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Wintersonett

Which dreamed it?
von

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Konzert VI - MAD TEA PARTY, 3. Satz, Vivacissimo Fis-Dur


 

𝄡

 

Das es schneite, war für Myotismon letztlich nur ein weiterer Beweis dafür, dass Schicksal und Karma einen überaus schadenfrohen Sinn für Humor hatten. Denn obwohl die Temperaturen gestiegen waren und man es mit Frühjahr vergleichen konnte und sogar die Bäume schon hellrosa waren, schneite es. Nur stürmisch war es nicht. Es schneite, der Schnee stand hoch und verwandelte alles in Weiß. 

Eigentlich ein schöner Anblick, wenn es ihn nicht zu sehr an einige Diversitäten erinnern würde und die Erkenntnis, dass dieses weiße Grey Mountain, umgeben von Ruhe und über den Bergen nur der klare Nachthimmel – zumindest tippte Myotismon darauf, die Nebelwand war zu dicht – seinem Wunderland sehr nahe kam.

Sein erster Anhaltspunkt an diesem Abend, nach der Teeparty am Vorabend und seinem Erwachen, war ein Zimmer im ersten Stock, nicht weit von Sanzomons Arbeitszimmer, dass sie als Unterrichtsraum für ihre Schüler nutzte. Am Abend wurde es mehr ihr Tollzimmer (den Namen hatte es von Myotismon bekommen), in dem sie tratschten oder den Abend mit Schach verbrachten, während sie weiter tratschten. Gesagt sei, dass die vier ihre ganz eigene Idee von Schach hatten. Sie spielten auf drei Brettern, mal schwebten sie übereinander, dann aneinander und so ganz verstand Myotismon ihre Regeln nicht und immer wenn er glaubte, endlich durchblicken zu können, zerstörte ein Zug seine gesamte Theorie. 

Es war Sagomon, der ihn freundlicherweise eines Tages aufklärte, dass sie hin und wieder die Regeln änderten oder sich neue ausdachten, daraufhin gab Myotismon es auf und lehnte auch Sanzomons Angebote ab, wenn sie beide wieder spielten auch mal einige dieser neuen Schach-Regeln auszuprobieren.

Auch diesmal spielten sie, tratschten aber nicht. Den Worten nach klang es mehr nach einer Diskussion.

„Es ist nicht unsere Sache. Sirenmon hat es wenn überhaupt verbockt! Und sie selbst kann ja auch nichts machen.“

„Die Gekomon und Otamamon stehen ohne ihren König da und wenn wir eine Möglichkeit haben ihnen zu helfen, sollten wir dies auch.“

Gokuwmon und Sanzomon standen sich gegenüber, während sie sich lautstark unterhielten. Cho-Hakkaimon versuchte derweil einen Zug zu machen, schwankte irgendwo zwischen den Ideen, mit ihrem Turm vorzurücken oder den Springer auf die mittlere Ebene zu schieben, konnte sich aber nicht so ganz konzentrieren. Sagomon bekam als Erster mit, dass Myotismon den Raum betreten hatte, dabei kaute er weiter auf ein paar Nüssen herum.

„Guten Abend“, nickte Sagomon Myotismon zu.

„Guten Abend. Was ist hier los?“

„Eine langatmige Diskussion. Wir wollten abstimmen, aber da die Wahl genau Fifty-Fifty ausfiel, diskutieren wir hier weiter rum“, erläuterte Cho-Hakkaimon, weiter auf das Schachspiel konzentriert.

„Und um was geht es?“ 

„Das sage ich dir gerne“, schaltete Sanzomon sich ein. „Sirenmon hat ShogunGekomon scheinbar gekränkt und nun hat er sich einfach zurückgezogen und schläft seither ununterbrochen. Seine Untertanen haben somit kein Digimon, dass sie führt. Und weil Sirenmon nun einmal zu mir gehört und die Gekomon und Otamamon seit langem auch Handelspartner sind, sollten wir sie auch etwas unterstützen.“

„Und ich bin dagegen!“, warf Gokuwmon brummig ein. „Handelspartner ist eine Sache, aber wir haben sonst nichts mit ihnen am Hut. Sie würden uns auch nicht helfen, wären wir in Schwierigkeiten.“ 

„Ich bin auch auf Gokuwmons Seite", schnaubte Cho-Hakkaimon. „Was haben wir schon mit den diesen Digimon zuschaffen?“

„ShogunGekomon pflegte zwar einen dekadenten Lebensstil, aber wir sollten von ihm aus nicht sein ganzes Volk pauschalisieren“, redete Sanzomon auf sie einein. Anders wie Gokuwmon bekam sie zugleich ein schlechtes Gewissen. Sagomon stimmte Sanzomon lediglich mit einem Nicken zu.

„Warum pflegt ihr überhaupt ein Handelsabkommen mit ShogunGekomon?“, fragte Myotismon in die Runde.

„ShogunGekomon mag den Tee meiner Seerosen. Daher tauschen wir die getrockneten Blätter, die für den Tee benötigt werden gegen Obst und Algen, die hier auf den Berg nicht anzubauen sind. Auch ab und an gegen Fisch.“

„Ist das nicht ein wenig riskant, Sanzomon?“

„Riskant?“

Fragend weiteten sich die Augen der vier Digimon und Myotismon konnte es kaum fassen, dass sie bekannt bei den Gekomon sind, die regelmäßig für MetalSeadramon ein Ständchen spielten. Noch weniger zu fassen war nur, dass sie bisher nicht aufgeflogen waren.

„Ihr wisst das nicht?“

„Was?“

„Dass ShogunGekomon auch ein Handelspartner von MetalSeadramon ist?“

„Wie bitte?“, schrien sie alle vor Entsetzen.

„MetalSeadramon? Vom Fisch?“, harkte Sanzomon nach. „Bist du sicher?“

„Wir Monarchen kennen untereinander und du weißt, auch ich bin nicht gut auf die Meister der Dunkelheit zu sprechen. Meine Devise lautet, kenne deinen Feind besser wie dich selbst. Die Gekomon und Otamamon spielen öfters für ihn kleinere Violinkonzerte.“

„Ach, deswegen haben sie die Violinen nicht raus gerückt“, brummte Gokuwmon. „Das erklärt vieles.“

„Wissen Sie, zu wem ihr gehört?“

„Nein. Sirenmon, Gokuwmon und ich sind die Einzigen, die in größeren Abständen zu dem Tausch erscheinen“, erklärte Sagomon. „Sie wissen, dass wir eine Gruppe Digimon sind, die diese Pflanzen züchten und verarbeiten und dass wir einen Meister dienen, der Bücher schreibt.“

„Dann hoffen wir einmal, dass niemand das aufgefallen ist, so auffällig wie euer Meister ihre Bücher gestaltet.“

Dabei warf Myotismon einen vorwurfsvollen Blick auf Sanzomon, sie aber hob ihr Kinn an. Und mit diesem Blick im Gesicht, der nie etwas Gutes verhieß (und bei Sanzomon schon gar nicht), wenn er ihr nicht so schmeicheln würde, wie Myotismon immer öfter feststellen musste. 

„Ich gebe zu, ich habe eine solche Situation nicht bedacht. Aber nichts davon führt unweigerlich zu uns. Kein Digimon außerhalb der Nebelwand weiß, wo wir sind. Nicht einmal meine Briefbekanntschaften. Und von mir aus können die Meister der Dunkelheit wissen, dass es meine Bücher sind. Ich stehe zu meinem Inhalt.“

„Man muss sein Glück aber nicht zwingend herausfordern“, seufzte Myotismon und starrte dann ihre Schüler an. „Und ihr unterstützt das?“

„Wurden wir das nicht, wären wir irgendwo ziemlich lausige Schüler und Freunde, oder?“, entgegnete Gokuwmon. Myotismon rollte mit den Augen.

„Aber somit scheint die Sache geklärt zu sein.“

„Hier ist nichts geklärt, Gokuwmon“, sagte Sanzomon gleich, und das so streng, wie sie es selten tat.

„Och Meister, ich bitte Euch. Und ich glaube jetzt nicht, was ich sage, aber -“, Gokuwmon schnaufte einmal tief, „- Myotismon hat Recht. Wir hatten bisher Glück. Wer weiß, ob wir das in Zukunft auch haben.“

„Was, wenn sie uns eine Falle stellen, oder so? Die Meister der Dunkelheit sind unheimlich hinterhältig und grausam“, mischte Cho-Hakkaimon sich ein und kurz fühlte sich Myotismon in gewisser Weise angesprochen.

„Ich finde es aber verwerflich, sie nun einfach links liegen zu lassen, weil sie Kontakt mit MetalSeadramon haben, genauso wie ihren Wert allein an ihrer Notwendigkeit für uns zu messen. Sie gehören ja nicht zu seiner Armee. Wir pflegten stets ein harmonisches Handelsabkommen.“

Sanzomon verschränkte demonstrativ die Arme vor ihrer Brust, die Augenbrauen gesenkt. Sie hatte sich festgebissen und nicht nur Myotismon ärgerte sich über so viel Sturheit, auch ihre Schüler schienen ratlos. Cho-Hakkaimon wusste nicht, zu wem sie nun tendieren sollte (gegen die Gekomon und Otamamon hatte sie ja nichts und ihr Meister ja auch nicht unrecht) und Sagomon, der zuvor eisern auf Sanzomons Seite war, geriet ebenso ins Grübeln.

Aber Sanzomon schien zu merken, dass Starrsinn hier fehl am Platz war und das zu keiner Lösung führte. Sie atmete tief ein, wog die Pros und Contras aus, stellte aber fest, dass beide Seiten in etwa das gleiche Gewicht trugen. Es blieb das Verhältnis Fünfzig zu Fünfzig. Sie suchte nach Alternativen.

„Gebe es denn nicht die Möglichkeit passiv zu helfen?“

„Passiv?“, wiederholte Myotismon, aber in einem Ton als wollte er fragen, ob das ein Witz war. „Sanzomon, die Definition einer Aktion ist, dass sie eben aktiv geschieht.“

„Ich meinte, von hier aus, statt vor Ort zu helfen.“

„Wie sehe dies aus?“, fragte Sagomon, seinem Gesicht nach sympathisierte er mit dem Vorschlag. 

„Das käme auf das genaue Maß des Problems an.“

„Und wo ist das genaue Problem, abgesehen dass ShogunGekomon schläft? Ganz ehrlich, ich glaube nicht, dass die Gekomon ein Problem haben.“

Gokuwmon warf die Arme hinter dem Kopf und wollte die Füße auf den Tisch ablegen, aber allein weil Sanzomon immer noch nicht erfreut schaute, nahm er sie gleich wieder runter.

„Du glaubst es, Gokuwmon. Weißt du es aber? Kannst du klar sagen oder ausschließen, dass es keine gibt? Wir pflegen zudem ein anderes System und eine andere Lebenskultur. Was für uns nebensächlich erscheint, könnte für sie problematisch sein. Oder umgekehrt und ohne genaue Beobachtung kann man nicht sagen, ob Stabilität zu erwarten ist oder eventuell eine Eskalation. Und wer weiß, ob MetalSeadramon oder die anderen Meister der Dunkelheit das nicht ausnutzen.“

Sanzomon brachte einen guten Punkt zur Sprache. Gokuwmon und Cho-Hakkaimon versuchten noch dagegen zu argumentieren, scheiterten aber. Myotismons Bedenken blieben, zumal es wirklich nicht ausgeschlossen war, dass irgendeiner seiner Mitmusiker sich das nicht wirklich zu nutze machte. Und genau deswegen konnte er Sanzomon auch nicht darauf ansetzen. Oder ihre Schüler. Das Risiko, dass sie erwischt und dann gefunden werden war zu hoch.

„Wir könnten es herausfinden“, sagte Myotismon gelassen und Sanzomon wurde hellhörig. „Wir könnten die Lage analysieren und anschließend entscheiden. Das wäre zeitsparender und vor allem sicherer. Oder möchtest du riskieren, dass MetalSeadramons Truppen dich oder deine Schüler in die Finger kriegen?“

„Spielst du mit meinen Ängsten?“

„Sind sie nicht berechtigt?“

„Ich geh mit seinem Vorschlag“, meldete sich Gokuwmon zu Wort, was Myotismon am meisten überraschte. Ähnlich wie Gokuwmon selbst, der nicht glauben konnte, dass er sich zum zweiten Mal an einem Tag auf Myotismons Seite stellte.

„Wir gucken uns das über längere Zeit an. Wenn wir feststellen, dass sich bei den Gekomon Probleme entwickeln, die sie ohne König nicht bewältigen können, können wir sie ja unterstützen.“

„Ja... Das klingt sehr gut. Aber unauffällig, ohne dass die Gekomon und Otamamon etwas merken. Oder andere Digimon“, stimmte Sanzomon zu, nun wieder etwas vorsichtiger und ruhiger klingend und wandte sich schließlich Myotismon zu. „Würde es dir etwas ausmachen, wenn deine Bakemon nachschauen könnten? Sie können sich durch die Mauern schleichen, ohne aufzufallen. Natürlich würde jemand sie zur Sicherheit begleiten. Ich übernehme auch die Verantwortung, sollte etwas geschehen.“

Hätte man Myotismon vor einigen Monaten dies gefragt, hätte er zu Sanzomon gesagt, dass sie bescheuert sei und er sicherlich nicht seine Truppen damit beauftragt, sich um ihre Angelegenheiten zu kümmern. Er hätte zwar Ja gesagt, aber mit starken Widerwillen.

Aber das tat er nicht.

„Selbstverständlich, ehrfürchtige Hohepriesterin. Allein der Genugtuung wegen, dass du dich hast umstimmen lassen und ich meinen Teil dazu beitragen konnte.“

„Ich habe mich nicht umstimmen lassen, nur einzelne Punkte überdacht“, sagte sie und Myotismon beließ auch dabei. Ihren Schülern schien das egal zu sein, sie wirkten schlicht erleichtert, dass die Diskussion ein Ende gefunden hatte. Cho-Hakkaimon hatte ihm sogar triumphierend und grinsend zugenickt. 

„Sanzomon, ich möchte nur nicht, dass du dich wieder überarbeitest und ich habe auch andere Dinge zu erledigen, wie dich ständig in dein Bett zu bringen. Statt dir also so viele Sorgen zu machen, hätte ich hier etwas, was dich eventuell auf andere Gedanken bringt“, und lächelnd zog Myotismon das Buch hinter seinem Rücken hervor, dass er am Vorabend vor Piedmons Wut gerettet hatte. Sanzomon riss ihre Augen auf und auch ihre Schüler schauten verblüfft.

„Wo hast du das her?“

„Ich habe meine Beziehungen und du deine. Ich habe nur einen kurzen Blick hineingeworfen. Die Texte sind etwas älter, aber der Autor ist auch ein Sanzomon. Ich dachte, vielleicht interessiert es dich, einmal die Gedanken deiner Artgenossen zu lesen. Vielleicht sind die Unterschiede zwischen dir und ihnen gar nicht einmal so groß, wie du immer annimmst.“

Weiter lächelnd hielt Myotismon Sanzomon das Buch entgegen, wartend, dass sie es in die Hand nahm. Jedoch blickte sie nur nachdenklich auf den Einband und nachdem sie lange nichts sagte legte sie ihre Arme ineinander.

„Ich – Ich kann das nicht annehmen.“

„Was?!“, brüllten ihre Schüler.

„Persönlicher Besitz verstößt gegen meinen eigenen Codex. Digimon wie mir ist alleiniger Besitz untersagt.“

„Wer sagt das?“, protestierte Cho-Hakkaimon. „Als ob das ein Digimon kontrolliert.“

„Aus dem Mund von jemanden, der verbannt wurde klingt das nicht überzeugend“, sagte Gokuwmon zu ihr. Cho-Hakkaimon rümpfte stark die Nase hoch. 

„Ach, halt die Schnauze, Gokuwmon.“

„Legt doch die Sache einfach etwas anders aus, Meister“, meinte Sagomon, stellte sich hinter Sanzomon und legte seine Hand behutsam auf ihrer Schulter ab. „Neue Bücher bedeuten neue Informationen. Und Informationen sind frei für alle. Es ist eine Bereicherung für und alle, wenn wir mehr Informationen haben. Somit ist es auch kein alleiniger Besitz, schließlich sind die Bücher für uns alle zugängig.“

Kurz war Myotismon genauso verwundert über Sagomons Listigkeit, wie dessen Mitschüler. Sagomon war der Ruhigste der drei, aber nicht umsonst war auch er ein Dämonen-Digimon vom Virus-Typ und eine gewisse Heimtücke besaßen sie nun einmal alle. Oder zumindest das Talent, andere Digimon gewisse Dinge schmackhaft zu machen.

Da Sanzomon sich aber immer noch nicht getraute, dass Buch an sich zu nehmen, hoben Sagomon, dann auch Gokuwmon und Cho-Hakkaimon ihre Hände, um ihren Meister zu selbiger Bewegung zu motivieren. Kaum dass sie ihre offenen Hände hob, legte Myotismon das Buch in genau diese.

„Seht Ihr, ist doch nichts dabei, Meister.“

„Mir ist immer noch nicht wohl“, sagte Sanzomon zu Cho-Hakkaimon, aber sehr verlegen und presste das Buch an sich. „Aber ich danke dir, Myotismon. Das ist sehr zuvorkommend. Ich werde es in Ehren halten.“

„Eine Ehre für mich wäre es, wenn dieses Buch dich zu weiteren und neuen Gedanken inspiriert und ich diese später lesen kann. Schließlich ist das meine Aufgabe als dein Lektor.“

Noch verlegener als zuvor und auch geschmeichelt von Myotismons Worten schaute Sanzomon zur Seite. Sie beteuerte zwar, kein Süßholzgeraspel zu mögen, aber bekanntlich war Myotismon geübt darin Digimon mit den richtigen Worten zu umgarnen. Sanzomon war in dem Punkt eben auch nichts anders wie andere feminine Digimon. Was die Sache einzig für Myotismon anders machte war, dass sein Ziel hier nicht Sanzomons entblößter Hals war, sondern das Funkeln in ihren Augen und wie sie ihn damit ansah.

Dieses Funkeln entging Gokuwmon, Cho-Hakkaimon und Sagomon auch nicht und ihren Meister so zu sehen war schon herzerwärmend. Dann aber ließen sie sich diese Szene auf der Zunge zergehen und ihnen kamen ein paar offensichtliche Tatsachen in den Sinn, die diese Situation gerade so unwirklich und damit unweigerlich humoristisch machte:

Myotismon. Das mürrische, störrische, überhebliche, rechthaberische Schlossgespenst. Mit einem Geschenk. Für Sanzomon. Einfach so.

Irgendwie war dies komisch und es kam der Verdacht auf, dass Myotismon mit einem anderen Digimon, dass sich als er ausgab ausgetauscht worden sei, aber gleichzeitig so aufregend. Nachdem sie sich so gestritten hatten, aber es dann doch irgendwie schafften sich wieder zu versöhnen war das Eis, dass zwischen ihnen war verschwunden. Wenn Myotismon Sanzomon ansah, hatte sich die Form seines Lächelns und der Blick in seinen Augen nicht wirklich verändert. Es war immer noch recht hämisch und der Blick stechend. 

Obwohl Myotismon sich noch immer mit gekreuzte Armen zu Sanzomon hinunterbeugte, alles wie immer aussah, strahlte er etwas anderes aus. Er schien ruhiger. Entspannter. Zufriedener.

Sanzomon hatte bereits ein paar Absätze gelesen, mit Myotismon dicht neben ihr, der gespannt ihre Mimik studierte, als die Tür aufging, sich aber nur einen Spalt öffnete. Wenige Sekunden später hüpfte SnowBotamon jauchzend auf den Tisch.

„Oh, du bist's. Seid ihr schon so weit?“, sagte Gokuwmon zu dem Baby-Digimon, es begann daraufhin wild zu hüpfen.

„Wofür?“

„Wir wollten mit den Kleinen raus, solange noch so viel Schnee liegt“, antwortete Sagomon Myotismon, dann fügte noch Cho-Hakkaimon an: 

„Ihr könnt ja mitkommen.“

„Ganz bestimmt nicht. Ich habe keine Zeit für eure Spielereien“, antwortete Myotismon schnippisch und nicht nur Cho-Hakkaimon verzog die Miene, auch SnowBotamon, wenn es auch vielmehr schmollte. Seine blubbernden Geräusche hatten sich aber mit der Zeit in ein melodisches Pfeifen entwickelt, was bei Myotismon genauso fruchtlos blieb.

„Warum pfeift es?“

„Weil Sistermon Noir die Flöte versteckt hat“, antwortete Sagomon. „Ansonsten hätte es gar nicht mehr damit aufgehört.“

„Und wer hat ihm Pfeifen beigebracht?“

„Dies wüsste ich auch gerne“, sagte Sanzomon, weiter in ihr neues Buch vertieft. „Keiner von uns hat es ihm beigebracht.“

„Es wird es sich von Sirenmon abgeschaut haben“, vermutete Sagomon und schaute Gokuwmon dabei an.

„Warum sollte es?“

Die Antwort traf Sanzomon letztlich wie einen Schlag. Auslöser war ihr stetig wechselnder Fokus auf Myotismon und SnowBotamon. Es sah Myotismon an, während es pfiff und was Myotismon erst abfällig kommentieren wollte, wurde nun genau von ihm analysiert, als er feststellte, dass SnowBotamon gezielt Klänge von sich gab. Es versuchte offenkundig ein Lied zu summen, aber nicht einmal Myotismon hätte sagen können, was das für eines war. Aber SnowBotamon genoss die Aufmerksamkeit, die es von Myotismon bekam und gab sich Mühe, die Töne gezielter von sich zu geben.

Sanzomon schrieb in jedem ihrer Bücher, dass es das Individuum war, dessen Einfluss die Umwelt formte. In dem Buch, dass sie in den Händen hielt, stand genau das Gegenteil. Was sie letztlich vor sich sah, war wieder etwas ganz anderes.

„Das ist es“, sagte sie absolut zusammenhangslos und fast schon monoton. Jedes Digimon im Raum schaute nun zu ihr, aber Sanzomon schien dies nicht zu begreifen. Beinah wirkte sie wie weggetreten.

„Meister? Alles gut?“, fragte Sagomon vorsichtig. Seine Worte holen sie aus der Starre, aber das erwünschte Resultat, dass sie erhofft hatten kam nicht. Stattdessen rannte Sanzomon (mit ihrem neuen Buch in der Hand) einfach aus dem Raum.

„Wo rennt sie hin?“

„Sie kommt gleich wieder. Glaubt uns“, sagte Cho-Hakkaimon und schwieg. So wie alle im Raum. Die Atmosphäre war beklemmend und so alleine mit Myotismon in einem Raum zu sein, ließ die drei Digimon zwischen Peinlichkeit und Unsicherheit hin und her wanken. Sie hatten mit ihm nun einmal nicht viel zu tun und wirklich schade darum war es nicht. 

Myotismon selbst hatte auch kein besonders großes Interesse an ihnen und sich um sie zu kümmern war Phantomons Aufgabe (wenn Myotismon auch den schleichenden Verdacht hegte, dass Phantomon zu sehr Gefallen daran gefunden hatte mit den dreien in einer Runde zu sitzen, mal was zu trinken und herauszufinden, wer beim Pokern denn die anderen am besten über den Tisch ziehen konnte). Dazu kam, dass Myotismon ahnte – Nein, eigentlich wusste er es – dass die drei ihn nur duldeten, weil seine Anwesenheit Sanzomon glücklich machte.

SnowBotamon schaute nervös hin und her, ging auf Myotismon zu, da er aber auch dem Baby-Digimon nicht mehr wie einen kurzen Augenkontakt schenkte, ging es wieder zurück und Cho-Hakkaimon nahm es schließlich an sich.

Nach Sekunden peinlichen Schweigens ging Gokuwmon schließlich auf Myotismon zu und räusperte sich.

„Wir danken Euch. Für vorhin.“

„Ich habe es nicht für euch getan. Wie bereits erwähnt, was bringt sie euch, wenn sie mal wieder irgendwo im Schloss einschläft, weil sie überarbeitet ist? Geschweige denn, wenn sie irgendwann zusammenbricht?“

„Es ist dennoch lobenswert anzumerken. Ihr hättet es auch darauf anlegen und uns in der Zeit herumschubsen können.“

Gokuwmon scherzte zwar, aber innerlich spürte Myotismon, wie die Bemerkung genau die richtige Stelle in seinem Inneren traf, ohne überhaupt zu zielen. Dann ärgerte er sich, dass es für seinen Plan wirklich vorteilhafter gewesen wäre, wenn Sanzomon erschöpft war und damit nicht mehr ganz Herr ihrer Kräfte. In Gedanken schimpfte Myotismon sich selbst zwar einen Idioten, dass er diese Chance nicht ergriffen hatte, andererseits – ja, andererseits, was?

Er unterdrückte den Drang, sich die Schläfen zu massieren und genervt zu seufzen. Seine Handlungen und Gedankengänge wurden immer irrationaler.

„Andere Digimon herumzuschubsen liegt mir nicht. Digimon, die herumkommandiert werden neigen dazu Trotz zu entwickeln und irgendwann beißen sie noch. Ich lege mehr Wert darauf, ihnen das Fürchten zu lehren.“

„Wir glauben es Euch“, sagte Cho-Hakkaimon, wenn es auch mehr danach klang, als ob sie winseln würde. Bei ihrem Versuch mehr Abstand von Myotismon zu gewinnen, stieß sie genau gegen Sagomon, dass ihm die Schüssel mit den Nüssen aus der Hand und auf dem Boden fiel. Die Nüsse verteilten sich fast explosionsartig auf dem Boden. Aber statt den Anschein zu machen dieses Chaos zu beseitigen, starrten die Digimon nur gebannt darauf und anschließend zu Myotismon.

„Was schaut Ihr so?“

„Wir möchten ja nicht mit Vorurteilen um uns werfen, aber es gibt da so diverse Eigenarten von Digimon wie Euch. Dies und andere Mythen über Blutsauger.“

„Ich bin nicht von Zahlen besessen, wie manche Geschichten das behaupten“, brummte er. Sanzomons Schüler zogen die Augenbrauen hoch, schauen wieder erst auf die Nüsse, dann wieder zu Myotismon und man sah, wie rasch sich seine Auge hin und her bewegten. Dass sie das bemerkten, blieb auch nicht von ihm ungeachtet.

„Was? Dachtet ihr, ich würde apathisch auf dem Boden rumkriechen und jedes Korn einzeln zählen?“

„Ja. Genau das haben wir gedacht“, sagte Gokuwmon, die anderen beiden nickten. Schnaufend hob er die Hand hoch und wie durch Geisterhand flogen alle Nüsse (Einhundertachtundsechzig Stück und ein Rest von zweidrittel, da einige Nüsse zerbrochen waren) wieder zurück in ihre Schale.

Zeitgleich schlug Sanzomon wieder die Tür auf, beladen mit anderen Büchern, Papieren und Schreibutensilien. Sie wollte alles auf den Tisch ablegen, da aber jeder freie Platz schon belegt war, schmiss sie mit einem Schwung mit dem Arm alles beiseite, um sich besagten Platz zu schaffen, während Myotismon kopfschüttelnd wieder auf die Nüsse am Boden sah, die sie zusammen mit den Schachfiguren und einigen anderen Büchern, die sie nicht brauchte runter geworfen hatte.

„Meister, was macht Ihr da?“

„Ruhe bitte, ich muss das hier alles erst sortieren!“

„Und warum habt Ihr Euer halbes Arbeitszimmer hierher geschleppt, statt in Eurem Arbeitszimmer zu arbeiten?!“

Cho-Hakkaimon wurde weiter von Sanzomon ignoriert, sie nahm ihr SnowBotamon aus der Hand und nachdem Sanzomon es lange nur gemustert hatte, setzte sie es vor sich auf dem Tisch ab. Wenn man es nicht besser wüsste, könnte man glauben Sanzomon sei von etwas besessen (von ihrem eigenem Wissensdurst ausgenommen).

Sie blätterte in drei Büchern gleichzeitig umher, markierte mit Kohlestiften Texte, suchte bereits markierte Stellen heraus und schrieb neue Absätze auf Papier oder auf ihre Schriftrollen. Der Rest um sie herum blieb still, ließ sie mit sich selbst reden und versuchte Abstand zu halten. Für Gokuwmon, Cho-Hakkaimon und Sagomon war es weniger befremdlich, als für Myotismon. Sie hatten Sanzomon schon öfter so erlebt, wenn sie eine Idee hatte, die sie als bahnbrechend oder ähnliches bezeichnete und in diesem Rausch gefangen war und es war besser, sie gehen zu lassen, bis Sanzomon irgendwann rief:

„Natürlich! Jetzt schließt alles ineinander! Es ist so einfach, aber man kommt nicht drauf“, sprach Sanzomon aufgeregt, aber keiner konnte sagen, ob nur mit sich selbst oder mit den Digimon um sie herum. „Das Individuum selbst ist absolut plastisch und durchlebt einen Lernprozess, wobei es selbst eine Komponente ist und ihr gegenüber liegt die Umwelt. Beide Komponenten können dabei gleichzeitig aktiv oder passiv dabei sein oder absolut gegensätzlich. Aber die Umwelt ist genauso plastisch. Umwelt und Individuum stehen in ständigen Kontext miteinander.“

„Kontext?", wiederholte Myotismon fragend. „Welcher Kontext?“

„Der Kontext, indem exogenistisch und endogenistischen Einflüssen mit aktiven Aktionen alles formt, in einem ständigen Entwicklungsprozess. Es gibt keine Einbahnstraße, sie wechseln auch nicht, sie sind allgegenwärtig und ständig.“

„...Ich habe nichts verstanden“, antwortete Myotismon nur trocken und sachte den Kopf schüttelnd.

„Entwicklungsprozess! Eine aktiver wie auch passiver Lernprozess. Durch Erfahrungen. Durch Daten. Durch alles um uns herum. Durch die Individuen, mit denen wir interagieren und selbst einen ständigen Lernprozess unterliegen. Durch gemeinsame Erfahrungen, durch -“

„Meister, jetzt fangt Euch wieder und erklärt uns das in Ruhe.“

Aber Sanzomon, übermannt von Erkenntnis und der verbundenen Euphorie, die ihren Körper von innen heraus zum Glühen brachte, schaffte es kaum etwas ruhiges zu sagen, wie Sagomon es ihr riet. Sie zitterte sogar und von Daten erfüllt, die eine ähnliche Wirkung wie Dopamin hatten, strahlte sie und drückte dem ebenso überforderten SnowBotamon einen Kuss auf die Stirn. Etwas erschrocken sprang es auf den Tisch und flüchtete zu Gokuwmon, während Sanzomon sich nun Myotismon (ebenso verdutzt) um den Hals warf. Doch anders wie bei SnowBotamon überschüttete sie ihn regelrecht mit Küssen, auf Wangen, Lippen, Mundwinkel, links, wie rechts.

„Du bist ein Genie! Du bist ein Genie...“, seufzte und und küsste ihn weiter. Ihre Schüler hatten bereits beschämt weggeschaut, anders wie SnowBotamon. Das sah mit großen Augen zu und fragte sich, warum seine Ziehmutter das gruslige Boogymon genauso mit den Lippen berührte, wie sie es bei ihren Mündeln tat – und irgendwie anders und warum Boogymon sich das gefallen ließ, ohne zu murren und im Gegensatz zu sonst so gelassen wirkte. Und irgendwie, als ob ihm das gefiel. SnowBotamon verstand, konnte aber nicht benennen, was das für eine Emotion war. Und das diese eben mehrere Facetten hatte.  

„Es ist sehr schmeichelhaft, diesen Fakt aus deinem Mund zu hören, doch würdest du mir endlich erklären, was der Rest bedeutet?“, sagte Myotismon zu Sanzomon, während er sie an den Schultern festhielt und sie auf ihre eigenen Füße abstellte. Die Euphorie verbat Sanzomon aber, etwas klares zu sagen, nur weiter aufgeregt zu den Digimon zu schauen. Zwar holte Sanzomon schließlich Luft, um ihrer geistigen Errungenschaft Kund zu tun, fixierte aber dann doch Myotismons nervöse Augenbewegungen, als er sich wieder auf die Nüsse am Boden konzentrierte.

„Du zählst.“

„Ich zähle nicht, ich multipliziere!“, keifte er und versuchte krampfhaft an etwas anderes zu denken, als an diese Unordnung. Ehe irgendein Digimon eine Äußerung von sich gab, klopfte es an der Türe. Die beiden Sistermon streckten ihre Köpfe ins Zimmer.

„Kommt ihr?“

„Ja, wir wollen los, alle warten schon“, sagten Sistermon Blanc und Sistermon Noir. Cho-Hakkaimon antwortete noch mit einem kurzen „Klar“, schnappte sich SnowBotamon und machte sich mit dem Rest auf zu gehen, während Myotismon erst noch, zwischen schiefen Bücherstapeln und herumliegenden Nüssen stehen blieb.

„Könntet ihr wenigstens dieses Chaos beseitigen?“, rief er ihnen erzürnt hinterher, als schon alle aus seiner Sicht verschwunden waren. Kurz noch erschienen Sanzomons Hände, die sie in den Raum hielt und klatschten zweimal zaghaft. Als Myotismon sich anschließend umsah, herrschte wieder Ordnung. Die Bücher lagen akkurat da, die Nüsse waren in ihrer Schalle, selbst die Schachfiguren standen wieder ordentlich aneinandergereiht. Von draußen hörte man den Jubel der jüngeren Digimon.

„Ich werde hier noch eines Tages verrückt“, sagte Myotismon zu sich selbst, aber korrigierte sich noch im selben Moment. Er war schon verrückt.

 
 

 

Von der Kälte merkte die verspielte Truppe kaum etwas. Im Gegenteil, Gokuwmon und Sagomon hatten sich ihrer Mäntel schnell entledigt und tummelten mit dem Rest des gesamten Kinderchores zwischen Schneehaufen verschiedener Höhen. An einem höheren Punkt stand Myotismon, dass er dennoch aber einen guten Blick auf diese Digimon hatte, aber gleichzeitig weit genug weg war. 

An irgendeinem Punkt dieses Spieleabends hatten sich alle in zwei Gruppen geteilt und eröffneten eine Schneeballschlacht und der Gewinner bekäme einen kleinen Preis (Myotismon meinte etwas von einer besonderen Karte und einem Kuss der Weißen Königin als Glücksbringer mitbekommen zu haben, so genau hingehört hatte er nicht).

„Habt ihr etwas entdeckt?“, fragte Myotismon eines der beiden Bakemon, die noch mit einem Soulmon zusammen ihrem Anführer Bericht erstatteten.

„Nicht wirklich. W-Wir haben aber innerhalb des Berges alles durchsucht. Es gibt viele unterirdische Höhlen.“

„Einige sind direkt mit dem Schloss verbunden“, fügte Soulmon hinzu.

„Wo führen sie hin?“

„Einer führt in die Bibliothek. Aber der Gang scheint zugemauert. Und die Höhle die dazu gehört hat zwar Treppen, aber sie ist leer.“

Myotismon wollte dem nicht ganz glauben. Natürlich könnte es ein Zufall sein, dass da ein geheimer Gang war, der so ganz zufällig in Sanzomons Arbeitszimmer führte, aber das wären zu viele dubiose Zufälle auf einmal. Und schwer vorstellbar, dass dort unten nichts sein sollte. Vielleicht war es mit anderen Gängen verzweigt und dass alles im Berg ein riesiges Labyrinth.

Dass der Gang zugemauert war glaubte er auch nicht. Sicher gab es einen verborgenen Eingang. Einen Schalter oder einen Schlüssel. Doch suchen könnte er selbst nicht, schließlich war Sanzomon fast immer dort. Vermutlich genau deswegen.

„Sucht die Gänge richtig ab, vielleicht gibt es Hinweise“, sagte er zu den drei Geist-Digimon, schaute aber keinen von ihnen an. Vielmehr sah Myotismon hinunter, wo die Schneeballschlacht im vollen Gange war, genau beobachten aber tat er nur Sanzomon. Ein Schneeball der Ausbildungs-Digimon, die die Schneebälle mit ihren Seifenblasen wegkatapultierten hatte sie erwischt und sie damit aus dem Rennen befördert. Mit beiden Pupumon auf ihren Schultern feuerte sie ihre Gruppe vom Rand aus an, bis sie Myotismon bemerkte und ihm freudestrahlend zuwinkte. Etwas verzögert erwiderte er es mit einer genauso langsamen Handbewegung. Selbst als sich Sanzomon wieder dem Spiel gewidmet hatte, bewegte sich Myotismons Hand weiter hin und her. Die drei Geist-Digimon tauschten einander fragende Blick aus, erlaubten sich aber nicht zu fragen. Sie dachten sich schlicht ihren Teil.

„Und nach was für Hinweise sollen wir Ausschau halten, Meister Myotismon?“

„Irgendetwas eben! Ein Hinweis, für was diese Gänge genutzt werden oder wie man dahin gelangt. Sucht alles ab. Aber passt auf, dass man euch nicht entdeckt oder es erscheint, als würdet ihr rumschnüffeln!“

„Jawohl!“

Die drei Digimon flogen davon und ließen Myotismon zurück, sein Blick weiter auf der ehrfürchtigen Hohepriesterin ruhend. Die zweite Runde hatte begonnen, sie saß, versteckt mit Kiimon, den beiden Puwamon und Sistermon Noir hinter einem Schneehaufen, warf und traf dabei direkt Gokuwmon ins Gesicht. Sie lachten, Sanzomon entschuldigte sich noch, lachte aber schließlich selbst, bis sie einen Schneeball abbekam und damit wieder ausschied. Schnee hing in ihren Haarsträhnen, die sie versuchte mit ihren Fingern herauszukämmen. Trotz Halstuch vor ihrem Mund sah man ihren Atem in der kalten Luft.

Da stand sie also, zitternd vor Kälte und schnaufend. Ganz unscheinbar.

Piedmon irrte sich gewaltig. Sie war nicht unschuldig. Zumindest wusste Sanzomon, dass sie es für ein Digimon ihrer Art zu sehr genoss. Sie mochte es, wenn die Hände, die Sanzomon festhielten, zwischen den sanften Streicheleien fester wurden. Sie mochte es ein bisschen grob und ehe man sich versah, war es Sanzomon selbst, die seine Hand nahm und diese weiter unter ihre Priestertracht schob, dabei ihre eigenen versuchten seine Haut unter dem Anzug abzutasten.

Ihre Hand auf seinem Körper war nie komisch gewesen. Ihre Hand auf seiner Haut hingegen schon. Sie ging es langsam an, arbeitete sich stets vorsichtig heran. Myotismon hatte nie etwas für körperliche Nähe abgewinnen können (obwohl er alles andere als unerfahren war), und Sanzomon merkte das. Kannte das von ihren Findlingen, denen sie oft erst wieder beibringen musste, Nähe zuzulassen. 

Ihre Hände auf seiner nackten Brust und dem nackten Rücken zu spüren, während er Sanzomon im Arm hielt war komisch, genauso wie sie ohne Handschuhe anzufassen. Irgendwann begann es sich gut anzufühlen. Empfand Befriedigung dabei, so von ihr angefasst und gestreichelt zu werden, während Sanzomon von ihrem kleinen, krummen Wunderland erzählte, wie Scheherazade in Tausendundeiner Nacht, aber aufhörte, sobald sie merkte, dass er sich versteifte, weil es ihm unangenehm und zu intim wurde.

Eigentlich wäre das ja die perfekte Gelegenheit für Myotismon zuzubeißen. Er tat es nicht. Sie fürchtete seine Zähne nicht, wenn er sie küsste. Doch sobald seine Eckzähne ihren Hals streiften, zog Sanzomon manchmal doch noch ihre Schultern hoch. Also ließ er es. Wenn er sie schon biss, dann sollte sie aber auch keine Angst dabei empfinden. Ihr liebliches Seufzen war ihm viel lieber. 

Ob sie auch stöhnen konnte? Konnte sie all ihre Hemmungen fallen lassen, wenn er...?

Myotismon schüttelte den Kopf.

„Ich fange schon an wie dieser perverse Clown“, ermahnte Myotismon sich selbst und hoffte, damit würden die Gedanken automatisch weichen. Taten sie nicht sofort, aber nach einer gewissen Zeit. Myotismon rieb mit der Hand über sein Gesicht. Er brauchte Ablenkung. Arbeit.

Die Schneeflocken waren riesig. Sie fielen schnell und fast steil hinab. Es wehte kaum Wind. Der Himmel um und über ihm ein Wirbel auf tiefen Grau und Schwarz. Und zwischen diesen Abstufungen der Farblosigkeit blitzte etwas Blaues auf, dass jedoch weder zum Himmel noch zum Schnee gehörte. Stattdessen verschwand es zwischen den Steinwänden und Felsen der Abhänge, wobei Myotismon feststellte, dass es nicht nur blau, sondern hellblau war.

(Aber wo ist bald?)

(Schnee)

Es könnte Zufall sein. Aber für gewöhnlich glaubte Myotismon nicht an Zufälle.

(Dort wo der Schnee ist)

Hellblau war Alice' Lieblingsfarbe.

„Alice?“

Erst ging er nur ein, zwei Schritte, dann rannte Myotismon der Erscheinung nach, rannte ums Eck und hielt sich an einem Fels fest, als er durch den eisigen Boden fast wegrutschte. Was er fand war erst nur ein weiteres Stück verschneiter Boden eines weiteren Vorsprungs. Vorsichtig trat er an den Rand des Abhangs. Es ging steil hinab und der Weg runter war lang. Einen anderen Weg, der keinen überaus gefährlichen Sturz zur Folge hätte gab es nicht.

„Alice!“

Eine Windböe kam und wirbelte den Schnee auf, heftig genug, dass selbst Myotismons eigener Kragen ins Gesicht peitschte. Aber auch dieser fast gespensterhafte, hellblaue Schimmer war nochmal zu sehen, versteckt zwischen den Steinen, zu schmal für ein Digimon von Myotismons Größe. Aber ausreichend für ein Kind. Wieder hellblau, Alice' Hellblau, Alice -

Alice!

Doch das, wonach Myotismon griff und schließlich in der Hand hielt war nur ein loses Stück Stoff. Ein Schal. Vermutlich gehörte es einem von Sanzomons Schützlingen und der Wind hatte es in die Höhe getragen. Wie dumm, auch nur für einen Moment zu denken, Alice könnte hier sein. Absolut dumm.

Warum aber hörte er dann noch diese Geräusche?

Myotismon hielt den Schal weiter in der Hand, wissend, das dies kein Hinweis auf Alice war oder etwas, was aus dem Wunderland stammen könnte und doch befand sich Myotismon genau dort. Wenn er davon sprach, dass die Welt ein Friedhof sei, war das mehr wie nur ein Gleichnis. Myotismons Wunderland war ein Friedhof und der Name dieses Friedhofes war Gehenna. Die Welt hinter der große Grenze... Das dunkle Meer...

Wohin man sah, nichts als Trümmer und Schutt, bis an den Horizont, kein Digimon war zu sehen. Aber man hörte die Schreie, weit entfernt, aber man hätte nicht sagen können, ob es Kampfschreie, Jubel oder Hilferufe waren oder einfach nur der Wind. Wie oft hatte er auf so einem Schlachtfeld gestanden? Wie oft, so ganz alleine, nur mit Alice, Hand in Hand, während Datenpartikel ihre Nasen kitzelten, deren Geruch dem von realen Blut stark ähnelten. Schwer und metallisch und obwohl Myotismon nichts gegen diesen Geruch hatte – er ernährte sich schließlich davon – wurde ihm übel.

„Wo bist du, Alice?“

Myotismon erhielt keine Antwort und blieb, gedanklich noch auf diesem Trümmerhaufen einer digitalen Welt, wie angewurzelt stehen. Vor sich nur das Ende der Welt, zu beiden Seiten nur Kämpfe, Krieg und bei ihm war Alice aber wo wo wo wenn nicht hier wo ist Alice Alice war stets an seiner Seite und hinter ihm -

(Alice ist nicht hier Alice ist nimmer mehr Alice ist nur ein Traum)

Es hieß zwar immer, der Schauer liefen einem den Rücken hinab, diesmal aber fühlte es sich eher an, als würde besagter Schauer Myotismons Rücken hochkriechen und die eisige Hand dessen lag auf seinen Schultern. Viele Hände. Verschiedene Hände von Irren. Klauen von verrückten Getier.

(Alice ist nur ein Traum also schlaf weiter der Schwarze König träumt von Alice und wenn er erwacht existiert auch Alice nicht mehr)

Es war bizarr und schlicht zu sagen, dass es nicht logisch war, war eine Untertreibung. Aber was Myotismon glaubte zu hören, war das Klappern von Porzellan. War Piedmon etwa hier? War er ihm gefolgt? War es überhaupt Piedmon? Waren es überhaupt Digimon? Oder wieder nur groteske Gestalten, die aus dem Wunderland entsprungen waren?

(- wenn er erwacht geht Alice aus - puff - wie eine Kerze also schlaf weiter tue so als sei es niemals passiert)

„Seid... still...“

(schlaf schlaf Schwarzer König aber kein Tee für dich nein nein heißer Tee ist nicht gut für ein kaltes Gemüt und wenn die Herzkönigin sieht dass du nicht schläfst dann - zack - ab mit dem Kopf)

„Seid... endlich still.“

(schlaf schlaf und wenn du nicht schlafen kannst dann zähl ein König muss zählen können ein Vampir muss zählen können ein Musiker muss zählen können eins zwei drei vier eins zwei drei vier und wenn du nicht zählen kannst kannst du ja reimen was reimt sich alles auf zählen pfählen quälen)

Seid endlich still!

Was wie brechendes Porzellan klang, war nur Stein. Myotismons geballte Faust traf gegen die Felsen und Steine und doch glaubte er, irgendeines dieser Wahnbilder erwischt zu haben, es gegen die Wand geschlagen und den Schädel zertrümmert zu haben. Kleine Steine bröckelten zu Boden und Myotismon hoffte, nicht sicher ob das die Realität war, dass es der Schädel der Herzkönigin war, der in seinen Händen zerbröselte. Oder der Märzhase. Hyperaktive Pelztiere hatte er noch nie leiden können.

Doch es war nur kalter Stein und schließlich kam Myotismon zu einer ernüchternden Diagnose – Er war wirklich verrückt.

Waren die anderen auch schon durchgedreht? Sicher. Myotismon verschwendete selten einen Gedanken an die anderen dunklen Meister, aus gutem Grund. Als Außenseiter hatte man aber den Vorteil, gewisse Dinge von weit außen zu beobachten, da fielen einem diverse Eigenarten auf. Aber im Grunde hörten und sahen sie alle die gleichen Stimmen, die sie an den Rand des Wahnsinns trieben, bis nur noch Musik ihren letzten Funken Vernunft am Leben erhielt. Das war der einzige Grund, warum sie zu den Orchesterproben erschienen. Und Piedmon wusste, dass sie das brauchten. Musik. Die Einheit eines Orchesters, wenn sie auch schon lange keines mehr waren. 

Was war ein Orchester aber auch ohne Kapellmeister?

„Myotismon?“

Er hatte Sanzomons Stimme nicht sofort erkannt und erschrocken hatte er sich tatsächlich. Myotismon bewegte seinen Kopf zur Seite, aber sein hoher Kragen stand ihm im Weg und er war nicht in der Lage zu sehen, welche Sorge ihr Gesicht zeichnete.

„Ich -“, fing Sanzomon an, als von Myotismon keine Antwort kam, „- bin nur hier hoch gekommen, weil ich den Schatz für die Kleinen verstecken wollte. Eigentlich dachte ich, du wärst schon bei der Arbeit, dann habe ich deine Fußspuren gesehen und – Ich dachte, vielleicht war etwas.“

Das Säckchen, was sie verstecken wollte drückte sie an sich, dann näherte sie sich Myotismon vorsichtig. Sanzomon tauchte neben ihm auf.

„Ist etwas?“

„Nein. Hier ist nichts.“

Er reichte Sanzomon den Schal entgegen, der Körper und die Haltung absolut steif. Sanzomon nahm den Schal zwar, aber Myotismon ließ das Stück Stoff zuerst nicht los, sondern packte fester zu.

„Was hast du gehört, Sanzomon?“

„Nicht viel. Nur, das jemand still sein sollte.“

Der Gegenzug verschwand und Sanzomon konnte den Schal nun an sich nehmen. Man hörte das Klingeln ihrer Armreife, aber nur durch den starken Wind. Sanzomon selbst rührte sich kaum, stand nur da. Wartend, aber Myotismon war sich tatsächlich nicht sicher, auf was.

„So schweigsam?“

„Ich würde gerne etwas sagen. Aber ich lasse es“, seufzte sie. „Ich habe gesagt, dass ich dich damit in Ruhe lasse. Ich werde nicht mehr fragen oder dich zwingen. Wenn du nichts sagen willst, ist das in Ordnung. Du sollst wissen, wenn du mir irgendetwas anvertrauen willst, kannst du dies jeder Zeit. Aber ich werde nicht darauf pochen oder warten, dass du es tust.“

Man erkannte, dass sich Sanzomon unter ihrem Halstuch auf die Lippen biss und die Worte, die sie vielleicht lieber gesagt hätte hinunterschluckte. Myotismon verringerte den Abstand zwischen ihnen.

„Warum plötzlich widersprichst du deinen eigenen Dogmen und Lehren?“

„Weil ich dir vertrauen möchte. Indem ich drauf vertraue, dass du dies auch tust.“

„Was ist denn Vertrauen für dich?“, fragte er und legte seine Hände um Sanzomons Gesicht, um es anheben zu können.

„Lass es mich mit einer Gegenfrage beantworten - Hast du keine Träume, die du jemanden anvertrauen möchtest?“

„Durchaus. Ich behalte sie nur für mich. Aber ich setze alles daran, dass sie sich erfüllen.“

Sanzomons Lippen kräuselten sich. Sie schnaufte. Es schien nicht das gewesen zu sein, was sie gerne gehört hätte.

„Hat eine Traumtänzerin wie du denn keinen Traum, den sie nachjagen kann?“

„Mein Traum hat sich bereits erfüllt“, antwortete Sanzomon und obgleich sie es mit Selbstbewusstsein aussprach, mit dem Idealismus, der ihre Gedanken dominierte, klang sie irgendwo auch traurig. „Ich wollte nichts mehr, wie ein zu Hause. Das habe ich bekommen. Ich möchte, dass dieser Traum erhalten bleibt. Vielleicht kann dies auch ein Traum für andere Digimon werden. Dafür arbeite ich, zusammen mit meinen Schülern. Mit ihnen teile ich diesen Traum. Und ich würde ihn auch gerne mit dir teilen.“

„Und dein Traum, den du als Cupimon hattest?“

„Sag nicht, du hast dir das wirklich gemerkt?“

Sanzomon, vor ein paar Sekunden noch ziemlich trübsinnig, begann zu lachen, ahnungslos wie sie war. Träume teilen... wie naiv. Vielleicht war verrückt auch das bessere Wort dafür. Aber sie waren ja beide verrückt. Dadurch ergänzten sie sich eigentlich ganz gut. Das ließ diesen Fehler, den Myotismon in dem Moment beging, als er Sanzomon nicht mehr nur als Feind sah, weniger falsch wirken. Für einen Fehler fühlte es sich sogar ziemlich gut und richtig an.

Er war verrückt und mit dieser Tatsache konnte Myotismon sich abfinden. Allerdings blieb die Frage – was nun? 

Mit Sanzomon hier weiter zu stehen war nicht möglich. Sie überhaupt weiter atmen zu lassen ging eigentlich nicht. Feind blieb Feind und wenn er selbst nicht das Digimon sein würde, dass ihr Leben beendete, dann wer anders. Gegen Piedmon hatte Myotismon bereits ein praktisches Abwehrmittel. Beim Herr Dirigenten jedoch...

Er würde Sanzomon umbringen. Er würden sie umbringen und ihre Daten restlos zerstören, solange sie weiter auf der feindlichen Seite stand. Solange...

„Du schaust so abwesend. Bist du sicher, dass du -“, sprach Sanzomon, sie zügelte sich aber und unterließ es zu fragen. „Entschuldige.“

„Es ist schon gut, Sanzomon. Du musst dir um nichts Gedanken machen.“

Während Myotismon Sanzomon, die nichts von dem nahendem Unheil erahnte, über die Wange strich hatte er einen Geistesblitz. Die Lösung des Problems. Und alles was er dafür bräuchte war ein Biss in ihren Hals.

Ein Feind, der sich in einem Akt der Hingabe der anderen Seite anschloss und keinerlei feindliches Gedankengut hegte, war kein Feind. Niemand würde sich beschweren und Sanzomon wäre sicher. Sie könnte bei ihm bleiben. Sie würde nicht verschwinden. Nicht wie eine Kerze ausgehen...

Myotismons Blick huschte über Sanzomon hinweg und zwischen dem vielen Weiß, sah er Cho-Hakkaimons falsche Schweineohren hervorstechen, während der Rest versuchte sich zu verstecken.

„Ich habe euch längst bemerkt!“, rief er hinüber und etwas reumütig kam nicht nur Cho-Hakkaimon aus ihrem Versteck, sondern auch Sagomon und Gokuwmon.

„Entschuldigt, wir -“, fing Sagomon an, wurde aber von Gokuwmon unterbrochen.

„Wir haben Euch nur nicht gesehen und weil Meister Sanzomon nicht wiederkam, wollte wir selbst nachschauen.“

„Wir wollten echt nicht stören oder so. Wir wollten nur wissen, ob alles in Ordnung ist“, warf Cho-Hakkaimon ein, glaubwürdiger machte es sie aber nicht. Sanzomon bemerkte seine Skepsis und räusperte sich.

„Es ist alles gut, richtig?“

„Richtig...“, nickte Myotismon ab, wirkte aber abwesend. Auch wenn Sanzomon geradezu rochen, dass eben nicht alles gut war, unterließen sie es sich Zweifel anmerken zu lassen.

„Kommt Ihr, Meister?“, rief Sagomon, Sanzomon nickte ihm zu. Sanzomon versteckte den Beutel für die Schatzsuche am nächsten Tag genau zwischen den Steinen, wo Myotismon zuvor den Schal herausgezogen hatte und mit einem letzten, besorgten Blick zu ihm, ging sie schließlich zu ihren Schülern. Und selbst diese blieben lange stehen, schauten sich ihr unheimliches Schlossgespenst an und fragten sich wie ihr Meister schon, ob es eine gute Idee sei ihn alleine zu lassen.

„Geht jetzt!“, rief Myotismon ihnen zu, wandten sich aber an ihren Meister.

„Tut, was er sagt.“

„Ja, nur -“

Cho-Hakkaimon wurde von einem Schneeball unterbrochen, der direkt in ihr Gesicht traf und sie von den Füßen riss. Als Sagomon sich umdrehte und feststellte, dass dieser Schneeball von Myotismon kam, bekam Sagomon selbst einen ab und verlor dabei sein Gleichgewicht.

„Mann, hat der einen Wumms drauf“, stöhnte Cho-Hakkaimon, als sie versuchte aufzustehen.

„Sagtet Ihr nicht, Ihr spielt unsere blöden Spielchen nicht mit?“, rief Gokuwmon lächelnd zu Myotismon, der schon einen weiteren und größeren Schneeball in der Hand hielt. Er hatte Sanzomon geschworen, niemand hier anzugreifen. Gut, dass sie nie etwas von Schneebällen erwähnt hatte. 

„Das ist die Strafe für euren Voyeurismus.“

Der Schneeball traf Gokuwmon nicht nur ins Gesicht, sondern auch mit so einer Wucht, dass er vom Abhang hinunterfiel. Sein Glück war, dass dieser Abhang nicht sonderlich tief war und Gokuwmon direkt in einen Schneehaufen fiel. Sanzomon, Cho-Hakkaimon und Sagomon sprang ihm gleich nach, man hörte Gokuwmon schimpfen und wenn er noch so laut meckern konnte, konnte es ihm nicht allzu schlecht gehen.

Mit Gokuwmons Gemecker und dem Lachen kleinerer Digimon, die es am Rande mitbekommen hatten, hörte Myotismon noch etwas hinter sich. Als er über die Schultern schaute, schwebte Phanotmon direkt hinter ihm.

„Bin ich eigentlich nur von Spannern umgeben?“

„Ich wollte nur nicht gleich stören. Ihr schient sehr beschäftigt.“

„Wenn das Sarkasmus sein sollte, verpackst du ihn überaus schlecht, Phantomon. Dein Ton gefällt mir nicht. Wenn du Kritik zu äußern hast, dann sage es direkt.“

„Ich habe nichts an Euch zu kritisieren.“

„Dann stört dich etwas anderes? Störst du dich etwa an Sanzomon?“

„Ich störe mich nicht an ihr oder ihrer Anhängerschaft. Für Volksverräter sind sie in Ordnung“, sagte Phantomon gelassen und die Ruhe übertrug sich auch auf Myotismon. Das er verstimmt war hatte Phantomon gleich gemerkt. Sehr verstimmt und wenn Myotismon sehr verstimmt war, war klar, dass er einen Abend zuvor bei Piedmon gewesen war. Aber obwohl Myotismon öfter zu ihm gerufen wurde und entsprechend öfter verstimmt war, bekamen die Geist-Digimon davon nicht viel mit. Was daran lag, dass ihr Meister auffallend häufiger die Anwesenheit der Schlossherrin suchte, die ihn bessere Laune bescherte und ruhiger werden ließ.

„Ich möchte nur wissen, wie es weitergeht, Meister.“

„Weitersuchen. Irgendetwas muss hier sein. Und versucht etwas aus diesen Digimon herauszubekommen, solange ich mir weiter Sanzomon vorknöpfe, ehe ich sie von ihrem unsinnigen Zeug im Kopf befreie.“

„Befreien?“, wiederholte Phantomon, mehr wie nur überrascht. „Also wollte Ihr sie nicht töten?“

„Ich habe meine Meinung über sie etwas überdacht. Man müsste zwar ein paar Dinge korrigieren, aber wenn diese beseitigt sind, sprich nichts dagegen. Du weißt, unnötige Tode sind gegen meine Ästhetik.“

„Und der Rest? Was ist mit ihnen?“, fragte Phantomon ernst und genauso ernsthaft dachte Myotismon darüber nach. An die anderen Digimon hatte er kaum gedacht und die Möglichkeit, sie auszurotten hatte er anders wie bei Sanzomon nicht verworfen. Ihren drei unverschämten Schülern würde er die Vernichtung gönnen.

Sanzomon saß zwischen den dreien. Die Schneeballschlacht war vorbei, Torikaramon, Sunmon und Kokomon hatten gewonnen und stellten ein Team zusammen, um am nächsten Tag nach dem Schatz zu suchen und hoben stolz die Karte hoch. Ein anderer Teil, der Verstecken spielte suchte noch SnowBotamon, dass sich als Schneehaufen getarnte und kaum auffiel. Unbemerkt schlich es sich an Sanzomon heran, um jauchzend auf ihren Schoß zu springen. Sie hielt das Baby-Digimon in ihren Händen. Sie lachte. Mit ihren Schülern. Mit ihren Bediensteten. Mit ihren Findlingen.

„Lasst sie. Wenn sie keine Anführerin mehr haben, der sie folgen können, sind sie harmlos. Sollen sie gehen, wohin sie wollen, solange sie nicht stören. Und an Baby-Digimon vergreife ich mich nicht. Sie wissen nicht, was um sie herum geschieht.“

„Ihr wollt sie verschonen?“, harkte Phantomon nach und klang weniger entsetzt über diesen Entschluss, wie Myotismon erwartet hätte.

„Ob sie vernichtet werden oder nicht macht keinen Unterschied. Mit mir aufnehmen können sie es genauso wenig. Also was soll's?“

Den zweiten Teil seines Satz schluckte Myotismon hinunter. Der Teil, der sagte, dass der Tod dieser Digimon Sanzomon mehr schaden, wie ihm nützen würde. Sie hing nun mal an diesen Digimon. Nannte sie Familie. Sie würde nur weinen und das wollte Myotismon nun wirklich nicht. Sie sollte nicht weinen. Nicht wegen etwas, dass man vermeiden könnte. Nicht wegen ihm.

„Meister.“

„Was, Phantomon? Angst, dass ich unsere gesamte Arbeit einfach über den Haufen werfe? Musst du nicht. Der Weg mag anders sein, das Ziel bleibt gleich.“

„Nein. Ich habe keine Zweifel an Euch, Meister“, beteuerte Phantomon, dann schnaufte er. „Nur sollt Ihr wissen, wenn Ihr Euren Plan je ändern solltet, werdet Ihr keinerlei Protest von uns erfahren.“

„So wenig Eigenständigkeit sieht dir nicht ähnlich, Phantomon.“

„Ich bin eben auch nur ein ruheloser Geist, der auf seinen König gewartet hat. Sein Handeln zu kritisieren obliegt nicht in meiner Position, solange wir Geist-Digimon keinen Nachteil davon tragen. Was Ihr auch immer tut, wir folgen Euch.“

Sanzomon ging mit ihrer Truppe den Berg hinab. Ihre Schüler voraus. Sie lief ihnen langsam nach, von Baby- und Ausbildungs-Leveln umzingelt, hielt weiter SnowBotamon im Arm. Lachte.

Sanzomon war ein kluges Digimon. Die Debatten, die sie beide führten und die Bücher, die sie schrieb bewiesen es. Und doch verschwendete sie ihr Potenzial an die Opposition und an diesen Kinderchor.

„Geh deiner Arbeit nach.“

„Verstanden, Meister.“

Dass sich Phantomon noch verbeugte bekam Myotismon ebenso wenig mit, wie auch dass selbiges Digimon nach einigen Metern noch einmal stehen blieb, seinen Meister anstarrte und ihn schließlich mit seinen Gedanken alleine ließ. 

Es überraschte Myotismon dennoch selbst, dass er, während er weiter dabei zusah, wie der Schnee sich auf Grey Mountain ausbreitete zuerst an Puppetmon denken musste. Nachdem Myotismon ihn auf den Friedhof schwer zugerichtet hatte, wurde er die Hauptattraktion eines von Piedmons hässlichen Konzerten. Lange hatte er sich dann nicht mehr bei den Orchesterproben blicken lassen, und Etemon und Myotismon mussten ihn wieder dazu ermutigen (höflich ausgedrückt), dass ihr Flötist seinen Untersatz wieder dahin bewegte, wo er hingehörte. 

Was für Myotismon der Schnee war, waren für Puppetmon die Blüten gewesen und wenn die Bäume für eine gewisse Zeit pink wurden, fing er an wie besessen Figuren und Puppen zu schnitzen. Solange die Bäume rosa blieben, war Puppetmon zu nichts zu gebrauchen, aber sobald die Blüten verwelkten ging er wieder allen auf die Nerven. Die geschnitzten Puppen verbrannte er, in der Hoffnung, dass damit auch Gretel verschwand. Puppetmon hatte Gretel im Wald verloren und nun war sie verschollen.

Das absolut abscheulichste Konzert aber bisher, neben seinem eigenen hatte Myotismon bei Devimon sehen müssen, und würden er und Machinedramon sich nicht so gut verstehen – schließlich waren sie beide Kontrollfanatiker mit mangelnden Interesse für soziale Interaktionen – hätte dieser keine Partei für ihr schwächstes Mitglied ergriffen und behauptet, die Schwarzen Zahnräder wären seine Idee gewesen. Dass Machinedramon Devimon die nötige Technik zur Verfügung stellte war bekannt. Dass sie Digimon aber zu unkontrollierbaren Bestien machen sollten, um die Verbreitung der Dunkelheit in der Gesellschaft zu beschleunigen, kam sicher nicht von Machinedramon. Er vertraute nur Maschinen, sie konnte man kontrollieren, programmieren und dachten dafür so gut wie nichts. Maschinen und Hänsel, der aber mit Gretel verschwunden war.

Devimon vertraute dafür niemanden. An einer Armee hatte er ebenso kein Interesse. Er arbeitete lieber alleine, wie er auch stets allein bei sehr heißen Tagen nach Bilbo Ausschau hielt. Da die grelle Sonnen Myotismons Teint nicht gut bekam, dachte er nicht daran Devimon zu besuchen. Dafür war Etemon da. 

Etemon war in solchen Fällen gleich vor Ort und anders wie bei Piedmon, konnte man bei ihm tatsächlich noch davon ausgehen, das gutgemeintes Interesse dahinter war. Dabei war er selbst ein Jammerlappen, der aus Frust alle seine elektronischen Instrumente demolierte und sich dann mit seinem Cello irgendwo in Laubwälder verzog, damit ihn niemand finden und rufen konnte, so wie es Krabat tat. 

Wie Momo in den Tiefen von Net Ocean, wo sich MetalSeadramon mit seinen AncientMermaidmon verzog.

Oder Alice.

Bei Piedmon selbst war es eine andere Sache. Ob er, trotz Leafmon, etwas hörte? Hatte er vorher etwas gehört? Fraglich. Man musste weder Alice im Wunderland, noch die Mutter-Gans-Reime kennen, um zu wissen, dass Humpty Dumpty nicht fort war. Er war nur die Mauer runter gefallen. In einen Abgrund.

Nun, da er so an die andere dachte, fragte Myotismon sich, was er nun mit sich anfangen sollte. Sich wirklich auf etwas konzentrieren konnte er nicht, wieder hinein ins Schloss wollte er nicht.

Wie lange starrte er schon in die Ferne? Es war ruhig, Sanzomon und ihr Kinderchor waren also schon wieder zurück. Von den Bakemon oder Soulmon sah er keines. Die Reppamon, die sonst auf dieser Höhe ihre Wache hielten hatten sich bei der Kälte verkrochen, und sein eigenes Devidramon sah er auch nicht.

Er war ganz alleine hier. Sitzend, am Rande des Abhangs und nur Schnee um ihn herum.

Wie schrecklich vertraut. Er saß schon einmal so da, mitten in einer Winternacht, in der es geschneit hatte. Ganz alleine. Verzweifelt nach Alice suchend. Er fand Alice nicht. Stattdessen -

Etwas tauchte über Myotismon auf und verhinderte, dass noch mehr kalter Schnee auf ihn niederrieselte. Als er aufsah, sah Myotismon nur schwarz. Sanzomon stand neben ihm, mit seinem Sonnenschirm in der Hand.

„Wo hast du den her?“

„Phantomon hat ihn mir gegeben“, antwortete sie ruhig, die Geste selbst bewirkte bei Myotismon nur ein Stirnrunzeln. Ein Kommentar unterließ er, stattdessen starrte er wieder hinunter ins verschneite Tal.

„Ich hatte noch einen Traum. Auch er hat sich erfüllt.“

Der Schnee knirschte, als Sanzomon sich neben Myotismon zu Boden kniete, den Sonnenschirm weiter in der Hand, um sie beide vor diesem weißen Regen zu schützen. Nach einer Weile bewegten sich seine Augen doch zu ihr. Sie wirkte immer noch bekümmert und besorgt.

„Ich wollte dich wiedersehen. Als du damals gingst, war ich am Boden zerstört. Auch als ich älter wurde, lernte und digitierte, fand ich keine Ruhe, weil ich nicht wusste, was aus dir wurde. Zu was du wurdest. Ob du überhaupt digitiert bist. Ob du immer noch so warst, wie ich dich in der Erinnerung hatte. Als ich dich nach all der Zeit sah, war ich schockiert... und froh.“

Sanzomon seufzte schwer und tief. Ihr Seufzer verwandelte sich in eine weiße Wolke und löste sich in der Luft um sie herum auf.

„Warum erzählst du mir das?“

„Weil ich möchte, dass du es weißt. Auch wenn ich dich nicht direkt gesucht habe, habe ich immer gehofft. Und gewartet. Meine Schüler haben es nicht verstanden. Sie sehnen sich nicht nach einem Wiedersehen mit Digimon aus ihrer Vergangenheit. Aber ich habe nicht vergessen können. Es gab Tage, da machte mich dieses Nicht-Wissen verrückt und ich betete für irgendetwas, dass mir zumindest die Gewissheit gab, dass es dir gut ging. Ist das wirklich so unverständlich?“

Ihr Körper bebte, aber es war kein Zittern aufgrund von Kälte, sondern ausgelöst durch die eigene Emotionalität. Myotismon starrte in die dunkle Ferne. Er dachte an Alice.

„Nein. Es ist durchaus verständlich“, antwortete er fast emotionslos und trotz des Unglaubens, lachte Sanzomon. „Du scheinst mit deinen Schülern doch nicht so gut reden zu können.“

„Über gewisse Dinge mag das zutreffen. Wir ähneln uns. Aber letztlich sind auch wir nur Schüler und Lehrer. Wenn ich mit ihnen rede, höre ich ihre Gedanken, aber höre dazwischen auch meine eigenen Lehren. Man vermisst irgendwann einen Gegenpol zu sich selbst, mit dem man reden kann. Redest du viel mit deinen Anhängern?“

„Du hast deine Frage selbst beantwortet, Sanzomon. Sie sind Anhänger. Volk. Soldaten. Ich gebe ihnen Befehle, keine Lehrstunden.“

„Aber hat es dir nicht gefehlt, mit einen Digimon wirklich zu reden?“

„Nicht wirklich. Ich bin genug Digimon begegnet, mit denen ich langatmige Debatten führte. Von Digimon, die wie ich dachten, bis hin zu jenen, die eine vollkommen konträre Einstellung hatten. Diskussionen darüber, ob nun eine Monarchie oder Demokratie sinnvoller ist waren immer sehr interessant." 

„Du lehnst die Demokratie doch ab", entgegnete Sanzomon. Statt aber weiter zu reden, schien sie zuhören zu wollen.

„Ja, tue ich. Wieso sollte der Pöbel über Strukturen abstimmen, von denen er keine Ahnung hat? Und dann soll die Obrigkeit dafür bürgen? Idiotisches Konzept. Ein fähiger Herrscher reicht, der sich mit diesen Dingen beschäftigt und Entscheidungen trifft, schließlich besitzt er das Wissen und die Macht dazu. Die Mehrheit besteht aus dem Pöbel und die Mehrheit des Pöbel besteht aus Irren. Und Irre wissen nie, was gut für sie ist." 

„Ein bisschen erinnerst du mich an Jijimon. Auch er war etwas anti-demokratisch eingestimmt", seufzte Sanzomon und legte den Kopf in den Nacken, schaute nach oben und kniff dabei die Augen etwas zusammen, bei dem Versuch vielleicht zwischen den vielen Nebelschichten Sterne zu erkennen. Und zu gern hätte Myotismon in ihren Kopf schauen können. Dass sie eine Aussagen nicht konterte, sah Sanzomon nicht ähnlich. Sie war dem Konzept der Demokratie schließlich positiv eingestellt.

„Ist es nicht anstrengend, so oft und mit so vielen verschiedenen Digimon zu diskutieren?“

„Es kommt tatsächlich darauf an. Kulturelle Unterschiede gab es immer, aber solange man sich gegenseitig gleichermaßen mit Respekt behandelte, konnte man voneinander viel lernen. Aber solche qualitative Gesprächspartner zu finden ist mühselig.“ 

„Bin ich denn ein qualitativer Gesprächspartner für dich?“, sprach Sanzomon plötzlich und riss damit Myotismon aus seinen Gedanken. Sie grinste, man sah es ihr deutlich an und Myotismon grinste zurück.

„Hm, ich bin nicht sicher. An manchen Tagen gibst du so viele kluge Sätze von dir und an anderen höre ich nur Nonsens.“

„Nonsens schließt Intelligenz nicht aus. Zu beiden gehört, dass man über den Tellerrand schauen muss.“

„Du bist nur verrückt. Verrückt und zu neugierig.“

„Du machst nicht den Eindruck, als störte dich das.“

„Man gewöhnt sich eben irgendwann an alles.“

Aus ihrem Grinsen wurde ein Lachen. Ein wenig ließ sich Myotismon dazu motivieren, die Mundwinkel zu heben. Dann streckte Sanzomon die Hand nach einer der Schriftrollen aus, die am Ende ihres langen Schals eingewickelt waren.

„Möchtest du es hören? Das, was ich vorhin geschrieben habe?“

„Ich bin dein Lektor, ich werde mich also nicht drücken können.“

„Ich fasse dies als ein Ja auf“, sagte sie und rückte etwas dichter an Myotismon. Sanzomon warf einen Teil ihres Sheepmon-Wollmantels auf seinen Schoß und griff auch nach Myotismons Umhang, wartete allerdings noch sein Nicken ab, ehe sie den schweren und dunklen Stoff um ihre Schulter legte. Sie drückte Myotismon dabei den Schirm in die Hand, dann rollte sie die Schriftrolle aus. Die Schriftzeichen hatten sich verändert. Sanzomon räusperte sich.

„Das Digimon, bereits in frühen Stufen, ist Mitgestalter der eigenen Entwicklung. Was mündige Digimon aus ihrem Potenzial machen, welche Entscheidungen sie treffen, welche Regeln und Ordnungen sie anerkennen und einhalten werden partiell als selbstverantwortlich betrachtet. Dies bedeutet aber nicht, dass wichtige, andere Digimon und weitere Komponenten sozialer und ökologischer Systeme nicht mitverantwortlich für die geistige Entwicklung des Individuums sind. Aufzeichnungen über mehrere Generationen von geborenen und neugeborenen Digimon zeigt eine deutliche IQ-Veränderung innerhalb der letzten Jahrzehnte. Man ging davon aus, dass der gesteigerte IQ zusammenhängend mit Kampf- und Lebenserfahrungen seien, die das Individuum aus einer vorherigen Existenz mitnahm. Jedoch zeigten Beobachtungen, dass dies nur für Digimon gilt, die von ihrer Geburt bis zum Erreichen des Rookie-Levels in sozialen, stabilen und möglichst heterogenen Gruppen leben. Junge Digimon, die in Gruppen leben, die nur aus einer Art Digimon bestehen, mit stets wechselhaften Strukturen und Rängen innerhalb der Ordnung, fehlt dieser Fortschritt. Ihr IQ passt sich dem Niveau der einheitlichen Gruppe an, auch wenn der Durchschnitts-IQ der Gruppe niedriger ist, als der des Individuums.“

Sanzomon pausierte, schaute Myotismon an und wartete ab, ob er etwas zu sagen hätte. Er schwieg, nickte nur mit dem Kopf, um ihr zu sagen, dass sie weiterlesen sollte.

„Das frühe Digimon trifft bereits nach dem Schlüpfen die Entscheidung, welchen Tätigkeiten und Verhalten es nachgeht, solange die Möglichkeit der freien Wahl besteht. Somit übt das frühe Digimon, anders wie zuvor gedacht, bereits nach der Geburt Einfluss auf seine soziale Umgebung aus. Potenzial, Entscheidungen und Veränderungen werden von der Umwelt erkannt und löst eine Reaktion aus, die das ausgeübte Verhalten fördert oder schwächt. Individuum und Umwelt stehen somit ständig in einem Wechsel aus Aktion und Reaktion, die aktiv, passiv oder in einer Mischform ausgeführt wird. Somit entwickelt sich nicht nur das Individuum, sondern auch die von ihm gewählte Umwelt. Die aktive und passive Rückmeldung der Umwelt, in Form sozialer Vorbilder auf die aufgenommen Werte, Zielsetzungen und Verhaltensweisen formen letztlich das Selbstbild des Individuum und damit den Hauptbestandteil späterer Digitations-Möglichkeiten.“

Obwohl Sanzomon immer mal wieder eine Pause einlegte, um zu hören ob Myotismon Kritik hatte, sagte er nichts. Irgendwann war Sanzomon schließlich so in ihre eigenen Worte vertieft, dass sie ihre eigene Umwelt ganz ausblendete, wie auch Myotismon alles andere aus seiner Wahrnehmung strich. Er hörte ihr nur zu, hörte ihre Stimme, ließ ihren Ton und die Worte auf sich wirken.

Hatte er ihr eigentlich je gesagt, dass er ihre Art wie sie redete, schrieb und dachte mochte?

Myotismon ging davon aus, dass sie es wusste und ihm kam der Gedanken, dass sie vielleicht deswegen hier mit ihm saß. Wollte sie ihn, wie sollte man sagen – aufheitern?

Wie albern. Auf so etwas Infantiles konnte nur sie kommen. Aber, zugegeben, eine freundliche Geste.

Mit dieser Erkenntnis kam eine weitere, nämlich dass es bitterkalt war. Überraschend war diese logische Tatsache nicht, aber erst in diesem Augenblick, als sie beide so nebeneinander saßen wurde Myotismon klar, wie stark der Temperaturkontrast zwischen ihnen war. Etwas Wärme könnte nicht schaden. Selbst wenn es nur ihre Hand wäre.

Wenn es etwas an Sanzomon halsabwärts gab, dass Myotismon an ihr gefiel, waren es ihre zierlichen Hände. Er sah Reste von Tinte an ihren Nägeln, die sie nicht ganz wegbekommen hatte, aber dieser kleine Makel machte sie irgendwie charmant. Es waren diese Hände, die all diese kruden, kindisch-utopischen Bücher schrieben und gleichzeitig ganz zaghaft über seine Rücken strichen. Ein bisschen anregend war dieser Gedanke ja schon...

Es mochte etwas dran sein an dem, was Piedmon sagte. Als Monarch wurde man mit Einsamkeit gestraft. Und dieses doppelte Doppelleben zerrte an ihm. Er spielte so viele Noten und Takte gleichzeitig, dass die vielen, verschiedenen Akkorden in seinem Verstand sich immer mehr ineinander verworren.

Aber bei ihr konnte Myotismon dies alles kurz vergessen. Vielleicht, aber nur vielleicht, -

(Wenn Alice wüsste, was du treibst!)

Ach ja. Alice...

Alice würde darüber hinwegsehen. Alice würde es ihm sicher verzeihen, wenn er sich, für einen klitzekleinen Moment fallen und auffangen ließ. Nur kurz. Nur ganz kurz...

Myotismon legte seinen Kopf auf Sanzomons Schulter ab. Seine Hand legte sich um ihre, die die Schriftrolle festhielt.

Alles war still. Abgesehen von dem Schnee, der auf die bereits bedeckten Flächen fiel und Sanzomons erschrockenem Atmen hörte Myotismon absolut gar nichts. Kein Wind, der durch die Schluchten heulte, keine Geräusche, die von irgendwelchen Digimon aus der Ferne stammen könnten. Außer dem Schneefall war die Geräuschkulisse leer.

Selbiges galt auch für Myotismons eigenen Kopf. Dieser fühlte sich so leicht an und von diesem ausgehend, breitete sich diese Leichtigkeit auf seinem gesamten Körper aus. Die Erinnerungen an Piedmons Drohungen, des Dirigenten Taktstock, der in der Dunkelheit hin und her schwang, das eigene Volk, die eigenen Pläne rückten in die Ferne der Belanglosigkeit.

Alles war Myotismon in diesem Moment vollkommen egal. Solange er hier nur weiter sitzen konnte.

„Sanzomon.“

Sanzomon entspannte sich, nachdem sie so erschrocken war. Sie musste feststellen, dass Myotismon die Augen schloss und selbst einfach ruhig neben ihr saß. Ihn so zu sehen war seltsam. Doch Sanzomon hatte nicht den Eindruck, dass es ihm schlecht ging.

Myotismon mochte zwar wissen, wie er mit seinem Charisma umzugehen hatte und wie man Digimon mit den richtigen Worten und Klängen für sich gewann, aber ein wirklicher Romantiker war er nie gewesen. Und sicherlich auch nicht so romantisch, um zu sagen, dass er sich in diesem Moment wie im siebten Himmel fühlte, oder als spiele der Blumenwalzer ununterbrochen in seinem Ohr.

Was er durchaus sagen konnte war, dass er weder das Klappern von Teetassen hörte, noch das Geräusch der Spiegelbahn. Keine Hummer-Quadrille, keine Trommeln aus dem Nichts. Kein Hutmacher, kein Märzhase, kein Weißes Kaninchen, keine Herzkönigin. Kein Wahnsinn, der an ihm knabberte. Nur Ruhe.

Eine Ruhe, von der er glaubte, sie nur dort zu finden, wo auch Alice war. Alice hatte ihn früher gestreichelt. Nur in Alice' Nähe hatte er sich wohl gefühlt und ließ Zärtlichkeiten zu.

Aber Alice war nicht hier. Nur die Weiße Königin und es war so ruhig bei ihr. Wie merkwürdig das war.

Auf einmal wirkte die Tatsache, dass er Sanzomon vor geraumer Zeit noch töten wollte so vollkommen abstrus. Wie gut, dass er sich dagegen entschieden hatte. Fast erleichternd.

„Danke...“

Sanzomon war überrascht, aber sagte nichts. Nur ihr eigener Körper lehnte sich Myotismons etwas entgegen, ehe sie weiter las, als gab es diese Unterbrechung nie. Gerne hätte sie etwas gesagt und noch mehr gefragt, aber selbst sie musste zugeben, dass dies für diesen Moment einfach das Beste war.

Gefühlt hielt dieser Moment nicht lange, obwohl sie tatsächlich über eine halbe Stunde in der Kälte ausharrten, bis es kaum mehr zu ertragen war. Myotismon setzte Sanzomon vorm Haupttor ab, ehe sie aber in die warmen Räumlichkeiten verschwand, versprach sie noch an dem Abend etwas auf Papier zu bringen und es in sein Zimmer zu bringen.

Myotismon witzelte noch, dass ihr ganzer geschriebener Unsinn ihn um den Schlaf brachte, aber er werde einen Blick drauf werfen und sich bemühen, nicht bei jedem dritten Satz über ihre Ideale den Kopf zu schütteln. Sanzomon verschwand nach drinnen, nachdem sie ihm noch einen letzten Kuss gab, lächelnd und gedanklich bereits an ihrem Schreibtisch. Das, und was mit Myotismon war.

Er machte nicht den Eindruck, als ginge es ihm schlecht, aber etwas schlapp wirkte er doch. Sie schob es auf eine Mangelerscheinung, weil er kein Blut trank, nicht wissend, dass Myotismon heimlich zur Jagd ging. Gedanklich war sie zum Teil bei ihrem Schreibtisch. Der andere Teil fixierte sie ihr Handgelenk und hörte erst auf, als Budmon, Puffmon und KyouKyoumon sie in der Eingangshalle abfingen, um noch mit ihr zu spielen.

Myotismon sah ihr nach. Er sah Sanzomon und war gedanklich in seiner eigenen Welt, einer Welt, wo er wahrhaftig der König der Digimon war und Sanzomon die ideale Königin wäre. Ganz so viel albernes Zeug war in ihren Schriften nicht und so mancher Aspekt unterschied sich nicht von seinen eigenen oder den von Piedmon, nur begriff sie es nicht.

Ein gezielter Biss und sein eigenes Gift waren nicht anders wie eine Lobotomie, um den Wahnsinn und hinderliche Ideale aus dem Kopf zu verbannen. Dann wäre sie kein Feind mehr. Es gäbe keinen Grund mehr Sanzomon zu töten. Sie könnte für immer so viel schreiben wie sie wollte und ihre Bücher lesen. Sie könnte wie es sich für eine Königin gehörte an seiner Seite bleiben, statt das Leben eines Außenseiters zu führen, dass sie immer so sehr quälte. In Myotismons dunkler Schneewelt könnten sie diesen Abend immer und immer wieder wiederholen.

Das war besser. An seiner Seite, einer Welt ohne Außenseiter und Krieg, würde Sanzomon nichts passieren.

Myotismon hatte einen Grund mehr, seinen Plan in die Tat umzusetzen.

Ebenso nicht wissend, dass Sanzomon, die sich ebenso wünschte, diesen Abend beim nächsten Schnee wiederholen zu können, nicht nur das sechste Wappen erschuf, sondern es auch schaffte, den anderen Wappen nach und nach endlich jenes Licht zu geben, dass ihnen bisher gefehlt hatte. Sanzomon kam der Vollendung ihrer Aufgabe immer näher und damit der Chance, Myotismon endlich alles beichten zu dürfen. In der Hoffnung, dass er bei ihr bliebe.

 
 

x𝄀

 

Und zur gleichen Zeit, als Myotismon hin und wieder glaubte Alice zu sehen, aber das Kaninchenloch nicht fand um hinterher zu gehen, hatte Yuki begonnen selbst ALICE HINTER DEN SPIEGELN zu lesen, das Buch, dass ihr Vater ihr bereits vorgelesen hatte, ehe sie blind wurde. Sie saß da, stellte sich in ihrem blinden Kopf vor, wie der Nachthimmel aussah – mal blau, mal pink, mal lila und mal grün, aber immer voll mit Sternen – und mit dem Buch auf ihrem Schoß, die Finger über den Braillel-Lettern fragte sie sich in solchen, kalten Winternächten, was der Schwarze König gerade auf der anderen Seite des Spiegels tat. Papa mochte den Schwarzen König. Hat gesagt, er erinnerte ihn an jemanden.

Ehe Yuki sich schlafen legte, legte sie das Buch zur Seite, nicht unters Bett, wo andere Bücher lagen, die sie vor Mama versteckte, da die Altersempfehlungen nicht unbedingt der von Yuki entsprachen (ihre Mutter wusste dennoch, dass Bücher über Frankenstein, Feen, Vampire und Wendigos da lagen, von Opa bezahlt, weil er seiner Enkelin nichts abschlagen konnte, aber sie sagte nichts und ließ Yuki im Glauben, dass sie etwas wie einen geheimen Schatz hätte und anders wie ihre eigene Mutter, fand Asami es wichtig, dass Kinder Geheimnisse hatten).

Yukis graue Welt wurde in ein dunkleres Grau getaucht. Manchmal war sie sich nicht sicher, ob sie mit geschlossenen oder offenen Augen einschlief und die ein oder anderen Male war ihre Mutter erschrocken. Also versuchte Yuki daran zu denken, ihre Augen zu schließen, damit ihre Welt schwarz werden konnte. Wie eine Katze. Der Nachthimmel war eine schwarze Grinsekatze, ihr Fellmuster die Sterne und ihr Grinsen der Mond. Sie schlief relativ schnell ein.

Myotismon träumte davon Alice im Schnee gefunden zu haben und im Arm halten zu können.

Yuki träumte davon den Schwarzen König zu treffen, neben ihm zu sitzen und zu warten, dass er aufwachte...

 
 

♩♯

 

Was man schließlich über Myotismon wissen musste war, dass er für ein Digimon seiner Art ungewöhnliche Gedankengänge hegte und das lag zwangsläufig nicht einmal an seinem Typus. Er mochte es nur, ein Außenseiter zu sein. Außenseiter genossen das Privileg ignoriert zu werden, dass hieß, ein Außenseiter konnte im Grunde tun und lassen was er wollte, solange er nicht zu sehr aus der Reihe tanzte. Nicht wie in dem Moment, als Myotismon gegen 18:17 Uhr mitten in Odaiba stand, weiter seinen Blick über spielende Kinder streifen ließ und hoffte, die Fälschung würde sich bemerkbar machen. Die Kinder bemerkten ihn und wenn sie das Gefühl überkam, er schaue in ihre Richtung rannten sie los.

Sollten sie rennen. Wenn sie ohnehin nicht das achte Kind waren, hatte Myotismon auch kein Interesse an ihnen. Menschen. Sie waren nicht besser wie Nutzvieh und mehr auch nicht wert.

Missmutig sah sich Myotismon das Wappen an.

„Wer hätte gedacht, dass ausgerechnet etwas, was Sanzomon zu verantworten hat so viel Ärger bereiten würde“, schimpfte er, wenn es auch niemals jemand hören würde und das Digimon, dass ihm dies eingebrockt hatte erst Recht nicht. Wenn Myotismon es nicht besser wüsste könnte man wirklich denken, Sanzomon hätte sich von Anfang an gegen ihn verschworen. Vermutlich aber doch nur Karma (an Zufall glaubte er ja nicht).

Hätte er eher eingegriffen, hätte er sich die Suche ersparen können. Sie hatte die Wappen nach dem Vorbild der Sefirot erschaffen, wozu diese vermaledeite Tifaret- das Wappen des Lichts – auch dazugehörte. Sie hat sie erschaffen. Vor seiner Nase und er hatte es nicht mitbekommen. Sie hatte ihn gefragt und involviert und er hatte es nicht gemerkt.

(Was denkst du was Aufrichtigkeit ist? Was denkst du was Mut ist? Was ist Freundschaft? Was ist Hoffnung? Was denkst du ist Licht? Was unterscheidet Licht von Dunkelheit? Oder was haben Licht und Dunkelheit gemeinsam? Wie denkst du darüber Myotismon?)

(Nun was haben ein Gewissen und ein Krebsgeschwür gemeinsam Sanzomon?)

Warum hatte er es nicht gemerkt, fragte Myotismon sich, aber eigentlich wusste er es. Er war ja verrückt. Ja. Verrückt...

Warum er überhaupt so viel an sie dachte, gerade zu gegeben Zeitpunkt, erschloss sich Myotismon nicht ganz. Vorwürfe? Sicher nicht. Schon an dem Tag, als er zum ersten Mal einen Fuß in das Schloss gesetzt hatte war ihm klar, dass dieser Tag kommen würde. Seine Bestimmung hatte stets Vorrang.

Ihr Vorwürfe machen konnte er aber auch nicht. Sanzomon war idealistisch verblendet.

Bereute er, Sanzomon nicht gleich getötet zu haben? Nein. Konnte er nicht.

Myotismon versuchte sich selbst einzureden, dass er Sanzomon vergessen sollte. Die Sache war vom Tisch und er hatte sich mehr oder weniger damit abgefunden.

Auf Grey Mountain deutete nichts mehr auf Sanzomons Anwesenheit hin. Die Umgebung, Wälder und die Steine des Schlosses wirkten dunkler wie einst, als sie die Schlossherrin war. Die Berge waren nicht mehr von Nebel eingenommen, stattdessen erstreckt sich eine dicke Wolkendecke über den Himmel, soweit das Auge reichte. Jede einzelne Seerose, die es gewagte in seiner Domäne ihre Blüten zu zeigen wurde von Myotismon persönlich zerrissen. Seiner Dienerschaft, die diese Klavierballade noch miterlebt hatten, hatte er die Erinnerungen daran ausgetrieben. Keiner verlor auch nur einen Gedanken an jene Zeit, bevor Myotismon zum Herr von Grey Mountain wurde.

Er wollte so tun, als sei das alles niemals passiert. Es gab nur noch ihn, sein Plan, sein Vorhaben, sein Solokonzert. Dafür blieb er eben allein, las allein die Bücher, brachte sich alleine die alte Schrift wieder bei, damit er wusste, was er tun musste um in die Menschenwelt zu kommen, um dass achte Kind auszuschalten. Um der König aller Digimon zu werden. Das Wunder verhindern, dass den König Schachmatt setzen könnte. Der absoluten Gleichheit Willen.

Das war seine Bestimmung. Und dann sei es mit dem Orchester des Horrors. Sei es sogar um den Herr Dirigenten. Dass er aus dem Abgrund gekrochen käme, wenn die Digiwelt erst einmal aus ihrer Ordnung gerissen wurde konnte er nicht verhindern. Myotismon war ihm die Befreiung schuldig, indem er beide Welten zu einem großen Chaos verschmolz. Hatte ja auch einen Vorteil für ihn. Sobald der Herr Dirigent wieder frei war, war aber auch das Versprechen des Orchesters nichtig. Dann konnte Myotismon wirklich tun, was er wollte. Dann konnte der Winter ausbrechen.

Aber er brauchte fast zu lange, um alle benötigten Informationen in den Büchern zu finden. Zu lange, um die Karten für das Tor herzustellen, obwohl er früher Jijimon dabei zugesehen hatte. Sanzomon behinderte ihn, obwohl sie gar nicht mehr bei ihm war.

Hin und wieder sah er sie vor sich in der Bibliothek, wo nur noch ein einzelner Tisch für ihn allein da stand und sie saß vor ihm, sah ihn an und wollte hören, ob er zufrieden mit dem sei, was er erreicht hatte. Ob es sich gelohnt hatte? Was ihm besser gefiel, die absolute Gleichheit oder das Wunderland? Ob er, der Schwarze König, noch schlief oder aufgewacht sei?

Manchmal ignorierte Myotismon sie. Sie war ein Hirngespinst, dass an den Regalen vorbeilief und ihn fragte, was er sich an neuer Lektüre zugelegt hatte oder neben ihm stand und mitlas. Manchmal jedoch, wenn er sogar glaubte die Seerosen zu riechen, hielt er es nicht aus. Dann versuchte er über dieses Hirngespinst herzufallen, sie zu packen, zu sich zu zerren,

(um sie zu küssen um sie zu fressen um sie zu halten um sie zu zerfetzen sie zu spüren sie zu sehen zu hören zu riechen zu schmecken zu fühlen beißen küssen beißen streicheln beißen beißen BEISSEN)

aber kaum dann war das Hirngespinst wieder verschwunden.

Piedmon hatte immer noch Recht. Als König war man einsam. Als schlafender König erst Recht.

18:24 Uhr. Myotismon stand immer noch auf der Brücke, die sich über der Hauptstraße erstreckte und das Parkhaus mit dem Gebäude von Fuji TV verband. Einige Kinder liefen unter dieser Übergehung hindurch, aber kein achtes Kind. Das Sonnenlicht brach in der Atmosphäre, hatte sein reines Weiß verloren und nun zogen Sonnenstrahlen in Rot, Orange und Gelb über die Stadt. Selbst die Blätter in den Bäumen wirkten herbstlich in dem Licht. Es wurde Abend und bald würde es dämmern. Endlich eine positive Wendung.

Missmutig und vor allem eins, nämlich schlecht gelaunt, stopfte Myotismon das falsche Wappen in seine Mantelinnentasche. Dafür, dass er angeblich immer so ein Glückspilz war, war dieser Tag von Misserfolg gekrönt. Das Einzige, was ihn dieser Tag gebracht hatte, war ein Ohrwurm, ein Kanon aus Stand by me und Mutter-Gans-Liedern, gepaart mit den Klängen aus dem Digivice. Nein, Pseudo-Digivice, das traf es.

„Dieses blöde Gör. Stiehlt mir erst Zeit und dann meine Nerven, und dass alles ohne einen Tropfen Blut. Ich hätte ihr doch den Hals umdrehen sollen“, schimpfte Myotismon weiter und blies seine Haarsträhnen aus dem Gesicht.

Myotismon war nicht gleich verschwunden, auch wenn Yuki es gedacht hatte. Er war nur sehr, sehr leise gewesen und war über den Boden geschwebt, statt zu gehen. Sie saß noch lange im trockenen Gras, hatte gewartet, ob sie ihn oder seine Fledermäuse hören würde und war erst nach einer ganzen Weile, mit hängenden Schultern und ihrem Blindenstöckchen in der Hand davongegangen.

„Dabei dachte ich, er wäre -“, hatte sie noch gemurmelt, mit leeren Augen, die nichts erfassten. Was hatte sie wohl gedacht? Nichts Brauchbares und Sinniges vermutlich, wenn man, im Gegenteil, das Gegenteil auch nicht ganz ausschließen durfte. Sie dachte nicht kurzweilig, dass hatte Myotismon schnell gemerkt. Sie dachte eher zu weit. Nein, nicht weit, nur um sehr viele Ecken. Wie Jijimon und Babamon schon. Wie Sanzomon schon. Wie er schon.

(Alice schon)

Das war es. Myotismon traf die Erkenntnis, dass er sich am Geländer der Brücke festhalten musste. Die Lösung war Alice. Und Sanzomon wusste von Alice. Vielleicht war dieses Mädchen, die ihn einen ganzen Nachmittag gestohlen hatte ein Racheakt von Sanzomon gewesen. Schließlich hatte sie, genauso wie Sanzomon diesen Hang zum Nonsens und Träumen, den Jijimon und Babamon ihr schon in den Kopf gesetzt hatten.

(den Alice schon hatte)

Mit verengten, verärgerten Augen schaute Myotismon zum Himmel hoch.

Das musste es sein. Deswegen hing sie an seinem Rockzipfel, deswegen sah sie auch so aus und benahm sich, wie man sich Alice vorstellte. Es war Sanzomons Lieblingsgeschichte, deutlicher ging es kaum mehr. Und Sanzomon wusste, dass Vivaldis Winter seine und Alice' Melodie war.

Das Wappen und das Digivice waren eine Falle. Sie kannte seine Motivation und dass ihn nichts anderes in dieser Welt interessierte, außer das achte Kind auszuschalten. Es war einfach zu viel an dieser Göre zu auffällig, zu komisch, zu zufällig gewesen. Eine Kopie von Alice, eine vor allem blinde Kopie, bei dem seine Fähigkeiten nichts bewirkten. Sie wusste, was er vor hatte! Sie wollte ihn stoppen!

„Ist das deine Rache? Schaust du von irgendwo zu und versuchst mir Steine in den Weg zu legen? Ist es das? Natürlich ist es das, warum sollte es anders sein? Diese Kinder und ihre Digimon sind doch deine kleinen Gänschen, natürlich willst du nicht, dass ich sie vernichte, sondern sie mich!“

Es konnte nichts anders sein, als Rache. Sanzomon hasste ihn, wie könnte sie ihn auch nicht hassen, nachdem was er mit ihr gemacht hatte, ihr alles genommen hatte? Sie hasste ihn. Sie musste ihn hassen.

(Sag mir Myotismon was denkst du darüber?)

Er hoffte zumindest, sie tat das.

Zwei Mitarbeiter, zwei Männer von Fuji TV - erkennbar an den Firmenausweisen, die um ihren Hals hingen - mit zwei Tüten vom 7Eleven in der Hand, waren an Myotismon vorbeigelaufen, gerade als er seine Wut gen Himmel richtete und, aus ihrer Sicht gesehen, mehr als nur wirres Zeug von sich geschrien hatte. Allein als sie sahen, was für ein riesiger Kerl da ihren Weg kreuzte, hatten sich die beiden Männer - ein junger blasser Kerl, dessen Kopftuch schief saß und ein Mann mit braunen Kurzhaarschnitt und Augen, die dringend einen guten Kaffee benötigten – dazu entschlossen, schnell weiterzugehen, ehe er sie ansprechen würde.

Myotismon sah ihnen nach, seufzte, lang und laut und stützte sich mit den Armen an der Brüstung ab. Starker Wind kam auf, trug Blätter mit sich hoch und streifte seinen Rücken, wie ein guter Freund, der ihm sagen wollte, dass es schon wieder wird.

„Ich habe den Verstand verloren.“

Und dieses dumme, blinde Gör war Schuld. Ein kleines Mädchen, dass er nicht umbringen konnte, selbst wenn er gewollt hätte. Und NeoDevimon hatte es mitbekommen. Ein Attentäter. Natürlich, schließlich war Piedmon auch an diese paradoxen Asimov-Gesetze gebunden.

Es würde Myotismon nicht wundern, wenn NeoDevimon Piedmon alles berichtet hätte, was er so in seinem Schloss trieb. Vielleicht wusste Piedmon schon längst, was er vor hatte, wäre er den achten Digiritter endlich los.

Myotismon wollte noch über NeoDevimon kryptisches Gerede nachdenken, aber was er tat, er blieb bei Piedmon hängen. Wenn Piedmon wüsste, was Myotismon vorhatte, wer weiß, vielleicht wüsste er dann auch von diesem Mädchen. Bestimmt. Sehr sicher sogar. Irgendwie.

Er lachte leise in sich hinein.

„Nun bin ich also auch paranoid. Alles die Schuld einer einzigen Göre.“

Myotismon hoffte nur, dass das achte Kind nicht auch so eine verdrehte Fantasie und Denkweise hatte. Noch eins von der Sorte war zu viel des Guten.

Wie weit war sie eigentlich in der Lage zu denken? Sehr weit nicht, sie war erst acht Jahre alt und für einen Menschen war das sehr wenig, in etwa vergleichbar mit einem Digimon, dass vor kurzem zum Rookie geworden war. Aber gerade weil und weil sie blind war und er so nicht in ihrem Kopf gucken konnte, hätte er ja zu gerne mehr von ihr gehört und -

Niemals passiert. Myotismon stand wieder gerade da, richtete sich den Kragen des Trenchcoats wieder.

Er musste einfach nur so tun, als sei dieser Nachmittag niemals irgendwie passiert. Das ging sonst auch immer sehr gut, es würde diesmal nicht anders sein.

Wind kam wieder auf, schleifte Blätter über den hellen Boden. Etwas war auf den Rand von Myotismon Fedora gefallen und kaum, dass er sich gerührt hatte, fiel es von dort hinunter in seine Hände. Er hatte sich aber nicht deswegen bewegt, sich umgedreht und den Weg entlang geschaut, von dem er gekommen war. Sondern weil er etwas gehört hatte. Und gesehen. Ein Schatten, der viel zu groß für einen gewöhnlichen Vogel war. Schwingen, die sich viel zu laut und zu schwer angehört hatten.

Das, was auf seinen Hut gefallen war, hatte Myotismon nicht so gekümmert, hatte es für ein Blatt gehalten, das ein Lufthauch mitgerissen hatte. Dafür war aber das Objekt zu klein, zu schmal und auch zu filigran. Eine Haarspange war in seine Hand gefallen, aus weichen, silbernen Material, der im Licht der Abendsonne kupfern aussah. Ein kleiner, hellblauer Schmetterling aus dünnen Stoff und Tüll. Hatte sie nicht so eine Haarspange getragen?

„Sie wird ja wohl nicht das einzige Kind sein, das so eine Haarspange hat.“

Aber es war ein merkwürdiger wie merkerwürdiger Zufall. Einer, den man sich kaum zurecht biegen konnte, weil das alles, mal wieder, zu zufällig war.

(Hüt' dich, Fledermaus, vorm Jabberwock, des Schattens Dunkel, des Schwingens Schlag)

NeoDevimon. Der Jabberwock war noch hinter ihm her. Und hinter Yuki, die wie Alice aussah und NeoDevimon Jabberwock nannte, deren Ähnlichkeit ebenso wenig von der Hand zu weisen war. Und das bezog sich vermutlich nicht einmal aufs Äußere.

„Sei es drum. Sie ist selbst Schuld. Ich komme alleine zu Recht. Tse. Sieht man ja, wie gut sie das kann.“

Es war nicht sein Problem. Er hatte nichts damit zu tun, sie waren sich zufällig begegnet und zufällig hatte es den Anschein gemacht, dass sie das achte Kind hätte sein können. War sie aber nicht. Warum, so fragte Myotismon sich, weiter mit ihr rumärgern und dann noch so dumm sein, einem Digimon in die Arme zu laufen, dass von der verbitterten Herzkönigin losgeschickt wurde, um ihn zu köpfen? Für diese unverschämte, sture, besserwisserische, neugierige Göre mit einem Augen- wie auch offensichtlichen Dachschaden?

(den Alice schon hatte)

Myotismon fiel nach vorn, in die Richtung in die er eigentlich keinen einzigen Schritt mehr gehen wollte, die, aus der er eigentlich gekommen war. Kurz taumelte er, fand sein Gleichgewicht aber schnell wieder. Dann warf er den Kopf wütend über die Schultern, wollte losbrüllen, aber war überrascht, hinter sich nichts zu sehen.

Geschubst. Jemand hatte ihn geschubst, aber warum war da niemand? Einbildung? Nein, unmöglich, er hatte es ganz sicher gespürt, er hatte die Handflächen und die zarten Finger gespürt und wie die Kraft in ihnen seinen Rücken berührte.

Der Gedanke, der sich in Myotismons Kopf bildete war albern. Aber er war sich sicher. Oder er war wirklich verrückt.

Das konnten nicht diese Hände gewesen sein. Jedoch hatte es sich wie eben jene Hände und jene Finger angefühlt. Jene, die in der Vergangenheit seinen Rücken streichelten, während man über Leben und Tod, Wunderländer und Friedhöfe sprach und ebenso diesen in einem Anfall von Wollust zerkratzt hatten.

Die Luft hatte sich verändert. Es roch nach Seerosen.

„Sanzomon?“

Nur Wind, der um Myotismon tanzte, die Bäume in der Ferne zum rascheln brachte und einzelne Blätter auf dem Straßenübergang mit sich zog.

Verrückt. Er war verrückt, eine andere Erklärung gab es nicht. Er hatte eventuell auch einen Dachschaden.

(den Alice schon hatte und warum sollte der Schwarze König der von Alice träumt denn anders sein?)

Verrückt genug, dass Myotismon wirklich glaubte, dass Sanzomon dagewesen war und ihm etwas sagen wollte. Verrückt genug, dass seine Beine sich weiter auf diesen ungewollten Pfad bewegten, getrieben von dieser Unruhe, die ihn schon aus seinen Sarg gejagt hatte, während er die Haarspange ansah.

Eventuell sollte er doch nachsehen. Er glaubte zwar nicht, dass NeoDevimon Yuki etwas tun würde, aber wenn doch, wäre es ein absolut unnötiger Tod und diese verabscheute Myotismon eben zutiefst. Und es wäre schade um die ein, zwei klugen Ansätze, die sie hatte. Ansätze, die es wert gewesen wären, dass man sie im Laufe ihres Älterwerdens noch ausreifte und von denen sie dann hätte erzählen können. Und schmale, angewinkelte Finger, die vielleicht, wenn sie weiter so verbissen blieb, wirklich einmal in der Lage wären ein Klavier würdig zu spielen. Finger, die sein Gesicht berührt hatten. 

Sie war ganz vorsichtig gewesen. Zaghaft und irgendwie schüchtern, obwohl dass gar nicht zu ihr passte. Sie hatte jede einzelne Gesichtskontur genau abgetastet und zu gerne hätte Myotismon ja gewusst, was das für ein Bild in ihrem Kopf erzeugt hatte, wo sie doch nichts sah.

Er hat sich von einem fremden Menschen-Mädchen anfassen lassen. Es war komisch. Aber nicht uninteressant.

Myotismon konnte Vivaldis Winter hören, der vom ersten zum zweiten Satz sprangen. Und sah in seinem Geiste, wie Babamon Tinkermon und ihm, Tsukaimon, dieses Nonsens-Märchen vorlas, aber der Text hatte sich verändert. Sie las vor, wie der Jabberwock mit seinen langen und scharfen Klauen die kleine Alice am Genick packte, wegzog und sie schrie dabei -

(Onkelcheeeeeeeen!)

Die Blätter zogen weiter, diesmal zu einem längeren Tanz, der über die ganze Brücke ging und Myotismon lief ihnen nach. Bis er sie eingeholt und schließlich überholt hatte. Sie blieben liegen, aber er lief weiter. Zurück von dort, wo er gekommen war, die Treppe zur Hauptstraße runter, wieder auf den Bürgersteig. Dann rannte er. Zurück über die Straße. Aber nicht zurück, dort wo er Yuki zurückgelassen hatte. Er konnte sich genau vorstellen, wo der Jabberwock sie hingebracht hatte.

„Wieso machen Kinder und Frauen einem nichts als Ärger?!“, schimpfte er mit sich selbst, einige Passanten schauten ihm noch ungläubig nach, doch sehen taten sie ihn nicht mehr. Er war mit den Schatten verschmolzen.

Blätter, verdorrte Seerosenblätter folgten ihm noch im Wind. Dann blieben sie liegen.

 


Nachwort zu diesem Kapitel:
- um das mit dem "Zählen" zu kapieren - abgesehen dass Vampire einen Zahlentick haben (ich habe Bücher hier wo das steht und ich will es immer noch nicht so ganz glauben ) ist auch eine Alice Hinter den Spiegeln Anspielung dabei. Denn nachdem Alice zur Königin gekrönt wird, sagen ihr die Weiße und die Schwarze Königin, wie sie sich zu benehmen hat und dass ein König/eine Königin zählen und rechnen können muss

- den Text, den Sanzomon schrieb hab ich aus einem meiner vielen Psychologie-Bücher entnommen, wo es über verschiedenen Lernmodelle ging ("Entwicklungspsychologe", Schneider und Lindenberger, 7. Auflage, Beltz Verlag). Es ist nicht eins zu eins derselbe Text, ich musste natürlich ein wenig was umwerfen.

Ich habe hiermit 50% der Fanficition durch. Ich bin damit offiziell gehypt und kann behaupten, die wichtigsten Sachen und Rätsel liegen offen und alle Charaktere, die irgendwie wichtig sind, sind nun aufgeführt worden. Ab dem nächsten Konzert wird es beginnen, dass sich die Fragen und Lücken, die sich aufgetan haben gelöst werden, wenn's auch alles ziemlich bergab geht.

Ich werde jedoch eine Pause einlegen, zumal auch Weihnachtszeit und Feiertage wieder anstehen. Das gibt vielleicht auch dem Leser die Zeit, vielleicht doch nochmal ein oder zwei Worte zu verlieren, auch zu sehen was für Theorien und was für Eindrücke entstanden sind. Auch wenn etwas sehr unklar ist, wäre es gut zu wissen. Ich möchte die FF nicht irgendwann fertig haben und dem Leser mit dem Eindruck zurücklassen, dass etwas unschlüssig war. Oder out of Character. Das würde mich fertig machen.

Offiziell weitermachen werde ich am 27. Januar - Lewis Carrolls Geburtstag - heißt, ab da lade ich wieder Kapitel im Abstand von 7 - 10 Tagen hoch.

Ich hoffe, man trifft sich bis dahin bei einer Teeparty. ♥ Komplett anzeigen

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