konnte sonst nirgendwo hin. Auch wenn sie Angst vor Myotismon hatte, war dies nicht der Grund, warum sie nie einen Fluchtversuch wagte. Sie hätte vielleicht sogar Erfolg gehabt, warum sollte er sie suchen, wenn sie wegliefe? Die Mühe würde er sich nicht machen. Jedoch konnte sie sich sicher sein, wenn sie fliehen würde, müsste sie in ständiger Angst leben ihm oder einem seiner Gefolgschaft über den Weg zu laufen und man würde sie, einen Verräter, ohne zu zögern töten. Sie wäre offiziell Freiwild und selbst Digimon, die nicht zu Myotimons Dienern gehörten würden sie jagen, nur um dann in seiner Gunst zu stehen. Verräter zu töten war in des Meisters Augen eben nicht unnötig.

Sie könnte nirgendwo in Frieden leben, nirgendwo hingehen. Nicht einmal zurück. Aber solange sie ein braves Haustier war, konnte sie immer zurück. Selbst, als er ihr erlaubte, sich frei in der Gegend bewegen zu durften, dachte sie weder als Salamon, noch als Gatomon daran abzuhauen. Vermutlich erlaubte Myotismon ihr es gerade deswegen, weil er wusste, dass sie nichts hatte außer dem und kaum in der Lage war sich auszudenken, was sie machen sollte, wenn sie das auch noch verlieren würde. Dann hätte sie keinen Ort mehr, wo sie hingehen könnte.

Myotismon war wie der krumme Mann in diesem Mutter-Gans-Reim, ein krummes Digimon mit einem krummen Geist, in einem krummen Schloss, auf einem krummen Berg, mit einem krummen Kätzchen in einer krummen Welt.

Nichtsdestotrotz, er war der Einzige, der sich um sie gekümmert hatte. Er schlug sie, und gleichzeitig hatte er ihr beigebracht, wie man gerade stand und zu reden hatte, um den Respekt anderer Digimon zu ernten, damit diese nie mehr überhaupt auf die Idee kamen, sie mit Kinderreimen zu triezen. Dafür war sie tatsächlich irgendwo dankbar.

Vielleicht war sie auch schon wahnsinnig.

„Hey, Gatomon“, rief DemiDevimon sie aus ihrer Trance. Seine Augen waren immer noch groß, aber nicht mehr tellergroß. Hatte es sich etwa Gedanken gemacht, während sie auf diesem Trip in frühere Tage war?

Wind kam auf, ihr beider kurzes Fell, eines weiß, das andere schwarz wehte mit. Die Welt ging in einen goldenen Farbstich über. In den großen Fenstern der Hochhäuser spiegelte sich die orangene Sonne, die sich auf Richtung Meer machte.

„Wir müssen weiter unsere Arbeit machen, klar? Wenn der Meister Wind davon bekommt, dass wir trödeln und über Kinderreime quatschen, wer weiß, was er dann mit uns macht.“

„Hast Recht“, sagte Gatomon zu ihm, einen Satz, von dem sie dachte, ihn nie gegenüber DemiDevimon zu äußern. Auch wenn Tag war, Meister Myotismon bekam irgendwie am Ende doch alles raus. Und diesen Schneesturm wollte man nicht erleben.

Ob die Apartheid schlimmer war wie der Schneesturm? Sie hatte immer noch nicht rausbekommen, was das war, dass es selbst dem Meister Argwohn bereitete. War es früher in der Digiwelt wirklich so viel schlimmer? Wenn ja, hatte sie im Vergleich dazu wohl wirklich Glück gehabt.

Wizardmon wüsste vielleicht etwas. Ihn könnte sie fragen. Auch wenn sie ihn als einen dummen Kerl bezeichnete, war er doch sehr schlau. Zu ihm konnte sie immer. Wizardmon war kein Ort, aber so etwas wie eine Lichtung, zu der sie immer hin konnte. Das war beruhigend, denn dann wusste Gatomon, dass sie noch nicht so wahnsinnig war. Sie würde ihn fragen, irgendwann anders zumindest, wenn sie den achten Digiritter gefunden hatten. Diese Mission war wichtiger.

Ihre Wege trennten sich auf eine ungewohnte weise, nämlich schweigend, DemiDevimon in die Lüfte, Gatomon über den Rasen, Richtung untergehender Sonne, tiefer in die Innenstadt, vorbei an so vielen Menschen und lauten Maschinen. Sie sollte zurückkehren. Das falsche Wappen hatte sie unterwegs verloren, den achten Digiritter also aufspüren konnte sie getrost vergessen. Sie brauchte ein neues.

„Eine Katze?“, hörte Gatomon jemanden neben sich sagen. Die zarte, helle Stimme eines Kindes, dass vielleicht gerade mit seiner Mutter an ihr vorbeilief und mit den Gedanken spielte an ihren Ohren zu ziehen. Aber neben ihr stand nur ein einzelnes, blondes Mädchen, die Augen so glasig und starr, dass Gatomon kurz erschrak. Ihr Schweif peitschte in der Luft, ihr Heiliger Ring klimperte laut.

„Bist du zufällig Karis Katze? Sie sucht dich schon überall. Du musst nach Hause“, sagte das Mädchen zu ihr. Kari. Mit Kari hatte sich auch das Mädchen von Odaiba Beach vorgestellt. Eine Freundin?

Gatomon, erst schockiert, dann genervt, fast wütend über diesen späten Nachmittag rannte weg. Alles die Schuld von diesem blöden Mädchen. Warum ließ sie sie nicht endlich in Ruhe?

Das blonde Mädchen ging ihr nach, und eben weil sie nur schnell ging, blieb Gatomon nach einem kurzen Spurt wieder stehen. Dieses Kind blickte unbeholfen drein und der Stab, den sie in der Hand hielt und damit wedelte verstärkte den Eindruck. Nein, nicht wedeln, die ließ ihn über den Asphalt streifen. Dann verstand Gatomon, dass dieses Kind nichts sah.

Ein elektrisches Rauschen. Fernseher, die in einem Schaufenster standen gaben nur schwarz-weißes Geriesel von sich. Die Tür des Ladens, dem sie gehörten und vor dem Gatomon stand war weit offen. In der Hoffnung, dieses Kind loszuwerden, wenn sie sich kurz in der Videothek versteckte rannte sie ins Innere. Niemand war drin, weder Verkäufer noch Kunden, aber Gatomon störte dies nicht. Wunderlicher war, dass es doch recht dunkel war und noch wunderlicher, dass sämtliche Fernsehgeräte nur dieses Rauschen zeigten. Sie fand eine Ecke, wo sie bleiben konnte und warten, dass das Mädchen außer Hör- und Sichtweite war.

Gatomon verweilte jedoch nicht lange dort. Einer der Fernseher sprang plötzlich doch an. Die Musik klang fröhlich und feierlich, also sah Gatomon auf den Bildschirm, nachdem sie sich so erschrocken hatte. Doch die Szene, die sie zu sehen bekam war nicht so fröhlich und feierlich. Zwei Männer beugten sich über eine Frau, küssend, wie es schien, einer am Handgelenk, ein anderer am Mund und Hals, aber da war Blut, viel Blut. Sie küssten sie nicht, sie bissen sie, die beiden Männer saugten ihr das Blut aus, genauso wie Myotismon es tat, diese blassen Kerle, mit ihren langen Zähnen tranken Blut, wie Myotismon bei seinen Opfern, die sie mit ihren Hilferufen angelockt hatte, sie taten was Myotismon tat, Myotismon, Myotismon Myotismon Myotismon -

In Panik rannte Gatomon wieder hinaus, vorbei an dem blonden Mädchen, die nur wieder das Klingeln von Gatomons Ring hörte. Hinter ihr schlug die Tür zu, aber Gatomon rannte weiter, nicht wissend wohin, nicht wissend wo sie sicher war. Schließlich bog sie in eine Seitengasse ein, kauerte wimmernd zwischen zwei leeren Pappkartons und wie schon als Salamon schlug sie ihre Arme über ihr Gesicht. Das Zittern hörte nicht auf, genauso wenig wie das Schnappen nach Luft. Ihr Herz raste und hämmerte beinah schmerzhaft in ihrer Brust, aber es hörte nicht auf und sie saß hier, mitten in einer fremden Welt und wusste, wie so oft nicht wohin, bitterlich hoffend, jemand käme, irgendjemand, irgendwer, irgendetwas -

… )

Schlagartig hörte es dann auf. Ihr Herz wurde langsamer, dann schlug es wieder rhythmisch vor sich hin. Das Bibbern hatte aufgehört, in dem Augenblick, als Gatomon etwas Warmes auf ihrem Kopf spürte. Eine Hand hatten sie berührt, die über ihr Fell strich, vom Kopf, mit leichten, kraulenden Bewegungen hinter ihre Ohren, dann wieder auf ihren Kopf, immer wieder.

Komisch. Myotismon streichelte sie genauso, wenn sie brav, fleißig und artig war, mit selbiger, fließender Bewegung, mit der gleichen Intensität, nicht zu fein, aber auch nicht zu grob.

Aber es waren nicht Myotismons Hände gewesen. Diese Hände waren viel, wie sollte sie es sagen, zierlicher gewesen. Gatomon hatte eine weibliche Stimme murmeln hören, in einer Sprache, die sie nicht verstand. Obwohl diese Berührung und diese Stimme ihr Tränen in die Augen trieben, fühlte Gatomon sich erleichtert. Die Welt um sie herum wirkte klarer. Und sie roch blumig.

Aus einem unerfindlichen Grund, dachte Gatomon wieder an dieses blonde Mädchen. Sie musste nach Hause, hatte sie gesagt. Nach Hause. Wo war nach Hause? Gatomon dachte eigentlich, zu Hause war, wo ihr Meister sei, obwohl er selbst sagte, der Wunsch irgendwo sein zu müssen, irgendwo hinzugehören, sei trügerisch.

Ob es ein Zufall war, dass dieses Mädchen, die genau das zu ihr sagte auch diese Kari kannte? Diese Kari hatte die Hände nach ihr ausgestreckt. Wie würde es sich anfühlen, würde sie über Gatomons Kopf streicheln?

Gatomon kam dieses Denken albern vor, sich so viele Gedanken über einen schnöden Menschen zu machen, den sie nicht einmal kannte. Aber die Lichtung, die sie manchmal sah, wurde plötzlich größer, lockte sie regelrecht an. Gatomon sah Licht, wo vorher mit Erde alles verschüttet war. Nun aber hatte jemand die Erde und den Schnee, den Myotismon in ihrem Herzen hinterlassen hatte beiseite geräumt und im Licht wirkte diese Lichtung so friedlich. Vielleicht, und ja, vielleicht -

Vielleicht sollte sie diese Kari doch noch einmal unter die Lupe nehmen.

Gatomon rannte los, aber nicht panisch, sondern entschlossen.

Wizardmon, auf der anderen Straßenseite stehend, hatte sie beobachtet und bemerkt, dass dieser Blumenduft, der Gatomon umgeben hatte etwas Magisches war. Doch woher? Und von wem?

Vielleicht sollte er seine beste Freundin auch etwas genauer unter die Lupe nehmen.

 
 

𝅘𝅥𝅯

 

Masato Amano warf gegen 18:38 Uhr schnaubend das Handy auf die Rückbank seines Autos. Für was er überhaupt eines hatte wunderte er sich keinen Moment später, denn seit dem gestrigen Tag sponn es nur noch herum und wäre er nicht irgendwo abhängig davon, würde er es gar nicht mit sich rumtragen. Eigentlich wollte Masato nur in der Agentur anrufen, sagen, dass das Gespräch mit dem Kunden mehr oder minder gut lief und sie in Zukunft, wenn sie ihm schon Aufträge an Land zogen und Termine vereinbarten, sie darauf achten sollten, dass diese Personen wenigstens etwas Kompetenz an den Tag legten und auch einen Hauch von musikalischem Verständnis hatten.

Damals, als er in der Oberstufe anfing die Musik für seine Mitschüler zu schreiben und zu spielen, die sie für diverse Projekte und Veranstaltungen brauchten, hatten die Leute mehr Respekt vor der Schönheit der Klassik, wie auch als er sein Hobby, das Klavierspielen, vom Nebenjob zum Hauptberuf machte.

Heutzutage, um es in den Worten seines Klienten zu sagen, mit dem er sich an jenem Nachmittag in Odaiba getroffen hatte, hatte die junge Generation keinen Sinn fürs Klassische mehr. Sie nannten es abwertend Retro und stattdessen wollten sie Pep. Obwohl Masato Amano ruhig blieb, als sein Klient (ein junger Bursche, der für eine sechsteilige Serie Musikstücke für Hintergrund, Intro und Outro wollte) das Stück für den Abspann dankend annahm, den Rest jedoch ablehnte, hätte er ihn gerne seinen Kaffee ins Gesicht geschüttet. Dieses schwermütige, alte, viel zu klassische war konträr mit seinen Vorstellungen, so stellte er sich ein Klavier nicht vor. Als Masato fragte, ob es das Tempo und der Takt sei, das könnte er ändern, meinte sein Klient nur, es lege an allem. Nicht fetzig, nicht mitreißend, so letztes Jahrhundert eben. Verstand einer die Jugend. Wenn sie etwas Fetziges wollten, sollten sie irgendwelche Independent Pop-Bands anheuern. Ein Klavier war eben altmodisch, aber wusste man damit umzugehen, konnte man es in jede Zeit integrieren und den Raum formen. Aber das verstanden die Wenigsten.

Eigentlich wohnte Masato Amano in Shinagawa (seit jener Sache), in einer großzügigen Wohnung, die nun noch großzügiger wirkte, nachdem er vor eineinhalb Jahren Witwer wurde. Nach Odaiba zu fahren verlieh ihm ein flaues Gefühl im Magen. Es war die Angst vor Momenten, die man gerne vermeiden würde. Oder eher Treffen und eigentlich wollte er schnell wieder nach Hause, aber der Zorn und der Ärger, der seinen Magen gefüllt hatte war vergangen und der Hunger zerriss ihn. Ein Plumpudding wäre das Beste gegen seine Laune.

Ein paar Mochi mit roten Bohnenmus gefüllt würden es aber auch tun.

Ein Geschäft der Lawson-Kette war zum Glück nicht weit weg von dort, wo Masato geparkt hatte, er musste nur über die Straße gehen. Der Verkehr in Odaiba war generell die Hölle, aber seit diese Monster aufgetaucht waren, spielte alles verrückt und die Ausfälle und Umleitungen, die von Hikarigaoka ausgingen breiteten sich aus nicht erklärbaren Gründen – Masato tippte schlicht auf Massenpanik – in gefühlt ganz Tokio aus. Im Lawson befanden sich zu gegeben Zeitpunkt nur eine Mutter mit ihrem Sohn und der Kassierer und Masato bereute es, nicht zum 7Eleven gefahren und eine halbe Stunde nach einem Parkplatz gesucht zu haben, als er die Fünfer-Packung Mochis, eine Flasche Wasser und Knoblauch-Cracker auf den Tresen legte.

Masato Amano und Akira Watai kannten den Namen des jeweils anderen eigentlich gar nicht. Sie waren sich eigentlich unbekannt, wäre da nicht jener Tag im Sommer '79 gewesen, nachdem Masato wutentbrannt den Laden, der sich damals auch noch in Hikarigaoka befand, betreten hatte, kurz nachdem er erfahren hatte, dass Hisaki nicht zur Musikprobe erschienen war. Außer zwei, drei Fragen hatten diese beiden Männer nie ein Wort gewechselt, und doch stellten sich die Haare von Masatos Vollbart hoch, wenn er Watai sah. Und Masato hatte ihn schon öfter gesehen, in verschiedenen Vierteln von Tokio, immer mal wieder in den letzten zwanzig Jahren. Diese Person war der Beweis, dass die Welt ein Dorf war.

„Sie hier in Odaiba, Herr Amano?“

„Geschäftliches“, antwortete er knapp, ohne Watai anzuschauen. Während Watai die Ware in die Kasse eintippte, holte Masato sein Portemonnaie aus der Innentasche seines dunkelgrünen Blazers.

„Welch ein Zufall. Ihre Enkelin war heute Mittag auch hier“, verkündete Watai, genau in dem Moment, als auf der Suche nach passenden Münzgeld das Foto von Yukino in die Hände fiel. Das Foto hatte seine Schwiegertochter ihm geschickt. Warum verstand er nicht. Das Foto war von Yukinos achten Geburtstag (24. Dezember) und weil er nicht wusste wohin damit, hatte er es in seine Geldbörse gesteckt, wo noch ein Foto von seiner verstorbenen Ehefrau Mio war (ehe der Krebs diagnostiziert wurde) und ein Bild von Hisaki. Das Bild war von seiner Abschlussfeier der Oberstufe. Hisaki war Recht groß und schlank gewesen. Das waren aber auch die einzigen Dinge, in denen er Masato ähnelte.

„War sie das? War sie mit ihrer Mutter hier?“

„Sie wissen das nicht?“

„Was weiß ich nicht?“, fragte Masato grimmig und steckte das Foto wieder zurück in die durchsichtige Schutzhülle seines Portemonnaies.

„Yukino hat erzählt ihre Mutter sei im Krankenhaus. Sie sagte aber, jemand von den Nachbarn kümmere sich solange um sie.“

„Dann scheint es, als müsste man sich keine Sorgen um sie machen. Für Asami tut es mir jedoch Leid. Im Krankenhaus zu sein ist nie eine gute Erfahrung.“

Statt mit Kleingeld zu bezahlen, entschied sich Masato für einen 1000-Yen-Schein. Und statt das Watai das Geld gleich annahm, stierte er seinen Kunden an und wie die Haare seines Schnurrbart steif geworden zu sein schienen, stellten sich auch die Haare von Masatos gestutzten Vollbart auf.

„Das Kind hätte in so einem Fall ihren Großvater anrufen müssen, der sich um sie kümmert, statt bei Nachbarn, weil sie nicht weiß wohin.“

„Hat Ihnen einmal jemand gesagt, dass Sie sich für einen Kassierer zu sehr in fremde Angelegenheiten einmischen?“

„Wieso ist Ihnen das eigentlich so egal?“

„Wieso kann es Ihnen nicht egal sein?“

„Weil es immer noch die Tochter Ihres Sohnes ist!“

Hisaki war nie -!

Masato hatte vor Wut seine Börse auf den Tresen geklatscht. Doch es fiel durch die Wucht hinunter und Münzgeld und die Fotos verteilten sich auf dem glatten Boden. Die Frau, die sich zwischen den Regalen versteckt hatte, während die beiden Männer sich stritten erschrak kurz, als die beiden in ihrer Richtung sahen, da die Fotos genau vor ihren Füßen und denen ihres Achtjährigen Sohnes liegen blieben.

„Ich heb's auf!“, rief der Junge und bückte sich nach den Fotos, obwohl seine Mutter ihn noch davon abhalten wollte. Masato hatte in der Zeit das wenige Münzgeld aufsammeln können.

„Hier“, jauchzte der Junge und reichte die Fotos, nicht aber ohne noch einmal einen verstohlen Blick auf diese zu werfen. „Ah! Das Mädchen da habe ich vorhin gesehen.“

„Daisuke, man schnüffelt nicht in den Sachen Fremder herum!“, schimpfte die Mutter des Jungen und zog ihn mitsamt ihren Einkäufen zur Kasse. Stumm sah Masato auf die Fotos, überhörte wie die Frau weiter ihren Sohn rügte und der Junge nicht verstanden, was er falsch gemacht hatte und leise moserte. Man sah auf dem Foto, dass Yukino blind war. Sie schaute direkt in die Richtung der Kamera (aufgenommen vor ihrer Wohnung, draußen mit einem neuem Wintermantel) aber nicht in die Kamera. Dass der Junge sie gesehen hatte glaubte Masato sogar. Hisaki war schon mit seinen hellen Augen und Haaren, die er Yukino vererbt hatte, aus der Menge herausgestochen.

„Junger Mann.“

Daisuke drehte sich um, sah zu Masato hoch und befürchtete schon, von ihm nun auch noch Ärger zu kriegen. Man musste erwähnen, dass Masato Amano einen Recht einschüchternden Eindruck machte. Er war groß, aber nicht so schlaksig wie man es über Hisaki gesagt hätte. Auch im Gegensatz zu seinem Sohn war er weder besonders hellhäutig, noch blond, seine Haare waren dicht und schwarz und wurden an den Schläfen grau (er wollte es sich schon färben, davon rieten ihn aber seine weiblichen Kollegen aus der Agentur ab). Sein kantiges Gesicht mit dem dunklen Bart, der breite Nacken wie auch die breiten Schultern ließen oft den Eindruck erwecken, dass Masato kein zu freundlicher Mensch war und viele, ob Kollegen oder Bekannte hätten dies sofort bestätigt. Für einen Mann von sechsundfünfzig Jahren, so sagten einige junge Dinger aus der Agentur, sei er zwar attraktiv, jedoch wirkte er mit seiner steifen Haltung und dem grimmigen Blick mehr wie nur nicht freundlich, sondern auch hartherzig, wenn nicht sogar komplett emotionslos.

„Daisuke, richtig?“, fragte Masato und Daisuke nickte nur eingeschüchtert, statt standardmäßig wie sonst zu sagen, dass seine Freunde ihn Davis nannten.

„Wo hast du dieses Mädchen denn gesehen?“

„Im Mizuno Hiroba Park“, sagte Daisuke deutlich eingeschüchtert von diesem Mann.

„Was hat sie dort gemacht?“

„Sie hat mit jemanden unter einem Baum gesessen. Ich glaube, sie haben sich unterhalten und was getrunken. Ich habe das nicht so gut gesehen, sie waren im Schatten und da waren Büsche im Weg.“

„Und wer war bei ihr?“

Daisuke pausierte kurz, überlegte eifrig mit offenem Mund.

„Ähm, ich weiß es nicht.“

„Wie sah er aus?“

„Weiß ich auch nicht. Er trug einen Mantel und einen Hut. Aber der Mann war echt groß. So ein richtig langer, dünner Typ war das!“

Daisukes Mutter sah die beiden Männer an, und während Masato selbst überlegte, begann Watai, sich Sorgen zu machen. Denn das, was er hörte passte weder zu dem, was Yukino ihm, noch zu Hikari gesagt hatte. Der schlimmste Verdacht kam hoch, dass sie vielleicht in die Arme eines Pädophilen gelaufen war. Aber wenn es so wäre, würden sie dann so auffällig im Park sitzen? Watai hatte sich mal sagen lassen, dass solche Leute erst Vertrauen aufbauen und dann zusehen, dass sie so schnell wie möglich mit ihrem Opfer verschwinden, und das möglichst unauffällig. Und ein hochgewachsener Kerl, der mitten im Sommer Hut und Mantel trug war das krasse Gegenteil davon. Überhaupt, warum sollte er Yukino erst einkaufen schicken oder sie einkaufen lassen, wenn er wirklich etwas dergleichen vor hätte? Wäre doch riskant gewesen. Das alles war mehr wie merkwürdig.

„Ich danke für die Auskunft“, sagte Masato und ehe Watai ihm etwas hinterher rufen konnte, ob er nicht zumindest die Polizei verständigen wollte, hatte er den kleinen Supermarkt verlassen und war wieder auf dem Weg zu seinem Auto. Die Einkäufe warf er mit seinem Geldbeutel auf den Rücksitz, wo auch sein Handy lag (auf dem Display las man 4 ANRUFE IN ABWESENHEIT). Sein Hunger war fort. Hatte er überhaupt das Wechselgeld angenommen? Was soll's.

Seine Geldbörse lag offen auf dem Rücksitz und wieder zeigte sich ihm das Bild von Yukino, wie das von Hisaki. Himmel, die beiden sahen sich erschreckend ähnlich. Vermutlich auch charakterlich. Hisaki hatte auch immer seinen eigenen Kopf gehabt, hat alles immer verborgen und schien, als lebte er in einer anderen Welt. Und dieser lange Typ wird vielleicht wirklich nur ein Nachbar gewesen sein, der die Sommerhitze nicht so gut verkraftete. In Odaiba liefen genauso viele merkwürdige Gestalten umher, wie in anderen Vierteln und wenn Yukino nur etwas von ihrem Vater hatte, dann dass sie gezielt nach solchen suchte und sympathisierte.

Masato machte sich keine Sorgen um sie. Er sah auch keine Pflicht darin. Er und Yukino verband nichts außer der Nachname. Er hatte keine Enkelin. Auch keinen Sohn. Er hatte nie einen leiblichen Sohn.

Dennoch, immer noch an Yukino denkend, fuhr Masato los, ignorierte das Klingeln seines Handys, ignorierte die Gestalt, die der Beschreibung richtig langer, dünner Typ mit Hut und Mantel sehr nahe kam und im Schatten verschwand, ehe das Licht der untergehenden Sonne diese berührte und fuhr die Hauptstraße Richtung Rainbow Bridge hoch.

 
 

𝅘𝅥𝅰

 

Was man über Yuki wissen musste war, dass sie für ein Kind ihres Alters ungewöhnliche Gedankengänge hegte und das lag zwangsläufig nicht einmal an ihrer Blindheit. Blind wurde sie erst mit vier Jahren, aber ihre komischen Gedanken hatte sie vorher. Die Vorstellungen ihrer Traumwelt waren so lebhaft und detailliert, das ihre Großeltern schon dachten, da stimmte was mit dem Leitungswasser nicht. Dabei war sie ihrem Vater einfach sehr ähnlich, der eine ebenso lebhafte Fantasie hatte und Unsinn nicht abgeneigt war.

Träume machten die Welt nicht so eintönig. Solange Yuki ihre Träume und ihre Fantasie hatte, konnte sie auch irgendwie sehen. Zwar nur ihr kleines Wunderland, aber es war besser wie dieses Gemisch aus Weiß und Grau und Gott sei Dank hatte sie die Bücher, die ihre Fantasie etwas bereicherten.

Sie las von Wäldern in Italien, in denen versteinerte Tiere standen, von Inseln in Mexiko, in deren Bäume Puppen hingen und Straßen in Rumänien, über denen Regenschirme in allen Farben schwebten und irgendwo fanden auch diese Informationen einen Platz in Yukis Vorstellung von der Außenwelt.

Und jeden Tag versuchte sie, dass diese bunte Zerrwelt erhalten bliebe, wenn es auch immer schwerer wurde. In der Schule, wo sie immerzu lernen und rein logisch denken musste, konnte sie sich nicht auf ihr Wunderland konzentrieren. Da war alles weißgrau. Aber lernen war wichtig. Hatte Papa gesagt.

Papa war in dem Punkten streng. Das traute man ihm kaum zu, aber ihr Vater hatte eine sehr strenge, fast kaltschnäuzige Art. Manch andere Eltern hatten gesagt, er sei grausam.

Yuki erblindete, lag Wochen im Krankenhaus und kaum, dass sie einen Fuß auf den anderen setzen konnte, hatte sich ihr Vater ihrem Training angenommen. Es würde so bleiben, dass war ihren Eltern bewusst und Papa setzte alles daran, dass sie trotzdem normal leben konnte. Um jeden Preis und das stieß bei einigen Eltern bitter auf, wie dieser Mann mit seiner kranken Tochter umging.

Wie oft hatte sie sich den Kopf oder den Fuß angestoßen? Wie oft war sie die Stufen runtergefallen? Papa hatte dann beängstigend viel Ähnlichkeit mit dem Dracula aus ihren Albträumen, nur dass ihr Vater nicht mit Wühlkisten des Schreckens drohte, sollte sie versagen. Wenn es aber hätte sein müssen, um ihr so den Anreiz und die Motivation zu geben, hätte er es wohl oder übel getan und war so versessen, dass selbst Mama, die ja eigentlich auch so beharrlich war, Zweifel an dieser radikalen Methode hatte.

Aber Papa hatte sich immer dafür entschuldigt. Für jede Schramme, die Yuki am Ende des Tages kassiert hatte, weil sie nicht aufgepasst und nicht begriffen hatte, dass sie nun mit den Ohren und Händen sehen musste. Für jeden Tadel, für jeden strengen, kalten Ton, wenn sie die Dinge um sich herum nicht ertastete, sondern einfach hinlangte und sich anschließend wunderte, wenn sie sich an den Fingern verletzte. Wenn er sie rief und sie nicht in der Lage war zu sagen, woher der Ruf kam, sondern riet. Wenn sie ihren Kopf nicht gerade hielt oder ihn orientierungslos herumwarf, wenn sie doch selbst nicht wollte, das jemand ihr Defizit bemerkte. Wenn sie aufgeben wollte, nicht wie später bei der Brailleschrift, sondern wirklich verzweifelte.

Dabei hielt er Yuki in seinen Armen, schaukelte sie hin und her, ließ sie in seinen Armen schlafen und sagte ihr all die Dinge, die noch immer in ihrem Kopf rumspukten.

Dass sie Glück hatte, das sagte Papa immer. Andere Kinder traf es heftiger, waren nach so einer Entzündung im Hirn total unbeholfen, aber bei ihr hatte es nur die Augen erwischt, dass bekam man hin und schließlich war sie doch nicht dumm. Sie war doch klug und das musste man richtig einsetzen, aber mit Bedacht. Gezielt, geplant, als würde man pokern und man hatte ein supertolles Blatt auf der Hand, aber man durfte das nicht zeigen. Und wenn sie schon so gute Karten hatte und den Kopf, diese auch zu nutzen, sollte sie das auch. Yuki sollte lernen so selbstständig wie möglich zu sein, statt etwas auf Mitleid zu geben.

Wenn sie ein Wunderland in ihrem Verstand hatte, in dem sie sich zurechtfand und sie glücklich machte, sollte sie das haben. Solange sie nicht verzweifelte oder aufgab. Sie war normal, mit einem kleinen Makel, aber das war nicht schlimm. Sie war sie und so war sie halt und ihr Vater sagte, er liebte sie dafür.

Vielleicht könnte ihr Vater ihr dann auch sein Wunderland zeigen. Sie könnte jemand sehr bedeutsames kennen lernen.

Diese Sätze verstand Yuki nur dann meist nicht mehr. Dann drifteten Papas Gedanken immer ab, so wie wenn es schneite. Manchmal ging er dann auch Klavier spielen, wenn er solche Phasen hatte. Phasen, in denen er so schweigsam war, traurig wirkte, es aber irgendwie doch nicht war. Phasen, über die die Nachbarn tuschelten. Aber Papa beteuerte vor Mama immer, er überwand das, weil er gute Gründe dafür hatte. Früher war es das Wunderland und die Schulband, nun seine Familie.

Papas Wunderland, das klang interessant. Aber als Yuki auf die Idee kam danach zu fragen, war es schon zu spät gewesen. Da lag die Asche ihres Vaters schon zwei Meter unter der Erde. Und ihre Spieluhr spielte nicht mehr.

Aber sein Gesicht vergaß sie nicht. Auch seine Stimme nicht, mit der er ihr all die Kinderlieder und Mutter-Gans-Reime beigebracht hatte, die er früher in der Schule spielen musste. Die, die Yukis Onkelchen nun einmal nicht so sehr mochte, obwohl er sich damit auskannte. Sie hätte ja gerne gewusst woher. Gab es in der Digiwelt auch Reime? Gab es Musik?

Wäre dieser Golden Afternoon besser verlaufen, hätte sie Onkelchen fragen können, stattdessen war er sauer geworden und hatte sie sitzen lassen.

„Dabei wollte ich ihn nur etwas besser kennen lernen.“

Gegen 17:50 Uhr lief Yuki die Straße entlang von Odaiba Beach hoch, allerdings auf der entgegen gesetzten Straßenseite, die sich nicht dem Meer zuwandte. Ihren Blindenstock hielt sie nicht wirklich. Vielmehr hielt sie den Stab nur aus reiner Gewohnheit in der Hand - im Park war das eine Sache, wenn man aber auf der Straße mitten in der Stadt unterwegs war, sollte man immer zum Stab greifen - und ließ ihn mit ihren Mundwinkeln hängen.

„Vielleicht war es auch gut so. Freundlich war er ja nicht gerade. Geh gefälligst nach Hause und lass dir Mutter-Gans-Geschichten vorlesen. Pah.“

Unter all den Menschen, die Yuki entgegenkamen befanden sich auch Sora und Mimi. Letztere schob den Puppenwagen, der mit zu viel Spitze und Rüschen geziert war, in dem Palmon und Biyomon saßen und schliefen, erschöpft von dem Kampf mit SkullMeramon zuvor am Tokio Tower. Yuki hing mit ihren Gedanken zu sehr an ihrem Onkelchen fest, als dass sie irgendetwas von der Unterhaltung der beiden mitbekommen hätte. Mimi jammerte, wie ewig es bei diesem Verkehr um die Uhrzeit gedauert hatte von Minato wieder zurück nach Odaiba zu kommen. Sora hingegen redete zu leise und Yukis Gedanken waren zu laut. Sie bekam nur mit, wie die beiden Mädchen ihr noch Platz machten, damit sie mit ihrem Blindenstab nicht noch versehentlich an den Puppenwagen stieß, aber das Gespräch über SkullMeramon, das achte Kind, oder wie sie über Myotismon redeten bekam Yuki nicht mit.

Sora hielt ihr Digivice fest in der Hand, Yukis Spieluhr steckte noch in der Hosentasche. Die Mädchen liefen aneinander vorbei, ohne dass irgendetwas eine Reaktion zeigte, weder Digivice, noch Wappen.

Hätte Yuki nicht darüber nachgedacht, was sie nun machen sollte, hätte sie noch Palmon schnarchen und Biyomon im Schlaf zwitschern gehört und wäre daraufhin stutzig geworden.

Stattdessen fragte sie sich, ob sie nach Hause gehen sollte. Das Verlangen hatte sie nicht unbedingt danach. Selbst wenn jemand von den netten Nachbarn schon da wäre, wäre sie allein mit diesem Kaleidoskop aus Geräuschen, Stimmen und Fantasiebildern, die in ihrem Gehirn ihr Unwesen trieben, wenn ihr auch das Bild gefiel, wie Graf Dracula, der in ihrer Vorstellung nun jung, blond und hübsch war den Jabberwock in die Knie zwang, ganz ohne eine Vorpal-Klinge, wenn seine Zähne wohl aber mindestens genauso scharf waren.

Der doofe Sabb-Sabb-Vogel war Schuld. Yuki mochte ohnehin keine Vögel. Die flatterten ohne Vorwarnung und oft lautlos durch die Luft und Yuki konnte nie einschätzen, wo sie waren. Zweimal hatte sie schon ein Vogel attackiert - einer flog ihr direkt in die Haare, ein anderer saß erst brav auf ihrer Hand, eher er ihr mit seinem scharfen Schnabel in den Finger biss - , da war sie schon blind gewesen und verstand nicht, warum sie das getan hatten. Der Jabberwock war nicht lautlos, aber er hatte das ja auch nicht nötig lautlos zu sein. Seine Schwingen waren eben so schwer, dass jeder es hören konnte und man Angst bekam. Aber ansonsten attackierte er, wie die Tauben und Elstern in der Stadt genauso aus dem Hinterhalt. Der Jabberwock, der auf dem Fühlbild, dass es extra für Kinder wie sie in ihrer Schule gab, aussah wie eine Mischung aus Drache und einem abgemagerten, felllosen Kaninchen, mit dem Verhalten der Vögel, die Yuki wie in Alfred Hitchcooks gleichnamigen Film an den Haaren gezerrt, sie mit ihren Krallen gekratzten und sie dann auch noch mit dem Schnabel bissen.

(des Klauens Krall, des Maules Biss)

Insekten waren nicht so, die summten zumindest oder taten nicht weh. Fledermäuse waren nicht so, die hatten ihr Pfeifen und kamen nur nachts. Normalerweise. Vampire waren ja auch normalerweise nachts unterwegs und trotzdem war sie einem über den Weg gelaufen. Normalerweise gab es auch keine Vampire, so wie es keine Jabberwocks gab. Und normalerweise hatten diese zwei Fabelwesen auch nichts miteinander am Hut. Die beiden jedoch schon.

„Was dieser NeoDevimon wohl von Onkelchen wollte?“

Yuki blieb genau vor einer Ampel stehen, die keine Sekunde später einen schrecklich hohen, aber nicht zu lauten Alarm von sich gab. Sie ging mit drei anderen Personen über die Straße, diese überholten sie aber.

Seinen Tod vermutlich, dachte Yuki, kaum dass sie die Ampel hinter sich gelassen hatte. Jemand hatte NeoDevimon angeheuert, jemand, der Onkelchen nicht sehr mochte. Auch wenn Onkelchens Zähne schärfer wie ein Vorpal-Schwert waren, er war am Tag unterwegs und selbst wenn er noch mächtiger wie Graf Dracula selbst wäre - und der alte Graf war schon sehr mächtig - war er geschwächt und dass nutzte NeoDevimon aus. Er würde wiederkommen, solange es noch hell war und Onkelchen nichts gegessen hatte. Wenn nicht an diesem Tag, dann wenn Onkelchen in seinem Sarg lag und schlief.

Yuki musste daran denken, wie Lucy Westenraa von Doktor Van Helsing erlöst wurde, nachdem sie zum Vampir geworden war

(einen Pfahl ins Herz schnitten die Spitze ab und ließen den Rest im Körper stecken schnitten den Haupt ab und füllten den Rachen mit Knoblauch)

und schluckte heftig dabei. Und NeoDevimons Krallen waren so lang und scharf, dass er nicht einmal einen Holzpflock brauchen würde.

„Armes Onkelchen.“

Aber was könnte sie machen? Wie man sich einen Vampir vom Leib hielt wüsste sie, aber wie handhabte man dies mit dem Jabberwock? Sie hatte Onkelchen vorhin schon keine große Hilfe sein können, sondern hatte ihn nur behindert. Außerdem hatte er klar und deutlich gesagt, dass sie gehen sollte.

Aber die Neugier. Der Wunsch, dass Papas Spieluhr bitte noch einmal Vivaldis Winter spielte. Nur einmal, damit sie sich ganz sicher sein konnte. Papa hatte ihr etwas versprochen, zwar mit einem Vielleicht darin, aber es war ein Ansatz und weil er tot war musste sie es nun irgendwie einhalten. Sie musste. Dass war sie ihrem Vater, bei dem selbst die Melodie von Großvaters alter Uhr oder Ringel Ringe Rosen so entsetzlich traurig klang, schuldig.

Aber wenn sie sich irrte und so nur alles schlimmer machte? Sie hatte keinen Beweis.

„Was soll ich machen, Papa?“, murmelte Yuki zu sich selbst, die Spieluhr in ihrer Hosentasche umklammerte sie dabei. Sie hatte auf irgendein Zeichen gehofft, aber sie hörte nur vorbeilaufende Personen und Autos, die sich teilweise, da es fast 18 Uhr war schon auf den Feierabend vorbereiteten. Vielleicht war gerade dieses Nicht-Zeichen ein Zeichen.

18 Uhr. Der Hutmacher würde immer noch Tee trinken, mit dem Märzhasen und dem Siebenschläfer. Ihre Zeit stand still und was um sie herum war interessierte sie nicht. Sie feierten, als gäbe es dass Chaos um sie herum nicht, lebten stattdessen in ihrem Nonsens und taten, als würde das alles um sie herum nicht passieren. Und sollte Yuki jetzt auch noch so tun, als hätte sie Onkelchen gar nicht getroffen?

„Was ich auch mache, Ärger bekomme ich ohnehin. Was soll's also?“

An eine solche sinnfreie Teeparty mit drei so durchgeknallten Persönlichkeiten teilzunehmen widerstrebte selbst Yuki, aber ein weitere Golden Afternoon mit ihrem Onkelchen klang gar nicht so schlecht. Oder eben ein Golden Evening, dass war von ihrem Erfolg und seiner Laune abhängig. Wer weiß, vielleicht kam er hier in der Stadt nicht so zurecht und hatte deswegen solche Probleme bei der

(Menschenjagd sprach der Märzhase)

Essenssuche.

(Der Hutmacher riss seine Augen sehr weit auf als er dies hörte aber alles was er sagte war: Was hat ein Vampir mit einem Jabberwock gemeinsam?)

Auf jeden Fall mehr wie ein Rabe mit einem Schreibtisch.

Es gab bestimmt Alternativen. In Krankenhäusern gab es doch Blutkonserven und vielleicht wusste er das gar nicht. Wenn er so wie Dracula war, war er sicher ganz andere Dinge gewohnt. Ruhige, kleine Städte, tiefe Wälder, Berge, Schlösser. Nicht die laute Großstadt. Vielleicht war er überfordert.

Sie könnte ihn suchen. Irgendwo mussten sich doch Fledermäuse aufhalten und dort wo Fledermäuse waren, konnte ja auch Onkelchen nicht so weit entfernt sein. Aber wo gab es Fledermäuse?

(Funkel funkel Fledermaus wonach fliegst du heut nur aus?)

Mit einem Ohrwurm dachte Yuki weiter nach. Vampire entfernten sich eigentlich nicht so weit von ihrer Heimat oder eben von ihrem Unterschlupf weg. Irgendwo in der Nähe, hier in Odaiba musste er sein.

Im Daiba Park vielleicht. Dort waren auch Inseln, die Bird Islands, da konnte man nicht so leicht hin, mit vielen und dichten Bäumen und im Sommer flogen dort auch sehr viele Fledermäuse herum. Dort war der Fluss, genau zwischen Odaiba und Minato, also vielleicht dort, bestimmt gab es da eine Fähre oder etwas, dann könnte sie ja einen Versuch wa-

„Hä? Moment mal. Vampire können doch gar nicht über fließendes Wasser.“

Yuki war mitten auf dem Weg stehen geblieben, eine Frau hinter ihr schimpfte noch und ging weiter.

War der Daiba Park doch die falsche Adresse? Aber vielleicht gerade weil da fließend Wasser war, war er dort. Wer rechnete denn bei einem Vampir - oder einen Digimon, dass sich wie ein Vampir benahm - damit? Onkelchen war ja nicht von vorgestern, der würde doch sicher einen Plan haben, wie er dieses Hindernis umgehen könnte. Dracula hatte es ja auch übers Meer geschafft.

Sie lief am Einkaufszentrum entlang, vorbei an den Plakaten, von Alice und von Vampiren, hörte hinter sich Kinder, die entweder von einer Einkaufstour oder einer Kinovorstellung kamen.

Mama wollte auch noch mit ihr einkaufen gehen, wenn sie Papa besucht hätten. Hoffentlich ging es ihr gut und es war wirklich nichts Schlimmeres wie ein Hitzschlag. Auch wenn Yuki es nicht glaubte.

Denn dafür gab es eine Ungereimtheit. Der Unbekannte, der bei Mama gewesen war, den Yuki nicht einschätzen konnte. Sie hatte nichts von diesem Unbekannten mitbekommen. Gar nichts, als wäre er mit seiner Umgebung verschmolzen. Nichts war da, nur der Friedhofsgeruch, aber nichts von ihm, kein bestimmtes Parfüm oder der Klang und der Takt seiner Schritte. Aber es war, als sei er davon geschwebt. Nur dass er direkt auf sie zu gegangen und vor ihr gestanden hatte, hatte sie bemerkt.

Vielleicht könnte Onkelchen ihr helfen diesen Typ zu finden. Als Ausgleich, wenn sie ihm mit dem Jabberwock half. Solange etwas für ihn dabei raus sprang, ließ er sich wohl auch auf Dinge ein, die ihm eigentlich gegen den Strich gingen. Vampire waren gar nicht so kompliziert.

„Das ist die Idee! Dann kann ich Onkelchen auf öfter sehen und erfahre noch ein bisschen mehr von ihm“, lobte Yuki sich und hörte den Hutmacher, den Märzhasen und den Siebenschläfer (diesen wenn auch sehr träge) in ihrer Fantasie Beifall klatschen.

Doch das Klatschen hörte nicht mehr auf, sondern wurde zu einem Kling und dem folgte ein Meow.

„Eine Katze?“, fragte Yuki sich, wenn sich auch nicht wüsste, wer ihr antworten sollte. Vielleicht noch mal der Märzhase, der ihr sagte, dass das nur die Grinsekatze der Herzogin sei. Vielleicht in weiß, anstelle des obligatorischen Kaninchens. Eine Katze mit einem Glöckchen. 

„Bist du zufällig Karis Katze? Sie sucht dich schon überall. Du musst nach Hause.“

Die Katze würde sie nicht verstehen, sicher nicht, nicht wissend, dass es Gatomon war, die vor ihr stand. Aber in Yukis Kopf, in dem das Bild einer Katze doch merkwürdig abstrakt und comichaft aussah, mit großen Augen und dicken Fell, der Kopf fast größer wie der Körper, grinste die Katze sie an. Als das Geräusch des Glöckchens erklang, sah Yuki es in ihrer Fantasie davonlaufen.

„Hey, warte!“, rief sie der Katze nach, den Blindenstock weit von sich gestreckt, etwas in der Luft schwebend, damit er nicht in den Rillen und Ritzen des Asphalts stecken blieb. Gerade als sie hoffte, auf dieser Jagd nicht an eine befahrene Straße zu kommen, stieß sie mit ihrem Stab nach wenigen Schritten gegen etwas. Der Schmerz des Gegendrucks fuhr über ihren Arm, in ihre Schultern, verging aber schnell wieder. Mit dem Stab stieß Yuki vorsichtig gegen das Hindernis. Es gab dem Druck etwas nach. Eine Tür.

Yuki hatte nicht darauf geachtet, wieweit sie gelaufen war, sonst hätte sie gewusst, dass sie vor der Videotheke stand, wo Stunden zuvor schon Myotismon gestanden hatte. Nur dass die Tür sperrangelweit offen stand und aus dem Inneren traten die gebündelten Schallwellen, das von Gatomons Heiligen Ring kam und Yuki für ein Halsglöckchen hielt. Die Katze war hineingelaufen.

Bei der offenen Tür dachte Yuki sich nichts, es waren warme Tage, da ließen viele Geschäfte die Türen offen. Mit dem Stab in der linken Hand, streckte sie ihre rechte zur Seite und bekam direkt neben der Tür einen Plakataufsteller zu fassen. Weiter nach rechts ging sie daran vorbei, ließ den Aufsteller los, und bekam ein Regal zu fassen. Schachteln. Nein, Kassettenhüllen. Nun wusste sie, wo sie war.

Yuki berührte auf ihrer Erkundungstour durch die Videotheke weitere Kassetten, fuhr über die Oberfläche einiger Fernsehgeräte und das Schutzgitter einer Musikbox, die durch die Töne, die sie ausspuckte etwas vibrierte. Stand by me dröhnte sehr leise aus den Boxen. Ein schönes Lied. Aber Papa mochte es nicht. Er sagte, es erinnerte ihn immer an Beerdigungen.

Ein Kratzen kam urplötzlich aus den Boxen, man hörte Gelächter und feierliche Musik einer Fidel. Hinter Yuki jagte ein Fauchen und ein Glöckchenklingeln an ihr vorbei und rannte wieder hinaus, ehe die Tür hinter Gatomon zufiel, der die Szenen aus Interview mit einem Vampireine Todesangst eingejagt hatte.

„Hallo? Ist da wer?“, fragte Yuki in den Raum, aber bekam keine Antwort. Wieso war hier eigentlich keiner? Keine Kunden, kein Verkäufer? Machte die Videotheke schon so früh zu? Aber die Tür war offen gestanden.

Im selben Zuge, wie Yuki sich wieder in Bewegung setzte, kam wieder das Kratzen aus den Musikboxen, bis sie wieder angenehme Töne herausspuckten. Yuki war sogar diesmal erstaunt, dann gruselte sie sich, ihr Blindenstab zitterte mit ihr. Es war Vivaldis Winterstück.

„Hallo?“

Wieder keine Antwort, aber Yuki fiel der Geruch von etwas Verbrannten auf. Nur war da kein Rauch in der Luft oder angestaute Hitze. Sie ging weiter, die Hand fuhr leicht über die Regale, der Blindenstab tastete den Fliesenboden ab, fand den Tresen, auf dem die Kasse und ein Korb mit CDs im Sonderangebot standen. Nun hielt Yuki sich an der Ecke dieses Tresen fest, ging vorsichtig herum, bis sie dahinter war und ihr Stab an einen Schrank stieß, mit Kassetten für Video- und Musikrecorder, wenn dieses hohe, vollgepackte Regal auch eher den Zweck erfüllte den Käuferbereich vom Pausenraum der Arbeiter zu trennen.

Dort war dieser Geruch nach alten Rauch besonders stark. Instinktiv wusste Yuki, wenn auch nichts darauf hingedeutete hatte, dass dort jemand war. Jemand oder etwas war da, saß auf einem gewöhnlichen Stuhl, vor einem gewöhnlichen Tisch, umringt von gewöhnlichen Fernsehern, die alle Vampire der Filmhistorie zeigte und sah sie an.

„Schön dich wieder zu sehen, kleine, blinde Alice im Wunderland.“

Als Yuki die Stimme hörte, wollte sie schreien, aber ihr blieb die Luft weg, stattdessen atmete sie ganz viel davon auf einmal ein und schluckte sie hinunter wie eine Fischgräte, die steckengeblieben war. Sie ging zurück, stieß aber mit dem Rücken gegen den Schrank. Die Kartons darin schüttelten sich mit ihr, ein paar Kassetten in den oberen Reihen waren umgefallen.

„Du bist der Jabberwock, oder? Du bist NeoDevimon?“

„Deemon heißt es von nun an. Dein Onkelchen hat dir doch erklärt, was eine Digitation ist.“

Sie nickte, auch wenn sie es nicht ganz verstanden hatte, als Onkelchen es ihr erklärt hatte. Wohl irgendwie, dass sich ihre Gestalt verändern würde. War das nun mit NeoDevimon passiert?

Sie hörte, wie er aufstand. Sein Gang war leichter geworden, aber seine Flügel klangen immer noch groß und schwer, als diese sich bei Aufstehen reckten. Statt der großen Schuhe hörte Yuki wie dicker Stoff über den Boden schleifte.

Deemon stand nun vor ihr, sie merkte das an dem Geruch. Dieser Geruch von einem vergangenen Großbrand, nach gekühlter Asche kam von ihm. Eine dunkle Präsenz umgab ihn. Ähnlich wie Onkelchens.

„Dass du mich an Myotismon verpetzt hast, war sehr unartig von dir. Und unartige Kinder gehören dafür bestraft“, sagte er finster, griff nach ihrem Arm und die scharfen Krallen schnitten sich in die blasse Haut. Die selben Krallen wie vorhin. Es war wirklich der Jabberwock!

Unter ihren Protesten schleifte Deemon Yuki weiter in den Pausenraum, der nur von einer üppigen Halogenlampe beleuchtet war. Die Fernseher warfen ein ungesundes Licht auf Yukis Haut. Unsanft setzte er sie auf einen weiteren Stuhl, der aber direkt dem Tisch zugewandt war, auf dem die Hüllen von Videokassetten zerstreut waren. Kaum dass Yuki saß, riss sie ihre Arme aus diesen Klauen weg.

„Du hast angefangen, du hast Mama und mich bespitzelt. Was willst du von uns?“

„Wenn, will ich etwas von dir und das ist nicht viel. Ich will nur wissen, wie gefährlich du bist.“

Erst sagte Yuki nichts. Aber sie spürte, wie ihre Augenlider langsam blinzelten. Und hörte, wie Deemon sich neben sie setzte und das Geräusch des Saumes, als er die Beine übereinander schlug und die Arme vor der Brust verschränkte.

„Ich bin acht!“, antwortete sie verständnislos und patzig.

„Alter spielt keine Rolle. Es gibt jüngere Kinder von deiner Sorte“, sagte er, aber ehe sie nachhaken konnte, kniff Deemon ihr in die Wagen. Seine Krallen waren nicht mehr so lang, aber sie waren deutlich schärfer geworden, dass allein die Berührung ein knallroten, brennenden Kratzer in Yukis Gesicht zurückließ. Sie biss sich auf die Unterlippe.

„Wenn du den Mund hältst, bis du ja doch ganz ertragbar. Eine echte Alice kann einer lustigen Teeparty eben doch was abgewinnen, wenn es auch an diesen fehlt.“

„Hör auf mich Alice zu nennen! Ich heiße Yukino!“, schimpfte Yuki und drehte ihren Kopf in Deemons Richtung und hoffte, mit ihren Blick auch seinen zu treffen.

„Dann hör du auf mich als Jabberwock zu beschimpfen.“

„Es passt aber nun einmal. Irgendwie muss ich mich dich ja vorstellen.“

„Zu viel Angst mein Gesicht abzutasten?“, sagte Deemon belustigt und kam Yuki so nah, dass der kräftige Windhauch seines Atems ihr ganzes Gesicht traf.

„Dich mag ich nicht anfassen. Du hast Onkelchen dreist ins Gesicht gelogen, so was macht man nicht.“

„Deine aufbrausende Art gefällt mir. Alice passt eben doch ganz gut zu dir. Auch wenn du nicht die Alice bist, die ich gerne getroffen hätte.“

„Und was ist das für eine Alice?“

Deemons Atem wurde schwächer, aber er war noch ganz nah, das spürte sie.

Vivaldis Winter hatte aufgehört zu spielen und um sie herum war es ganz ruhig, dennoch hörte Yuki immer noch das Echo des winterlichen Musikaktes in ihrem Kopf, mit dem leisen Pfeifen der Fernseher.

„Eine Alice, die nur ein Deckname war, wie man das eben handhabte, wenn man politisch verfolgt wurde und sich vor hochrangigen Serum-Digimon und Dämonenkönigen verstecken musste. Dein Onkelchen müsste das eigentlich wissen.“

„Hat man dich deswegen dafür bezahlt, damit du Onkelchen umbringst?“

Nun klang auch ihre Stimme ruhiger. Ihre Fingerglieder, die in ihrer Hand gepresst auf ihrem Schoß gelegen hatten entspannten sich.

„Ich bringe ihn um, weil ich das will. Diese Schwachköpfe von Orchester merken nicht einmal, wenn man sie an der Nase herumführt. Ich habe Qualen unter den Folterklängen und stürmischen Launen eines wahnsinnigen Clowns erduldet, um so weit zu kommen. So viel Demütigung und Scham, damit er keinen Verdacht schöpft. Dinge, deren Namen du nicht einmal kennst. Dagegen ist die echte Herzkönigin ein Herzblatt.“

„Hilft es, wenn ich dir sage, dass ich auch keine Clowns mag?“

Ein wenig Mitleid kam mit Yukis Stimme hoch. Es mag ihm nicht bewusst gewesen sein, aber seine Stimme hatte etwas schwermütiges gehabt, für einen Moment zumindest.

Yuki mochte Clowns wirklich nicht, weniger sogar wie Vögel. Sie waren mit ihren überdrehten, undurchdringlichen Charakter die mitunter unehrlichsten Geschöpfe überhaupt.

Deemon ließ seine Hand auf ihre schmale Schulter fallen. Seine Krallen taten weh.

„Soll das Mitleid sein? Spare dir das für dein Onkelchen auf, der hat es eher nötig. Er glaubt, er wäre so mächtig und so schlau, dabei ist er nur eine genauso traurige Gestalt, wie das ganze Orchester.“

Yuki hörte, wie Deemon etwas in die Hand nahm und nachdem er es kurz betrachtet hatte wieder zurück auf dem Tisch warf. Hartes Plastik traf auf Plastik. Es waren die Kassettenhüllen.

„Die Menschen haben wirklich eine blühende Fantasie. Versteh einer die Faszination für Blutsauger. In all ihrer Begeisterung für solche Kreaturen vergessen sie aber so langsam, dass weder Vampire, noch Dämonen etwas sind, denen man nacheifern sollte. Kreaturen wie wir sind das, was aus den finsteren Abgründen der Gesellschaft herauswächst. Sinnbilder des Verdorbenen, das Unmoralische, Triebhafte. Sowas sollte man nicht idealisieren.“

„Idee... idelie...“, sprach Yuki, aber sie schaffte nicht das Wort, was sie sagen wollte korrekt wiederzugeben. „Was heißt das Wort?“

„Verherrlichen. Wie mit ganz verliebten Gesicht durch die Gegend zu starren, wenn man an einen wie Myotismon denkt“, erklärte Deemon grinste – vermutete man, man konnte es nicht sehen – in sich hinein, als Yukis Gesicht vor Scham rot wurde. „Einen wie den sollte man nicht verherrlichen. Digimon wie er sind keine Helden oder setzen sich für das Gute ein, nicht einmal entfernt. Ich hoffe, du weißt das, kleine Alice.“

„Ja... weiß ich.“

Das Gegenteil hätte sie überrascht. Vampire waren nun mal in der Regel bösartig. Sie waren nicht das, was mancher in den typischen Heldensagen taten. Aber gerade deswegen entflammte es doch die Neugierde. Auch wenn Onkelchen mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit die Art Bösartigkeit von der allerschlimmsten Sorte war, sie wollte ihn noch öfter treffen. Nicht um ihn vielleicht mehr zu verstehen, einfach nur um mehr zu wissen.

„Digimon wie er interessiert nur Zerstörung. Die Zerstörung der Welt, allen Leben und sich selbst. Dieses Idioten-Orchester versucht sich umzubringen und alle Welten dabei mit sich zu reißen. Verstehst du dieses Prinzip, kleine Alice? Wenn man sterben möchte?“

Yuki schüttelt langsam den Kopf. Aber sie wusste, wie das hieß, wenn Personen, die diesen Wunsch hatten ein verlassenes Paar Schuhe am Strand zurückließen oder in den Nachrichten erzählt wurde, dass wieder eine Truppe Polizisten das Meer der Bäume am Berg Fuji nach solchen Personen absuchte.

Man nannte es Selbstmord.

„Was willst du eigentlich von Onkelchen, Herr Jabberwock?“

Die langen, spitzen Krallen verschwanden von Yukis schmalen Schultern. Dafür war er mit seinen Gesicht näher an ihres gekommen. Wieder roch sie seinen Atem. Anders aber wie der Atem ihres Onkelchen, war der des Jabberwock warm und roch wie verbrannte Kohle.

„Schlicht und einfach ausgedrückt, will ich Rache.“

„Rache?“, wiederholte Yuki überrascht und etwas besorgt. „Hat Onkelchen dir etwas angetan?“

„Und nicht nur mir und auch nicht nur er allein. Er und seine kleine Wandergruppe aus Idealisten dachten, sie hätten die Welt gerettet. Dabei haben sie alles schlimmer gemacht. Sie haben unsere Politik zerschmettert und Anderen dafür die Tür geöffnet. Digimon wie ich und meine Brüder und Schwestern müssen darunter leiden.“

Er schnalzte nicht. Also war dass, was er sagte ehrlich. Yuki hatte sich so stark konzentriert, da sie Deemon nicht traute. Dabei hörte sie, welcher Hass in seiner Stimme lag und immer wenn er dieses Gefühl in seinen Worten zu betonen schien, wurde dieser Geruch nach Verbranntem stärker.

„Wieso hat Onkelchen das gemacht?“

„Weil er wohl dachte, unsere Politik sei -“, Deemon legte eine Pause ein, er lachte dabei leise, „- wie würdest du sagen? Unehrlich? Nicht gerecht? Was denkst du über eine solche Form der Selbstjustiz, kleine Alice?“

Sie wusste nicht einmal bis zu diesem Moment, dass es dieses Wort gab. Aber Justiz hatte was mit dem Gericht zu tun und Selbst erklärte sich. Wichtig war, dass Yuki verstand was Unehrlich für sie bedeutete und Deemon schien das auch zu wissen. Onkelchen hatte es verstanden, er verstand den Zusammenhang und wenn er der Meinung war, etwas sei unehrlich, bedeutete das etwas. Das war nicht zwingend gut oder böse. Sondern einfach ehrlich und was ehrlich war sollte erhalten bleiben und das war Gerechtigkeit.

„Wenn es unehrlich war, dann war es etwas Schlimmes, dass anderen weh getan hat. Dann habt ihr es nicht anders verdient, dass ihr bestraft wurdet. Onkelchen ist im Gegensatz zu dir nämlich ehrlich!“

„Natürlich denkst du so. Hat dir dein Papa das eingetrichtert?“

Yukis Gesichtszüge verkrampften sich, sie versuchte böse dreinzuschauen, aber Deemon lachte nur neben ihr, da ihr böser Blick, der ihm eigentlich galt sich eher auf die Tischkante richtete.

„Papa geht dich nichts an, lass ihn also in Ruhe“, knurrte sie, die Augenbrauen so tief nach unten gelegt, dass sie zuckten.

„Dein Papa hat viel mit deinem Onkelchen gemeinsam", sagte Deemon amüsiert. „Dein Papa war ein freundlicher, ruhiger Kerl, mit vielen amüsanten und absurden Ideen im Kopf, aber einer manchmal sehr kaltschnäuzigen Art, sogar seiner Tochter gegenüber. Obwohl er sein Töchterchen gern in die Arme nahm, hatte er diese Phasen, in denen er sich vollkommen zurückzog. Und Myotismon ist genau andersherum. Grob und kaltherzig, aber unbewusst nicht so brutal, wie er sich gerne gibt. Dafür denkt er zu viel, zu wirr und absurd für ein Digimon wie ihn, statt manches einfach rücksichtslos auszuleben. Er hat dir sogar erlaubt sein Gesicht abzutätscheln, dabei mag er es nicht einmal, wenn man ihn nur die Schulter streift. Kein Wunder, dass er Albträume kriegt, bei solch widersprüchlichen Zeug. Wie dein Papa in seinen Phasen. Da überrascht es keinen, dass er sich vor den Zug geworfen hat.“

„Papa hat sich nicht umgebracht!“

Ihr Fehler wurde sich Yuki erst bewusst, als sie die Worte schon heraus gebrüllt hatte und innerlich fluchte sie. Sie hätte ihre Karten verdeckt halten sollen, stattdessen hatte sie ihm praktisch ihr ganzes Blatt offen hingelegt. Was Deemon sagte, war nur das Getuschel der Nachbarn. Mehr nicht. Mehr nicht!

„Sag nie wieder so etwas über Papa! Er hat sich nicht umgebracht! Papa hätte das nie getan!“

„Du verstehst das Prinzip von dem Wunsch nach Tod doch gar nicht. Irgendwann wird es einem eben zu viel. Dein Papa hat bestimmt ganz schlimme Dinge erlebt.“

Yuki musste unweigerlich schlucken. Deemon könnte einfach geraten haben, aber dafür hatte er schon zu oft ins Schwarze getroffen und ihre Mimik hatte alles verraten. Über Papa gab es wirklich ein paar Dinge, über die er nicht gerne sprach. Mama wusste es, aber für Yuki seien solche Themen nichts, hatte Papa gesagt. Aber sie wusste, dass da mal etwas mit dem Wunderland war. Das einer von Papas besten Freunden verschwunden war. Und dass Yukis Großvater, Papas Vater von ihm nichts wissen wollte.

„Das kann tiefe Wunden hinterlassen, die über Jahre vor sich hin eitern, bis sie aufplatzen. Irgendwann hält man es nicht mehr aus und das eigene Grab wirkt auf einmal sehr friedlich und gemütlich. Wer weiß, was ihm den Anstoß dazu gegeben hat. Vielleicht hat er es nicht ertragen, dass er mit so einem Kind gestraft wurde.“

„Papa hat sich nicht umgebracht! Ich kann es beweisen, dass er das niemals getan hätte!“

„Ach, beweisen kannst du das, ein blindes Gör wie du?“, lachte Deemon wieder, diesmal viel lauter. Der Stuhl auf dem er saß knarrte, er hatte sich beim Lachen in die Lehne geworfen.

„Lach nicht, ich kann das, sobald ich weiß wie Papas Spieluhr funktioniert! Dann kann ich ins Wunderland, zu Papas Freund. Papa hat seinem Freund versprochen, dass sie sich noch einmal treffen und ich ihn kennen lernen kann. Selbst wenn er es gewollt hätte, hätte er es nie getan, ohne sein Versprechen zu halten! Papa war ehrlich! Es war ein Unfall!

Die Wärme auf ihrer Brust war zurückgekehrt und diesmal war sich Yuki sicher, dass es nicht von der Sonne kommen konnte. Es war Papas Anhänger gewesen, der angeblich, wie die Spieluhr etwas besonderes war. Etwas, was nur er und sein Freund aus dem Wunderland wussten.

Die Fernseher rauschten, und ein Flackern war auf den Bildschirm, wie unzählige kleine schwarze Insekten. Aber sie pfiffen nicht mehr. Da war ein Brummen. Wie das Echo von Wind in einer tiefen Höhle, während es draußen regnete und donnerte. Und Yukis sonst so weiß mit Grau und noch mehr in Grau getränkte Sicht wirkte ebenso plötzlich erschreckend dunkel und schwarz.

„Sieh an, wer unserer Teeparty beiwohnen möchte.“

Da bewegte sich etwas in der Luft. Wie Strom. Yuki kannte diese Insekten nicht, die man auf den Bildschirmen sah, aber sie ging davon aus, dass man es fühlen konnte. Wenn der Fernseher lange aus war und man mit der Hand nach den Bildschirm ausstreckte, fühlte man dieses Kitzeln, wie eben eine Kiste voller Insekten, eine unsichtbare Schicht aus schwachen Strom.

Es war dieser Strom, aber keine Schicht. Es bewegte sich im Raum. Arme. Wie sehr lange Arme...

(w͏̴͢ìe͘͘ş̶҉ò ̛͝i̢̡śt͟ ̵͜d̡͢ì̛e̴̴ses̀ ̡Ķi͜͝n͡҉d̢ ̕͘h͞͠į͜e̡r͟ ̛ḑ̶͜a̧ş̶ ̵K̕i͜n͜d̴ ͜d̸̛̕e͢r͝ ̡͘͢Ģe̛͠r̴̴̸è̸͜c̸ḩ͜ti̵҉̀g͘҉̢k̀͠e҉̶i̷t̶͡ d̵͏͏ü͠r͝͏ft̕͟ę̵̸ ̶̢͢nicht̕҉ ̛̛̛s͜éin̸ ̶i̷͘c̴̴͟h̵́ ̸͟͠h̷͠͞á͢͝be͢ ̵͡e̷̢s̢͞ ̢̢um̧̀͜g̨e̷b́r͜͞a҉ćh̡̀͜t͠ )

„Du warst das also? Dann ist das, was ich herausgefunden habe also wahr. Das alle Gänschen fort sind konnte kein Zufall sein und das stets unter so komischen Umständen. Ein Jammer. Du hättest mir ruhig etwas von ihnen übrig lassen können.“

„Herr Jabberwock“, fragte Yuki, verängstigt, aber nicht wegen Deemon. Das, was mit ihnen durch die elektrischen Geräte in diesen Raum gekommen war machte ihr Angst. Und gleichzeitig machte es sie kraft- und antriebslos.

„Wer ist das?“

„Sagen wir, für dein Onkelchen, den Schwarzen König und für unser aller Liebling, die Herzkönigin ist dieses Ding so etwas wie Lewis Carroll persönlich. Wenn auch schon viele vor ihm sich als derjenige schimpfte, der angeblich wüsste, was das Beste für das Wunderland wäre.“

„Wunderland? Dann... ist die Digiwelt das Wunderland...? Onkelchen... ist der Schwarze... König?“

Yuki schaffte es nicht den Gedanken weiter zu verfolgen. Diese drückende Atmosphäre machte ihren Kopf leer, und gleichzeitig war er zu schwer, um ihn gerade auf den Schultern zu halten. Onkelchen würde schimpfen, wenn er diese krumme Haltung sehen würde.

(da͝͏s͜ ̛́͘K̶̷̶in͝d́ ̵s͞ol̵lt̶́e̕ ̵̷͟t҉͢͡ot̵̨ ̧s̀͏̴e͢҉̶i̡̛n̡͠͞ ̢e̶͘s̵̷ d̴͜a͢ŗf̛ ̸̡̛n̡͢ic̢͘ht ̧͡҉me̶ḩ͝r҉͜ ̡h̸̀i̧͢e͏͜͞r̛͟͠ s̢͢e͘͝i̧n̢ ̶͢ęs s͏҉i̸̡͟ņd s͏̴͘c҉̢h̢o̕n̨̛͜ ́͝a͟c̨̛h̵̕t͏̕ ̢̛d҉i͘e̛͘͠ m̛̕i̵҉c̶h̷̶͠ ͘͝u͝n͝͞d̕ ͏͡m̢͠͡e͜͜i͜͟n̴̨͠ ͠͝O̸̸r̡ch̵͟͢es͜͞͡t̶͞è͘͏r҉̴͞ ̶̧͡ve̶͝rn̨íc̴h͟t͘͠en͝ ̷w̡̛ǫ͡͠l̸̸҉l͝҉͜e̡ń͏̛ ͟͜s̢̕i̢̕e̡ ̢̕͠b͟e҉̢h̸͡͡i̷̢͝nd̴̨e̢rn̡̨ ͞de̢͠ņ̢͘ ͘͝N͟͡e̴u͢͝͡s͜t͘a͜ŗt͠ ̸̡͢d͘̕͞ìe̕͏se̢r ̕͜ǵ̸rä̢ss̴l҉̢ic̷̨h̵̕͡ ́͜h̨͘ä̸̀̕ssli̶҉c͜͡h̷e̛n ͢͢W̡͘͞ę͞l͘̕t̢͝ v̡͘ơ̢̡l͟l̢e҉̸҉r̷ ͞҉L̢e̡̧͘i͡d̀ ͝und҉͟͞ ͝Sch̕͞m͡ęr̨̀͞z҉̸͝ ̀̕ni̴c҉h̵҉t͞ ̶͞ǹ͜͡o͡͠c̴h̡ ̨m̷̧éh́͡r ̸n̷͘͜i̢͡͡c̸ht͢͟ ̵̨n͡oc̕h́͝ ̀dié̴̶se͢͠s̶͏ ͟͟Ķ̡̕i̸n̢͟d͞͏͝ )

„Beruhige dich. Sie ist nicht dieses Kind. Alice ist tot. Wie Hänsel und Gretel, wie Momo, wie Bilbo, wie Krabat, wie Humpty Dumpty. Weiß dein Orchester, dass du die Kapellmeister auf dem Gewissen hast? Du beschwerst dich über Schmerz und verursachst viel mehr.“

(H̵̡al̸̨͡t̀͞ ̨̧d̀͝ȩ͠n͝҉ ̸͠M͏ų͢͢n͟͏d͟ ҉́d̴͝ú̷͏ ̕͏w̷͜͢er̴t̵̶l̶o͘͠se҉͏r ͜͞D̛ą̢̈́m͢ǫ̷͞n͡͞ ̢d̡̕ę̴ŗ͢ ̕͝҉n̸̸͢i̶͝c̴h̶͏t̢s̷̷ ̡͏͞ą̴l͝ş Z̧̀̀ơrn ̧h̛͠e̵͢ŗ̸͜v̷orb̧r̕i̴͜n̷̕g̵̢t͟ )

„Wertlos?“, wiederholte Deemon spöttisch. „Wenn ich mich nicht irre, stehe ich aktuell sogar über dir. Wertlose Dämonen wie ich sind der Grund, dass du in diese Welt kommen konntest. Und Selbige werden dich und dein Orchester voller schwachsinniger Marionetten wieder von dieser Welt tilgen. Eine Welt die zerstört ist, kann schließlich nicht zurecht gebogen und kontrolliert werden. Weder ich noch meine Brüder und Schwestern haben das Verlangen mit der Welt unterzugehen. Wenn du dich und deine Musiker umbringen willst, tu das, aber belästige andere damit nicht.“

Das Donnern wurde nun entsetzlich laut. Es blitzte von irgendwo. Yuki hatte nicht realisieren können, ob dieser Blitzschlag Deemon oder ihr galt. Aber dass die großen, dunklen, schweren Flügel des furchteinflößenden Jabberwocks sie beide davor geschützt hatte, hatte sie wahrnehmen können.

Oder sie bildete sich das ein. Mit dieser komischen Präsenz in der Luft fühlte sich ihr Kopf an, als sei er mit Wasserdampf gefüllt und auf ihren Schultern lasten Baggersteine.

(w̛͝o̕҉ ̶i̶͘ś̶͡t me̷͏͝ì͜͟n̨ ̛̀͠P͡ią̴n̷í̸s̀t̛͢ ̧̛d̢́͢iȩ͜se̢̕͘r͢ ̀͡Vę̨r̕r̴̀ät͡è̀͜r͝ ̨s͏́pi̶̛͘ȩ̴̀lt̵͢͟ ̨n͡͠í̷̡c̛͘h̀͟t́ ̢̧̀w҉įe ̀i̷c̴̀͘h̕ e̸s̴҉ ҉i̵̛͝h҉m̀͝ ̕͟v͘o͜͡rg̴͢e͏͟҉b̧͜en̵̛͟ ͟͞h͘ąb̵e͟ ͏e̡͜r ͠҉͟v̧͞ȩ҉͘rs͘u̷̶c̷h̸͜t̕ ͟d̀͝í҉e̛͘ ͢͏N̷o̧t̀͢͏e̡n͏̢́ ́͠f͜͝ü͟͟r̨͝ ̸͘m͡e̵͡i̷n̢ ģ͜ŗ͟ö͟ßt̀è͝s̷ ҉M̴̷e͘͡i̢҉s̀t̸̡er̸̡w͢͟͠e̡̕r͏k̡͝͝ ̧u̵̧m͘͏̢zus̢c͝҉̸h̛r̀éi̡b̴̧͏é̡n ͝͡d́̕͠i͡e͟͞s̵͝e͏͘r̢̧ ̷͟I̧d̵̷̢io͡t͏̷̀ ͞i͢͢c͏h͘͟ hä̡́͏t̡͜͞t̀͟e͝ i̴͢h̴̴n̨ ͠mi̡̛͘t̨ ̨́͟s̸̵͠e̕͢͜i̷n̸͜͝e͟͞r̷̀ ̴Ķ̀ö̢͞nig̢͟i̡̕n͘ ̧͞v҉̶e̕͜rǹ҉i͟͜͜c̵h͏̨t̢ȩn̵ ̨͞sò̶͞l҉l̵e͟͟n͟ ̢w̶͟e̕į̵̶ß ̕͢é̵r͝ ̶ẁ̵̴er̴̴͡ ̶҉d̶̢į̛e͠͞sé̢s͟͠ ̀͏K̶͢ind̶̶ ͢i̛͝s̸t͞?̨ )

„Das kriege ich für dich raus. Ich bringe ihn auch gerne um, wenn er dich so sehr stört, Herr Dirigent. Wenn ich mich schon nicht an allen rächen kann, dann wenigstens an ihm. Wenigstens einen von ihnen will ich jämmerlich auf dem Boden kauern sehen. Das bin ich Dragomon, der sich um mich gekümmert hat und allen großen Fürsten der Virus-Digimon schuldig.“

Viele, kleine Explosionen folgten. Glassplitter flogen umher. Das Rauschen, aber auch das Donnern war weg. Kaum, dass es weg war fühlte Yuki auch diese Beklommenheit nicht mehr. Vielmehr fragte sie sich wie so etwas, dass nicht da war und nur in ihrem oder Deemons Kopf gesprochen hatte sie so fesseln konnte.

(wie Papa in diesen Phasen)

Von Draußen an der Haupttür hörte man Klopfen und Rufe. Der Ladenbesitzer, den Deemon für seine Teeparty ausgesperrt hatte war zurückgekehrt und hämmerte gegen die Sichtscheibe. Auch Yuki hörte, wie diese Person durch das Glas hindurch rief, ob da jemand wäre. Und, wenn auch noch etwas benommen, stand Yuki rasch auf - zu rasch, da sie, kaum dass sie stand fast den Halt verlor - und lief los, rempelte aber das Regal an. Unsanft fiel sie zu Boden, leere Kassettenhüllen und Pappkartons fielen runter, einige fielen direkt auf sie.

Draußen wurde der Ladenbesitzer lauter, noch mehr Personen waren dazu gekommen. Man hörte, wie er mehrere Schlüssel ausprobierte, um ins Innere zu kommen. Deemon packte Yuki, gerade als sie nach den Leuten rufen wollte, am Kragen und zog sie auf die Beine.

„Nein! Lass mich los!“

„Du bleibst schön hier, unsere Teeparty ist noch nicht zu Ende. Der Ehrengast fehlt noch. Am besten ist es aber, wenn wir die Feierlichkeiten woandershin verlegen“, und dabei riss Deemon eine von ihren Haarspangen heraus, aber so grob, dass er dabei einzelne Haare mit herausriss. „In der Zeit kannst du schon einmal dein Stimmchen warm machen. Dein Geheule ist sicher herzzerreißend. Ich will dicke, runde Tränen sehen, so viele, dass man einen Teich damit füllen kann. Myotismon kann nicht anders wie aufzuwachen, wenn die kleine Alice nach ihm schreit. Wie in den guten, alten Zeiten der Apartheid.“

Yuki versuchte sich vergebens und unter lauten Protest von Deemon loszureißen, aber er hatte ihre Arme hinter den Rücken gezwängt, bis sie vor Schmerz aufschrie. Seine Hände weiter an ihren Handgelenken, versuchte Deemon Yuki mit sich zu zerren. Sie wehrte sich, ging in die Knie, bis Deemon sie packte und den Arm um sie schlang. Dabei presste er sie so dicht an sich, dass Yuki zappeln konnte, wie viel sie wollte, aber sie kam nicht frei und hatte keine Möglichkeit, mit ihren Händen zusätzlich zuzuhauen. Sie hörte, wie Deemon sie und ihr Gezeter auslachte und dann traf sie die Erkenntnis, dass sie, selbst wenn sie sich befreien könnte, keine Chance hatte. Sie könnte ja nicht mal sehen wohin sie denn hätte rennen können und im nu hätte Deemon sie wieder. Es war hoffnungslos. Yuki schämte sich für ihre eigene Blödheit und ihr war tatsächlich nach weinen zumute.

Zum ersten Mal dachte sie aber nicht daran, dass ihr Vater wieder zurückkommen und ihr helfen sollte, wenn sie dabei war Angst zu haben oder zu verzweifeln. Sondern sie dachte an Myotismon.

Onkelcheeeeeeen!



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