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Wintersonett

Which dreamed it?
von

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Konzert VIII - POOL OF TEARS, 1. Satz, Grave E-Moll


 

𝄞

 

 

Während zwischen Myotismons Auftauchen in der Menschenwelt und jenem Augenblick, als er sich entschloss Alice aus den Klauen des Jabberwocks zu holen gut mehr wie ein ganzer Tag vergangen war, waren es hingegen in der Digiwelt mehrere Jahre. Diverse Digimon stellten sich die Frage, was mit dem allseits gefürchteten Digimon und Herrn von Grey Mountain geschehen war, insbesondere da auch das Schloss nicht mehr an der Spitze der Bergreihen thronte. Wohin war er gegangen und käme er wieder?

Die Digimon, die gar nicht so weit von Grey Mountain lebten konnten aufatmen, da sie sich nicht mehr darum sorgen mussten irgendwann auf Myotismons Speisekarte zu landen. Die Erleichterung diesbezüglich weilte nicht lange. Im Vergleich zu den Meister der Dunkelheit war Myotismon das doch kleinere Übel gewesen.

Wie viele Monate oder Jahre nun schon vergangen waren, seit Myotismon fortgegangen und die Digiritter ihm gefolgt waren war mittlerweile schwer abzuschätzen. Die Meister der Dunkelheit hatten mit Hilfe von Etemons Dunklem Netzwerk, dass er vor seinem Ende noch großzügig auf und um Server ausgebreitete begonnen, die Digiwelt aus den Fugen zu reißen und damit in Dunkelheit zu tauchen. Der Grad zwischen hell und dunkel schwamm dahin, in einigen Teilen der Digiwelt gab es nicht einmal mehr Tag oder Nacht. Nur Grau.

„Eh. Wieder kaum Sonne. Ob die Wolken sich irgendwann verziehen? Was denkst du, Pency?“

Leafmon ließ sich trübselig von dem Ast auf dem es saß fallen, landete aber nicht auf dem herbstlich wirkenden Rasen, der allmählich jede Farbe verlor, sondern wurde von Piedmon aufgefangen, der seelenruhig unter dem Baum lag, ein Bein über das andere geschlagen. Zwar wirkte Piedmon als ob er schliefe, dennoch fing er Leafmon auf, ohne auch nur ein Auge zu öffnen, was wohl darauf hindeutete, dass er entweder nur döste oder grübelte.

Von Piedmons Hand aus sprang Leafmon auf dessen Brust und saß nun direkt vor dem geschminkten Clowns-Gesicht

„Schläfst du, Pency? Hast du so viel zu tun?“

„Unheimlich viel. Spielplätze und Märchenwälder bauen sich schließlich nicht von selbst“, antwortete Piedmon und klang tatsächlich müde. Da begann Leafmon ihn mit seinem großen Blatt über die Stirn zu tätscheln.

„Oh. Haben dich diese vier Wächter wieder geärgert?“

„Vielmehr ärgere ich sie. Aber das sind nur kleine Fische, also mach dir darum keinen Kopf. Sie wissen die Arbeit, die ich und die anderen machen nicht zu würdigen.“

„Warum denn nicht?“

Auf einmal blickte Leafmon neugierig drein. Freundlich und fast zu unschuldig, keine Andeutung eines Hintergedankens. Piedmon kannte das von Humpty Dumpty. Der Blick war derselbe.

„Vielleicht mögen sie keine Märchen und Wunderländer.“

„Aber wer mag den Märchen nicht?“

„Na, jene, die sie nicht zu würdigen wissen.“

„Und warum würdigen sie sie nicht?“

„Weil sie sie nicht mögen.“

Stutzig legte Leafmon seine Augenbrauen tiefer ins Gesicht. Es wurde nicht schlau draus. Daran sah man, dass es nicht ganz Humpty Dumpty war. Humpty Dumpty hätte es verstanden oder zumindest auf Höflichkeit gelacht.

„Das verstehe ich nicht.“

„Ich auch nicht“, sagte Piedmon, mit einem etwas unterdrückten Lachen und aus Gründen, die es sich nicht ganz erklären konnte lachte Leafmon einfach.

„Du bist schräg, Pency. Wird die Digiwelt auch so schräg wenn du sie, ähm – korrogierst? Nein, kontogierst? Du weißt das Wort, was ich mir nicht merken kann?“

„Das und ich hoffe noch ein ganzes Stück schräger. So schräg, dass sie wieder gerade wird. Das wäre doch der perfekte Spielplatz für dich.“

Die in weißen Samt gehüllte Hand strich erst über das Blatt, dann über Leafmons Kopf.

„Dann kann Humpty Dumptys Neffe, wenn er kommt auch hier mitspielen. Ihm wird es sicher gefallen“, jauchzte Leafmon und gleich einem Zucken wich Piedmons Lächeln für eine Millisekunde, ehe es wieder auftauchte.

„Natürlich kann er, wenn es dich so glücklich macht“, sagte er zwar, aber eigentlich hoffte Piedmon, dass das nie passieren würde. Schließlich musste es einen Grund haben, warum das Digivice noch funktionierte und das Wappen der Freundlichkeit noch strahlen konnte und der Grund gefiel Piedmon gar nicht. Denn das hieße, wenn Humpty Dumptys Neffe käme und Leafmon das war, was er befürchtete würde Orchesterregel Nummer Zwei in Kraft treten. Bedeutete, Leafmon und das Letzte, was von Humpty Dumpty noch in der Welt existierte für immer auszulöschen.

Ausgerechnet er war nun in diesem ethischen Dilemma, wo er doch mit allem abgeschlossen hatte. Humpty Dumpty war zerschellt und nichts in allen Welten konnte dies wieder korrigieren. Vergessen, einfach nur vergessen war der erträglichste Weg, wenn auch nicht so einfach, wie er (oder Sanzomon, dieses hochnäsige, wichtigtuende Miststück) glaubte, wie es war. Er sah dunkle Wolken und starke Winde aufkommen und dachte an Humpty Dumpty. Er spielte auf der Gitarre und dachte an Humpty Dumpty. Er sah in den Abgrund und sah Humpty Dumpty dort liegen.

Dann war da eines Tages dieses Digiei. Ein überaus komisches Digiei, gleich einer Blumenknospe, gefunden von einer Schule Sistermon, die sich auf diesem Fleckchen Digiwelt niedergelassen, im Glauben Ophanimon (ein Digimon, für die das jede Beleidigung, die Piedmon einfiel noch zu nett war) hätte diesen Ort gesegnet. Genau dort, wo Humpty Dumptys Splitter vor vielen, vielen Jahren verbrannt und zerstreut wurden. Also machte er aus Ungleichen Gleiches. Asche zu Asche. Was in dieser Asche blieb war dieses Digiei, ein Digi-Armor-Ei, ein Relikt der alten Apartheid, die Piedmon schon so lange suchte und nur zerstört wissen wollte. Er fragte sich nicht einmal, warum Humpty Dumptys Wappen darauf abgebildet war, statt eines der Sefirot.

Und in jenem Augenblick, als Piedmon es in die Hand nahm schlüpfte eben jenes Leafmon.

Mitten in den Trümmern standen sie sich gegenüber, ein neugeborenes und ein mehr wie verachtetes Digimon, ihre Umgebung nicht mehr wie Schutt und doch wirkte dieser kleine Teil der Digiwelt, wo sie standen wie der perfekte Ort.

Und Piedmon wurde klar, dass er dieses Gefühl kannte. Als ihn das erste Mal dieses Gefühl überkam war er frisch geboren, nicht mehr wie ein Punimon und stand vor Humpty Dumtpy, mitten in der Stadt des Ewigen Anfangs, das damals noch zum Puppenland gehörte. Sie saßen da, ganz unbeholfen, aber in Spiellaune, dachten sich nichts, das an einem Tag weiße PawnChessmon und an einem anderen schwarze PawnChessmon kamen. Manchmal spielten sie auch mit den beiden und den anderen Baby-Digimon zusammen und so verbrachten Punimon und Humpty Dumpty ihre ersten Tage dort. Humpty Dumpty brachte ihm und den anderen Baby-Digimon Mutter-Gans-Reime bei, erzählte Märchen und machte Musik Die ersten Tage seines Lebens allein mit Humpty Dumpty waren die schönsten in Piedmons gesamten Dasein gewesen und als er Leafmon sah, erinnerte er sich an jede einzelne Sekunde dieser Tage.

Das Gefühl von Vertrautheit und Nostalgie musste auch Leafmon überkommen haben. Zu dem Zeitpunkt konnte Leafmon nicht sprechen, nur blubbernde Laute von sich geben, wie für Baby-Digimon typisch. Es hatte plötzlich Tränen in den Augen gehabt und begann zu Summen, auch wenn es mehr nach einem Gurgeln klang. Es war Vivaldis Sommer im dritten Satz.

In diesem Augenblick gab es eigentlich keinen Zweifeln mehr und es entzog sich jeder Logik, aber dieses Digimon war Humpty Dumpty. Es war so und irgendwo ganz tief in seinem Inneren wusste Piedmon das und nichts in allen Welten hätte ihn zweifeln lassen.

Überwältigt von dieser Erkenntnis war Piedmon, mit diesem Leafmon auf den Händen in die Knie gegangen, nicht ganz sicher ob er vor Trauer lachte oder vor Freude zu weinen begonnen hatte, während sie in diesem Meer der Zerstörung saßen. Vielleicht hatte auch er nun endgültig den Verstand verloren. Oder etwas davon war zurückgekehrt. Aber unwahrscheinlich.

„Ah, da bist du. Hey, Machinedramon, ich sage doch, dass er hier ist.“

LadyDevimon ragte aus einem Gestrüpp aus aschgrauen und teils noch gelbgrünen Blättern und Ästen hervor. Machinedramon sah man nicht, nur Licht, reflektiert von seinem Stahlkörper. Etwas verängstigt von den vielen fremden Digimon fuhr Leafmon mit seinem Körper zusammen und verkroch sich in Piedmons Armbeuge.

LadyDevimon schwebte über ihnen, aber Piedmon warf nur den Kopf etwas zurück, um aufsehen zu können.

LadyDevimon war auch ein kleines Souvenir von jedem Ort. Einst noch Sistermon Ciel hatte sie mit ihren Schwestern und Artgenossen Humpty Dumptys Ruhestätte für sich beansprucht und um Ophanimons Gnade zu bitten (als ob dieses Digimon wüsste, was Gnade war). Verziehen hatte LadyDevimon Piedmon die Zerstörung ihrer Heimat nie, auch wenn sie offiziell seine Maitresse war und nie den Anschein erweckte abzuhauen.

Es war wohl der Mangel an Möglichkeiten und die Abscheu gegenüber ihren Artgenossen, die sich mit der Zeit entwickelte. Die meisten Sistermon hatte Piedmon vernichtet. Zwei waren entkommen (oder wurden entkommen gelassen, zu schön war der Anblick wie sie wegrannten und bei Sanzomon Schutz fanden). Nur ein stures Sistermon Ciel blieb zurück, angeschlagen, aber bereit bis zum Tod weiterzukämpfen.

„Dein Elan gefällt mir“, hatte er damals zu ihr gesagt, dagesessen, ein Bein über das andere geschlagen, grinsend, hingegen Sistermon Ciel mit erhobener Waffe ihm sämtliche Beleidigungen, die ihr einfielen an den Kopf warf, aber außer dass Piedmon sich über ihren vulgären Wortschatz amüsierte, hatte sie damit nicht erreicht. Dies und dass sie ihm begann zu gefallen. Sein letztes LadyDevimon war ihm langweilig geworden und zu aufsässig, also hatte er sie loswerden müssen (nachdem er auch bemerken musste, dass dieses Spielzeug von einem gewissen Pianisten angeknabbert wurde) und ein anderes, passendes Digimon diese Lücke füllen.

„Ich mach dich fertig! I-I-Ich bring dich um!“, hatte sie weiter gebrüllt, ihre Pistole erhoben. Zwischen dem Ende des Laufs und Piedmons Stirn waren kaum mehr wie fünf Zentimeter Abstand.

„Wenn dem so wäre, hättest du längst abgedrückt. Digimon die ihre Drohungen nicht umsetzen langweilen mich zu Tode“, sagte er und gähnte anschließend. Der Lauf berührte nun die Maske, aber Sistermon Ciel drückte immer noch nicht ab. Himmel und Erde um sie herum grau.

„Warum schießt du nicht endlich? Hm, überlegen wir mal. Dein zu Hause ist nur noch ein Müllhaufen, all deine lieben Geschwister sind tot und die wenigen, die überlebt haben sind abgehauen. Du stehst mit nichts da. Töten würdest du mich sehr gerne. Aber wieso machst du es nicht? Weil du nicht weißt, was du danach tun sollst? Nein, du weißt genau, was du danach tun wirst und das durchzuziehen, davor hast du Angst.“

Für den Awaken Modus eines Sistermon üblich hing ihre Haube zu tief im Gesicht, dennoch hatte sich Piedmon genau vorstellen können, was er in den Augen dieses Digimon gesehen hätte. Die Finger von Sistermon Ciel zitterten, die Waffe mit ihnen. Dann verlor sie die Kraft, erst in den Händen, dann in den Beinen. Ihre Pistole fiel in den Staub und auf wackligen Knie stehend begann sie zu weinen.

„Na, na, na, ist doch kein Grund gleich in Tränen auszubrechen“, seufzte Piedmon leicht genervt, aber er zog ein gelbes Taschentuch aus seinem Ärmel. Sistermon Ciel zögerte zwar, nahm die Geste aber an, wenn sie auch wünschte, dass dies nicht von dem Digimon gekommen wäre, dem sie diese Misere verdankte. Bedanken wollte sie sich aber zumindest, schließlich gehörte sich das und sah dann, dass das gelbe Taschentuch an ein Orangenes und das an ein Blaues gebunden war und dieses wiederum an ein Rotes. Eine ganze Kette aus Taschentüchern ragte heraus, bis unter den roten Stoff des Blazers. Als Piedmon kräftig an dem Seil aus bunten Tüchern zog, riss es Sistermon Ciel von den Füßen, aber er fing sie auf. Sistermon Ciel verfiel in eine Schockstarre, während sie in diesen Armen hing und ließ sich von Piedmon führen, da sie selbst zu keiner Bewegung mehr fähig war. So wie er mit ihr die wenigen Schritte lief, um dieses Meisterwerk eines Schlachtfeldes zu begutachten, hatte es etwas von einem Tanz.

„Sieht das nicht wundervoll aus? Man kann Stein von Staub nicht mehr unterscheiden. Alles Grau in Grau und an allen haftet der Geruch des Kampfes. Alles ist gleich. Ich bevorzuge es, wenn alles gleich ist. Denn wenn alles gleich ist, gibt es keine Unterschiede und weniger Unterschiede bedeutet weniger Streit, weniger Kämpfe und weniger Kriege. Da stimmst du mir doch zu?“, fragte Piedmon sie. Er klang fast zu verspielt. Sein Gesicht war so schrecklich nah an ihrem eigenen gewesen, fast Wange an Wange. Etwas eingeschüchtert und fragend, ob er sie nun umbringen würde oder nicht, hatte Sistermon Ciel nickte.

„Schön, du verstehst, was ich sage. Kluges Ding.“

Das Lob klang aufrichtig und nichts an ihm ließ Sistermon Ciel glauben, dass er sie umbringen würde. Sie wollte aufatmen, doch stockte, als Piedmon sie an Schulter und Gesicht packte. Aber statt sie mit seinem Schwert niederzustreckten, gab er ihr einen Kuss direkt auf die Lippen.

„Nein. Lass das...“, sagte sie und schob ihn von sich weg, wenn auch nicht weit und auch nicht mit viel Kraft.

„Schade aber auch. Ich wollte dir nur etwas Gutes tun. Du weißt, als kleine Entschädigung für die etwas raue Lektion und meinen verbundenen Mangel an Feingefühl. Ich dachte, du verstehst was ich sage.“

„N-natürlich tue ich das...“, sagte sie atemlos, aber immer noch wie erstarrt.

„Tust du das? Digimon, die das wirklich verstehen sind selten. Verstehst du das Prinzip von absoluter Gleichheit wirklich?“

Piedmon glaubte zwar nicht, dass sie es verstand – nicht wirklich, unmöglich, ausgeschlossen, nicht wie er es verstand – und sie tat es auch nicht, aber für sie klang es auf eine gewisse Weise und wie dieses Digimon es verkaufte reizvoll. Verführerisch.

Auf jeden Fall wie eine bessere Alternative. Eine Bessere und vor allem Sinnvollere als abzuhauen oder zu sterben. Immerhin ließ dieses Digimon sie nicht sitzen. Anders wie ihre Artgenossen. Oder wie andere Digimon, die sie fortgeschickt haben, weil die Ressourcen knapp und angeblich kein Raum oder Möglichkeiten da wären, noch mehr Münder zu stopfen. Schließlich hatte Piedmon auch Recht. Wenn alles Staub wäre, gebe es Probleme wie diese nicht. Wenn man so darüber nachdachte, machte es die Situation gar nicht so schlimm. Es machte das Loslassen so leicht.

Trotz dass dieses Sistermon so scheu gewirkt hatte und unbeholfen, ließ sie sich nach dieser kleinen Ansprache und weiteren verworrenen Gedankengängen, die sie nur weiter in Piedmons Abgrund zogen, doch sehr schnell wieder auf ein Kuss- und Zungenspiel ein. Sie ließ ihren Geist in diesen schwarzen Orkan des Wahnsinns fallen und ihren Körper landete im Bett eines Mörders.

Ihr die körperliche Unschuld zu nehmen mochte vielleicht nur für diesen Augenblick ein Vergnügen sein, ihre seelische Reinheit dafür ein Spaß der sich bis in allen Ewigkeiten ziehen konnte. Piedmon kannte sich schließlich mit so was aus. Denn es gab keinen schöneren Anblick, wenn etwas verdarb und in sich zusammenfiel. Das hatten schöne und hässliche Dinge gemeinsam, sie zerfielen früher oder später und die Schönsten von ihnen meist besonders schnell.

Selbst bei Sistermon Ciel sollte es nicht so lange dauern, bis sie psychisch so verdorben und so abhängig von Piedmon war. Schließlich war er als Einziger ach so nett zu ihr und bestrafte seine ach so bösen Truppen für sie, wenn sie sie verspotteten, anfauchten und auch mal Waffen und Krallen gegen sie erhoben, weil sie des Bosses Liebling war. Etwas vorzumachen, um sie verrotten zu sehen, selbst über die Ultra-Digitation hinaus war so einfach. Sie war kein Deut anders wie ihre Vorgängerinnen.

„Pency...“, wimmerte Leafmon, sichtlich von LadyDevimon eingeschüchtert. Sie hob verwundert die Augenbraue. Komisch war nur, dass Machinedramon sich weiter hinter den fahlgrünen Gestrüpp bedeckt hielt.

Piedmon begann Leafmon wieder über das Blatt zu tätscheln.

„Ist gut, sie tut dir nichts“, sagte er lächelnd, wandte sich dann den anderen beiden Digimon zu. „Und wie kann ich euch beiden behilflich sein? Oder habt ihr mich schlicht vermisst?“

„Machinedramon wollte dich sprechen. Da du ja öfters hier rumhängst, habe ich ihn hergeführt.“

„Woher weißt du, dass ich hier bin?“

„Weil du öfter ohne ein Wort abhaust“, sagte LadyDevimon, offensichtlich beleidigt und vielleicht sogar mit einem Hauch Eifersucht sah sie das Baby-Digimon an. „Also bin ich dir gefolgt. Ich hätte ja erwartet, dass du dich mit einem anderen Digimon vergnügst. Das du aber Babysitter spielst, damit habe ich nicht gerechnet.“

„Aber, aber, ich würde dich doch nicht hintergehen.“

Gespielt eingeschüchtert zwang sich Piedmon zu einem Lächeln, sein Innerstes aber, dass in neun von zehn Fällen nie mit seinem Gesicht übereinstimmte, zog verärgert die Mundwinkel hinunter. Sie war ihm also schon länger gefolgt. Und das schmeckte Piedmon so ganz und gar nicht. Neugierige Digimon waren ein Graus. Konnten sie ihn und Leafmon nicht einfach alleine lassen?

„Hey, Sportsfreund, würdest du kurz ohne mich spielen gehen? Wir haben wichtige Dinge zu besprechen.“

„Dauert das lange?“, fragte Leafmon etwas schmollend.

„Wir werden versuchen uns kurzzuhalten.“

Schmunzelnd holte Piedmon eins seiner bunten Tücher heraus und noch während er es ausklopfte veränderte sich das Material, dünn und glatt wie Papier und ließ sich leicht in einen Flieger falten. In diesen Papierflieger setzte er Leafmon vorsichtig hinein.

„Dann guten Flug.“

Es reichte ein leichter Schwung um den Papierflieger samt Passagier in die Lüfte zu bewegen. Leafmon jubelte, als der Flieger den kleinen Hügel hinunter segelte, aber noch im Flug wieder an Höhe gewann.

„Wer hätte gedacht, dass du so gut mit Baby-Digimon kannst“, bemerkte LadyDevimon, zu Leafmon schauend und Piedmon den Rücken zugewandt. Sie sah nicht, wie er schon daran dachte eines der Schwerter zu nehmen und es ihr durch den Körper zu bohren. Er musste es kurz machen, Leafmon sollte nicht mitbekommen, wenn er wie König Blaubart seine Braut für ihre Neugierde mit dem Tod strafte. Am besten, bevor sie anfing Fragen zu stellen, wie es ihre Vorgängerinnen jedes Mal taten und ihn damit auf die Palme brachten. Wieso Musik bei ihm so schön klang, warum kennt er diese Mutter-Gans-Reime, warum weiß er was Menschen waren, warum wusste er so gut über die Apartheid bescheid, warum suchte er diesen Ort immer auf und diese Stelle, war das ein Grab, warum kam er hierher, warum, warum, warum!

„Was soll's. Dann geh ich wieder.“

„Du gehst?“, fragte Piedmon, wohl etwas zu ungläubig und genauso ungläubig verzog LadyDevimon das Gesicht. Die Hand, die schon den Griff des Schwertes packen wollte schwebte in der Luft.

„Ja. Ich habe nur Machinedramon hierher gebracht, mehr wollte ich nicht.“

„Und wunderst du dich nicht, was ich hier mache?“

„Sollte es mich denn?“

Fast herausfordernd schaute sie auf Piedmon hinunter, der, dafür dass er sie umbringen wollte doch sehr entspannt im Gras lag. Als seine Gespielin näher an ihn trat, ließ sie den Absatz ihrer Stiefel so hart auf den Boden aufschlagen, dass er fast in der Erde stecken blieb. Direkt neben Piedmons Kopf. Nur wenige Millimeter mehr und er hätte ein Loch im Gesicht. Das sie sich das traute. Aber schließlich wusste sie, was ihm gefiel. Wenn Piedmon auch nicht der masochistische Typ war, ihre raue Art hatte nun einmal was überaus reizvolles.

„Solange du weißt in welches Gemach du nachts kriechen musst, ist es mir gleich, was du treibst. Du hast deine geheimen Hobbys und ich meine.“ „Dass du meine Soldaten quälst ist nicht so geheim, wie du denkst. Es schmerzt mich eher, dass du mich zu diesen Vorstellungen nie mitnimmst.“

Verärgert rümpfte LadyDevimon die Nase, ging in die Knie und saß schließlich breitbeinig auf Piedmon. Ihr Gesicht beugte sie noch tiefer, das silberne Haar fiel wie ein Schleier hinab. Eigentlich war dies der ideale Moment um ihr den Kopf von den Schultern zu hauen, wenn ihr Desinteresse Piedmon nicht in den Fesseln der Überraschung festhalten würde.

„Du hast mir jeden Spaß erlaubt, solange ich ein braves Digimon bin. Und das bin ich doch, oder?“ „Natürlich bist du das“, antwortete er und spitzte anschließend die Lippen. Aber LadyDevimon strich nur mit den Finger über diese und blickte weiter streng drein.

„Also tue ich auch, was ich will. Denke nicht, dass ich dir jemals verzeihe, was du mir und meinen Schwestern angetan hast. Ich hasse dich, sei dir das immer bewusst. Ich küsse dich und schlafe mit dir nicht wegen irgendwelchem gefühlsduseligen Kram oder aus Dankbarkeit. Aber von all den Möchtegern-Herrschern und Schwachköpfen bist du eindeutig die bessere Wahl. Dies und unser gemeinsames Verständnis von Spaß. Und du weißt nicht, welcher Spaß es ist, wenn du wie Wachs in meinen Händen bist.“

„Du denkst also, du hättest mich um den Finger gewickelt?“, fragte Piedmon, erst recht tonlos und unbeeindruckt, fing aber wenig später an zu lachen.

„Ich denke nicht, ich weiß es. Ich bin kein unerfahrenes und blauäugiges Sistermon mehr. Man vergisst sich schnell, wenn man in Ekstase verfällt und es fallen mehr wie nur Kleider. Ich habe viel von dir gelernt und du weißt gar nicht, wie viel du unbewusst von dir preisgibst. Aber gut, solange wir beide unseren Spaß in dieser bekloppten Welt haben, kümmert mich das Drumherum nicht im geringsten. Dich doch genauso wenig.“

Der Ärger war gewichen und LadyDevimon grinste ihn an, doch die angesprochene Verachtung war deutlich zu spüren. Stören tat es Piedmon jedoch wenig. Im Gegenteil, wie Onkel Remus gesagt hätte.

„Seid ihr bald fertig? Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit“, knurrte Machinedramon aus den Büschen hervor.

„Schon gut, schon gut. Ich gehe ja. Ich bin schon länger hier, wie ich wollte.“

Langsam stieg LadyDevimon von Piedmon ab, ohne ihn aber dabei aus den Augen zu lassen, mit einem Ausdruck in Mimik und Gestik, den Piedmon nicht so recht einordnen konnte, ob es Argwohn oder tatsächlich Spott war.

„Du weißt, wo ich dich heute Abend erwarte“, rief sie ihm noch zu und flog in Windeseile davon. Einige Grashalme wurden von dem Luftstoß aufgewirbelt und folgten ihr, ehe sie wieder auf die graue Erde hinabsanken. Machinedramon trat nun vollständig aus seinem Versteck und war damit nun komplett zu sehen, wenn es auch noch etwas dauerte, bis Piedmon ihn beachtete, zu sehr hatte LadyDevimons Ignoranz ihn überrascht. Bei so viel Verachtung ging ihm das Herz auf. Fast zum Verlieben, wenn es nicht so unsinnig wäre.

„Du wolltest sie töten, oder?“

„Kann sein“, antwortete Piedmon nüchtern, beobachtete aber Leafmon, dass eine Pfütze entdeckt hatte und darin spaßig plantschte.

„Und warum hast du es nicht getan?“

„Das fragst du noch? Weißt du wie schwer es ist Digimon wie sie zu finden? Sie rückt mir nicht auf die Pelle, sie stellt keine unnötigen Fragen und keinen von uns kümmert es, wie viele Leichen der andere im Keller hat. Alles ganz unkompliziert.“

„Emotionslos wäre meiner Meinung nach das richtige Wort.“

„Und das von dir? Einer herzlosen Killermaschine?“

Piedmon warf den Kopf zurück, bis dieser sich fast überstreckte. Wäre Machinedramon zu einer etwas beweglicheren Gesichtsmimik fähig, hätte dieser grimmig und fragend gleichzeitig ausgesehen.

„Ich mag eine Maschine sein. Aber ich bin in erster Linie immer noch ein Digimon, dass versteht wie Musik klingen muss. Ich erkenne als Maschine die Töne und Noten besser wie jeder andere von uns. Du kannst mir nicht erzählen, dass du keinerlei emotionale Bindungen zu deinen Gespielinnen hegst.“

„Oh bitte, wer bin ich? Myotismon?“

„Und was ist das mit Leafmon?“

„Das ist was anderes.“

Aus seinem Ärmel zog Piedmon eine Spielkarte – die Herzdame – und rollte sie mit seiner Hand zusammen. Er blies kräftig durch den improvisierten Strohhalm und am anderen Ende kamen große, klare bis regenbogenfarbige Seifenblasen heraus, teils nicht größer wie eine Walnuss, teils sogar so riesig, dass man seinen Kopf hätte hineinstecken können. Der Schwarm flog zu Leafmon, das immer noch in der Pfütze rumsprang. Als es die Seifenblasen sah jauchzte es, sprang auf sie und schlug sie mit seinem Blatt hin und her.

„Myotismon hat nur noch Blödsinn von sich gegeben, nachdem er sich auf Sanzomon eingelassen hat. Einige ihrer Ideen sind interessant und sind der unseren gar nicht so unähnlich, dass ich nicht lache. Entweder hatten die beiden das langweiligste oder das abgedrehteste Sexleben aller Zeiten, anders kann ich mir nicht erklären, warum er sich von ihr tagein, tagaus hat vollquatschen lassen. Um so schöner, als er ihr das Herz gebrochen hat. Du hättest dabei sein müssen“, lachte Piedmon, oder vielmehr klang es danach. Machinedramon hörte Groll, gleich einem schwachen Bass.

„Und doch hast du die Suche nach der Weißen Königin aufgegeben.“

Zwar stellte Machinedramon keine genau Frage, aber Piedmon ahnte, dass er eine Antwort darauf wollte. Die Antwort war tatsächlich udn was Piedmon nicht gerne zugab - Angst. 

Piedmon war verrückt, dass wusste er. Den Rand des Wahnsinns hatte er schon lange überschritten und das war seines Erachtens ein notwendiger Schritt. Anders überlebte man Albträume nicht. Verrücktheit machte alles leichter und verschaffte einen Vorteil, wenn man im Gegensatz zu seinen Gegner keine moralischen Grenzen kannte. Aber stets über dem Limit zu sein ermüdete und die Ekstase, die man sonst verspürte bei so einem Grenzübertritt wurde zu einem Dauerzustand, mit konstanter Stärke, aber ohne jede Schübe.

Das war bei Digimon, die Grenzen hatten anders und wenn sie es schafften diese zu übergehen – aus welchen Gründen auch immer – war diese Art des Rausches, der Kraftschub und eine eventuelle Digitation ein Erlebnis, fast besser wie ein Orgasmus. Deswegen suchten viele Digimon diese Herausforderung. Die wenigsten fanden sie. Und noch weniger waren in der Lage Ekstase von Kontrollverlust zu unterscheiden.

Myotismon und Sanzomon hatten Grenzen und waren fähig sie zu überschreiten wenn es sein müsste, dass hatten sie beide bewiesen. Und wäre der Herr Dirigent nicht gewesen, wäre Piedmon tot.

Sanzomon war eine Sache. Dass sie tatsächlich zuschlug hatte Piedmon tatsächlich ein wenig überrascht. Ein anderes Sanzomon hätte wahrscheinlich anders gehandelt und sich um einen anderen Ausweg bemüht, statt rumzubrüllen und in die Offensive zu gehen. Sie war aber weniger das Problem. Myotismon hingegen...

„Ich hatte keine Lust mich nochmal mit ihm zu streiten. Das mit Sanzomon ging lange genug und ich bin froh, dass endlich Ruhe herrscht und ich nicht mehr ihren Namen hören muss“, antwortete Piedmon schnippisch. Besser wie zuzugeben, dass er ein wenig Angst, insbesondere vor Myotismon hatte.

Er hatte ihn tatsächlich angegriffen und er wollte ihn töten. Er, ein Digimon, dass Piedmon mal aufrichtig als Freund bezeichnet hatte wollte ihn töten. Ein Orchestermitglied, was nie passieren dürfte. Das der Herr Dirigient ihre Daten verändert hat geschah aus guten Grund. Und doch...

Hätte er es durchgezogen wäre es Piedmons Vernichtung gewesen und von Myotismons Gehirn wäre nicht mehr wie degeneriertes Gemüse übrig geblieben. Myotismon wusste es und tat es dennoch und Piedmon war sich unsicher, ob dieser Wille oder diese Kraft ihm mehr Sorgen bereiten sollte.

Doch sein Ein und Alles, neben Alice, war die Weiße Königin. Piedmon gab es nicht gern zu, aber dass er noch an einem Stück war verdankte er Sanzomon. Hätte ihr Primadonna-Stimmchen Myotismon nicht beruhigt, ähnlich wie eine großzügige Dosis Valium wären sie beide nun hinüber. An dem Tag hatte Piedmon gesehen, dass sie beide auf ihre ganz eigene Art komplett irre waren. Und so betrachtet hätten sie doch ein amüsantes Pärchen abgegeben.

Sie also weiter verfolgen, töten und riskieren, dass Myotismon ihn beim nächsten Mal wirklich zerfetzte, aufspießte oder was immer ihm einfiel?

„Ob Myotismon um sie trauert?“, fragte sich Machinedramon. „Er hat nie mehr ein Wort darüber verloren.“

„Wen kümmert's? Und hast du unser Motto vergessen? Es ist niemals passiert. Schmerz zu leugnen macht es erträglicher und man kann ihn leichter vergessen.“

„Ob Myotismon das auch tat? An dieser Sache mit dem Gedächtnisschwund hege ich so langsam Zweifel.“

„Wie kommt's?“

„Nun, hat je einer von uns ihn einmal direkt gefragt? Wir haben das damals einfach hingenommen.“

Das stimmte und schließlich war auch Piedmon davon ausgegangen und würde es wohl immer noch, hätte Myotismon seine Karten nicht auf den Tisch gelegt. Vielleicht hatte Myotismon wirklich Amnesie und Puppetmon deswegen auch nicht sofort wiedererkannt. Nachdem Piedmon eingegriffen und sich ihm angenommen hatte, stand er kurz unter Schock.

Als er ihn zu einer Orchesterprobe mitnahm, hatte Myotismon nur sich das Innere der Sternwarte angesehen, aber nichts gesagt. Sie schien ihm bekannt vorzukommen, dass sah man ihm an, aber niemand hätte sagen können, ob er wusste, dass diese Sternwarte nicht immer eine Sternwarte war? Das hier mal ein Konzertsaal war? Dass sie hier einmal gespielt hatten, mit ihren Kapellmeistern, vor langer, langer Zeit?

Weil Myotismon keinen Mucks von sich gab und seine Reaktion auf die einzelnen Mitglieder sich bescheiden hielt, aber zahlreich zu interpretieren war, nahm man an, dass seine Gedächtnislücken größer waren wie vermutet. Man munkelte schon, man hätte das falsche Digimon in die Runde geschleppt. Dann aber hatte Myotismon das Klavier gesehen, dass in Piedmons heimischen Räumen stand, ging wie magnetisch angezogen dorthin und er spielte. Er spielte Vivaldis ersten Satz des Winters. Perfekt.

„An was denkst du, wenn du diese Klänge hörst, Herr Pianist?“, hatte Piedmon ihn gefragt und er brauchte sehr lange für eine Antwort.

„An Schnee, der in ein tiefes schwarzes Loch hineinfällt.“

„Der Abgrund.“

Dann war wieder Stille gewesen.

„Was ist im Abgrund?“

„Ich bin nicht sicher. Alles ist schwarz und weiß.“

„Hörst du denn etwas?“

„Ja.“

Er begann den zweiten Satz zu spielen.

„Ich höre den Schnee fallen. Ich höre... Alice.“

Dann gab es keinen Zweifel mehr, dass es wirklich Tsukaimon war. Tsukaimon, der nicht mehr wusste, dass er mal Tsukaimon im Wunderland war.

Neid lag in der Luft. Während sich die anderen wünschten, so leicht vergessen zu können, war es Myotismon von vorne rein vergönnt gewesen. Er kehrte seinem Orchester immer mehr den Rücken und gab sich lieber mit Untoten und Geist-Digimon ab, wenn auch die Bezeichnung Digimon für diese Restdaten und Bugs noch zu gut war. Und dann wagte er es noch sich an widerliche, verblendete Rebellen ran zumachen und sie flachzulegen, obwohl er alles wusste. Alles.

„Sanzomon hat in unsere Seele geschaut. Sie hat die Kapellmeister vor uns erscheinen lassen. Myotismon hat das gesehen, was wir gesehen haben“, schlussfolgerte Machinedramon weiter. „Und ist es nicht merkwürdig, dass Myotismon Gedächtnislücken haben soll, aber bei Alice' Anblick einknickt?“

„Nach all den Jahren fängst du jetzt damit an Fragen zu stellen?“

Zumal ersten Mal während dieser Unterhaltung schaute Piedmon zu Machinedramon.

„Warum?“

„Weil er in die Menschenwelt gegangen ist. Und ich frage mich, ob dies wirklich nur dem Willen des Herr Dirigenten gilt.“

„Du stellst Fragen, mir scheint aber du hast einen Verdacht.“

„Den habe ich. Aber es würde nur Sinn machen, wenn seine Amnesie ein Trugschluss von uns war. War es das, Piedmon?“

Piedmon beobachtete wieder Leafmon, während er darüber nachdachte ob noch mehr wie Machinedramon diesen Verdacht hegten. Aber Puppetmon und insbesondere MetalSeadramon verachteten Myotismon so sehr, dass sie keinen einzigen Gedanken an ihn verschwenden würden. Piedmon wusste, wie sehr die Geist-Digimon Digimon wie Myotismon verehrten und was man sich da für Geschichten und Legenden erzählte. Dass Myotismon in seinem Oberstübchen plante das Orchester fallen zu lassen, unter dem Schein des treuen Pianisten, den Verdacht hatte Piedmon schon lange.

Piedmon wusste, dass jeder von ihnen schon in diese Richtung gedacht hatte. Aber einzig Myotismon war so exzentrisch, narzisstisch und verrückt genug es auch durchzuziehen. Wäre es möglich, dass er zu einem schlimmeren und stärkeren Digimon werden könnte, schlimmer und stärker als der Herr Dirigent?

Und es wäre weder ein Kapellmeister noch eine Primadonna da, die ihn im Ernstfall zurückhalten könnten...

„Bist du dir auch nicht sicher?“

„Du quatschst dummes Zeug“, ächzte Piedmon und richtete sich auf. Fahles Gras hing an seinem Anzug, dass er begann abzuklopfen.

„Wenn er noch genau wüsste, was damals war, denkst du dann er hätte uns so einfach gegen eine halbtote Armee und einen Kinderchor ausgetauscht? Dann wüsste er doch alles. Was die Apartheid, Krieg und Tod uns angetan haben. Das Band des Orchesters ist stärker wie alles andere und was uns verbindet ist mit nichts zu vergleichen. Nicht einmal die Souveränen oder diese Digiritter könnten das je begreifen.“

„Das bedeutet, dass du es ihm nicht zutraust?“

„Nein, sage ich doch.“

Damit log er. Piedmon wusste das Gegenteil. Weil Myotismon selbst es ihm gesagt hatte. Warum auch immer. Wahrscheinlich weil es eben an jenem Tag war, als er so ziemlich alles verlor, an das sein bisschen Vernunft noch festhielt. Piedmon würde den Blick in Myotismons Gesicht nie vergessen. Wie er ihn ansah, als er erfuhr, dass Alice tot war. Piedmon schwor gehört zu haben, wie in Myotismon ein Schalter umgelegt wurde. Da war so viel in diesen Augen zu sehen, aber nichts in allen Welten hätte diesen Anblick beschreiben können.

Oder als Sanzomon fort war konnte man Myotismon ansehen, dass er sich für Piedmon einen möglichst qualvollen Tod wünschte. Dafür wirkte er aber weniger manisch. Aber hasserfüllt.

Piedmon versprach ihm ja, dass wieder gut zu machen. Es gab noch andere Sanzomon in der Digiwelt. Piedmon fand auch andere Sanzomon für ihn, so geschwächt, dass sie sich weder gegen physische Angriffe noch gegen psychische Manipulation zur Wehr setzen konnten und lieferte sie Myotismon aus. Gebissen und ausgesaugt hatte er sie zwar (ob Myotismon sie so weit leersaugte, bis sie draufgingen oder nur, bis sie bewusstlos wurden und er sie wieder gehen ließ blieb ein Mysterium für sich), aber Myotismon interessierte sich nicht für diese. Er wollte kein anderes Sanzomon. Das Aussehen sei identisch, die Stimme klang ähnlich, aber es waren nicht die Worte und die Gedanken der Weißen Königin, die aus dem Mund dieser Digimon kamen. Blick und Mimik gleich, aber nicht der gleiche Funke in den Augen. Sie würden nicht so nach Seerosen riechen, wie sie es tat. Wenn sie (unter Hypnose) seinen Namen sagten, würde es so falsch klingen. Das Blut würde nicht nach Neugierde schmecken.

Der Schwarze König wollte nur die Weiße Königin. Und doch weigerte er sich, an das Wort Liebe überhaupt zu denken. Wie konnte man nur so starrsinnig sein und etwas so offensichtliches leugnen? Alice wäre enttäuscht.

Myotismons dezenter Kummer hatte aber Vorteile. Denn um so mehr wollte er, wie Piedmon, Gleichheit. Dann wären solche Kleinigkeiten egal. Dann wäre die gesamte Politik egal.

Dass sie beide jedoch unterschiedliche Ansichten von Gleichheit hatten merkte Piedmon fast zu spät. Denn nun saß Myotismon am längeren Hebel und erpresste Piedmon mit der Wahrheit. Die Wahrheit, warum ihr Pianist als Einziger zu Beginn Gedächtnislücken hatte. Warum ausgerechnet dieses Digimon ihr Dirigent wurde. Dieses, dass sie doch selbst vor langer, langer Zeit in den Abgrund sperrten. Waren die anderen nicht skeptisch, hatte Myotismon gefragt. Stellten sie keine unangenehmen Fragen? Glaubte Piedmon wirklich, sie nahmen die Tatsache einfach so hin? Hatte er Angst?

(Angst alter Freund?)

Diese Wahrheit würde ihm das Genick brechen. Das war sicher, sicherer wie bei Leafmon. Die Existenz seines Schützlings zu offenbaren war schon mehr wie riskant gewesen. Gut, dass sie nicht fragten, warum Piedmon seine kostbare Zeit mit einem Baby-Digimon verbrachte und Myotismon auf den Bluff reinfiel. Wäre er bei Sinnen gewesen, hätte er den Spieß vielleicht umdrehen können, aber sein Liebeswahn hatte jedes rationale Denken unmöglich gemacht.

So entschied man sich für beidseitiges Schweigen.

Dann, nach all den Jahren, gerade als die Digiritter ihr Unwesen trieben wollte Myotismon in die Reale Welt. Und das die Gruselmärchen der Untoten-Digimon seine Inspiration waren schloss Piedmon nicht aus.

NeoDevimon sollte das für ihn herausfinden und Myotismon töten, sollte da wirklich etwas dran sein. Regel Nummer Drei und Zwei mochten sich im Fall von Myotismon überschneiden und das war ärgerlich – Piedmon hätte ihn wenn schon gern selbst gelyncht -, aber Orchester-Regeln galten nicht für den Pöbel.

Doch Piedmon hörte von NeoDevimon nichts mehr. Ob er mit in die Reale Welt gegangen war? Mit diesem Digimon stimmte auch so einiges nicht. Sein Blick war nicht so furchteinflößend wie Myotismons, jedoch hatte er immer hasserfüllt in die Runde der Meister der Dunkelheit geblickt. Aber Piedmon verstand nicht warum. Er wusste nur, dass es ihm nicht gefiel. Es erinnerte ihn an etwas. Es erinnerte ihn an das Meer...

„Gut. Wenn du das sagst, glaube ich dir. Immerhin bist du schon immer der Einzige gewesen, der sich in seiner wirren Gedankenwelt zurechtgefunden hatte.“

„Weil wir beide Figuren aus dem Wunderland sind“, murmelte Piedmon, hatte aber nur Augen für Leafmon, das in der Pfütze spielte und mit Seifenblasen auf herabfallende Blätter schoss. Dieser Anblick war nostalgisch.

Für einen kurzen Moment reiste Piedmon in seinen Gedanken zurück und dachte an früher. Wenn es für ein Digimon etwas wie eine Kindheit gab, dann war es die Zeit, die es nur auf dem Ausbildungs- oder Rookie-Level verbrachte, bis es alt und erfahren genug war das Champion-Level zu halten. Zwar hatte das Orchester seine Kindheit in der Typus-Apartheid verbracht, aber zwischen den Momenten, in denen sie gekämpft und verfolgt wurden, waren doch auch viele schöne Augenblicke dabei. Die meisten davon teilte sich Dracmon mit Tsukaimon. Piedmon sah Leafmon, doch sein Kopf zeigte ihn als Dracmon mit Tsukaimon im Wasser spielen.

Um von den Säuberungstruppen der hohen Serums und den ihnen untergestellten Dateien nicht erkannt zu werden und schlussendlich mit Geierkrallengift gerebootet zu werden, hatten sie Tsukaimon oft das Fell gefärbt, damit er als Patamon getarnt herumlaufen konnte. Die Farbe wieder ab zu kriegen war lästig und schmerzhaft für ihn gewesen und Dracmon – bei ihm musste man auf Verkleidungen zurückgreifen, meist unpraktisch und im wahrsten Sinne erstickend – versuchte ihn aufzuheitern. Meist endete es dann doch immer im Streit, da Dracmon zu distanzlos und Tsukaimon zu mürrisch war und Humpty Dumpty und Alice mussten sie trennen. Dennoch hatte Tsukaimon danach seine Schmerzen und das Kratzen im Fell vergessen, ertrug den Rest dieser Prozedur viel leichter und das war schließlich das Ziel. Da wusste Tsukaimon, dass sein Freund es nur gut meinte. Und Humpty Dumpty, der verstand wie sein Partner tickte, war am Ende des Tages zufrieden und gab ihm zur Belohnung was Süßes.

(Auf deine eigene, wenn auch schroffe Art bis du doch sehr freundlich und großzügig Du hast etwas von der Herzkönigin)

(Der Herzkönigin? Aus Alice im Wunderland?)

(Ja, auch sie kommt ursprünglich aus einem Mutter-Gans-Reim. So wie Humpty Dumpty auch)

(Aber ist die Herzkönigin nicht böse?)

(Die Herzkönigin ist wie ein Sturm der einzige Unterschied sei nur dass der Sturm es nicht so böse meint aber wenn die Herzkönigin ein Sturm ist und ein Sturm wie sie wieso sollte es die Herzkönigin nicht auch genauso wenig böse meinen?)

Für Dracmon klang es kompliziert, aber irgendwo hatte er es auch verstanden. Dracmon gab es während der Apartheid duzend. Damals hatten sich diese Digimon noch nicht gänzlich von ihrem Blutsauger-Dasein abgesagt, darum mied man sie. Aber er war Humpty Dumptys Dracmon, er gehörte zu einem Orchester, dass für die Digiwelt und für Tante Rhody und Onkel Remus spielte. Er war nicht so. Er war anders. Er wusste, was Freundlichkeit bedeutete. Und er hatte Humpty Dumpty, der wie in den Alice-Märchen der Liebling der Monarchen des Wunderlandes war. Wie die Herzkönigin schwor er, Humpty Dumpty zu beschützen.

Aber er hatte versagt. Er konnte Humpty Dumpty nicht zusammenflicken.

„Kou... “

Ehe eine Träne über das Gesicht lief, wischte Piedmon sie weg, getarnt als eine weitere Bewegung um Grashalme von seinem Blazer zu klopfen. Er hoffte nur, Machinedramon hatte es nicht gehört.

„Bist du eigentlich nur hier, um mit mir über unseren störrischen Pianisten zu reden?“

„Das und um Bericht zu erstatten. Ich habe endlich Etemons Dunkles Netzwerk in Ordnung bringen können“, schnaubte Machinedramon, sehr erbost und schlecht gelaunt, dafür, dass er immer leugnete Gefühle zu haben. „Das absolute Chaos, aber was war zu erwarten? Er hätte sich eine Scheibe von Devimon abschneiden sollen, dieser hatte wenigstens Sinn für Ordnung.“

„Oh ja, der ist mir bekannt. War er es nicht, der die einzelnen Areale seiner kleinen Insel nach den Zwergen aus Bilbos Lieblingsgeschichte benannt hat? Er kam wohl doch nicht so gut über seinen Kapellmeister hinweg, wie er immer behauptet hatte.“

Was diese Andeutung sollte hatte Machinedramon schnell durchschaut. Neben den ellenlangen Nummern, die gefühlt länger waren wie die Zahlenfolge hinter dem Komma von Pi, hatte Machinedramon seine Hauptcomputer nach Figuren der Gebrüder Grimm benannt. Den in seiner Basis sogar nach Hänsel selbst.

„Dennoch besaß er System. Für einen Champion eine außerordentliche Leistung.“

„Sicher. Devimon und du seid beide solche Kontrollfanatiker, die wenig Interesse an sozialen Strukturen hegen.“

„Du meintest wohl, dass wir uns nicht auf unnötige Bindungen einlassen, wie MetalSeadramon es zu pflegen vermach? Oder Etemon? Von Myotismon ganz zu schweigen. Hast du nicht eben noch selbst über ihn gemeckert?“

Piedmon stand im Schatten und in einem günstigen Winkel, ansonsten hätte Machinedramon gemerkt, wie dieser grinste, besonders wie er grinste. Dafür, dass Machinedramon Gefühle nicht nur negativ gesinnt war, sondern gänzlich verleugnete, war er doch sehr gefühlsgeladen. Genau wie Devimon, allein deswegen hatte er sich auch erst Recht keine Handlanger gehalten, sondern mit seinen schwarzen Zahnrädern Sklaven gezüchtet, die nur er zu kontrollieren wusste.

„Nicht mal ein Hauch von Sympathie für dein Rudel aus Schrauben und Blech?“

„Wir sind Maschinen. Wir sind Daten! Reicht dir die Antwort nicht?“, schnaubte er, Piedmon glaubte ein Knurren gehört zu haben. „Sollen sich die anderen doch Haustiere halten, wenn sie so dringend Gesellschaft brauchen. Das zeigt nur ihre Charakterschwäche. Handlanger sind wie niedere Spielkarten, oder nicht, Herzkönigin?“

„Also dafür, dass dir deine Untergebenen so egal sind, gibst du dir ganz viel Mühe, dass es deinen Spielzeugen an nichts mangelt. Hast dich mit allen Computer innerhalb der Digiwelt vernetzt, erzeugst und versorgst deine Maschinen mit Strom. Inwiefern unterscheidet das dich von MetalSeadramon, der die Meeres-Digimon vor Eindringlingen beschützt? Oder von Etemon, der auch schwächeren Digimon eine Chance gibt, solange wie sie ihn feiern? Oder von Myotismon, der Untote, Geister und anderes verstoßenes Gesocks aufsammelt, das keiner haben will?“

„Kaputte Maschinen funktionieren eben nicht!“, fauchte Machinedramon weiter, es klang sogar, als hätte er durch seine Zähne hindurch gezischt, so laut wie ein Donner. Leafmon sah erschrocken zum Hügel hoch. Es spielte zwar weiter, als Piedmon ihm freundlich zuwinkte, es hatte aber ein flaues Gefühl im Bauch.

Machinedramon entschloss sich, seine Stimme zu dämmen.

„Unterstehe dich, weiter Dinge in meine Taten hineinzuinterpretieren. Geschweige denn mich zu deinem neuen Lieblingsspielzeug zu ernennen, nun da Myotismon nicht mehr da ist.“

„Glaub mir, so amüsant wie bei Myotismon ist es bei dir nicht, Herr Klarinettist“, lachte Piedmon, nur nicht so amüsiert, eher boshaft. Machinedramon antwortete nicht mehr. Schweigend und doch so emotional für ein Digimon, dass vehement leugnete Gefühle zu haben, ging er und verschwand zwischen den Gestrüpp. So machte es tatsächlich nur bedingt Spaß. Außerdem war Machinedramon kein Digimon, dass es verstand richtig verbal zu kontern. Ein Talent, dass Myotismon eher verinnerlicht hatte.

„Seid ihr fertig mit reden?“, fragte Leafmon, dass den Hügel hoch gehupft kam, den Papierflieger an sich geklemmt, was ihm nicht so leicht fiel.

„Ja, sind wir.“

„Habt ihr über Tsukaimon geredet?“

„Du kennst Tsukaimon?“, fragte Piedmon, teils mit dieser überdrehten, zu euphorischen Clown-Stimme, zum Teil doch sehr überrascht.

„Natürlich. Tsukaimon ist doch dein bester Freund, Pency. Er war immer so ernst. Aber bei dir hat er immer gelacht. Bei dir und... und...“

Leafmon überlegte, überlegte lange. In der Zeit wurde Piedmon von Erinnerungen geradezu überrannt und ein Stich traf ihn. Ebenso die Frage, wie lange es noch halten würde. Leafmon war dabei zu vergessen. Sein altes Ich wurde in der Digiwelt nicht mehr gebraucht.

Aber er würde das verhindern.

„Alice! Ja und bei Alice war Tsukaimon auch immer ganz glücklich“, rief Leafmon auf, selbst von seinem Geistesblitz überrascht und sich gleichzeitig fragend, woher es das wusste. „Nee, Moment. Alice ist nicht der richtige Name. Aber ich komme nicht drauf. Wieso fällt es mir nicht ein, Pency?“

„Vielleicht weil vergessen manchmal doch die bessere Option ist“, antworte Piedmon und nahm Leafmon hoch. Das Digimon verstand wohl nicht ganz, was er ausdrücken wollte, nahm es aber hin.

„Und Tsukaimon? Wo ist er?“

„Na, wo wohl? Bei Alice ist er, wo sonst?“

Leafmon lachte, Piedmon mit, aber nur um zu vertuschen, dass etwas an dieser Aussage nicht koscher war. Denn es war keine Lüge, dennoch wünschte sich Piedmon es wäre eine.

Der Herr Dirigent hatte es ihm zugeflüstert. Der Herr Dirigent war zornig und erbost über diesen Pianisten. Piedmon wusste das, denn keiner von ihnen stand dem Herr Dirigenten so nah wie er und bekam dessen Zorn so zu spüren wie er. Er wusste, was der Herr Dirigent wusste und der Herr Dirigent vertraute Myotismon schon lange nicht mehr. Nicht nur wegen der Sache mit Sanzomon.

Das Wappen der Gerechtigkeit leuchtete noch, hatte der Herr Dirigent gebrüllt. Myotismon war Alice in die Arme gelaufen.

 
 

♩♭

 

Vivaldis Winter war die einzige musikalische Erfahrung die Deemon jemals zuteil wurde. Diese Ehre widerfuhr ihm noch als IceDevimon, als er und seine Genossen, bestehend aus anderen IceDevimon in den eisigen Höhlen einer Schneewüste hausten. Nicht weit entfernt lag ein abgelegenes kleines Dorf, in dem nur Frigimon lebten und es war so generisch und schläfrig, dass er sich damals nicht einmal die Mühe machte dort für etwas Unruhe zu sorgen.

Eines Tages jedoch, als die Stürme relativ ruhig waren und der Himmel klar, kam Schwung in dieses verschlafene Eckchen. Ein Fremder, ein Mensch war dort aufgetaucht und dass plötzlich in diesem Dorf ein Trubel herrschte entging IceDevimon nicht. Also hatte er sich klammheimlich davon gemacht um zu sehen, was das war, dieser Mensch, oder als was auch immer derjenige sich bezeichnete.

So lugte IceDevimon in eines der Häuser hinein und sah erst nichts außer die aufgebrachten Frigimon. Sie standen im Halbkreis und in der Mitte saß etwas unbeholfen dieser Mensch. Dieser Mensch war Alice. Und in Alice' Armen, in einer gestrickten Decke eingehüllt lag ein Poyomon, das ebenso unbeholfen und müde war. Hin und wieder fing es an zu husten.

IceDevimon hörte kaum etwas von dem Gespräch. Die Frigimon redeten wild durcheinander und das auch laut. Er konnte nur herausfiltern, dass Alice ziemlich oft fragte, was das für ein Ort sei und ob noch mehr Menschen hier wären. Freunde nannte Alice sie. Das Poyomon nieste ziemlich oft und döste ein, kaum dass es wach war. Alice hatte den Frigimon erzählt, dass sie beide zwei, vielleicht drei Tage hier rumgelaufen seien und während die ersten Tage sehr klar und freundlich war, waren sie am dritten von Lawinen und Stürmen überrascht worden und vermutete, dass das Poyomon sich etwas eingefangen hatte und ob sie bleiben könnten, bis es wieder gesund wäre. Man stimmte zu, aber nur für eine Gegenleistung. Aber einzig, was Alice anbieten könnte wäre Musik, was aber bei den Frigimon Erfolg zeigte. In der Apartheid war Musik, vor allem gute Musik noch seltener gewesen wie in der Gegenwart. Also hatte man Alice an ein Piano gesetzt und spielte. Antonio Vivaldis Winter hieß das, was Alice den Digimon vorspielte und es klang gut. Sehr gut sogar. Nicht hohl, nicht schwer, nicht mechanisch. Einfach irgendwie echt und lebendig. Es waren drei Teile und während das Poyomon, trotz dass es Fieber hatte mit dem ersten Satz pfiff und Alice‘ liebster Teil wohl der zweite war, fand IceDevimon, das der dritte und letzte Satz ihm, aus Gründen die er nicht in Worte fassen konnte am besten gefiel.

IceDevimon kam immer mal wieder hinunter in das Dorf, um zu sehen was Alice und dieses Poyomon, dass anhänglicher war wie ein angelutschtes Bonbon so trieben. Er sah zu wie es von Alice gefüttert wurde, Musik vorgespielt oder Reime vorgesungen bekam, wenn es aufgrund des Fiebers nicht schlafen konnte und jammerte, aber auch, wie Alice für ihn kleine Schneefiguren baute und mit einer Pfanne zusammen Schneehügel hinunterrutschten. Was für alberne Geschöpfe die zwei waren.

Sehr bald schien es dem Baby-Digimon besser und sogar so gut zu gehen, dass es, während es in Alice‘ Armen lag und summte zu Tokomon digitierte. Kurz darauf gingen dieser Mensch und das Digimon. Sie müssten sich aufmachen um Alice‘ Freunde zu suchen, die wohl auch irgendwo in der Digiwelt sein müssten.

Kurz nach ihrem Aufbruch tauchten Truppen der Hohen Digimon auf, eine Horde von Seasarmon, angeführt von Caturamon, einem der gefürchtetsten Generäle der Truppen Huanglongmons und fragten gezielt nach diesem Gespann. Und wenn die Säuberungstruppen jemanden suchten, hieß das nie etwas Gutes. Die Frigimon leugneten die Anwesenheit der beiden jedoch ausnahmslos.

IceDevimon sollte Alice und Tokomon, dass irgendwann nach ihrer Abreise zu Tsukaimon digitiert war erst wieder treffen, nachdem er selbst und seine Brüder und Schwestern von den Serums fortgejagt wurden, da Seraphimon, einer der obersten Führer der Serums, die Ländereinen in Anspruch nahm und somit waren Viren unerwünscht. Anders wie Ophanimon oder Cherubimon lebte Seraphimon oder auch Huagolongmon nach der Devise, Virus-Typen gleich auszumerzen, statt sie einfach zu verbannen (wenn man aber berücksichtigte, in welche Ländereien man verbannt wurde konnte man ernsthaft ins Grübeln kommen, was nun wirklich die bessere Alternative war). Der Rest, wie Shakamon, interessierte sich nicht fürs niedere Volk.

Dragomon nahm ihn und seine Artgenossen, die geflohen waren schließlich auf. Dragomon besaß unter den Viren eine doch revolutionäre Art. Dragomon war stark, strebte aber an die Dämonenfürsten zurückzuholen, um so die Tyrannei der Serums und der Heiligen Digimon zu beenden. Aber schon lange hatte kein Digimon es mehr geschafft zu einer dieser dämonenähnlichen Gottheiten zu digitieren. Aber irgendwas hatte Dragomon in IceDevimon gesehen. Sagte, er hätte das Potenzial dazu, er sei nicht wie die große Mehrheit der Virus-Digimon, die glaubten allein durch Stärke und das Sammeln von Daten getöteter Digimon reiche aus um zu digitieren.

Eingesperrt im Meer der Dunkelheit dachte IceDevimon nicht mehr daran. Früher hätte er gern das nötige Level erreicht, um die Serums niedermetzeln zu können. Doch jene Kinder von einst, Rosemons Gänslein hatten allem einen Strich durch die Rechnung gemacht. Besonders Bilbo, Humpty Dumpty und Alice hatte er nicht leiden können. Selbiges galt für ihre Digimon Candlemon, Dracmon und Tsukaimon. Verflucht, hasste IceDevimon sie alle. Er hasste sie abgrundtief. Besonders Alice und Tsukaimon hatten einen Ehrenplatz, weil Alice dieses Lied spielen konnte, dass ihm so gut gefiel. Nur Tsukaimon hasste er noch viel, viel mehr. Hochnäsige Kreatur. Volksverräter. 

Rage und Rache trieben IceDevimon an. Vielleicht hatte er es gerade deswegen auf das Ultra-Level geschafft und war damit eine Art Hoffnungsträger für Seinesgleichen und Leidensgenossen geworden. Sie hatten ohne Dragomons Wissen nach einem Ausweg gesucht und fanden einen schmalen Spalt zwischen den Welten, den NeoDevimon nutzen sollte, um zurück in die Digiwelt zu kommen. Sie opferten ihre Kräfte, damit er fliehen konnte. Er wäre stark genug um durchschreiten zu können. Stark genug um sie alle zu rächen. Stark genug um irgendwann wirklich ein Dämonenfürst zu werden.

Der erste Schritt zurück in die Digiwelt glich einem Kulturschock. Nichts erinnerte mehr an jene Digiwelt, in der er aufgewachsen war. Politik war ein unbedeutendes Thema. Von den großen Digimon, die einst alles reagierten existierte keines mehr. Grenzen waren zerschlagen worden, ebenso aber auch alle Strukturen (den meisten jedoch trauerte NeoDevimon nicht nach). Digimon, die wie er Ultra-Level waren oder gar auf dem Mega-Level waren rar und zogen es eher vor unter sich zu bleiben.

NeoDevimon war einige Wochen durch die Digiwelt geirrt, nicht wissend, was er tun sollte. Die Digiwelt war ihm gefühlte Jahrhunderte voraus und Digimon, die wie er waren fand er nicht. Es herrschte unter den Digimon selbst, gerade unter verschiedenen Typen und Rassen Meinungsverschiedenheiten, aber im Vergleich zu der Typus-Apartheid hielt sich dieser Argwohn begrenzt und war eher mit Kindergeplänkel zu vergleichen. Einzig was er erfuhr war, dass es Streit unter den zwei einzigen Parteien gab, die annähernd etwas mit Politik zu tun hatten:

Die Meister der Dunkelheit, die Regionen der Digiwelt für sich beanspruchen wollten, mit dem Ziel, dass sie die absolute Gleichheit unter allen Digimon nannten und eine große Armee hinter sich hatten und die Opposition, die vier Souveränen, die nach Balance innerhalb aller Welten strebten und von einem Zusammenleben mit – man wollte es nicht glauben – Menschen predigten, um durch sie der Digiwelt endlich die feste Struktur zu geben, die sie in all den Jahrhunderten nie alleine erreicht hatte.

Für NeoDevimon klang beides schrecklich. Aber mit den Meister der Dunkelheit irgendwie in Kontakt zu treten wäre ein Anfang. Wenn sie hören würden, dass er zu Dragomon gehörte, ergebe sich vielleicht etwas, dass seinen Brüdern helfen könnte aus dem Meer der Dunkelheit zu entkommen. Nur wo sie finden? Ihr Anführer Piedmon sei wie ein Sommerorkan, hieß es unter den Digimon. Er tauchte auf, zerstörte alles, was ihm vor die Linse kam und so schnell er kam, so schnell verschwand er auch. Zurück blieb nur ein Bild totaler Verwüstung.

Während NeoDevimon also nach diesen Digimon Ausschau hielt, begann er nebenbei, um über die Runden zu kommen mit der Kopfgeldjagd. Immer mal wieder wurden Digimon gesucht, meist aber nicht mehr wie Taschendiebe, Betrüger oder Digimon, die ihre Rechnungen nicht bezahlt hatten. Digitamamon, gerade seine Bar eröffnet war einer seiner Stammklienten, da dieser öfter mit solchen Digimon Probleme hatte, die sich vollfraßen, betranken und dann abhauten. Aber immer auch, wenn Digitamamon ihm einen neuen Auftrag gab, setzte er zusätzlich an, dass, wenn NeoDevimon ein Sirenmon, dass mit großer Leidenschaft Opern sang traf, er ihr ausrichten sollte, dass Digitamamon froh sei, dass sie ihm nach langer Zeit Briefe zuschickte, er aber sie gerne wieder sehen möchte.

Einmal harkte NeoDevimon genauer nach und Digitamamon, im wahrsten Sinne des Wortes harte Schale mit weichen Kern und von NeoDevimon angefüllt worden, rückte mit der Sprache raus. Da hörte er das erste Mal von Sanzomon.

Als erfolgreicher Kopfgeldjäger verdiente man sich schnell einen guten wie schlechten Ruf und die Schlechten waren den Meister der Dunkelheit wohl die Liebsten, warum sonst hatten sie Kontakt zu ihm aufgenommen? LadyDevimon, Piedmons Gespielin suchte ihn auf und hatte direkt zu ihrem Meister geführt und wie er schon in Myotismon sofort Alice‘ liebstes Tsukaimon erkannte, erkannte er in Piedmon sofort das Dracmon wieder, dass mit Humpty Dumpty immer zusammen war.

Für NeoDevimon ein Schock. Er hatte diesen sieben Digimon natürlich alle Schmerzen und Qualen der Welt gewünscht, aber damit hatte er nicht gerechnet. Es hätte auch eine Verwechslung sein können – rein logisch gesehen dürften diese Digimon von einst gar nicht mehr am Leben sein – aber etwas in NeoDevimons Inneren, eine Art Urinstinkt sagte ihm, dass es wirklich so war.

Piedmon hatte das wohl mit Angst verwechselt. Es war nicht nur Piedmon, sämtliche Digimon, die NeoDevimon an diesem Tag in Piedmons Versteck zu Gesicht bekam – Machinedramon, Etemon und Devimon - waren jene Digimon. Keines von ihnen hatte ihn jedoch erkannt. Vielleicht hatten sie ihn vergessen, oder rechneten eben einfach nicht damit, dass er ein alter Bekannter aus dem Exil war. Einzig Devimon, dass einst Bilbos Candlemon war schien eine Ahnung zu haben. Devimon zu sehen war paradox, aber amüsant. NeoDevimon hatte sowohl bei Bilbo, als auch bei Candlemon einen starken Eindruck hinterlassen, sie hatten ihn schließlich auch als einen mieses Ungeheuer beleidigt. Und liebe Güte, hatte Bilbo Angst vor IceDevimon gehabt, wie der winzige Hobbit vor dem riesigen Drachen. Ob sie alle etwas wie eine schwarze Digitation vollführt hatten? Würde erklären, warum sie so sehr von ihrem damaligen Wesen abgedriftet waren.

Ehe Devimon jedoch Piedmon erzählen konnte, welche Befürchtungen er hatte wurde er von den Digirittern vernichtet. Zwar war NeoDevimon neugierig, aber diese Kinder sollten nicht Teil seines Auftrags sein. Sein Ziel war Myotismon.

„Mein Freund kommt nicht nur immer seltener zu unseren Treffen, er lässt nun gar nichts mehr von sich hören. Mir kam zu Ohren, dass er Rekruten sucht. Zwar sind mir ein paar seiner Pläne bekannt, aber ihm ist nicht zu trauen. Sei daher so freundlich und misch dich doch in seine Armee. Und sollte er etwas vorhaben, dass mir eventuell missfallen könnte, dann - “, hatte Piedmon ihm erklärt. Er sprach den Satz nicht zu Ende, legte nur den ausgestreckten Zeigefinger an den Hals und zog ihn einmal quer über die Kehle.

Klang nach keinem allzu schweren Auftrag und das Rekrutieren war das kleinste Problem. Nur hätte sich Myotismon eben nicht als genau dieses Tsukaimon herausgestellt, vielleicht hätte NeoDevimon diesen Langzahn tatsächlich schon getötet. Doch der Wunsch ihn zu quälen war viel größer.

Nachdem er von Gatomon rekrutiert wurde bekam er Myotismon nicht so oft zu Gesicht, wie er gehofft hätte, aber er kam auch so an ein paar nützliche Informationen, über die er Piedmon informierte. Überwiegend steckte Myotismon seine Nase tief in irgendwelche Bücher und fertigte in akribischer Arbeit und höchster Konzentration Karten her. Für was er sie brauchte fand NeoDevimon erst heraus, als Myotismon damit das Tor öffnete. Jenes Gatomon und ein DemiDevimon, die wie Baby-Digimon an ihrem Meister hingen – oder, was NeoDevimon passender fand, wie dieser untote Graf früher an Alice - und sich darum stritten wer mehr Lob und Anerkennung von ihm erhielt, wurden von ihm ziemlich getriezt und nicht selten bekamen sie seine Schläge zu spüren, wenn sie versagten und Myotismon zusätzlich sehr schlecht gelaunt war. Dass sie ihm dennoch so hörig waren, erstaunte NeoDevimon irgendwo, genauso wie tief die Bakemon vor ihm krochen. Myotismon führte sich nicht nur auf wie ein narzisstischer und hochnäsiger König, er war einer. Er hatte aber seine doch recht gemischte Truppe - für untote Digimon ungewöhnlich - gut im Griff. Besaß einen guten Überblick, war organisiert und hatte Struktur, was bei einem so vielschichtigen Gefolge kein leichtes Unterfangen war. Devidramon und Dokugumon in den Bergen, Raremon und MegaSeadramon in den Gewässern und weiß der Teufel was da in den Wäldern rumkroch. Von den Unmengen Bakemon und Soulmon ganz zu schweigen.

Einmal jedoch hatte NeoDevimon mitbekommen, dass Myotismon in seinem Zimmer saß, leer in die Gegend starrte und Selbstgespräche führte. Aber entweder war es nur Genuschel oder zu leise. Was er jedoch gehört hatte war, neben Alice, ein weiterer Name. Sanzomon. Wieder dieses Digimon.

„Er redet oft mit sich selbst. Oft von jemanden namens Alice. Was hat es damit auf sich?“, fragte NeoDevimon einst ganz unverblühmt, als er Piedmon Bericht erstattete und ahnungslos tat, zusammen mit den anderen Meistern der Dunkelheit, die noch übrig waren. Dass NeoDevimon fragte passte Piedmon nicht. Die Augen waren stark verengt, aber dann grinste er.

„Mein alter Freund hat ein paar Erinnerungslücken. Mehr musst du nicht wissen.“

Myotismon, das kleine, unverschämte Tsukaimon von einst hatte also Gedächtnislücken. Also war anzunehmen, dass er sich irgendwo noch an Alice erinnerte, er aber nicht mehr genau wusste wer Alice war und in welcher Verbindung sie zueinander standen. Für NeoDevimon höchst interessante Informationen und Piedmon servierte sie ihm auf einem Silbertablett.

„Sind diese Erinnerungslücken auch der Grund, warum er solch eine Abscheu für Blumen hegt? Ich habe selten ein Digimon gesehen, dass mit so einer Leidenschaft Seerosen zerrissen hat.“

Diesmal kräuselte Piedmon nur die Lippen und sah schweigend zu Machiendramon, MetalSeadramon und Puppetmon, in denen NeoDevimon noch zu deutlich Hänsels Dorumon, Momos Betamon und Gretels Floramon wiedererkannte. Langes Schweigen, nur Puppetmon lachte kurz auf, schwieg aber sofort, als Piedmon ihn – ihn, dass klang in NeoDevimons Ohren so falsch, wenn er sich an Floramon erinnerte, Floramon war so flatterhaft, so mädchenhaft gewesen - böse anfunkelte.

„Kümmere dich nicht darum. Das ist eine private Sache.“ „Das hat nicht zufällig mit einem Digimon namens Sanzomon zu tun? Er erwähnt diesen Namen sehr o-“

NeoDevimon blieb der Atem weg. Die Bälle, mit denen Piedmon aus Langeweile jonglierte sahen in dessen Hand zwar weder hart noch schwer aus, doch als einer davon in NeoDevimons Magengegend landete, hatte dieser das Gefühl es würde ihn zerreißen. Erst fiel der Ball zu Boden, dann ging NeoDevimon in die Knie.

„Erwähne dieses Flittchen nie wieder! Habe ich mich klar ausgedrückt?“

NeoDevimon hatte noch versucht zu antworten, aber die aufkommende Übelkeit erlaubte ihm nicht, Luft für Worte zu holen. Aber er konnte sich zumindest wieder aufrichten und zu Piedmon hochblicken, der in seinem Stuhl saß und statt weiter gelassen durch das Teleskop zu schauen, seine Gesichtsmimik verkrampfte. Angewidert. Und NeoDevimons Magen drehte sich fast erneut, aber diesmal vor Wut. Wie dieses Digimon es wagen konnte so auf ihn herabzublicken, während die anderen drei sich köstlichst darüber amüsierten. Wenn die Meister der Dunkelheit wüssten, wer er wirklich wäre würden sie sich so etwas und vor allem dieser alberne Clown so einen Blick nicht erlauben, sondern Panik schieben.

Schlimmer jedoch wie das, was Piedmon ihm an physischen Leid zufügte, war das, was er versuchte ihm psychisch anzutun. Wenn Piedmon freundlich tat, war dass immer ein schlechtes Omen gewesen. Oft versuchte dieses Digimon in NeoDevimons Kopf zu blicken, ihn zu durchschauen oder zu triggern. Weil jedoch alles ein Misserfolg war und NeoDevimon versuchte sich nicht durchschauen zu lassen, bekam er Piedmons Wut sehr oft ab.

Doch egal wie oft dieser ihn mit Schwertern bewarf oder ihn Bälle in den Magen oder ins Gesicht warf (mal mit Stacheln versehen, mal glühend heiß), NeoDevimon erlaubte es sich nicht auch nur einen Hauch von Blöße oder Schwäche zu zeigen. Nicht vor diesen Digimon. Und es trieb in Piedmon die Galle hoch, dass dieses Digimon, das gerade mal auf den Ultra-Level war so störrisch war und sich weigerte einzuknicken. In der Hinsicht war er Myotismon ähnlich – auch Piedmon traute keinem Digimon, dass keine Angst vor ihm hatte.

Vor ihm würde NeoDevimon nie Angst haben. Vom Meer jedoch schon. Der Anblick, das Geräusch von dunklen Gewässern und Wellen, wie es sie nur am Meer der Dunkelheit gab, war die Inkarnation von NeoDevimons Albträumen. Und zu seinem Unglück überließ es Piedmon seinem LadyDevimon schließlich, mit seinem privaten Meuchelmörder zu spielen und was solche Dinge betraf, war sie fast noch kreativer wie ihr Meister. Dass LadyDevimon seine Angst vor Wasser auffiel war nur eine Frage der Zeit.

So sperrte sie NeoDevimon in eine Grube. Direkt am Meer, über ihm das Loch, mit Gittern versehen und von Stunde zu Stunde stieg die Flut und salziges Meerwasser floss zu ihm hinunter. Piedmon würde ihn nicht ertrinken lassen, schließlich brauchte er ihn noch. Das wusste NeoDevimon und er redete sich das immer wieder ein, während in seinem Kopf die Wellen ihn in den Wahnsinn trieben. Piedmon beobachtete ihn sicherlich von weitem und ließ ihn zappeln. Dieser Clown wollte, dass er in der Angst verging.

Wäre dieser Zorn nicht, vielleicht wäre NeoDevimon verrückt geworden, da unten, in diesem Loch, während das Wasser immer näher und näher kam und der Wasserspiegel stieg, bis zum Hals, bis ihm doch Zweifel kamen ob Piedmon ihn wirklich nicht ertrinken ließe, hörte nur Wellen und dachte an sein Gefängnis zurück, an diesen dunklen Ort.

Dann, an einem Tag als es ganz schrecklich wurde und er wirklich den Wahnsinn nahe war, rettete ihn jemand.

„Hey, kannst du uns hören?“

Als man NeoDevimon rief, hatte er erst vergessen, dass ihn jemand aus diesem Loch gezogen hatte. Er kam schleppend wieder zu Sinnen, war zwar wach, aber noch erstarrt. Bis die Wellen in seinem Kopf verstummten, dauerte es lange.

Das erste Digimon, dass er sah war Gokuwmon. Er hatte ihn aus diesem Loch nahe der Bucht, die zu MetalSeadramons Reich gehörte, gezogen. Neben Gokuwmon stand noch ein Digimon. Ein zierliches, humanoides Digimon in einem weißen Gewand und die Augen genauso Gold wie ihr Haar. Dieses Digimon war Sanzomon.

„Geht es dir gut? Hat Piedmon dir das angetan?“, fragte sie bedacht und gleichzeitig doch besorgt. Gokuwmon zog eine Flasche aus seiner Hosentasche und goss irgendeinen alkoholischem Drink in den Deckel, den er als Becher zweckentfremdete um NeoDevimon etwas davon zu reichen. Er zog seine eiserne Maske beiseite, trank den Becher mit einem Zug leer und sofort wurde ihm warm im Bauch.

„Bist du verletzt?“, fragte Sanzomon, immer noch in der gleichen Tonlage. Er schüttelte den Kopf, schaute die beiden Digimon jedoch skeptisch an. Ein Serum so ruhig neben einem Viruszu sehen war schon etwas seltsam. Aber dass ein Serum sich mal Sorgen um einen Virus-Typ machen würde hätte NeoDevimon für unmöglich gehalten. Geschweige denn ein Heiliges. Sie atmete sogar erleichtert auf. Sie wirkte absolut friedfertig.

„Sag, du gehörst doch zu den Truppen von Grey Mountain, oder?“, fragte nun Gokuwmon, der vor NeoDevimon in die Hocke ging, während Sanzomon daneben kniete.

„Habt ihr mich deswegen gerettet?“

„Wir haben dich deswegen gesucht. Wir wissen aus einer verlässlichen Quelle, dass sich einer der bekanntesten Kopfgeldjäger Servers Myotismon angeschlossen hat. Gerettet haben wir dich, weil du in Schwierigkeiten warst.“

„Nicht angeschlossen. Rekrutiert“, antwortete NeoDevimon, immer noch deutlich misstrauisch seinen Rettern gegenüber. Besonders Sanzomon behielt er lange im Auge. Könnte sie dieses Sanzomon sein?

„Wofür rekrutiert?“

„Was geht euch das an?“

„Bitte, wir müssen das wissen. Wenn du irgendetwas weißt, was Myotismon vor hat oder wofür er so viele Digimon braucht, dann sag uns das bitte.“

NeoDevimons Verdacht schien sich zu bestätigen. Als Sanzomon Myotismons Namen aussprach klang sie gequält, als würde es ihr schwer fallen. Die Entschlossenheit blieb aber erhalten. Zuerst fragte sich NeoDevimon nicht, was Sanzomon von Myotismon wollte, er überlegte nur, ob er antworten sollte. Aber immerhin, die beiden hatten ihn gerettet. Er mochte ein Virus-Typ sein, aber nicht ehrlos.

„Myotismon will in eine andere Welt. Hat er zumindest in einer kleinen Ansprache erzählt. Wie er das machen will, keinen Schimmer.“

„Was will er dort?“

„Er sagte etwas davon, dass er den achten Digiritter finden will, um ihn zu vernichten. Dann würde er beide Welten zu seinem Reich vereinen.“

Sanzomons Augen weiteten sich. Sie wirkte entsetzt, sagte nichts, legte nur ihren Kopf in ihre Hand und schüttelte ihn. Ein trauriges, tiefes Seufzen. Was NeoDevimon Dank dieser Haltung schließlich sah, waren schwache, bleiche Narben an der Innenseite ihres Armes. Ein langer Strich, aber interessanter waren die vernarbten Punkte drum herum. So wie es aussah, waren es Bissabdrücke. Aber kein Zeichen eines Kampfes. Das waren andere Bissspuren, von jemanden mit langen Eckzähnen, der es genossen hatte langsam und sachte zuzubeißen und ein Opfer, dass sich nicht dagegen wehrte. Etwa, weil sie es ebenso genossen hatte?

NeoDevimon kannte solche Male von Dämonen-Digimon oder anderen humanoiden Virus-Digimon, die sich, wenn sie mal von Wollust gepackt waren gerne ineinander verbissen. Warum sollte ein Vampir-Digimon anders sein?

„Am Anfang war der Himmel von Fledermäusen bedeckt... Und so riefen die Menschen... Er wird doch nicht wirklich -“

„Meister, wir müssen umgehend Gennai davon erzählen“, sagte Gokuwmon, ähnlich schockiert wie Sanzomon, sie selbst nickte nur schwach. Er blickte schließlich auf, als ein weiteres Digimon in einem Affenzahn die Bucht entlang auf sie zuflog.

„Gokuwmon! Hohepriesterin!“, rief ein Sirenmon zu aufgebracht hinüber. Ein Sirenmon, dass bei einem Sanzomon war, sie musste also Digitamamons alte Freundin sein. Vermutlich war er diese vertrauliche Quelle, schließlich hatte er mitbekommen, wie er mit Gatomon und Wizardmon mitgegangen war.

„Wir müssen schnell weg! Es sind Divermon auf den Weg hierher!“

Sirenmon flog voraus, Gokuwmon packte Sanzomon am Arm und sie rannten fort. Sanzomon mit Widerwillen, vermutlich hätte sie gern mehr von NeoDevimon erfahren, was Myotismon anging. Sie hatte geknickt und traurig gewirkt.

Die Divermon kamen wenige Augenblicke bei ihm an, kurz nach ihnen MetalSeadramon und schließlich sogar Piedmon. Sie fragten ihn, wie er daraus gekommen sei, aber er sagte nur, dass er es selbst geschafft hätte. Ob Piedmon es glaubte oder nicht war egal, zumindest stellte er keine weiteren Fragen. Und NeoDevimon gab auch nicht Preis, wie viel Panik er hatte, als das Wasser überall zu sein schien und er Angst hatte die Luft ginge ihm aus. Doch lieber würde er sterben, als das zu zeigen und ertrug die physische Pein. Rächen würde er sich früher oder später dafür.

Aber er würde mit Myotismon anfangen und Sanzomon war ein guter Anhaltspunkt, ein Indikator, dass der angeblich kaltherzige Schwarze König von Grey Mountain Schwachpunkte hatte. So wie es aussah war sie sogar seine Geliebte? Kaum vorstellbar.

NeoDevimon hoffte Sanzomon zu finden, aber dieses Digimon schien von der Bildfläche verschwunden zu sein. Bücher fand er dafür, die ein Sanzomon geschrieben hatte, die von Emotionen, Individualität, Dualismus, psychosomatische Erscheinungen und Entwicklungen handelten und alles in Zusammenhang mit Verhalten und Digitation. Von Menschen. Von den Souveränen. Von Gefühlen. Von einer Seele.

Die Schrift und die Ausdrucksweise ähnelte einigen Büchern, die Myotismon besaß (von denen sich NeoDevimon noch wunderte, warum solche Bücher mit solcher Thematik in seiner Bibliothek waren, die konträr zu seiner Denkweise und seinem Verhalten waren). Das mussten Bücher von diesem Sanzomon sein. Kein Wunder, dass Piedmon dieses Digimon nicht leiden konnte und NeoDevimon fragte sich zusätzlich, was einer wie Myotismon an so einem Digimon fand. Dann fiel es NeoDevimon wie Schuppen von den Augen – weil dieses Sanzomon, genau wie Alice, nicht mehr alle Tassen im Schrank hatte. Auf so wirre Andersdenker stand diese exzentrische Fledermaus doch.

Sanzomon fand NeoDevimon nicht. Aber die kleine Alice fand er.

 
 

♪♯

 

„Was willst du von uns? Weder ich noch Onkelchen kennen dich, also lass uns in Ruhe!“

Yuki wurde von Deemon mit aller Gewalt an der Hand festgehalten, was ihn selbst nicht sonderlich viel Mühe kostete. An dem Mädchen war kaum was dran und wenn sie so weiter zog, würde ihr eher der Arm abreißen.

Deemon hatte sie beide wieder auf die Baustelle gebracht, mit der sie zuvor mit Myotismon ihren Golden Afternoon verbracht hatte, blickte aufs Meer und ignorierte die Schimpftriade dieses Kindes. Die Sonne ging unter, Wasser wie Himmel waren dunkelblau, aber der Horizont stand noch in orange-goldenen Flammen. Die Sonne und ihr Schimmer in der Spiegelung des Wassers waren noch zu sehen, würde aber in der nächsten Stunde auch verschwinden. Dann würde es dunkel werden. Wobei es mit der Düsternis, die stets im Meer der Dunkelheit herrschte nicht mithalten konnte.

Was seine Artgenossen und Leidenskameraden wohl gerade taten? Versuchten auch sie hinauszukommen?

„Jetzt halt endlich einmal still! Lass mich den Sonnenuntergang genießen, wenn ich schon hier mit dir sitzen muss.“

Mit einem kräftigen Zug zerrte Deemon Yuki wieder zurück auf den Haufen zusammengebundene Stahlträger, auf dem sie dann schließlich beide saßen. Sie jauchzte kurz auf, blieb aber nun, wenn auch beleidigt sitzen.

„Es stimmt, dass du mich nicht kennst. Du bist ohnehin nur ein Köder. Also sei artig, wie es dein Papa dir beigebracht hat.“

„Lass Papa endlich da raus!“, schimpfte Yuki und senkte die Augenbrauen noch tiefer. Böse schauen konnte sie, aber sah an Deemon vorbei, was ihn eher belustigte, als dass er Angst von so einen vorlauten Gör bekam. Verärgert rümpfte sie die Nase und schnaubte.

„Außerdem bin ich ein schlechter Köder. Onkelchen kann mich nicht leiden.“

„Er muss dich nicht mögen, nur herkommen und er wird herkommen. Der Schwarze König ist immer dort wo Alice auch ist und niemals würde er zulassen, dass Alice etwas geschieht.“

„Ich bin aber nicht Alice, wie oft denn noch!“

„Dafür dass du nicht Alice bist, ist die Ähnlichkeit doch sehr verblüffend.“

Yuki blieb ruhig und legte die Hände auf ihren Schoß. Sie musste einsehen, dass sie dem Jabberwock weder entkommen, noch mit ihm diskutieren konnte. Beleidigt verzog Yuki das Gesicht, weiterhin böse dreinblickend. Trotz dass sie schmollte, ihr Blick war der von Alice. Gut, dass die beiden sich so ähnlich sahen, sonst wäre Deemon nie auf sie aufmerksam geworden, nachdem er – als digitales Wesen ein Kinderspiel, wenn man wusste wie – sich durch die Datenbanken der Menschen wühlte, die Namen der Kapellmeister suchte und so erfahren musste, dass sie nicht nur tot waren, sondern alle sehr komisch verstarben. Das war eindeutig die Handschrift des Herrn Dirigenten, wie sein dämliches Orchester ihn nannte. Wenn es jemanden gab, der diese Kinder und deren Digimon noch mehr gehasste wie Deemon, dann war er es. Welch Sadismus, ausgerechnet diese Digimon zu seinen Handlangern zu machen.

„Du, Herr Jabberwock.“

Deemon drehte den Kopf nicht zu Yuki, sondern starrte weiter über die Meeresoberfläche. Dennoch spitzte er die Ohren, obwohl er die Kleine so allmählich satt hatte.

„Du hast vorhin gesagt, dass Onkelchen nicht sehr nett ist. Also, ich weiß, dass er nicht nett ist. Und kein Guter. Aber was will Onkelchen hier? Er sagte, er sucht wen. Sucht er Alice?“

„Das hat er aufgegeben. Zumindest denke ich das“, schnaufte Deemon, diesmal aber sah er Yuki an. Allerdings nur um zusehen zu können, wie ihre kindisch-naive Verliebtheit, die sie für Myotismon empfand dahinsiechte.

„Er sucht jemanden, der ihn vernichten könnte. Und wenn er den aus den Weg geräumt hat, nun, was machen die Bösen in deinen Märchenbüchern für gewöhnlich?“

Sie schluckte. Ihre böse Mine schwand, sie biss sich auf die Lippen.

„Du bist auch ein Böser. Warum hältst du ihn dann auf? Seid ihr nicht auf der selben Seite?“

„Tse. Mit so einem habe ich nichts am Hut. Ich strebe eine dunkle Welt an, in der alle in der Finsternis friedlich leben können, was uns in der Vergangenheit verwehrt wurde. Mit Königen und Fürsten an der Spitze, die für den nutzlosen Pöbel entscheiden, was gut und richtig ist, weil dieser selbst zu primitiv oder zu unterbemittelt ist, dies zu erkennen. Geschweige denn über ihren Egoismus hinaus zu denken. Dein verrücktes Onkelchen hingegen will die Welt in einen Friedhof verwandeln, wo nur noch Tote die Länder bevölkern.“

„Wenn überhaupt seid ihr beide verrückt! Ihr seid wie das Walross und der Zimmermann! Aber Onkelchen steht wenigstens zu!“, maulte Yuki so trotzig, dabei rutschte sie vom Stahlträger ab, aber Deemon packte sie noch am Kragen, ehe sie hinfiel, wenn auch nicht zaghaft. Sie zappelte und schimpfte, aber Deemon ging darauf nicht ein. Er hatte schon auf dem Weg hierher versucht ihr loses Mundwerk zu zügeln, aber egal wie laut er selbst wurde oder wie fest der Griff um Kragen und Arm wurde, das Gör hielt nicht den Mund. Das unterschied sie von Alice. Alice aus Deemons Vergangenheit war ruhiger. Alice war besonnen, mit einer blühenden Fantasie und kruden Werten und Moralen, um sie dann anderen unter die Nase zu reiben. Unverschämt allemal, wenn man Alice richtig reizte. Hatte auch nicht gewusst, wann es besser war den Mund zu halten (und Tsukaimon hatte diese Eigenschaft übernommen), aber nicht so wie die kleine Alice, die Deemon versuchte zu bändigen. Das Mädchen war noch einmal eine Nummer für sich. Nicht nur altklug wie Alice, sondern auch noch rotzfrech und dreist.

Deemon selbst nervte es gehörig, würde er aber zusehen, wie sie das bei jemand anderem tat, würde er die Kleine beinahe mögen.

Plötzlich stoppte ihr Gezappel. Yuki wurde ganz ruhig, wagte nicht einmal laut zu atmen, um keine Geräusche zu überhören, die um sie herum entstanden und schließlich verstummten. Wieder hörte Yuki etwas und Deemon sah in das puppenhafte Alice-Gesicht, dass noch nicht so wirklich wusste ob es Freude oder Sorge ausdrücken sollte.

Nochmal hörte Yuki Fledermäuse.

 


Nachwort zu diesem Kapitel:
Um das mit dem Walross und dem Zimmermann zu erklären:

- Beide haben die Baby-Austern aus dem Wasser gelockt um sie zu fressen. Der Zimmermann aß zwar die wenigstens, jedoch hat das Walross einen Hauch von Reue empfunden. Selbst Alice hat im Buch überlegt, wer den von beiden der böse war.

- Humpty Dumpty erzählt Alice, die Königsfamilie hätte ihm zum Nicht-Geburtstag nicht nur beschenkt, sondern auch versprochen ihn zu reparieren, sollte er zerbrechen wie im Kinderreim. Es gibt verschiedene Versionen des Reimes, in manchen wird Humpty Dumpty wieder zusammengesetzt, in anderen nicht. Komplett anzeigen

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