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Wintersonett

Which dreamed it?
von

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Konzert VIII - POOL OF TEARS, 2. Satz, Larghissimo stringendo Es-Moll


 

𝄞

 

An NeoDevimon verschwendete Myotismon auf den ganzen Weg zurück zum Mizuno Hiroba Park keinen einzigen Gedanken. Überwiegend war er wütend auf Yuki und stellte sich vor, wie er dieses Mädchen persönlich bei ihrer Familie ablieferte und währenddessen noch seine Beschwerden äußern würde, welchen Ärger dieses verzogene Ding bereitet hätte.

Die Sonne war noch nicht ganz fort, aber die Baustelle lag überwiegend im Schatten und Myotismon schnaufte erleichtert auf, als er aus dem Trenchcoat kam und warf diesen samt dem Hut weit beiseite. Myotismon stand hinter einer Ecke versteckt, um die Lage zu prüfen. Yukis Gezeter hörte er, auch wie sie ganz plötzlich still wurde. Sie hatte wohl die Fledermäuse, die immer irgendwo in Myotismons Nähe waren, selbst wenn er es nicht gewollt hätte bemerkt und wusste, dass er hier war. Sich heranzuschleichen hatte also auch keinen Sinn mehr.

Er trat aus seinem Versteck, Sand und Kiesel knirschte unter seinen Schuhen, was Yuki ebenfalls gehörte. Ihr Entführer drehte den Kopf zur Seite, doch war der Entführer, der mit Yuki auf den Stahlträgern saß, direkt neben dem Loch im Boden, wo Myotismon selbst Stunden zuvor noch mit ihr gesessen hatte nicht NeoDevimon. Dieses Digimon vor ihm, immer noch mit den Flügeln, Krallen und dem Flammenblick eines Jabberwock, eingehüllt in eine blutrote Kutte war ein fleischgewordener Albtraum.

Myotismon kannte die Bücher. Kannte Bilder. Kannte die Sagen. Sehr gut sogar. Er kannte die Ziele der Viren in der Apartheid. Alice' und sein ganzes früheres Leben hatte sich nur darum gedreht. Dieses Digimon vor ihm war eines jener, welches die Viren an der Spitze ihres kruden Absolutismus sehen wollten. Dieses Digimon war ein Dämonenkönig.

NeoDevimon – falsch, Deemon war er nun – war zu einem Digimon geworden, dass die Hohen Digimon der Typus-Apartheid immer gefürchtet hatten, ein Ungeheuer aus einer dunklen Horrormärchen, dass die Welt der Fabeln und Mythen verlassen hatte und nun vor Myotismon stand, der seine Umgebung kaum wahrnahm. Vor seinen Augen tanzten Blitze und Bilder. Bilder von früher und seine Kehle wurde enger und da waren Stimmen, vergangene Stimmen die schrien, als sie die Anwesenheit dieses Dämonenfürsten bemerkten und die geritten in Panik, Digimon wie dieses

(waren der Grund für den Krieg zwischen Serums und Viren war der Grund für die Typus-Apartheid war der Grund warum Viren getötet wurden war der Grund warum man Viren und Andersdenkenden mit Geierkrallen die Erinnerungen löschte und einen Neustart erzwang warum man das Orchester in die Digiwelt holte warum er Alice traf warum Humpty Dumpty fallen und zersplittern musste warum -)

„Onkelchen? Bist du wirklich hier?“, rief Yuki, teils besorgt, teils freudig überrascht. Ihre Freude verging, als Deemon an ihrem Arm zerrte und sie damit wieder erinnerte, in welche Lage sie sich befand. Yuki schien das wirklich kurz vergessen zu haben, denn statt trotzig, ließ sie beschämt den Kopf hängen.

„Kann man dich eigentlich keine Sekunde aus den Augen lassen?“

„Es tut mir Leiiiid“, jammerte Yuki los, als Myotismon sie ausschimpfte und zog die Schultern hoch.

„Und habe ich dir nicht gesagt, das du gerade stehen sollst? Warum mache ich mir überhaupt die Mühe dir etwas zu erklären, wenn du nicht einmal auf die einfachsten Dinge hörst? Habe ich dir nicht gesagt, dass du nach Hause gehen sollst?!“

„Das war keine Absicht! Ich wollte nicht, dass du böse wirst, Onkelchen, glaub mir.“

„Wehe du fängst jetzt an zu heulen!“

Das hätte sie vielleicht sogar getan, wenn Yuki sich auch vorher schon wehrte, aus Trotz und Ausweglosigkeit weiter zu jammern und doch zu weinen. Aber schon die Stimme ihrer Vaters in ihren Erinnerungen ermahnte sie, es sein zu lassen. Und nicht zuletzt, weil Onkelchen genauso schimpfte wie ihr Vater.

Deemon räusperte sich kurz, um so Myotismons Aufmerksamkeit wieder auf ihn zu lenken. Seine Aufregung über dieses Kind hatte ihn Deemon kurz vergessen und ausblenden lassen. Aber dafür waren die Bilder und Stimmen fort.

„Du bist sehr spät, Meister Myotismon“, begann Deemon, mit einem Ton in der Stimme, der Myotismon mehr als nur missfiel, teils Arroganz, teils Spott. „So was ist als Mitglied eines erhabenen Orchesters überaus unprofessionell.“

„Woher weißt du davon? Und was willst du noch von mir? Hat dir die letzte Lektion nicht gereicht?“

„Ich möchte nur einen kleinen Plausch. Eine Teeparty mit nur zwei Besuchern ist langweilig.“

„Hör nicht auf ihn, der schnalzt schon wieder!“, rief Yuki dazwischen und handelte sich eine Strafe von Deemon ein, der fester an ihrem Arm zog.

„Bist du endlich mal still? Hat dir dein suizidaler Vater nicht beigebracht, dass man den Mund zu halten hat, wenn Erwachsene sich unterhalten?“

„Und du sollst aufhören so über Papa zu reden! Papas Tod war kein Selbstmord, Papa wollte ins Wunderland mit mir, also hör auf das zu behaupten, du dummer Jabberwock!“

Yuki begann mit geballten Fäusten gegen Deemon zu hauen, aber ihre Hiebe waren so schwach, dass er es nicht mal für nötig hielt zu sagen, dass sie es lassen sollte. Dafür sah er, wie Myotismon kurz überrascht, sogar schon interessiert die Augenbrauen hob, während er sah, wie Yukis blinde Augen für einen Moment glasig wurden.

Ihr Verhalten rückte in ein ganz anderes Licht. Ihr Vater war der Grund. Nur was für Zusammenhänge Yuki erkannte und warum sie sich anseinen Rockzipfel hing, daraus wurde Myotismon immer noch nicht schlau. Anders wie Deemon.

„Kind, langsam reicht es“, schnaufte Deemon. Statt aber wieder fester an Yukis Arm zu ziehen, drehte er sie von sich weg und gab ihr einen Schubs, dass sie einige Schritte ging und fast hinfiel, hätte sie nicht gerade so ihr Gleichgewicht wieder gefunden.

„Geh zu deinem Onkelchen und nerve den.“

Skeptisch blieb Yuki stehen, lauschte ob Deemon irgendeine verdächtige Bemerkung oder einen Laut von sich geben würde. Ein Schritt, ein Schnalzen, aber nichts, also begann sie vorsichtig den Fuß nach vorne zu bewegen, blieb jedoch unsicher. Sie wusste zwar wo sie war, aber nicht wo genau.

„Komm her“, rief Myotismon ihr zu und wie Yuki feststellte, kam die Stimme von genau auf zwölf Uhr. „Einfach gerade aus.“

Unsicher setzt Yuki einen weiteren Fuß nach vorne, beim nächsten Schritt jedoch wurden ihre Bewegungen flüssiger, das man nun wirklich sagen konnte, dass sie lief, mit allerdings ausgestreckter Hand, um sicher zu gehen, dass sie gegen nichts lief. Myotismon, etwas in die Knie gegangen, streckte ihr noch die Hand entgegen, als sie fast bei ihm war und kaum dass ihre Finger seine berührten machte Yuki einen Satz nach vorn, direkt Myotismon entgegen. Ihre dünnen Arme umfassten seinen Oberkörper, während Myotismons eigene Arme in der Luft schwebten, nicht wissend, ob er sich bewegen sollte oder nicht.

„Danke, dass du trotzdem gekommen bist, Onkelchen“, sagte sie, das Gesicht gegen seine Brust gedrückt und einem Wimmern zwischen den Silben. Sie zitterte. Myotismon konnte zwar nur ein Seufzen aufbringen und innerlich den Kopf schütteln, weil ihre Angst offensichtlich fast genauso groß war wie ihr Mundwerk – dennoch tätschelte er Yuki sachte über die Haare.

„Wie rührend. Kommen einem da nicht Erinnerungen hoch?“

„Halt endlich den Mund“, rief Myotismon zu Deemon hinüber, zusammen mit einem stechenden Blick.

„Nicht? Gut, die Bühne ist auch nicht perfekt. Es fehlt vieles. Schnee ganz besonders. Sehr viel reinweißer Schnee, der vom Himmel fällt, obwohl nicht eine Wolke zu sehen ist. Berge aus Eis, die buntes Licht reflektieren. Eisblumen... Klingelt es da nicht?“

Myotismon zuckte, zeitgleich mit Yuki und genauso gleichzeitig formte sich Deemons Beschreibung in ihrer Vorstellung zu einer sehr vertrauten Erinnerung. Für Myotismon klang dies wie jener Ort, wo er Alice zu treffen gehofft hatte, während für Yuki dies haargenau nach dem Wunderland klang. Genauso schoss den beiden gleichzeitig die selbe Frage durch den Kopf.

(Woher kennt er diesen Ort?)

„Du willst dich also immer noch nicht erinnern? Dann helfe ich dir auf die Sprünge! Flammendes Inferno!

Ehe die Flammen sie trafen, warf Myotismon seinen Umhang über sie beide. Zwar wurden die Flammen damit so gut wie fast komplett abgeblockt, doch die Hitze und das Brennen war dennoch zu spüren gewesen. Und etwas in Myotismon sagte ihm, dass Deemon nicht einmal wirklich viel Kraft in diesen Angriff gelegt hatte.

Als die Flammen kurz erloschen, packte Myotismon Yuki unten den Arm und überlegte, was er nun mit ihr machen sollte. Mit ihr am Kragen war er in seinen Handlungen eingeschränkt. Und was immer Deemon sich von dem allem erhoffte, es riskieren und sie draufgehen zu lassen ließ Myotismons Ehre nun einmal nicht zu.

Die zweite Feuersalve verfehlte Myotismon, die dritte streifte ihn fast. In die Luft ließ Deemon ihn nicht erst kommen und attackierte ihn wieder mit Feuer und Flammen, noch bevor Myotismon überhaupt auf die Idee kam nach oben zu fliegen, wo er mehr Freiraum zum Ausweichen und zu Angreifen gehabt hätte. Als ob er mit dem Mädchen nicht schon eingeschränkt genug wäre...

Dann fiel ihm das Loch ein. Zwar wäre die Enge und das Wasser nicht unbedingt für Myotismon besser, aber wenn Deemon ihn unbedingt attackieren wollte, musste er seinen Vorteil aufgeben. Und in der Dunkelheit hätte Myotismon mit seinen empfindlichen Gehör sogar bessere Karten.

Als Deemon gerade ein ziemlich großes und auch starkes Flammeninferno auf die beiden abfeuerte, nutzte Myotismon die kurze Gelegenheit, in das Loch hinunter in den Keller zu springen, ehe die Feuersalve sie traf.

Abgesehen von dem schwachen Lichtkegel war es stockdunkel im Untergeschoss und alles stand unter Wasser. Jedoch war es nur direkt unter dem Loch wirklich tief, wie Myotismon feststellte, als er über der Wasseroberfläche schwebte und in die schwarzblaue Dunkelheit des Kellers flog, Säulen und Stahlträger nur schemenhaft erkennbar. Man musste nur ein Stück weiter in die Schwärze um Boden unter den Füßen zu haben. Wenn auch nasse. Da die Decke tief hing und die Rohre und Kabel noch tiefer, blieb ihm nichts als zu landen und das Wasser ging ihn bis über die Hüften.

„Hast du einen Plan, was wir tun sollen, Onkelchen?“, fragte Yuki flüsternd.

„Ich weiß noch nicht. Aber wenn Deemon uns erwischen will, muss er hier runter kommen und hier in der Dunkelheit haben wir beide leichteres Spiel.“

„Ist der Jabberwock sehr stark? Stärker wie du?“

„Ich fürchte ja.“

Trotz, dass es unheimlich dunkel dort unten war wo sie beide standen, erkannte Myotismon Yukis Gesichtszüge. Sie wirkte besorgt. Aber nicht ängstlich, zumindest nicht so, wie er es von einem Kind erwartet hätte.

Das Geräusch von Schwingen. Yuki klatschte augenblicklich die Hände vor ihren Mund. Auch hörte Myotismon wie Deemon durch die stickige Luft des Kellergewölbes flog. Sogar leise lachen konnte er ihn hören und zu gerne hätte Myotismon dafür gesorgt, dass es ihm verging. Mit Yuki aber, die nun auf seinem Armen saß, während sie sich an ihm festhielt war das kaum möglich. Abgesehen davon, dass Myotismon nicht abschätzen konnte, wie weit Deemon gehen würde, blind wie sie war käme sie zu leicht in irgendeine Schusslinie. Er konnte, solange er Yuki bei sich hatte nicht richtig kämpfen.

Da Myotismon sich eher darum Gedanken machte, wie er Yuki loswurde, spürte sie dafür die Dinge, die Myotismon selbst nicht wahrnahm. Wie Spannung. Elektrische Spannung.

„Onkelchen... Hey, erinnerst du dich, was ich vorhin gesagt habe? Dass die Bauarbeiter nicht mehr hier arbeiten?“

„Muss das jetzt sein?“, zischte Myotismon durch die zusammengepressten Zähne und beobachtete Deemons schattenhaftes Spiegelbild in der Wasseroberfläche.

„Ich hab dir doch gesagt, es war wegen dem Geld. Aber mein Nachbar, der hier auch arbeitet sagt, sie wollen hier nicht arbeiten, weil es nicht sicher genug sei. Irgendwas wegen dem Strom und dem Wasser. Kollegen hätten sogar elektrische Schläge bei der Arbeit abbekommen..“

Myotismon sagte erst nichts, aber sein Gesicht verzog sich vor Entsetzen, sah abwechselnd zu Yuki und zu der Silhouette in der Dunkelheit, die Deemon darstellen sollte.

„Das sagst du mir erst jetzt? Hätte dir das nicht früher einfallen können?“

„Wer ist denn so doof und springt in einen fremden Keller, der auch noch überflutet ist?“

Ihre Unterhaltung wurde von einem Angriff Deemons unterbrochen, doch die Flammen schlugen irgendwo auf, weit weg von ihnen entfernt. Myotismon sah nur das orangene Licht im Augenwickel, Yuki fühlte nur einen kurzen, warmen Wind.

Myotismon sah hoch, wieder zu den Kabel und nun sah er auch den Warnhinweis, HOCHSPANNUNG, schwarze Lettern auf gelben Untergrund, fast direkt über seinen Kopf. Gleichzeitig stellte er fest, dass sie auch noch so tief hingen, dass er nicht einmal aus und dann über dem Wasser fliegen konnte. Doch er folgte mit seinem Augen den Kabeln und fast am anderen Ende des Raumes sah er dass die Decke offen war und ins obere Stockwerk führte.

„Du gibst keinen Laut von dir, hast du gehört?“, flüsterte wieder, demonstrativ schlug Yuki beide Hände vor den Mund. Sie gab nicht einmal ein Wimmern von sich, als Deemon schadenfreudig nach ihnen rief.

„Ein Versteckspiel wollt ihr daraus machen? Dir ist anscheinend doch klar, dass du dich nicht mit mir messen kannst, Myotismon. König der Untoten oder nicht, du bist nur ein großmäuliges Ultra-Digimon. Du hast dich nicht verändert. Arrogant und überheblich, wie früher schon.“

Er konnte von Glück reden, dass er ein Kind an der Backe hatte, oder etwas ähnlich hätte Myotismon ja gerne zurückgerufen, aber Priorität war aus dem Wasser kommen und dann dieses Anhängsel an einen sicheren Ort abzusetzen.

Myotismon schlich sich durchs Wasser, zwischen Wänden und Stahlträgern hindurch, bedacht keine großen Wellen zu schlagen, die ihn verraten könnten. Die ganze Zeit hielt Myotismon dabei Deemon im Augen, der selbst im Lichtkegel über dem Loch stand, aber die anderen beiden nicht sah. Eine gute Gelegenheit eigentlich, aber bei dem geringen Raum doch zu riskant. Also beobachtete er weiter, wie Deemon sich umsah, aber in der Schwärze nichts sah und auch nichts hörte.

Dafür das gelbe HOCHSPANNUNG-Schild.

Deemon ging direkt darauf zu und riss einige der Kabel, die in der Wand befestigt waren heraus, dass alles vor Myotismons Blicken, dem gerade bewusst wurde, dass er in der Falle saß. Das Wasser stand ihm noch immer bis über die Knie und weit und breit war kein Fleck, der nicht überflutet war. Und so niedrig wie hier alles hing bekäme Myotismon nicht die Höhe, die er bräuchte um keinen Schlag zu kriegen.

Und dann hatte er das Mädchen noch! Sie würde so einen Schlag nicht überleben. Den Ausstieg erreichten sie bei dem ganzen Wasser niemals rechtzeitig!

„Lass los, sofort!“

Yuki ächzte noch, dann ließ sie von Myotismon ab, dann packte er sie und warf sie hoch. Sie landete nur mit dem Oberkörper auf der höheren Etage, bekam die Kante noch in den Bauchraum, was bei dem Schwung doch sehr weh tat, aber Yuki hielt sich fest, ehe sie wieder hinunterrutschte. Gerade noch rechtzeitig hing Yuki über dem Wasser, ehe Deemon, der über der Wasseroberfläche schwebte die Kabel fallen ließ und das Wasser in eine statisches Feld verwandelte.

Die dicken, schwarzen Kabel fauchten wie Schlangen, während sie alles unter Strom zu setzen. Es dauerte keine Sekunde, bis die Ladung Myotismon erreichte und ihm einen Schlag verpasste, der jeden einzelnen Muskel zum krampfen brachte. Nur schreien würde er nicht. Das würde er Deemon nicht gönnen. Nicht schreien. Nicht. Schreien. Schmerz. Musste. Etwas. Unternehmen. Musste Musste er musste -

Die Bewegungen, wenn es auch nicht mehr wie ein in die Knie gehen war, war fast schmerzhafter wie der Stromschlag selbst. Auch die Arme auszustrecken fiel Myotismon schwer. Er hielt beide ins Wasser und versuchte mit aller Macht seine Kräfte heraufzubeschwören.

„Gruselflügel!“

Statt nach oben, flogen die Fledermäuse in das geladene Wasser. Es bildete sich ein schwarzer Strudel, der sämtliches Wasser anzog, gebändigt von Myotismons dunkler Magie. Und auch wenn der Strom weiter durch seinen Körper floss, zog er die Arme hoch und seine Fledermausschar das Wasser mit. Er holte aus und die Fledermäuse flogen mitsamt den Wasser gegen eine Wand, die dem Druck nicht standhielt und durch die Wucht zerstört wurde. Dann stürzten sie ins Meer und nahmen das gesamte Wasser aus dem Untergeschoss mit sich. Der Boden wurde sichtbar und die Reste des Stromes sickerte in die Erde. In einer Ecke hörte man noch die Kabel zischen, dann gaben sie den Geist auf.

Myotismon stand da und starrte hinaus, wo man das Meer und den Nachthimmel sah. Dann wurde ihm schwarz vor Augen. Er versuchte noch gegen die Ohnmacht anzukämpfen, doch Hunger und Strom haben ihm die Kraft genommen. Ehe er auf dem Boden aufschlug, digitierte er zurück. Dobermon lag schnaufend auf dem feuchten Boden.

„Onkelchen? Onkelchen, was ist passiert?“, rief Yuki hinunter. Sie hing immer noch da und konnte sich schließlich nicht mehr halten und stürzte hinab. Der Aufprall war hart und sie stöhnte kurz vor Schmerz. Sie war nicht weit neben Dobermon zu Boden gefallen. Yuki hörte ihn nach Luft ringen.

„Onkelchen? Was ist passiert?“, rief sie aufgebracht, dann richtete Yuki sich auf und kroch zu Dobermon hinüber, mit einer Hand vorsichtig vor der anderen und immer dem Schnaufen nach. „Onkelchen! Sag was!“

Yuki berührte ihr Onkelchen, aber es fühlte sich erst gar nicht wie Onkelchen an. Sie spürte kurzes Fell. Yuki kroch näher heran und kniete schließlich direkt neben ihm. Ihre linke Hand fuhr erst vorsichtig den Körper vor ihr hinab, ihre Rechte den Körper hoch, wo sie erst die Ohren ertastete, dann das schmale, lange Gesicht. Das war ein Hund vor ihr. Ein überaus großer Hund. Das Schnaufen kam von diesem Hund. Sie hörte es und spürte wie sich der Brustkorb hob. Yuki beugte sich etwas hinunter. Sie roch zwar das Fell eines Hundes, aber auch den Geruch von verdorbenen Blumen, frischer Graberde und kaltem Wald.

„B-Bist du das, Onkelchen...?“

„Habe ich nicht gesagt, dass du dir das abgewöhnen sollst?“

Schwer hob Dobermon den Kopf. Er spürte nach und nach wieder seine Glieder, dazu der salzige Geschmack des Meerwassers.

„Tse, tse, tse. Das sieht ja nicht gut aus“, sagte Deemon, der den Schreien in der Finsternis gefolgt war und schüttelte dabei den Kopf. „Du hast doch nicht etwa gedacht, ich bringe dich gleich um? Das lohnt sich nicht. Wenn ich dich umbringe, will ich dich auch vorher leiden sehen. Das war nur zur Sicherheit, damit du deine Strafe angemessen entgegen nehmen kannst.“

„Du feiger -“, knurrte Dobermon, aber jede Drohung blieb ihm im Halse stecken. Er versuchte auf die Beine zu kommen, schaffte es aber nicht. Er hatte seine ganze Power in diesen einen Angriff gesteckt. Jeder Versuch seine Kraft wieder aufzubauen oder aufzustehen war vergebens.

„Jämmerlicher Anblick. Was glaubst du, würden deine Truppen sagen, wenn sie dich so sehen würden? Oder deine ehemaligen Freunde? Denkst du sie helfen dir, oder würden sie ihre Chance nutzen?“

„Wenn du denkst, du hast mich besiegt, täuschst du dich!“

„Du kannst nicht einmal stehen. Sei froh, wenn ich es schnell mache.“

„Lass die Finger von Onkelchen!“

Yukis Arme legten sich um Dobermons Hals und sie drückte seinen Kopf, den er selbst kaum halten konnte an sich. Auch ohne Sehen zu können spürte Yuki, dass Dobermon ihre Geste – eher ein Resultat der Überforderungen, weil sie nicht wusste, was sie für ihn tun konnte – weitgehend ignorierte.

„Geh beiseite. Das hier klären er und ich vorerst alleine.“

„Nein!“, antworte Yuki patzig und Deemon schnaufte einmal genervt.

„Kindchen, das haben wir doch schon geklärt. Dein Onkelchen ist kein Netter, das weißt du genauso gut wie ich. Sich auf seine Seite zu schlagen ist vergeudete Mühe.“

„Denkst du ich traue einem Jabberwock, der schon wieder schnalzt?“

Nun stand Yuki auf und während sie Deemon böse anfunkelte – oder eher versuchte, da sie zwar wieder diesen, genau diesen furchtlosen und ebenso störrischen Blick hatte, aber an Deemon vorbei schaute – hielt sie sich an Dobermon fest.

„Ja, ich schnalze. Und weißt du wieso?“, sagte Deemon belustigt und packte Yuki unterm Kinn, damit ihr Gesicht direkt in seines schaute. „Ich schnalze, statt mich totzulachen. Auf früheren Level spielte ich gerne anderen Digimon Streiche und führte sie an der Nase herum. Dazu gehört auch ein gewisses Pokerface, aber es gibt wohl doch immer etwas, was einen verrät. Du hast ein gutes Gehör, dass muss ich dir lassen. Zum totlachen bist du trotzdem.“

Yuki sagte nichts, sie drückte sich nur dichter an Dobermon, als sie ihren Kopf aus Deemons Griff zog. Dobermon hörte wie ihr Puls raste, konnte der Unterhaltung jedoch kaum folgen. Er war schwach, aber sein Bewusstsein klarte wieder auf und es sagte zu ihm, dass er sich zusammenreißen musste.

„Ich habe dir doch vorhin erst erklärt, wie dein Onkelchen tickt. Er ist ein ganz böser, kaltherziger, selbstgerechter Blutsauger.“

„Als ob ich irgendetwas von dem glaube, was du sagst! Und nur weil er ein Vampir ist, ist er nicht automatisch böse! Papa hat gesagt, böse ist nicht gleich böse.“

„Ach, aber ich bin ein fieser, gemeiner Jabberwock, dabei kennst du mich kaum besser wie ihn. Was weißt du denn schon über dein Onkelchen? Das nennt man Doppelmoral, kleine Alice.“

Tatsächlich begann Yuki darüber nachzudenken. Dobermon spürte, wie ihr Griff erst an Kraft verlor, aber kaum einen Sekunde später wieder fester wurde.

„Ich weiß, dass Onkelchen ein Digimon ist. Ein Digimon, dass wie ein Vampir ist. Vorher war er ein Hund und davor war er eine Fledermaus, weil das bei Digimon so ist! Und das Onkelchen ein König ist. Er hat Diener und spricht ganz vornehm. Er mag nichts Süßes, aber er mag Musik. Er kann Klavier spielen.“

„Na, und weiter?“

„U-Und er tut immer abwesend und wenn ihm etwas nicht gefällt, dann merkt man, wie er manche Silben ganz deutlich betont. Aber wenn ihn etwas interessiert, hört er ganz genau zu und möchte alles wissen. A-Aber selbst will er nichts verraten und ihn zu überreden ist schwierig, aber er lässt mit sich verhandeln. Und er ist hierher gekommen, weil er jemanden sucht.“

„Und was habe ich dir gesagt, was er machen wird, wenn er denjenigen gefunden hat?“

Yuki verstummte und presste die Lippen zusammen. Ihr war ihr Stottern aufgefallen. Sie war unsicher.

„Vielleicht ist derjenige auch nicht so nett. Vielleicht ist derjenige auch wie ein Jabberwock.“

„Ich bezweifle, dass Kinder Jabberwocks sein können. Du lebst auch nur noch, weil dein Onkelchen kapiert hat, dass du nicht der bist, den er sucht, sonst würde deine Leiche nun im Meer rumtreiben. Wer weiß, vielleicht lebt deine Mutter auch nur noch, weil du ihn beim Essen gestört hast.“

Ihr Puls blieb stehen. Zumindest für einen Moment. Wenn er nach dieser kurzen Zeit wieder begonnen hatte zu schlagen, würde es Dobermon nicht mitbekommen.

Yuki ließ ihn los. Die dünnen Arme entfernten sich von ihm, stattdessen presste Yuki sie dicht vor ihre Brust. Sie stand da wie eine Statue und war fast genauso blass.

„V-Vampire essen eben Blut... Du trickst mich nur aus. Du lügst! Onkelchen ist vernünftig!“

„Hörst du, dass ich schnalze? Du bist so zu bemitleiden, dass es nicht einmal mehr witzig ist. Und im Gegensatz zu dir habe ich die Löcher in ihrem Hals gesehen, als der Notarzt sie mitnahm. Sie war ganz blau im Gesicht und hat viel Blut verloren...“

Nun ging Yuki ein Schritt zurück, die Zahnräder in ihrem Kopf liefen auf Hochtouren. Sie wollte es nicht glauben, aber wusste, dass es nichts brachte. Denn auf einmal wirkte alles sehr logisch.

Sie hatte den Fremden nicht laufen gehört, weil er schweben konnte. Wie Onkelchen.

Sie hatte ihn, obwohl er vor ihr stand nicht riechen können, weil er wie der Friedhof roch. Wie Onkelchen.

Er stand so dicht vor ihr, weil er sie umbringen wollte. Und ihr fielen die Frauen ein, von denen im Radio gesagt wurde, sie hätten Blutarmut. Sie wären sogar fast daran gestorben!

Yuki las von zwei Arten von Essverhalten bei Vampiren – die, die nur ein wenig Blut nahmen, um eben zu essen und vielleicht einen Feind kurz zu lähmen, oder die, die ihre Beute regelrecht verschlangen, so, dass sie entweder sofort oder nach wenigen Tagen starben. Ähnlich wie Walross und Zimmermann. Und Yuki hatte Myotismon felsenfest für einen der ersten Sorte gehalten. Für einen Vampir, der so etwas wie Moral besaß, wenn er schon über etwas wie Gerechtigkeit philosophierte. Vielleicht auch noch wusste, das seine Beute fühlende Lebewesen waren (eben wie das Walross, der wenigstens Mitgefühl für die Austern hatte) und den Schaden, denn er nun mal anrichten musste gering zu halten.

„Du siehst, kleine Alice, sich für den da aufzuopfern ist sinnlos. Wenn überhaupt bist du für ihn nicht mehr wie ein kleiner, wenn auch nervender Zwischenimbiss.“

„A-A-Aber...“

„Hörst du nicht?“, keifte Dobermon hinter ihr. Aber er war aufgestanden, versuchte gerade zu stehen (und scheiterte weitgehend daran) und Yuki, gänzlich überfordert mit der Situation wich nicht nur von Deemon, sondern auch von ihm weg.

„Du stehst im Weg! Das hier geht nur uns beide etwas an, für besserwisserische Gören ist kein Platz! Geh endlich! Ich habe die Nase voll von dir! Verschwinde oder dir ergeht es wie deiner Mutter!“

Durch das Echo im Kellergewölbe klang Dobermons Stimme weit bedrohlicher, wie sie war und vor allem lauter. Yuki war durch den Widerhall erschrocken zusammengezuckt, wollte mehr Abstand gewinnen, aber verlor den Halt und fiel auf den Boden. Sie saß da, mit den Händen noch abgestützt. Der Boden unter ihr war bitterkalt, aber Yuki spürte nichts davon.

„Onkel-“

Hau endlich ab!

Yuki hob die Schultern an, kniff ihre Augen zu und hatte sogar Angst, dass der Putz von der Decke fiel, so laut wie Dobermon brüllte. Sie blieb sitzen, weniger aber vor Schock. Vielmehr, weil sie sich bemühte nicht loszuweinen, als sie die ersten kleinen Tränen in ihrem Augenwinkel bemerkte.

Und zu Dobermons Entsetzen und zu der doch großen Überraschung Deemons schüttelte Yuki nur langsam ihren Kopf.

„Bist du schwer von Begriff? Ich habe gesagt, du sollst verschwinden! Hast du nicht zugehört? Du weißt was auf dem Friedhof passiert ist! Du bist nicht der, den ich suche, es gibt keinen Grund mehr, dass du hier bleibst!“, schrie Dobermon sie weiter an, wenn auch nicht mehr in der Lautstärke wie zuvor. Er starrte sie an und hoffte, dass sie endlich aufstehen und gehen würde. Wenn sie doch endlich ging, dann könnte er auf Deemon losgehen, ihn zerfetzen wenn es denn sein müsste und müsste sich keine Gedanken machen, ob Deemons Fegefeuer sie erwischen könnte. Sie war nicht der, den Dobermon suchte, aber sie war wie Alice. Alice durfte nichts passieren, das war die Aufgabe des Schwarzen Königs.

Und doch, obwohl es eigentlich keinen einzigen Grund gab zu bleiben, ging Yuki nicht.

„Ich weiß, ich mach dir nur Ärger, Onkelchen. Und dass ich auch nicht ehrlich zu dir war, das war nicht in Ordnung von mir“, sagte sie und man hörte deutlich, wie sie ihr Weinen unterdrückte. „I-Ich habe auch jemanden gesucht, Onkelchen. Aber auch wenn du nicht der bist und alles wahr ist, was der Herr Jabberwock sagt und -“, sie hielt die Luft an, schniefte kurz, „- und i-i-ich weiß, dass es keinen Sinn macht und du magst keinen Unsinn, aber ich will nicht, dass der Jabberwok dir wehtut. Ich hab dich doch gern, Onkelchen...“

Noch ein Schniefen. Beschämt, als ob Yuki wüsste wie Dobermon sie ansah, ließ sie den Kopf sinken. Ihre Fantasie mochte groß sein, aber was Yuki sich ausmalte kam nur entfernt an das, was wirklich in Dobermons Gesicht zu sehen war (zumal Yuki immer noch Myotismons Gesichtszüge im Kopf hatte). Was Yuki sich vorstellte war eine Mine voller Wut, vielleicht auch einfaches angewidert sein. In der Realität aber sah man bei Dobermon nur Unverständnis. Und wie er sich fragte Warum?.

(So wie bei dir Sanzomon)

Nein, bei Sanzomon hatte er es irgendwann verstanden. Doch dieses Mädchen verstand er kein bisschen.

Menschen eben. Menschen waren solch dumme, irrationale und unsinnige Geschöpfe.

„Och, ist das nicht süß, wenn man so geliebt wird?“, lachte Deemon hämisch und wie immer er unter seiner Kutte aussah, Myotismon war sich sicher, dass dieses Digimon bis zu den Ohren grinste vor Schadenfreude.

„Es nervt. Lass sie also und lege dich mit mir an!“

„Dafür, dass sie so nervt, machst du dir ja doch sehr viele Sorgen um die kleine Alice.“

Dobermons Widerspruch wurde im Keim erstickt, als Deemon seine Flügel hob, erst warme Luft und dann blaue Flammen auf ihn trafen und gegen die Wand hinter ihn warfen. Der Aufprall hinterließ Kratzer im Stein und Putz.

„Lass ihn endlich! Ihn erst einen Stromschlag zu verpassen und dann anzugreifen ist unfair!“

Deemon schnaufte. Besäße er Pupillen in den komplett blau-durchzogenen Augen, hätte er diese in diesem Moment verdreht. Sein Kopf bewegte sich hin und her, erst zu Yuki hinüber, die ihn angebrüllt hatte, dann zurück zu Dobermon und wieder zu Yuki.

Dobermon glaubte, ihn knurren zu hören. Aber nicht einfach verärgert oder genervt, sondern wirklich bedrohlich. Kurz erinnerte sich Dobermon zurück, wie er als Tsukaimon vor der Horde Devidramon stand und sie ihn angeknurrt hatten. Genauso klang es.

Sehr langsam ging Deemon auf Yuki zu und das regelrecht verkrampft. Das passte nicht zu seinem vorherigen, arroganten und selbstsicheren Getue. Da stimmte etwas nicht.

„Wie schön du brüllen kannst. Fast wie Musik in meinen Ohren, wenn du nicht so eine Pieps-Stimme hättest.“

„Ach, sei still! Und glaube nicht, dass ich Angst vor dir hätte! Wenn du es so nötig hast ihn mit Strom wehzutun, bist du nicht mehr wie ein Feigling, du mieser -“

Sei jetzt still!

Das Echo dieses Schreis war überraschend gewaltig. Selbst das Wasser in den wenigen Pfützen warf große Wellen, allein durch die Schwingungen des Schalls verursacht, als hätte Deemon damit ein Erdbeben ausgelöst. In Yuki hatte es das zumindest und sie hielt den Mund. Wie Dobermon merkte auch sie, dass etwas mit dem Jabberwock nicht in Ordnung war, nur anders wie Dobermon kam sie nicht drauf, was es war.

„Dein Gezeter nervt allmählich. Onkelchen hier, Onkelchen da. Sei froh dass dein Onkelchen blinder wie du bist und das Offensichtlichste nicht siehst, sonst hätte ich längst Geschnetzeltes aus dir gemacht und dich an ein paar Cerberusmon verfüttert!“

Deemon schnaufte, nachdem er seine Wut heraus gebrüllt hatte, aber wohl weniger, weil ihm Luft in den Lungen fehlte. Innerlich kochte es in ihm, wie ein Topf mit heißem Wasser auf einem Herd, der kurz davor war überzulaufen. Deemon hielt sich den Kopf. Ihm war schwindlig, aber schwach fühlte er sich nicht. Nicht im geringsten. Sondern stärker, je wütender er auf die kleine Alice und den Schwarzen König wurde.

Er sah zu diesem Mädchen hinab und während Yuki nur da saß und sich fragte, was der Jabberwock hatte und tatsächlich – wenn auch nur für einen ganz kleinen Moment – besorgt war, sah Deemon in ihrem Gesicht nur das von Alice. Das Gesicht des Kindes, dass er so hasste, dass ihn in die Verdammnis geschickt und gleichzeitig gezeigt hatte, wie wunderschön Musik war. Und dieses Stück, dass ihm so gefiel und er gerne wieder gehört hätte. Oh, bei aller Dunkelheit, wie er dieses Kind hasste!

Was in Deemon aufstieg war Zorn. Wie passend, dachte sich Dobermon, da Deemon, so in den alten Sagen doch die Sünde des Zorns verkörperte. Was sie außerdem noch sagten war, dass Dämonenfürsten, die mit den Todsünden in Verbindung standen, diese in anderen entfachten, um sich davon zu ernähren. Dass Deemon nun der war, der vor Wut kochte verursachte in Dobermon ein ungutes Gefühl und eine schreckliche Befürchtung:

Deemon war dabei durchzudrehen. Wen wunderte das, er war erst auf das Mega-Level digitiert, hatte keine Erfahrungen mit diesem Level oder dieser Gestalt. Geschweige denn mit der Macht und den Fähigkeiten. Vielleicht hatte er auch den Zorn, der von Yuki ausging aufgesaugt, ohne dass sie es merkte und er wusste nicht, was er mit dieser Energie tun sollte. Egal was es war, es war schlecht.

Ekstase war nach einer Digitation nicht ungewöhnlich, genau wie Selbstüberschätzung. Dobermon kannte das schließlich selbst von seiner eigenen Digitationen. Aber bei Deemon war es anders. Schlimmer. Und wenn er Yuki nicht von ihm wegbrachte, die seinen Zorn nur weiter zum brodeln brachte, allein schon dadurch wie sie da saß, würde er komplett die Kontrolle verlieren.

Noch merkte Deemon, dass mit ihm nicht alles in Ordnung war. Die Frage war nur, wie lange noch?

„Dass du in dieser Lage bist, hast du deinem Onkelchen zu verdanken“, sagte er zu ihr, wieder ruhiger, aber immer noch geladen. Er packte Yuki am Kragen und zog sie auf die Beine.

„Na los, Herr Pianist. Schau dir die Kleine genau an und benutze deine grauen Zellen. Und was dich angeht, kleine Alice, du weißt, was du tun musst!“

Deemon ließ sie los, aber packte Yuki dafür aber am Haarschopf. Einen Schmerzschrei unterdrückte sie diesmal, ihr Wimmern jedoch konnte sie nicht ganz abstellen.

„Weine für mich, dann bring ich dein Onkelchen auch schnell um und gib dir noch eine Chance.“

„Nein! Onkelchen mag keine Kinder die weinen, also werde ich es auch nicht tun!“

Yuki versuchte mit Zappeln den Griff zu lockern, um sich so vielleicht losreißen zu können. Vergebens.

„Wie kann ein blindes Gör nur so entsetzlich starrsinnig sein? Aber du hast noch eine Chance. Zeig wie schön du weinen und betteln kannst, dann bereite ich ihm schnell ein Ende und lasse dir einen Vorsprung. Los! Fang an zu weinen! Der Schwarze König soll Alice vor seinem Tod weinen sehen!“

Er packte nochmal fester zu, zurecht hätte man Angst haben können, dass er Yuki die Haare heraus riss. Ihre Augen kniff sie nun enger zusammen. Ihre Lippen waren nur noch ein hellrosa Strich. Aber Yuki weinte nicht. Sie schrie nur:

„Du kannst mich mal kreuzweise, du blöder, mieser Jabberwock!“

„Du wagst es, du Göre!“

Ein Knall hallte durch die dunklen Räume.

Sie hatte Glück gehabt, mehr war Dobermon nach dem kurzen Schock nicht eingefallen. Deemon hätte, nachdem sie ihn so zur Weißglut trieb alles mögliche in diesem Geisteszustand machen können. Doch er hatte sich für eine schlichte Ohrfeige entschieden, wenn sie es auch in sich hatte. Als sein Handrücken mit einer doch gezügelten Wucht ihr Gesicht traf, riss es Yuki von den Beinen. Ihre Augen rollten nach oben, ihr Körper fiel zur Seite, um schließlich auf dem Boden regungslos liegen zubleiben. Für einen Moment dachte Dobermon, sie sei tot. Aber ihre Brust bewegte sich flach und ruhig. Sie hatte echt Glück.

Mit dem selben Entsetzen wie Dobermon schaute auch Deemon auf das bewusstlose Mädchen und war ebenso überrascht, dass es nur bei einem Schlag ins Gesicht geblieben war. Aber Deemon dachte sich nur, dass es ihre eigene Schuld war. Sie hätte einfach nur das machen sollen, was man ihr sagte.

Im Augenwinkel sah Deemon, wie Dobermon wieder auf die Beine kam und ehe er angreifen konnte flog Deemon auf ihn zu, blieb direkt vor Dobermon stehen und legte seine prankenhafte Hand um dessen Hals.

„Das wäre ihr nicht passiert, würdest du für einen Moment deinen Grips benutzen.“

„Ich weiß nicht einmal, was du von mir willst!“

„Dann denk nach. Schau mich an und denk einmal ganz genau nach!“

Der Druck auf seiner Kehle wurde stärker, zwar schmerzhaft, aber atmen konnte Dobermon noch. Es war stockdunkel. Dichte Schwärze und schemenhafte Formen, mehr war hier unten nicht und mitten in diesem Minimalismus war Deemon. Er stand entgegen des Lichtes, aber seine Augen sah man mehr wie nur deutlich.

„Ich erzähle dir ein Geheimnis. Ich kenne dich länger, wie du denkst. Ich sah dich das erste Mal, als du nur ein paar Tage alt warst. Der Ort deiner Geburt war eine Schneewelt, schön und doch grausam zugleich. Aber nicht nur Frigimon lebten dort. Dieser Ort war auch meine Heimat, ehe die Serums uns vertrieben haben. Ich habe dich gesehen, kleines Poyomon. Wohlbehütet in Alice' Armen.“

„Woher...“, keuchte Dobermon, aber mit Deemons Hand am Hals war es nur ein Gurgeln.

„Richtig kennengelernt haben wir uns erst viel, viel später. Ich gebe zu, ich war nicht sehr gastfreundlich. Euren Freund mitzunehmen war nicht nett. Ich glaube, hätte Devimon mich erkannt, vielleicht hätte er mich Piedmon abgekauft und seine Schwarzen Zahnräder an mir ausprobiert. Verübelt hätte ich es ihm nicht, nachdem ich Bilbo solch eine Angst eingejagt habe.“

Der Druck auf seinem Hals ließ nach. Starr sah Dobermon in Deemons Augen. Er begann alles, was er im hintersten Eck seiner Erinnerungen – oder dem Abgrund - versteckt hielt wieder herauszuholen. Er fand etwas, was auf Deemons Beschreibung passte.

„Du warst schon immer so arrogant. Was hast du zu mir gesagt? Für ein Großmaul wie mich sei dir deine Zeit zu schade. Ich habe euch gebeten mich für diese Schmach zu töten, aber ihr habt mich leben lassen. Du und Alice haben mich mit Humpty Dumpty und der zukünftigen Herzkönigin gezwungen euch zu meinen Meister zu bringen. Und dann habt ihr uns weggesperrt. Du kannst dir sicher vorstellen, wie sehr ich dich seither verabscheue... Tsukaimon.“

Deemon sprach den Namen von Dobermons Rookie-Form mit Abscheu aus, wenn er auch lachte. Und schnalzte, so deutlich, wie eine Provokation, auf die Dobermon aber nicht ansprang.

Deemons Worte hatten sich in Bilder verwandelt und die Bilder zu vereinzelten Filmen einer längst vergessenen Zeit. Um genauer zu sein, genau einen Tag, bevor die Welt aus Wundern und Fabeln in sich zusammenfiel, wie Humpty Dumpty bei seinem Absturz. Der Tag an dem das Orchester am Meer der Dunkelheit, dem finstersten Rand der Digiwelt ankam. Dort war Dragomon gewesen. Trotz dass er nur ein Ultra-Level Digimon war, war er von den Herrschaften der Heiligen Digimon gefürchtet, ihr anerkannter Erzfeind mit seiner Armee aus verhassten Digimon. Überwiegend dämonische. Aber nur auf ein einziges traf alles zu, was Deemon ihm erzählte.

„Ice... Devimon...“

„Du kennst mich also doch noch. Da fühle ich mich aber geehrt“, knurrte Deemon, zusammen mit dem Unterton von Begeisterung, ehe er wieder fester zupackte. „Du bist ja doch nicht so vergesslich, wie ich dachte. Du sollst schließlich ganz genau wissen, wer dich umbringt.“

„Weiß Piedmon davon? Ist das ein geschmackloser Scherz von ihm?“

„Piedmon weiß gar nichts. Er wird aber der Nächste sein, wenn ich mit dir fertig bin. Und dich zu töten wird mir eine Freude sein. Allein zu sehen, dass ausgerechnet du zum Herrscher der Untoten gekrönt wurde ist der beste Scherz aller Zeiten.“

Dobermon schaffte es zwar, mir seinem eigenen großen Tatzen und Krallen Deemon ein paar Kratzer an seinem Arm zu verpassen, doch dieser nahm es kaum war. Er lachte nur.

„Wenn ich meinen Kameraden davon erzähle, werden sie sich krümmen vor lachen. Nicht nur, dass das bescheuerte Orchester, dem wir so viel Leid zu verdanken haben vernichtet ist, sondern auch zu wissen, zu was für Kreaturen ihr verkommen seid. Was immer euer Herr Dirigent mit euch gemacht hat, dafür schulde ich ihm etwas. Jetzt sind wir beide uns gar nicht mehr so unähnlich, was sagst du?“

„Vergleich mich nicht mit dir!“

Dobermon verengte die roten Augen und Deemon schreckte kurz auf. Nicht zuletzt, weil er von Dobermons Starrsinn doch überrascht war. Und von diesem Blick. Tsukaimon mochte zwar eine andere Digitations-Linie eingeschlagen haben, aber weder seine Augen, noch sein Charakter hatten sich geändert.

„Wir sind sicher nicht wie die Digimon von damals. Und wie ihr Viren schon gar nicht. Suhlt euch in Selbstmitleid, aber ihr habt selbst nichts unternommen, um die Apartheid zu beenden. Ihr seid genauso Schuld an diesem sinnlosen Krieg gewesen wie die Serums. An Politik und Diskursen wart ihr nie interessiert. Ihr habt ziellos zerstört wenn euch danach war, ihr habt jedes Digimon getötet und wenn es der eigene Freund war! Ihr habt Serums und Dateien gejagt und gefoltert und im selben Atemzug beklagt, dass die Serums euch vernichtet haben. Das ihr verbannt wurdet ist genauso eure Schuld!“

Das Lachen, dass Deemons Stimmlage sonst dominierte erstarb. Deemon schwankte zwischen Verwunderung, woher Dobermon die Kraft nahm sich gegen das Würgen zu wehren, wie das Ego, Deemon so anzusehen. Mit genau dem Blick, den Dobermon an seinen eigenen Soldaten doch angeblich nicht leiden konnte. Aber gleichzeitig genau der Ausdruck in den Augen, den Tsukaimon schon immer hatte. Den Alice schon hatte, in all den Albträumen, in denen Deemon sich nach Freiheit und Rache sehnte.

„Wir sind nicht wie ihr. Und ich bin ganz sicher nicht so wie du“, zischte Dobermon durch die zusammengepressten Zähne, Deemon lachte aber wieder.

„Pah. Das sagt ausgerechnet der, der mit einer Volksverräterin schläft.“

Der Druck auf seiner Kehle war wieder da. Dobermons Gesicht war entgleist.

„Piedmon flippt schon aus, wenn er nur ihren Namen hört. Das muss eine sehr mitreißende Show gewesen sein. Jeder weiß, was er mit Volksverrätern macht. Ich weiß nicht wie du auf die Idee kamst, dir so ein Digimon anzulachen. Fest steht, dass dir die Folgen gleichgültig waren, obwohl du genau wusstest, was die Konsequenzen wären. Arme, kleine Sanzomon, sie hat sicher nicht bemerkt, was für ein abscheuliches Digimon du bist.“

Dobermon hatte noch nicht ganz zu Ende eingeatmet um Deemon anzubrüllen, dann blieb ihm die Luft aus. Deemon drückte mit aller Gewalt zu, dass Dobermon nicht mehr herauskam wie ein schmerzhaftes Gurgeln.

„Du hattest dieses Sanzomon wirklich gerne. Natürlich hast du das, warum sonst stehen ihre Bücher in deiner Bibliothek? Erst wollte ich sie ja als Köder benutzen. Man sieht übrigens deine Bissabdrücke an ihrem Arm. Ihr müsst ja eine seeeehr schöne und spaßige Zeit gehabt haben.“

„Wenn du ihr auch nur ein Haar gekrümmt hast -“

Wieder schnürte Deemons Klauen den Atem ab. Nur Gurgeln. Keine Luft.

Dobermon wurde schwindlig.

„Meine Suche war erfolglos, wie du dir denken kannst. Sie versteckt sich und unterstützt weiter die vier Souveränen, damit Digimon wie du niemals die Macht über das Gleichgewicht der Welten erhalten. Wie bitter das für dich sein muss, dass sie dir den Rücken kehrt.“

„Rede nicht so viel, sondern kämpfe, wenn du schon Unbeteiligten in diese Sache hineinziehen musst!“

Wieder versuchte Dobermon sich zu befreien, doch er blieb weiter erfolglos. Die hatten sich so fest verkrampft und bewegten sich keinen Millimeter, als wären sie aus Stahl, obwohl Deemon selbst nicht den Anschein erweckte, dass er wirklich Kraftaufwand betreiben musste.

Er schüttelte den Kopf.

„Wirklich? Bei dir klingelt es immer noch nicht? Weißt du, langsam macht das keinen Spaß mehr“, seufzte er. „Aber gut, wenn du dich weiter dumm stellen willst, können wir das gern in die Länge ziehen. Ich kann euch beide ja zu einer Teeparty im Meer der Dunkelheit einladen, vielleicht hilft dir das etwas auf die Sprünge.“

Deemon lachte leise, Dobermon hörte es aber kaum. Einzig hörte er nur sein eigenes Würgen. Ihn verließen die Kräfte. Die Welt um ihn war schwammig und nur Deemon hielt ihn noch auf den Beinen. Von Sekunde auf Sekunde verließ ihn die Ausdauer. Er kam nicht gegen Deemon an. Er war ihm als Champion-Level nicht gewachsen.

„Weißt du, von all deinen Digitationen steht diese hier dir am besten“, lachte Deemon und warf Dobermon zur Seite. Er kämpfte mit der Ohnmacht, versuchte wieder aufzustehen, schaffte es aber nicht. Dafür zog er Luft ein, bis die Lunge brannte und genug Sauerstoff in seinem Kopf war um wieder klar denken zu können.

„Es zeigt, was du bist. Es stimmt, du bist nicht wie ich. Du bist weder König, noch warst du ein Soldat, geschweige denn ein Hauptmann. Du bist nur Alice' Schoßtier. Und das wird sich niemals ändern, Eure Majestät.“

Das Echo in dem Raum verwandelte Deemons einsame Lache in ein Chor aus Gelächter. Es erinnerte Dobermon an den Krieg. Diesen leidigen, endlosen, sinnlosen Krieg. Die Hohen Serums...

Dobermon schoss einen Schwarz Strahl auf Deemon, doch er wehrte diesen nicht nur ab, sondern dieser flog zu Dobermon zurück, traf ihn und warf ihn fort. Er versuchte noch auf den Beinen zu landen, war aber zu geschwächt um sich halten zu können und nachdem er noch innerlich versuchte durchzuhalten, knickte Dobermon ein. Er fiel und blieb liegen, die Welt vor den Augen verschwommen. Aber er hörte Deemon auf ihn zulaufen und während Dobermons Bewusstsein langsam dahinschwand, glaubte er zu hören, das Yukis Digivice, dass sie noch immer für eine Spieluhr hielt zu spielen begann.

Sie spielte wirklich. Vivaldis Winterklänge rüttelten Dobermons Verstand noch einmal wach, aber er musste feststellen, dass es nicht der zweite Satz war. Das war der dritte und letzte.

Deemon blieb stehen und hatte augenblicklich das Interesse an Dobermon verloren. Er ging zurück, direkt auf dieses Mädchen zu. Yuki lag noch immer bewusstlos da, das Digivice an ihrer Gürtelschnalle befestigt, dass zusammen mit dem goldenen Licht seine Melodie abspielte. Nun stand Deemon vor ihr und blickte auf sie hinab, als hätten die viel zu hohen Töne ihn hypnotisiert.

„Selbst jetzt machst du dich noch über mich lustig. Denkst du, damit erreichst du etwas, mit deinem blöden Geklimper und deiner dummen Musik? Musik sei der Schlüssel zur Seele, dass ich nicht lache. Euer dämliches Orchester hat nichts erreicht, außer dass es euch hassenswerter gemacht hat! Wie sehr ich dieses Stück hasse! Wieso erinnert es mich immer wieder daran, wie sehr ich dich hasse, Alice!“

In seinem Wutanfall über Alice und die Melodie, die sich so tief in Deemons Seele gebrannt hatte holte er mit der Hand aus. Die Krallen blitzten silbern im schwachen Abendlicht, während der Schein des Digivice in dessen Gesicht fiel und kurz die Konturen dessen Dobermon erahnen ließen, was wirklich unter dieser Kutte war. Die Zähne des Jabberwock, von denen Alice schon immer Angst hatte. Der Jabberwock, der Alice umbringen wollte. Er wollte Alice umbringen!

Das Wappen der Gerechtigkeit um Yukis Hals begann zu leuchten.

Schwarz Strahl!

Diesmal traf Dobermon ihn. Er hatte Deemon nicht verletzt, aber genervt und wütend musste er feststellen, dass dieses Digimon, dass sich einst zu einem Kuscheltier hat degradieren lassen wieder aufgestanden war.

„Schwarz Strahl!“

Deemon wehrte auch diesen Angriff ab, aber diesmal hatte er Mühe. Ungläubig sah Deemon sich seine Hand an. Dobermons Angriff hatte Brandspuren hinterlassen.

„Wie kann ein Champion...?“, ächzte Deemon. Dobermon kam näher und sein Schatten folgte ihm, der länger wurde, wie näher er an das Licht trat, dass aus dem Wappen kam. Der Schatten wurde länger, fast so lang wie der ganzen Raum, bis Dobermon, mit einem Blick eisern wie sein Wille, selbst schwärzer wie die Nacht wurde. Das von Schatten umhüllte Tier-Digimon bäumte sich auf, dann entschwanden die Schatten wie dunkle Käfer im Boden und davon. Schwarz war nun nur noch der Umhang.

„Wie... wie bist du digitiert... In diesem Zustand...?“, fragte Deemon und sah Myotismon ungläubig an, der dank neugewonnener Energie aufrecht stand und grinste.

„Du kapierst immer noch nicht, wie das hier läuft. Meinesgleichen wurde während der Apartheid und den Rassenkriegen gejagt und getötet um die Prophezeihung zu verhindern. Ich bin das erste Myotismon seit Generationen das Anspruch auf die Krone der Welt hat. Denkst du, ich lasse mir diese von einem Horrorkönig aus einer uralten Fabel entreißen? Du bist nicht der erste Dämonenfürst, den ich in Stücke reiße. Nun wirst du das Schicksal derer teilen, die wir im Krieg bekämpft und vernichtet haben. Und denke nicht, dass ich noch einmal so viel Mitgefühl habe und dir die Hand reiche.“

Ein leichter Schauer lief Deemon kurz über den Rücken, während er seine Erinnerung durchforstete. Er erinnerte sich und bei aller Dunkelheit, es war eine Schmach. Es war damals, an jenem, dunklen Ort am Meer, als Myotismon, in Gestalt eines anderen Ultra-Digimon und dicht an Alice' Seite ihm die Hand entgegenhielt. Deemon erinnerte sich an das Gefühl, als er mit seiner eigenen diese wegschlug.

„Du weißt es also. Du weißt es doch noch! Ich habe es gewusst, deine Amnesie ist nur ein Witz! Du hattest niemals Amnesie, du weißt alles!“, brüllte Deemon aus der Dunkelheit zu Myotismon hinüber und gleichzeitig lachte er dabei. Deemon streckte die Flügel für einen Angriff aus, wurde aber von einer Albtraumkralle umwickelt, dann von Myotismon in eine Ecke geschleudert. Als Deemon zwischen Steintrümmern lag, war dies zwar der Moment um noch einmal anzugreifen, doch ein ganz leises Geräusch hielt Myotismon zurück.

Yuki, immer noch auf dem Boden liegen ächzte. Das Licht des Wappens war erloschen. Myotismon sah sie an, wechselte kurz zu Deemon, dann wieder zu dem Kind – und entschied sich schließlich, dass sie mehr Priorität hatte. Er sprang noch vorn, als Deemon ihn mit einer Feuersalve attackierte und schnappte sich dabei die immer noch bewusstlose Yuki. Dann sprang er mit ihr hinaus, durch das Loch, dass sein Gruselflügel zuvor verursacht hatte. Deemon brüllte ihm hinterher und machte sich auf ihm zu folgen.

Myotismons erster Anhaltspunkt war eine einigermaßen gut verborgene Ecke hinter einer nicht ganz fertigen Wand und einem Stapel weißgrauer Ziegeln im Schatten. Mit schnellen Schritten sprang Myotismon über den Steinstapel und erlaubte sich, als er im Dunklen kniete ein erleichtertes Seufzen. Er hörte Deemons Flügel in der Luft schlage, nicht sehr nah, aber nicht gerade weit weg. Dann sah er Yuki an.

„Wie kann ein Kind nur so viel Ärger machen? Sei froh, dass ich dich gerettet habe.“

Wenn ihm der Grund dennoch noch nicht so ganz logisch erschien, warum er überhaupt Kopf und Kragen riskierte. Myotismon schob es weiter aus seinen Sinn für Recht und Ordnung. Oder, weil es ihn unweigerlich daran erinnert hatte, wie Piedmon vor Sanzomon stand und beinahe ihren Kopf von ihrem Hals getrennt hätte. Vielleicht auch nur ein einfacher Impuls. Ja, ein Impuls mehr nicht. Das und der Gedanke, dass diesem Kind, dass wie Alice aussah kein Leid geschehen sollte. Alice durfte nichts passieren. Unter keinen Umständen. Niemals... ...

Außerdem schuldete er ihr was. Myotismon gab es nicht gern zu, aber das Licht ihres Wappen hatte ihm geholfen wieder auf das Ultra-Level zu digitieren. Das Wappen war echt. Es war Alice' Wappen und es hatte noch Kraft, als hätte Alice gewusst, dass er irgendwann in Schwierigkeiten geraten würde.

„Onkelchen...“

Mühselig öffnete Yuki ihre Augen, bekam sie aber nur halb auf. Schwindel herrschte in ihrem Kopf und kurz war ihr schlecht geworden. Ihr Muskeln gehorchten ihr nicht und wo sie war konnte sie nicht einschätzen. Dem Friedhofsgeruch nach zu urteilen schien sie bei Onkelchen zu sein. Yuki hob die Hand, berührte seinen Hals und ließ ihre Finger bis zu seinem Gesicht gleiten.

„Du... bist wieder du?“

„Ich habe dir doch vorhin erklärt, dass Digimon digitieren“, sagte Myotismon harsch zu ihr. Im Augenwinkel sah er Deemon in der Ferne vorbeilaufen und wie dieser mit einem Schwung einen ganzen Stapel Stahlträger in eine Ecke pfiff. Auf leisen Sohlen schlich Myotismon mit Yuki weg.

„Onkelchen... E-Es tut mir Leid“, sagte sie bedrückt. „Ich wollte nur beweisen, dass mein Papa das nicht getan hat. So viele Leute sagen so schlimme Dinge über ihn. Papa hat sich nicht umgebracht. Er hat sich so viel Mühe gegeben, wieder ins Wunderland zu kommen. Ich dachte, wenn ich es finde, dann -“

Sie brach ihren Satz ab. Die Worte, die Yuki noch in ihrem Kopf geordnet hatte flogen davon. Ihr war noch immer schwindlig, aber die Übelkeit, die sie bei ihrem langsamen Erwachen noch empfand hatte sich gelegt.

„Sei nicht böse auf mich, Onkelchen. Ich mach's wieder gut. Du kannst auch Blut von mir haben, ich versuch auch nicht zu jammern! Auch wenn ich nicht deine Alice bin, ich will dir helfen!“

Myotismon legte plötzlich die Hand auf ihren Mund, als Yukis Stimme lauter wurde und er berechtigte Sorge bekam Deemon würde sie hören. Nach wenigen Sekunden aber nahm er sie wieder weg.

„Spar dir die Mühe. Aber sei unbesorgt, ich... ich bin nicht böse auf dich. Nicht so sehr, wie ich könnte“, antwortete er ihr und meinte es sogar ehrlich. Yuki seufzte leise, aber erleichtert, während Myotismon ihr Haar berührte, dass in dem Winkel und in dem schwachen Licht so kurz und unordentlich aussah. Kurz. Hellblond. Hellblond, wie -

„Das... ist merkwürdig“, flüsterte Myotismon vor sich hin, auf Yuki starrend, die ihn zwar gehört, aber nicht verstanden hatte. Fragend blickte sie drein, dann weiteten sich ihre Augen, als sie die langen, schmalen Finger ihres Onkelchens in ihrem Haar spürte. Diese packten einige ihre Strähnen und klemmten sie nach hinten, um ihre Frisur noch kürzer wirken zu lassen. Myotismon bewegte ihren Kopf sachte zur Seite, hob ihn an und ließ ihn wieder sinken und zu gerne hätte Yuki seinen Blick gesehen. Genauso fragend wie Yuki schaute auch Myotismon und es kamen immer mehr Fragen, auf die nur noch mehr Fragen folgten. Und das dies nicht sein konnte.

„Wieso siehst du genauso aus wie Alice?“

„Wie Alice...?“, fragte Yuki abwesend. Myotismon zog wieder fester an ihrem Haar und näher zu sich. Der faulig-süße Atem von Tod traf direkt ihr Gesicht und verriet Yuki, dass zwischen ihrem Gesicht und Myotismons nicht viel Abstand war. Starr sah er in ihre blinden Augen, versuchte darin etwas zu sehen, wenn er nicht genau wusste, was er glaubte in dieser blauen Leere zu finden. Dennoch kamen Myotismon diese Augen vertraut vor. Hellblaue, verträumte Augen und hellblondes Haar, blassrosa Haut und dunkle Wimpern. Dünne Arme und schmale Finger, die sich vorsichtig auf seine Arme legten. Schmale, angewinkelte Finger. Klavierspieler-Finger.

„Das... Das kann nicht sein. Du siehst aus wie Alice. Du hast Alice' Wappen und Alice' Digivice. Aber du bist zu jung. Du bist ein Mädchen, wie kann das also sein? Wenn du wie Alice aussiehst, aber nicht Alice bist, wer bist du dann? Wieso siehst du ihm so ähnlich?“

Ihm...?“

Myotismons Finger verkrampften sich und zogen noch mehr an ihrem Haar, aber Yuki wagte es immer noch nicht irgendein Wort zu sagen. Sie rätselte (oder versuchte es, da sie keine Ordnung in ihrem Kopf zu Stande brachte), was mit Onkelchen war und ob er vielleicht doch böse auf sie war. Und warum er dachte, Alice im Wunderland sei ein Junge.

Als Yuki sich das fragte und fast im selben Moment der Geistesblitz in ihr einschlug – den sie aber aufgrund der Kopfschmerzen nicht rechtzeitig einsortieren konnte -, donnerte Myotismons Kopf und er hörte zum ersten Mal seit langem seine eigene Stimme. Nicht die von Alice, nicht die von Sanzomon, nicht die des Herr Dirigenten, sondern seine, das akustische Selbst seines gespaltenen Geistes, das noch immer im Wunderland lag und wartete. Und wartete. Und

(Du weißt warum)

wartete.

„Onkelchen?“

Ihre Stimme riss Myotismon aus seinen Gedanken. Er begann wieder die Wirklichkeit zu erfassen und sah dieses Kind vor sich. Dieses Mädchen, dass wie Alice aussah. Dass wie sein Kapellmeister aussah.

Dann verlor Yuki wieder das Bewusstsein und – wenn auch weiter fragend, wie das alles sein konnte - legte Myotismon sie vorsichtig auf dem Boden ab. Der Schlag und der Sturz hatten ihr doch härter zugesetzt wie erwartet und bei dem Glück, dass Myotismon bekanntermaßen immer hatte, hatte sie noch eine leichte Gehirnerschütterung. Das Kind machte wirklich nur Ärger.

„Wo bist du? Seit wann bist du so feige? Du widerwärtige, missratene Kreatur, jetzt komm schon heraus, wenn du zuvor schon so große Töne von dir gibst!“

Deemon kam wieder näher. Das letzte bisschen Licht, dass noch vom Horizont zu ihnen hinüber schien traf seine Augen so günstig, dass sie wie glühendes Glas aussahen, während er ein Umfeld unter die Lupe nahm. Aber Myotismon schien er nicht zu sehen.

Das war gut, dass hieße, dass er Yuki vorerst an Ort und Stellen liegen lassen könnte, ohne sich Gedanken zu machen. Und das war wichtig, denn Deemon schien immer mehr Probleme damit zu haben, seine neugewonnenen Kräfte und Fähigkeiten im Rahmen zu halten. Wenn das so weiter ginge, verwandelt er noch dieses Viertel in einen Aschehaufen und dann könnte Myotismon seinen Plan vergessen.

Vernichten würde Myotismon ihn nicht können, so realistisch war er. Aber zumindest etwas hinhalten, in der Hoffnung, dass Deemon irgendwann ausgepowert sei oder sich fasste.

„Ich bin hier.“

Myotismon tauchte hinter Deemon auf, entschlossen, aber im Hinterkopf seine Chance ausrechnete und überlegte, wie er Deemon aufs Kreuz nehmen konnte.

Deemon drehte sich um. In den Augen nichts mehr außer Zorn.

 
 

𝅝♭

 

Hisaki Amano verstarb im Jahre 1995, an einem Märztag. Yuki war vor über fünf Monaten erblindet und die letzten Wochen waren stressig für diese kleine und relativ junge Familie gewesen. Ihr Leben war nie vollkommen harmonisch, aber sie waren immer stark genug gewesen über ihre Probleme hinweg ein glückliches Familienleben zu führen.

Yuki wusste, ihr Papa hatte diese Phasen, schon bevor sie überhaupt zur Welt kam. Das man so etwas Depressionen nannte, lernte Yuki erst viel später. Papa nannte es graue Gedanken haben.

„Die Welt, die du siehst ist grau und schnöde, Yuki, aber in deiner Fantasie ist alles klar und bunt. Die Welt, die du vor deinen Augen hast, nun, die habe ich dafür im Kopf“, so oder so ähnlich hatte er es ihr erklärt.

Es war nie ganz offensichtlich gewesen, wie und wann er diese Phasen hatte, da er nicht weniger traurig oder fröhlich rüberkam wie sonst. Doch als Yuki blind wurde und ihr Papa ihr mit enormer Strenge eintrichterte, wie gut sie ihre Umgebung nun erfassen und analysieren musste, begann sie auf die winzigen Kleinigkeiten zu achten. Dass Papa sich in diesen Phasen öfter an das Klavier setzte und gedankenverloren dasaß und im gleichen Gemütszustand in die Tasten klimperte. Dass ihre Mutter ihn zum Joggen überreden musste, obwohl er dass sonst fast jeden frühen Morgen oder Abend freiwillig tat. Dass er kaum etwas aß und allgemein so müde wirkte, doch gleichzeitig hörte Yuki ihn nachts im Haus rumlaufen, da er nicht schlafen konnte. Öfter suchte er die Anwesenheit ihrer Mutter auf und egal ob sie zuvor diskutiert oder gestritten hatten, setzte Papa sich an ihre Seite, schlief mit dem Kopf auf ihren Schultern ein und genauso oft blieben sie auch so zusammen auf der Couch sitzen, bis auch Mama die Augen schloss und mit ihm die Nacht dort verbrachte.

Diese Phasen hielten nie länger wie ein paar Tage, da war Papa wieder dieser ruhige und nette Mann mit einer ziemlich ansteckenden Fantasie, die wohl weder Grenzen noch Boden hatte, eine Fähigkeit, die auch in den Genen seiner Tochter ruhte. Und es war gut so, wer weiß ob sie ohne diese ihre Blindheit so gut weggesteckt hätte.

Was Yuki in diesem Alter jedoch nicht begriff war das diese Phasen, ähnlich wie Mondphasen nur Scheinbilder waren. Denn wie der Mond nahmen die Phasen ihres Vaters mal ab, mal zu, waren vollkommen präsent oder unsichtbar. Aber wie der Mond an Neumond nicht sichtbar war, hieß es dennoch nicht, dass er nicht existent sei.

An dem Tag, als ihr Vater ging, wusste Yuki nicht so recht ob er gerade in einer Phase war oder nicht. Aber er hatte an dem Tag bei ihr gesessen und im Wohnzimmer zuvor noch Duft-Memory gespielt. Eine seiner fixen Ideen, wie er seiner Tochter spielerisch die Sinne schärfte. In einem Arm hielt Yuki die Plüschkatze Snowball, in der anderen ein Plastikdöschen, dessen Inhalt Yuki erkennen sollte. Zuvor hatte sie eines, dass wie das Parfüm ihrer Mutter roch. Nun versuchte sie das zweite zu finden.

„Hattest du Mama denn schon hier gefunden?“

„Ich glaube nicht.“

Konzentriert hielt Yuki die Dose in ihrer Hand, die andere Hand schwebte über den fünf übrigen Dosen. Zwei Paare, die sie bereits gefunden hatte - Sojasoße und Waschmittel mit einem Blüten-Mix-Duft – und standen abseits vom Tisch.

Da Yuki feststellte, dass sie das Gegenstück dazu noch nicht gefunden hatte, blieb ihr nichts wie zu raten. Oder beziehungsweise sich daran zu erinnern, welche sie schon in der Hand gehabt und wohin gestellt hatte. Papa hatte alles sauber in drei Reihen aufgestellt und selbst ein gefundenes Paar auf seiner Seite stehen. Noch halb gefrorenes Laub, dass er von draußen aufgesammelt hatte.

Yuki griff nach einem Döschen ganz links, als sie öffnete und unter ihre Nase hielt vorzog sie das Gesicht.

„Igitt. Wie scharf! Ist das Rettich?“

„Scharf? Ich hab extra einen milden besorgt“, sagte ihr Vater erstaunt, nahm die Dose selbst an sich um zu riechen. Yuki hörte nur, wie er anschließend nach Luft schnappte.

„Ich nehme es zurück“, sagte er und reichte ihr ein Taschentuch. „Das ist der beste Zeitpunkt um Pause zu machen. Man muss seine Nase schonen.“

„Hast du mit deinem Freund auch solche Spiele gespielt, Papa?“

Yuki hörte zwar nichts, dennoch konnte sie sich vorstellen, wie ihr Vater überrascht blickte.

„Mein Freund aus dem Wunderland geht dir wohl nicht mehr aus dem Kopf, wie?“, lachte er und streichelte seiner Tochter über den Kopf. Yukis Vater hatte zuvor schon öfter vom Wunderland gesprochen und Dinge angedeutet. Auf die Frage, wie sein Freund sei, sagte Papa immer, er sei wie der Schwarze König. Er schliefe tagsüber und wäre sehr grantig. Aber jenen gegenüber, die ihm wichtig waren war er freundlich und charmant (was immer das hieß). 

„Wie ist dein Freund noch so, Papa?“

„Mein Freund ist -“, ihr Vater pausierte und überlegte sehr lange, „- manchmal schwierig. Kompliziert. Eigen wie von sich überzeugt. Ich glaube, ich bin ihm sehr oft auf die Nerven gegangen.“

„Wart ihr gute Freunde?“, fragte Yuki gespannt, ihr Plüschtier fest im Arm.

„Ja. Sehr gute Freunde. Niemand in allen Welten kannte mich so gut wie er.“

Auf einmal schien Yukis Vater woanders zu sein. Allein wie seine Stimme leiser wurde und die Bewegung seiner Hände auf ihrem Haar langsamer, ahnte Yuki dass ihr Vater in seiner Gedankenwelt abgedriftet war, in die Welt wo sein Freund war. Zumindest im Geiste.

Yuki wollte ihren Vater etwas träumen lassen, griff mit der Hand neben sich und hatte schließlich ihre Plüschkatze Snowball an der Pfote und zog sie zu sich auf den Schoß. Während die weiße Katze dalag und Yuki sie streichelte, griff sie wieder neben sich um auch Kitti, ihren schwarzen Hund dazuzuholen. Aber sie fand ihn nicht. Ihre Hand fuhr über den Boden, hektischer und schneller, die Couch entlang, aber weiterhin keine Spur von Kitti. Ihr Papa selbst reagierte erst wieder, als Yuki schon unter den Tisch gekrabbelt war, um dort nach ihrem Stofftier zu tasten und sich schließlich in ihrer Hektik beim Aufrichten den Kopf anstieß und zu wimmern begann.

„Yukino.“

Augenblicklich hörte Yuki auf zu winseln, aber rieb sich weiter den Kopf. Schluchzen kamen aus ihrem Hals. Papas Stimme klang streng und tiefer (und dann auch noch ihr voller Name), da wusste Yuki, dass sie etwas verkehrt gemacht hatte.

„Du darfst nicht in Panik geraten. Das habe ich dir doch gesagt. Panik hilft dir nicht. Denk nach, was hast du heute Morgen gemacht? Wo warst du heute schon?“

„Ich... ich...“, begann sie, den dicken Kloß im Hals schluckte sie runter.

„Ich bin aufgewacht. Dann war ich im Bad. Dann nochmal in mein Zimmer. Dann war ich in der Küche. Dann war ich im Wohnzimmer.“

„Hattest du Kitti noch in deinem Zimmer?“

„M-hm.“

Die Aufregung in Yukis Stimme und in ihrem Gesicht war fort. Das Nachdenken und Grübeln hatte sie abgelenkt, was das eigentliche Ziel ihres Vaters war, statt schlicht nach dem Kuscheltier zu suchen.

„Hattest du Kitti in der Küche?“

„M-hmm“, und das war korrekt, Yuki hatte Kitti beim Frühstück auf dem Tisch gehabt, und Snowball auf dem Schoß und offensichtlich hatte sie Kitti genau dort auch vergessen.

„Und wenn Kitti nicht hier ist, ist sie noch in der Küche. Dann hol Kitti schnell.“

Ihre Hände ließen von ihrem Kopf und Yuki tastete sich um die Couch entlang, ging von dort aus gerade aus, wo auch die Küche war. Mit Kitti im Arm kam sie schnell zurück und ergriff auch so gleich Snowball wieder, deren Verbleibsort sie sich diesmal besser eingeprägte. Mit beiden Plüschtieren im Arm stand Yuki vor ihrem Vater. Sie wirkte immer noch bedrückt.

„Entschuldigung, Papa.“

„Das sollst du doch nicht. Mit entschuldigen hilfst du weder mir noch dir. Lerne einfach. Lern nicht in Panik zu geraten, wenn du etwas nicht findest oder nicht weißt, wo du bist. Du musst einen kühlen Kopf behalten.“

Beschämt nickte Yuki nur. Ihr Vater hatte gemerkt, dass er sich wohl doch zu arg im Ton vergriffen hatte – wobei es schon Tage gegeben hatte, wo er wirklich streng und wirklich laut wurde – nahm sie bei den Schultern, um sie zu sich zu ziehen und an sich zu drücken.

„Entschuldigung, Yuki. Ich meine es nicht so. Aber ich glaub du weißt mittlerweile, dass du einen ziemlich doofen Papa hast. Du darfst ruhig mit mir schimpfen, wenn ich so werde. Du solltest dir schließlich nichts gefallen lassen. Du darfst mich auch hauen, so wie Mama letzt. “

An den Abend wollte Yuki nicht mehr denken, als das passiert war.

„Nein. Ich will nicht. Hauen tut weh. Ich will Papa nicht weh machen. Und Mama sagt, man soll nicht immer gleich als erstes zuschlagen, wenn man etwas nicht will“, sagte Yuki, in einer Ernsthaftigkeit, die ihr Vater mehr amüsant fand und zu lachen begann. Die Umarmung wurde fester und er fing an, während er Yuki hielt sie zu schaukeln.

„Gut dass Mama so schlau ist. Nur sag ihr besser nichts davon. Wenn sie anfängt zu schimpfen haben wir beide nicht viel zu lachen. Außerdem brauchen wir eine gute Ausrede für den Soja-Fleck auf dem Boden.“

Die Dose mit entsprechendem Inhalt war nämlich umgefallen.

Yuki nickte mit einem Kichern. Dann spürte sie einen Kuss auf ihrer Stirn – und gleichzeitig, wie ihr Vater nachdenklich seufzte, vermutlich wieder kurz davor, geistig irgendwo anders hinzuwandern. Vermutlich wieder zurück ins Wunderland. Zu seinem Freund, dem Schwarzen König, wie Yuki ihn nannte, da sie sich den Namen nicht gut merken konnte. Ein Name mit -mon am Ende.

Das Telefon holte ihren Papa zurück in die Realität. Noch kurz benommen stand er schließlich auf und hing dann eine ganze Weile am Telefon. Die Leitung wollte nicht so recht, ihr Vater fragte mehrmals, was sein Kollege, der anrief am anderen Ende gesagte. Die letzten Tage schon schien die gesamte Elektronik in ihrem Haus zu spinnen.

Yuki hatte sich mit Snowball und Kitti beschäftigt, war dabei irgendwie an die Fernbedienung gekommen, die den Videorekorder wieder einschaltete. Kikis kleiner Lieferservice hatte Yuki sich zuvor angeschaut, oder vielmehr angehört und pausiert, nachdem ihr Papa mit dem Papierkram fertig war. Nun liefen die letzten paar Minuten des Filmes, den ihre Mutter mal vor Jahren auf Videokassette aufgenommen hatte, bis fast synchron, als ihr Papa den Hörer auflegte ihre Mutter die Türe reinkam.

„Ich bin wieder da!“

„Hallo, Mama“, rief Yuki auf, ihr Stofftier fest an sich gedrückt, hörte wie ihre Mutter die Straßenschuhe auszog und Plastik rascheln – Einkaufstüten, die ihre Mutter abgelegte - und wunderte sich, dass ihr Vater nichts sagte.

„Stimmt was nicht, Hisaki?“ „Die Schule hat angerufen, sie haben die Konferenz auf Heute, statt Morgen verlegt. Mein Kollege sagt, ich soll kommen.“

Yukis Vater war Lehrer an einer Musikschule. Er war zwar kein richtiger Lehrer, aber hatte dennoch immer viel zu tun. Und er schien wie dafür gemacht, so kam es Yuki zumindest vor, schließlich war ihr Vater musikalisch begabt. Aber obwohl ihr Vater die Musik liebte, war es doch gleichzeitig für ihn mit so viel Trauer verbunden. Das und etwas in das ihr Großvater – Papas Vater – involviert war. Daher traute Yuki sich auch nicht mehr zu fragen, ob Papa ihr auch einmal Klavier spielen beibringen könnte. Das hatte sie einmal getan und eine sehr unklare Antwort erhalten. 

„Jetzt noch? An deinem freien Tag?“

„Ist doch gut. Dann wird es Morgen nicht so lange dauern und ich komme eher Heim.“

„Es ist dennoch unverschämt, dich an deinem freien Tag zu belästigen. Du arbeitest genug. Schalte einen Gang zurück.“ „Asami, ich bin nicht -“.

Dann hielt er inne. Yuki hörte ihren Vater kurz darauf tief schnaufen, ebenso ihre Mutter.

Ich bin nicht krank? Wolltest du das sagen?“

„Nicht so, dass ich zu Hause im Bett liegen müsste.“

„Aber genug, um langsam zu machen. Du hast deine Therapie erst vor drei Wochen wieder begonnen. Du musst doch niemanden etwas beweisen, setzt dich also nicht unter Druck.“

„Du interpretierst zu viel in mein Tun hinein.“

„Möchtest du leugnen, dass ich Recht habe?“

Yuki hielt still und hoffte damit automatisch unsichtbar zu werden. Ein richtiger Streit war es nicht. Es war allein Yukis Vater, der sich hineinsteigerte, ihre Mutter hingegen klang überaus ruhig und gelassen und Yuki konnte sich zu gut vorstellen, wie sie mit verschränkten Armen dastand und nur einmal, langsam mit den Augen blinzelte. Unangenehm war es dennoch.

„Vielleicht ist da was dran. Vielleicht.“

„Vielleicht sogar sehr viel? Hisaki, niemand macht dich einen Kopf kürzer, wenn du mal allein an dich denkst. Was soll passieren, außer dass der Direktor schief schaut?“

„Leute tuscheln und lästern, das weißt du.“

„Leute, die mit dem Direktor befreundet sind, wie dein Vater?“

Es war Einbildung, aber Yuki glaubte tatsächlich gehört zu haben wie ihr Vater schwer schluckte und sein Herz heftig pochte. Mama hatte genau das Thema begonnen, über das Papa am wenigsten reden wollte.

„Können wir ihn bitte da raus lassen? Ich sehe ihn in der Musikschule öfter, wie mir lieb ist. Sein elender Kontrollzwang macht aber auch vor nichts halt.“

„Denkst du wirklich, es ist reine Kontrolle?“

„Was sonst?“

„Hisaki, du bist kein Teenager mehr, den man an die kurze Leine legen müsste. Ist es nicht vielleicht so, dass er einfach sehen will, ob du zurecht kommst?“

„Mein Vater hat sich siebenundzwanzig Jahre nicht für mich interessiert,warum sollte er jetzt damit anfangen?“

Ihr Vater schlug auf den Tisch, der Schlag und das Rütteln einer Vase brachte Yuki dazu zusammenzuzucken, mit den Gesicht zwischen ihre Kuscheltiere vergraben, hoffend, dass es nicht in einen Streit ausartet, aber unwahrscheinlich schien. Yukis Mutter hatte schon lange aufgehört sich wegen Themen, die mit Papas Phasen zusammenhingen die Fassung zu verlieren. Es reichte, wenn ihr Ehemann das tat. Also entschied sie sich, den Ruhepole in ihrer Ehe einzunehmen. Ob ihr das leicht oder schwer fiel war jedoch eine andere Frage. Aber, so sagte Yukis Mutter oft, für die Liebe tat man vieles.

„Menschen ändern sich mit dem Älterwerden. Da fängt man an Dinge aus anderer Sicht zu sehen. So wie wir beide“, sagte Mama ruhig, aber Yuki hörte, wie sich ihre Stimme ein klein wenig gehoben hatte.

„Wir beide waren dumme Teenager. Bei meinem Vater ging es schon immer nur um den guten Ruf. Er hat sich nicht einmal blicken lassen, nachdem Yuki krank wurde.“

„Aber er hat angerufen und gefragt.“

„Ja, um zu wissen, ob sie irgendwann wieder sieht! Um mehr geht es ihm nicht. So ist er eben, ihm geht es um Ruf und Ansehen. An Personen selbst hat er kein Interesse. Yuki ist nicht seine Enkelin, genauso wie ich nicht sein leiblicher Sohn bin!“

Ein Stuhl rumpelte, ihr Vater seufzte tief und schwer.

Dafür sah Yuki nicht, wie er nun dasaß und den Kopf schüttelte, der sich schwer anfühlte, aber eigentlich leer war. Nun aber stand sie auf und ging einige Schritte dorthin, wo sie das Zentrum des Seufzens vermutete. Ihr Mutter nahm schließlich ihre Hand und zog Yuki zu sich, damit sie vor ihrem Vater stand. Asami ging in die Hocke. Als Hisaki aufsah, hielt die Hand seiner Tochter und seiner Frau seine eigene fest.

„Verzeiht. Ich bin zu laut geworden“, sagte er, strich Yuki über das Gesicht, die Hand ihrer Mutter umklammerte er fest.

„Du steigerst dich wieder zu sehr hinein. Hätte ich ein Kuckuckskind, hätte ich diesem sicherlich nicht geholfen einen Job als Lehrer zu bekommen, nachdem er so viel Ärger gemacht hat.“

„Weil es ihm um Ansehen ging. Weil er sich geschämt hätte, hätte ich keine vernünftige Arbeit.“

„Und doch bist du Referendar. Du hast vielleicht die Chance auf einen Studienplatz und kannst ein richtiger Lehrer werden. Sagtest du nicht, dass er auf jedem deiner Konzerte in der Schule war? Du weißt, wie beschäftigt er immer war. Glaubst du wirklich, für seinen untergeschobenen Sohn hätte er sich diese Mühe gemacht?“

Wieder ein tiefer Seufzer ihres Vaters. Die ausgehauchte Luft streifte Yukis Gesicht, während sie gespannt auf Papas Antwort wartete, einfach um zu hören was und wie er es sagte, ohne selbst den Sinn zu verstehen. Ihre Mutter, die wieder aufstand nahm Yuki an sich und hob sie auf ihre Arme. Wieder klapperte der Stuhl. Zu der Körperwärme ihrer Mutter kam auch die ihres Vaters hinzu und er drückte sie beide dicht an sich.

„Was würde ich nur manchmal ohne euch machen?“, hauchte Yukis Vater und seine Hand berührte ihr Gesicht, die andere das ihrer Mutter, die immer noch ganz ruhig sprach, aber zufriedener klang.

„Lass mich nachdenken. Kaffee trinken, schlafen, wieder Kaffee trinken, wieder schlafen und vielleicht mit deinem alten NES spielen, ehe du wieder schlafen gehst.“

„Ich würde mich zwischendrin auch mal duschen“, fügte er hinzu, teils sehr ernst, teils scherzhaft. In Yukis Inneren machte sich Erleichterung breit. Nicht nur, dass Papa wieder wie gewohnt nett und sachte sprach wie sonst, da lag wieder diese Stille zwischen ihnen. Nicht diese beklemmende, sondern genau die, die immer dann auftrat, wenn ihre Eltern sich in die Augen sahen, als wären sie immer noch verliebte Teenager.

„Weißt du eigentlich wie sehr ich deinen Blick liebe, Asami?“

„Ich wäre fast geschmeichelt, wenn ich nicht genau wüsste, dass du mich nur mit stumpfen Komplimenten überhäufst, wenn dir nichts mehr einfällt.“

„Aber sie sind ehrlich.“

Yuki hörte das leise Schmatzen eines Kusses und verzog leicht das Gesicht. Knutschende Erwachsene waren peinlich, besonders wenn es die eigenen Eltern waren und egal ob blind oder nicht, die Bilder, wie ihre Eltern - oder andere Pärchen in Filmen a la Walt Disney - ihre Lippen aneinander drückten wurde Yuki nicht los. Auch nicht, als ihr Vater ihr auch noch einen Kuss (allerdings auf die Wange) gab.

„Versuch es weiter. Du hast schon so viel geschafft. Denk an das, was Touko zu dir gesagt hat.“

„Denk an deinen Freund im Wunderland“, sagte Yuki laut, sogar sehr streng für ein Kind. Ihre Mutter blinzelte erneut sehr langsam und neben ihrem ganz besonderen Blick kam noch ein Mundkräuseln hinzu.

„Du hast ja Recht. Ich muss für sie auch weitermachen.“

„Nein. Du sollst nur daran denken, was sie zu dir gesagt haben. Weiter machst du nicht für sie. Auch nicht für mich oder Yuki. Sondern ganz allein für dich, Hisaki.“

Mit vier Jahren kannte Yuki ihren Vater gut genug, um zu wissen, dass er in diesem Moment die hellblauen Augen zur Seite wandern ließ, versuchte nachzudenken, aber so viel im Kopf hatte, dass er nicht wusste wohin mit den Gedanken, ähnlich einer mannigfaltigen Weggabelung ohne jede Ausschilderung.

Kikis kleiner Lieferservice war zu Ende und ehe der Abspann überhaupt begann, flackerte ein kurzes Rieseln über den Bildschirm, ehe der nächste Film anfing, den ihre Mutter mal vor Jahren aufgenommen und auf die Kassette gespielt hatte. Asami hatte ihn aufgenommen, wegen der Kurzgeschichte eines amerikanischen Horrorschriftstellers, mit dem Titel DIE LEICHE, die sie im Rahmen einer größeren Arbeit im Englisch-Unterricht lesen musste. Yuki kannte nur den umgeänderten Filmtitel, da das Eröffnungslied genauso hieß und ihr Vater mal erwähnte, dass die Melodie ganz simpel auf dem Klavier zu spielen wäre, und daher gut für Anfänger sei – es hieß Stand by me.

Der Song lief keine zehn Sekunden, da war Yukis Vater auf die Fernbedienung losgestürmt, regelrecht gesprungen wie ein Raubtier auf die Beute und drückte wild alle Knöpfe, bis der Fernseher erst stumm und dann ganz aus war. Yuki wusste, ihr Vater mochte das Lied nicht und Asami wusste auch warum. Stand by me war das erste Lied, dass Hisaki von seinem Vater, einem Klavierspieler und Komponisten beigebracht bekam und der erste Song, den er mit seinen Freunden auf einer Bühne in der Schule spielte. Die Freunde, die wie er in den Wunderland-Fall verwickelt waren, von denen nun keiner mehr lebte. Auf jeder Beerdigung hatte er dieses Lied spielen müssen. Zuletzt auf Touko Nakatanis Beerdigung (und der ihres Mannes, der mit ihr verunglückt war). Ganz alleine.

„Ich glaube, ich brauche etwas Zeit“, murmelte er, dabei auf den Boden kniend. Den Kopf ließ er hängen, bis Yukis Mutter neben ihm saß. Yuki selbst hatte sie auf ihre eigenen Beine gestellt und da sie merkte, dass im Verstand ihres Vaters wohl sehr viel los war, streckte sie die Arme von sich, um eine Umarmung zu signalisieren. Ihr Vater nahm sie an.

„Aber ich muss es versuchen. Zur Konferenz gehe ich trotzdem, ich habe immerhin zugesagt. Dafür gehe ich Morgen früher. Ich versuche, die Sache etwas lockerer zu sehen.“

„Nicht einfach lockerer. Lass dich einfach mal fallen. Und dich tragen. Das ist nichts, wofür du dich schämen musst.“

Sie gab ihm wieder einen Kuss. Einen kurzen, aber ausreichend, dass damit nicht nur Lippenstiftreste am Mundwinkeln haften blieb, sondern auch um Hisaki die Kraft zu geben wieder aufzustehen, mit seiner Tochter im Arm. Er übergab sie wieder ihrer Mutter.

„Ich beeile mich. Bin bald wieder da.“

„Jetzt geh endlich“, rief Yukis Mutter ihm nach, mit einem Lachen darin. Weder sie oder Yuki zweifelten an diesen Worten. Ihr Papa versprach ihnen viel, aber er hielt es oder bemühte sich, sie einzuhalten. Doch ihr Vater würde an diesem Tag gleich zwei Versprechen brechen.

Am Abend, als es bereits dämmerte und die Tür klingelte, hatte sich ihre Mutter noch geärgert, dass ihr Mann so lange brauchte um Heim zu kehren. Bestimmt machte er doch Überstunden und er hatte nichts gesagt, aus Angst in ein schlechtes Licht zu rücken und dessen Schatten würde bis zu seinem Vater reichen, der Stammgast in der Musikschule war und ein Freund des Direktors.

Als es dann aber klingelte war sie heilfroh, obwohl sie sich eher wundern müsste, warum Hisaki nicht den Schlüssel benutzte. Vielleicht hatte er noch etwas besorgt und die Hände voll. Vielleicht auch in der Schule vergessen.

Yuki war schon gespannt auf die Ausrede und wartet, dass ihre Mutter im scherzhaften Ton schimpfen oder einfach lachen würde. Aber es blieb ruhig. Die Stimmen, die Yuki hörte waren zwei fremde Männer. Dann war wieder still. Yuki saß in der Küche, das Abendessen stand vor ihr, aber sie und Mama hatten noch auf ihren Vater gewartete. Nun wartete sie auch noch auf ihre Mutter, die im Wohnzimmer bei den fremden Herren saß, ihre Stimme zwar hörte, aber nichts verstand.

Dann hörte sie ihre Mutter schreien, regelrecht brüllen, „Nein, Nein!“ und „Sie irren sich! Das kann nicht sein! Sie haben sich sicher geirrt, dass muss ein anderer Hisaki sein!“. Wieder Stimmen. Dann Weinen.

Nun doch neugierig was los war sprang Yuki von ihrem Stuhl, tastete sich die Möbel und Wände entlang in den Raum, in dem ihre Mutter mit dem Besuch war. Sie weinte, laut und schnappte nach Luft, dass man glauben könnte ihre Mutter erstickte beim Atmen.

„Mama? Was ist denn los?“, rief Yuki in den Raum. Ihre Mutter gab keine Antwort, ihr Weinen war so laut, dass sie nichts anderes hörte. Was Yuki hörte, war das jemand zu ihr hinging.

„Ist es in Ordnung, wenn ich es ihr sage, Frau Amano?“, fragte eine relativ junge, männliche Stimme. Kein Laut, Yukis Mutter hatte nur stumm genickt.

„Wer sind Sie?“, fragte Yuki nun den Mann, der vor ihr war.

„Ich bin Hiroki Hida. Ich bin Polizist. Und wie heißt du, junge Dame?“ „Ich heiße Yukino. Aber sagen Sie, was hat Mama denn? Wieso weint sie?“

Der nett klingende Polizist, den Yuki in ihrem Kopf schon Onkelchen nannte, wie sie es bei jedem Herren tat (eine Eigenart, die sie von ihrem Vater abgekupfert hatte), sagte nichts. Er nahm sie bei der Hand, führte sie wieder zurück in die Küche und setzte sie wieder auf den Stuhl. Yuki roch etwas, dass Kaugummi ähnlich war. Der Polizist war etwas in die Knie gegangen und war mit ihr auf Augenhöhe.

„Hat Mama etwa was angestellt? Sind sie deswegen da?“

„Nein. Wir sind hier wegen deinem Papa.“

„Hat Papa was angestellt?“, fragte Yuki noch nervöser und ebenso nervös fummelte sie an der Spitze ihres Rocks herum. Der Polizist, der bereits gemerkt hatte, dass die Kleine mehr wie nur schlecht sah, griff nach dem schwarzen Plüschhund, der auf einem anderen Stuhl zusammen mit der weißen Katze saß und drückte sie Yuki in die Hand.

„Nein, dein Papa hat nichts angestellt. Es ist mehr -“, begann der Polizist und sein freundlicher, entspannter Ton wich. „Ich komme gerade mit meinem Kollegen vom Bahnhof. Heute Nachmittag schien etwas mit der Elektronik nicht zu stimmen. Es gab ein ziemliches Durcheinander. Da waren sehr viele Menschen. Ein paar Leute sind auf die Gleise gefallen, wo die Züge fahren. Dein Papa auch.“

„Ist Papa okay? Hat er sich weh getan? Oh Nein, ist Papa im Krankenhaus? Da war ich auch schon, da ist es total öde!“

„Dein Papa ist nicht im Krankenhaus, Yukino“, antwortete der Polizist und seine Stimme war nun noch schwerer.

„Aber wo ist Papa? Wann kommt er?“

„Dein Papa... Er kommt nicht nach Hause. Er kommt nie mehr nah Hause.“

Stille. Mamas Schluchzen war leise geworden, aber man hörte es noch. Yuki saß da, den Mund offen und die Augen so starr, als hätte man sie unter Medikamente gesetzt.

„Aber Papa hat gesagt, er kommt bald. Papa kommt immer nach Hause. Wo ist er?“

„Ich weiß nicht, wie ich es dir erklären soll“, sprach der Polizist weiter, nicht nur betrübt, sondern nun auch sehr verzweifelt. „Dein Papa ist nicht mehr hier. Er ist da, wo keiner von uns hin kann. Dein Papa ist tot.“

In Yuki rührte sich weiterhin nichts. Im Alter von vier Jahren konnte sie mit diesem Wort nichts anfangen. Einzig, was Yuki in Verbindung mit der Beschreibung tot kannte, war eine defekte Telefonleitung. Vielmehr interessierte Yuki das Wo. Und als der Kollege dieses Polizisten kam, sagte, dass sie noch so lange bleiben würden, bis die Eltern von Frau Amano da sein, um ihr weiter seelischen Beistand zu leisten, hatte Yuki einen Verdacht wo Wo sein sollte. Wunderland.

 
 

 

Der Beerdigung ihres Vaters wollte man schnell hinter sich bringen. Der Grund dafür war wohl, so wie Yuki es mitbekam, weil der Körper ihres Vaters „ziemlich übel zugerichtet wurde, man hat ihn zusammenflicken müssen, dieser beschissene Zug hatte ganze Arbeit geleistet!“, so Kollegen und Freunde.

Das Bestattungsinstitut in dem sie die Beisetzung zelebrierten war voll. Es kamen Kollegen von ihrem Vater und auch von ihrer Mutter. Schüler ihres Vaters. Freunde, entfernte Verwandte, Nachbarn. Leute von der Bahngesellschaft kamen um sich zu entschuldigen, sie konnten sich nicht erklären wieso die Züge an dem Tag verrückt spielten und einfach losfuhren, aber man bemühe sich der Ursache auf dem Grund zu gehen, nicht nur wegen ihrem Papa – dem einzigen Todesopfer – sondern auch wegen der vielen Verletzen der Massenpanik und den Mitarbeitern, die sich Schuldvorwürfe machten.

Yuki saß während der Totenwache zwischen ihrer Mutter und ihrer Oma, ihr Opa neben dieser und weiter die Reihe entlang auch ihr Großvater und ihre Großmutter (die drei Jahre später an Bauchspeicheldrüsenkrebs erkrankte und verstarb). Und vor ihr sollte ihr Vater sein, eingehüllt in einem weißen Gewand, während sie selbst alle schwarz trugen. Selbst über seinem Gesicht sollte ein weißes Tuch liegen da „der beschissene Zug ganze Arbeit geleistet hatte“. Aber Yuki konnte sich das nicht vorstellen. Während alle ihren Kopf senkten und vor dem Leichnam knieten, starrte Yuki geradeaus und stellte sich Fragen. Sie dachte, ihr Vater sei fort. Warum lag er dann da? Was war tot?

Fragen könnte sie wohl niemanden. Ihr war es peinlich etwas zu sagen, alle anderen waren so ruhig und schweigsam. Und ihr Vater, der angeblich genau vor ihr lag würde in Anbetracht des peinlichen Schweigens und der Tatsache, dass er im Mittelpunkt stand – was er nie mochte - auch nichts sagen.

Von Fragen und Neugier übermannt wagte Yuki ihre Hand langsam auszustrecken. Selbst wenn sie hätte sehen können, hätte sie nicht geschaut, ob das jemand merken würde. Vor ihr war ihr Vater, das zählte.

Sie spürte den Stoff des Gewandes mit ihren Fingerspitzen, dann legte sie ihre Hand ab. Yuki berührte seinen Oberarm. Er war eiskalt, trotz des Stoffes. Kalt, nicht aber wie kaltes Metall, nicht wie ein Stein, der im Schatten lag, nicht wie wenn jemand fror, weil er in ein Schneegestöber geraten war. Weich wie ein menschlicher Körper eben. Aber kalt. Einfach kalt.

„Yukino, nicht!“, schimpfte ihre Oma, aber flüsternd, packte Yuki am Handgelenk und zog ihre Hand vom toten Körper ihres Vaters weg. „Man fasst keine Toten an! Das ist unrein, das macht man nicht!“

„Aber, Oma, i-ich wollte -“, stotterte Yuki erschrocken, und dass hatten wohl auch die anderen, die um sie herum saßen bemerkt. Sie hörte, wie jemand aufstand. Es war ihr Opa.

„Saeko, ich glaube, das ist für Yukino nichts. Ich gehe mit ihr nach draußen. Es ist ohnehin besser, wenn sie nicht mit ins Krematorium geht. Ist dir das Recht, Asami?“

Ihre Mutter sagte nichts, sie hatte sich auf ein Nicken beschränkt. Ihr Opa ergriff seine kleine Enkelin und hob sie hoch, dass damals, wo er noch etwas jünger und dünner war und noch keinen Bandscheibenvorfall hatte für ihn auch kein Problem war. Yuki hört beim rausgehen nichts. Niemand sagte etwas. Dabei hätte sie gerne die Stimmen von Großvater und Großmutter, also Papas Eltern gehört. Sie hatten den ganzen Tag nichts gesagt. Yukis Oma war ohnehin überrascht, dass sie überhaupt kamen. Oma mochte Papas Eltern nicht und das aus einem guten Grund. Weil Großvater ihrem Papa beigebracht hatte, neben dem Klavier spielen was ein Kuckuckskind war. Deutlich beigebracht.

Mit Draußen meinte ihr Opa wirklich draußen. Die Luft an dem Tag war kühl, viel zu kühl für Ende März. Aber anders wie drinnen war es hier laut. Hier waren so viele Leute und sie sprachen durcheinander und Yuki machte das nervös, weil die gesprochenen Worte sich vermischten und sie nicht wusste, wo sie denn hinhören sollte.

„Yukino, macht es dir was aus wenn ich kurz rauche?“, fragte Opa. Yuki schüttelte den Kopf und er setzte sie wieder auf ihre eigenen Beine. Damals rauchte Opa öfter, aber im Laufe der nächsten viereinhalb Jahre würde er es sich abgewöhnen. In der Ecke wo sie beide standen – nicht weit vom Eingang entfernt, unter einem Baum, der keinerlei Anschein machte dass er in drei, vier Wochen komplett rosa sein würde, standen auch Bekannte von ihrem Vater. Und so wie es roch, rauchten sie ebenso.

„Und du bist dir sicher, Takashi?“

„Sicher bin ich mir überhaupt nicht. Es war viel los auf dem Bahnhof. Die Leute sind durchgedreht, als die Züge losfuhren. Teilweise sogar mit offenen Türen. Leute sind raus gefallen. Aber es war einfach komisch.“

Yuki kannte den Namen und die Stimme. Takahashi war ein Kollege von Papa. Die Stimme gehörte Onkelchen Eri, ein guter Freund ihres Vaters (von früher als er noch Mist baute hatte ihr Vater erklärt).

Beide Männer sprachen recht leise, aber Yuki stand mit ihrem Opa recht günstig neben dem Baum, dass sie doch etwas hörte. Breit genug schien der Baum zu sein (fühlte sich zumindest so an), dass man sie nicht sah. Ihr Opa, entweder doch schon recht alt, mit weniger geschultem Gehör oder einfach nur fertig mit allem, bekam weniger mit.

„Hisaki stand nur da und hat in die Leere gestarrt. Ich weiß, er hatte das öfter. Aber das war gruselig. Ich stand neben ihm und er hat mich überhaupt nicht gehört. Er hat was gemurmelt.“

„Was denn?“

„Keinen Plan. Fragen konnte ich nicht, da haben die Leute uns weggeschubst. Er hat was mit -mon am Ende gesagt. Oder was ähnliches. Und...“

Ein tiefes Pusten. Mehr Zigarettenqualm lag in der Luft, der durch den Wind direkt in Yukis Richtung flog.

„Sag das keinem, aber ich meine gesehen zu haben, dass Hisaki auf die Gleise zugelaufen ist.“

„Du meinst, er -“

„Pscht! Häng das nicht an die große Glocke, Eri! Ich bin mir ja selbst nicht sicher und ich will nicht, dass seine Familie Ärger bekommt, weil ich denke was gesehen zu haben. Wenn die Bahngesellschaft hört, dass er eventuell Selbstmord begangen hat, kriegen sie keine Abfindung. Am Ende verklagen die seine Frau noch, weil der Zugführer des Zuges, der ihn überfahren hat traumatisiert ist.“

Mehr Rauch. Yuki lehnte sich an den Baum. Sie hatte Bauchweh, auch wenn sie die Hälfte des Gesprochenem nicht verstand. Sie wusste nicht, was Selbstmord war. Aber sie verstand, dass da Papas Phasen irgendwie damit zusammenhingen. Nur nicht wie.

„Denkst du, er hat es wirklich getan, Eri? Ihr habt zusammen gewohnt, du musst es doch wissen.“

„Keine Ahnung. Du weißt doch, wie verschlossen Senpai war. Er hat nie viel erzählt“, seufzte Onkelchen Eri. „Aber er konnte mit Schicksalsschlägen immer schwerer umgehen. Als meine Kana starb, war er fast betrübter als ich. Als eine Freundin von ihm starb, muss es richtig schlimm geworden sein. Seine Tochter ist vor kurzem blind geworden. Vielleicht wurde es ihm – das alles – doch zu viel. Senpai war da mal in was verwickelt, in den selben Vorfall wie Kana und ihre gemeinsamen Freunde. '79 war das. Mal von dem Wunderland-Fall in Hikarigaoka gehört?“

„Grob.“

„Sie waren damals plötzlich weg und tauchten am nächsten Tag ganz verstört wieder auf. Ein Junge wird bis heute noch vermisst. Was immer da war, es hat ihn nie losgelassen. Sogar Kana hatte Albträume davon.“

„Also meinst du, deswegen hat er Depressionen bekommen?“

„Ich kann dir nicht sagen, was Senpai dachte. Aus ihm wurde man nur schwer schlau. Aber er hat gerade seine Therapie wieder angefangen. Ich habe einen Cousin, der hat sich da in diesem Suizidwald am Fuji erhängen wollen. Er sagte, die ersten vier Wochen nach Therapiebeginn sind die Schlimmsten.“

Onkelchen Eri und Papas Kollege gingen, nachdem sie ihre Zigaretten ausgeraucht hatten und es ihnen allmählich zu kalt wurde. Yukis Opa hatte sich kaum gerührt, er hatte von dieser Unterhaltung wirklich nichts mitbekommen. In Yuki, die dafür alles gehört hatte kreisten zwei Worte. Selbstmord war das eine. Und je öfter sie es in ihrem Kopf aussprach, so paradoxer klang es.

Das andere war dieses -mon. Papas Freund endete auf -mon. Sein bester Freund, der Schwarze König der im Wunderland war. Aber nun war Papa fort und fort hieß woanders. War Wo doch das Wunderland? War ihr Papa ins Wunderland gegangen? Er sagte, er vermisste seinen Freund. Niemand verstand ihn so gut wie dieser Freund. Vielleicht vermisste Papa ihn einfach zu sehr und war deswegen in diesen Phasen. Und ins Wunderland konnte man nicht so einfach. Selbst ihr Vater wusste lange nicht wie er wieder dorthin kam. Vielleicht hatte er es doch herausgefunden.

Yuki glaubte fest daran, dass ihr Vater einfach wieder zurück ins Wunderland gegangen sei. Und dass das, was sie gespürt hatte nicht ihr Vater war. Kein menschlicher Körper fühlte sich so an. Und was hatten die Leute gesagt? Zusammengeflickt? Menschen flickte man nicht. Schaufensterpuppen vielleicht und das war vielleicht das, was da vor ihr gelegen hatte und verbrannt wurde. Ihr Vater war im Wunderland.

Einzig was Yuki Selbstbewusstsein diesbezüglich runterschraubte war die Frage, warum er sie und Mama dann nicht mitgenommen hatte.

 
 

 

Die ersten zwei Wochen weinte Asami Amano nur. Ihre Eltern kamen täglich im Wechsel und blieben nicht selten über Nacht, um nach Yuki zu sehen, während ihre Mutter versuchte mit der Trauer fertig zu werden. Nach drei Wochen wurde es langsam besser und die Besuche von Oma und Opa dehnten sich von täglich auf alle drei Tage. Nicht zuletzt auf Bitten von Yukis Mutter. Ihr tat die Fürsorge gut, aber sie brauchte Abstand. Daraufhin blieb auch Yuki eine Woche bei ihren Großeltern.

Diese waren von der emotionalen Gelassenheit ihrer Enkelin etwas überrascht. Während ihre Mutter nicht einmal zu einem Lächeln zu bringen war, schien Yuki im Vergleich ganz normal. Sie sagte, ihr Vater sei im Wunderland und man ließ sie in dem Glauben. Ihr Opa Katsuya sagte, dass sei vielleicht ihre Art der Trauerbewältigung. Immerhin, sie hat ihren Vater verloren, der das Wichtigste überhaupt für sie war. Das Kinder sich mit den Gedanken trösteten, dass der Verstorbene nun im Himmel sei oder an einem besseren Ort war etwas vollkommen normales.

Wenn es emotionale Regungen seitens Yuki gab, dann war es Zorn. Denn nicht nur die Arbeitskollegen ihres Vaters hatten den Verdacht, dass dieser Unfall gar nicht einmal so sehr ein Unfall war. Dass Hisaki Amano psychisch nicht auf der besten Höhe war war in dem Wohnblock, wo Yuki und ihre Mutter wohnten bekannt (was neben den Geldangelegenheiten der Hauptgrund war, warum sie später nach Odaiba zogen). Beweise gab es keine. Offiziell war es ein Unfalltod als Folge der Massenpanik. Warum und weshalb die Züge verrückt spielten konnte nie geklärt werden. Die Überwachungskameras gaben ebenso wenig Aufschluss. Man sah ihren Vater nur auf den Zug wartend stehen, dann fiel die Kamera aus.

Nichtsdestotrotz hinderte es die Nachbarn nicht daran darüber zu tuscheln, dass es vielleicht doch Suizid war und dass Yuki hören musste, dass ihr Vater sie und ihre Mutter angeblich in Stich gelassen und sein Versprechen gebrochen hätte brachte ihr Gemüt zum kochen.

Unter normalen Umständen hätte sich auch ihre Mutter effektiv zur Wehr gesetzt, doch die Trauer fraß sich zu tief in ihr Herz. Sie war die einzige Person auf der Welt, der Hisaki das anvertraut hatte, was er in seinen Albträumen sah. Es klang so unglaublich wie unglaubwürdig, wie in einem Fantasy-Roman. Andererseits, warum sollte er sie anlügen und sich das ausdenken?

Hisaki erzählte zwar nichts bis aufs kleinste Detail, aber doch genug für jemanden wie ihn, der einen solch verschlossenen Charakter hatte. Von fremden Ländereien. Von Krieg und Verfolgung. Von Hinrichtungen und Umprogrammierungen. Vom Tod seines besten menschlichen – dass er das so deutlich erwähnte, machte Asami schon stutzig – Freundes. Von Abgründen. Seinem besten (nichtmenschlichen) Freund, den er so schrecklich vermisste und allein gelassen hatte. Die Tatsache, dass man ihm und seinen Freunden, die mit dabei waren nicht geglaubte. Man hielt sie nur für verrückt und seine eigenen Eltern schwiegen die Sache tot, in der Hoffnung das lege sich irgendwann und dann würden es alle vergessen. Das war schließlich ihre liebste Methode. Dinge unter den Teppich kehren.

„Hätte ich ihm mehr glauben sollen?“, fragte sich Asami, aber sie fragte niemanden direkt. Sie fragte immer nur sich selbst, unabhängig davon, ob ihre Eltern oder ihre Tochter in Hörweite waren oder nicht. „Hätte ich mehr machen sollen? Habe ich ihn unter Druck gesetzt? Hat er etwa wirklich...?“

Irgendwann fing auch Asami an zu glauben, dass hinter dem Tod ihres Mannes mehr war. Der Verlust brach ihren sonst so eisernen Willen und machte sie anfällig für diese üble Nachrede. Dass zumindest Yuki nicht in Trauer unterging, weil sie sich in die Vorstellung flüchtete, ihr Vater sei im Wunderland erleichterte ihre Mutter doch ein wenig. Irgendwo dachte sie auch, Yuki zeigte ihre Trauer einfach nicht, um ihrer angeschlagenen Mutter keine Last zu sein. Stress konnte sie nicht gebrauchen (hatte Opa gesagt).

Zur Last fallen wollte sie wirklich nicht. Aber sie glaubte fest daran, dass Papa im Wunderland sei. Er hatte es irgendwie geschafft und war nun bei seinem Freund und war glücklich und hatte keine Phasen mehr. Dass er sie nicht mitgenommen hatte war vielleicht ein Versehen. Schließlich hatte Papa die Spieluhr und die Kette nicht mitgenommen. Sicher hatte er sie für Yuki da gelassen, damit sie nachkommen könne.

Mama wollte die Spieluhr und die Kette wegwerfen, die noch bei Papas Habseligkeiten waren. Aber Yuki hat sie sich krallen können und versuchte die Musik zu laufen zu bringen. Ihr Papa sagte, das ginge nur im Wunderland so richtig. Die Spieluhr und die Kette waren der Schlüssel zum Wunderland, die Dinge, die ihr Onkelchen und der Jabberwock, die sie in vier Jahren treffen würde vor ihr als Digivice und Wappen bezeichneten.

Yuki hatte es versucht. Sie bekam die Spieluhr nicht an. Und Yuki ärgerte es. Schließlich wollte sie Papa nicht nur wiedersehen – ganz zu schweigen von Mama, wie sie sich freuen würde, wenn sie Papa im Wunderland trafen -, sondern auch seinen Freund kennen lernen. Aber sie versuchte es weiter, so sehr, dass sie nicht merkte, wie ihre Mutter sporadisch die Sachen ihres Vaters wegräumte.

Erst nachdem ihr Papa die vierte Woche tot war merkte Yuki es. Ihre Mutter befand sich unter der Dusche, während Yuki im Schlafzimmer auf dem Bett sitzend weiterhin versuchte die Spieluhr zum laufen zu bringen. Sie hörte mit einem Ohr dem Rauschen des Wassers zu, während sie sich mit dem anderen, zusammen mit ihren übrigen Sinnen die noch funktionierten auf das Gerät in ihren Händen konzentrierte. Es tat sich nichts.

Yuki ließ sich mitten aufs Bett fallen und neben ihr fiel etwas mit, teils sogar auf sie drauf. Sie hatten einen Wäschestapel, der neben ihr lag umgeworfen. Leichte Platten von zusammengelegten Kleidungsstücken, die Yuki nahm und vorsichtig beiseite legte, bis sie zumindest ein Hemd in der Hand hielt, aus spürbar dicken Stoff. Ein langärmliges Hemd mit einem Rollkragen. Das konnte nur von ihrem Vater sein, denn Mama trug so etwas nicht. Sie hatte begonnen die letzten Sachen von Papa auszusortieren.

Yuki drückte das Hemd an sich. Der Tag war frisch und windig und sie hoffte so auf etwas Wärme. Aber sie spürte nichts. Sie roch nichts. Da war nichts.

Sie hielt Papas Hemd in der Hand, aber es machte nicht den Eindruck, als ob es sein Hemd wäre. Papas Hemden waren warm und rochen nach dem Parfüm, dessen Name irgendwie sehr französisch klang. Aber vor allem rochen sie nach ihrem Vater.

Aber das, was Yuki da hielt war nur ein schnödes Rollkragenhemd, das jede persönliche Note durch Waschgänge verloren hatten, ganz zu schweigen von der Tatsache, dass es seither unberührt im Kleiderschrank lag. Ihr Vater hatte es nicht mehr angezogen. Er würde es nie mehr anziehen und das würde für immer ein stinknormales Hemd bleiben.

(Yuki du musst besser aufpassen denk nach achte genau auf deine Umgebung)

Das tat sie, seit langem einmal wieder und ihr Kopf fing an die Sinnesreize zu verarbeiten, die sie in den letzten Wochen aufgenommen, aber nicht verarbeitet hatte. Dass beim Esstisch nur noch zwei Teller und Schüsseln klapperten, statt drei. Dass sie nur noch die Schritte und die Stimme ihrer Mutter hörte. Wenn Yuki vom Kindergarten abgeholt wurde, hieß es nur noch „Hallo Mama“, nicht mehr „Hallo Mama, Hallo Papa!“. Auf der Couch oder im großen Elternbett hatte Yuki immer zwischen ihrer Mutter und ihrem Vater gesessen oder gelegen. Nun waren ess nur noch Mama und sie. Denn Papa war weg und all dass, was Yuki fernab ihrer Blindheit mitteilte, dass er da war. Seine Anwesenheit war weg. Und das würde sich nie ändern.

Dann begriff Yuki, was tot eigentlich bedeutete. Und sie begann zu weinen.

„Yuki? Was ist passiert?“, rief ihre Mutter aus dem Flur und kam, im Bademantel eingewickelt und noch feuchten Haaren. Eine Antwort erübrigte sich aber, als Asami Yuki auf dem Bett sitzend saß, heulend, mit dem Kragenhemd ihres toten Ehemannes in ihr Gesicht gedrückt.

„I-I-Ich vermisse Papa!“, weinte sie. Ihr Mutter setzte sich neben sie und drückte Yuki an sich. Gleichzeitig war sie froh, dass Yuki endlich begann zu trauern. Sie hatte es begriffen. Papa war nicht im Wunderland und er war auch nicht einfach weg. Er war tot. Das hatte Yuki verstanden. Und irgendwo nährte es weiter ihren Zorn auf jene, die immer noch sagten, der Tod ihres Vaters sei ein Freitod gewesen. Niemals hätte er das freiwillig getan. Nie hätte er seine Familie so zurückgelassen. Er war immerhin ein Erwachsener, er verstand was tot hieß und wie schrecklich das für jene war, die nicht tot waren. Nie hätte er sein Versprechen gebrochen. Sein Freund wartete schließlich auch auf ihn. Ob dieser wusste, dass Papa tot war?

Es war kein Suizid. Aber wer sollte ihr glauben? Selbst Yuki tat sich schwer damit es weiter zu glauben, wenn doch die Welt da draußen nur das Gegenteil dachte. Sie wollte nicht, dass man weiter so schlecht über ihn sprach oder dass ihre Mutter sich weiter Vorwürfe machte. Das hätte ihr Vater nie gewollt.

Aber wie wollte sie das Gegenteil beweisen? Sie hatte nichts.

Nichts außer Papas Spieluhr, die nur er und sein Freund bedienen konnten. Außer Papas Kette, die für ihn und seinen Freund wichtig war. Sein Freund, der Schwarze König, der im Wunderland auf ihn wartete.

Während Yuki ihr mit Tränen verschmiertes Gesicht gegen den Körper ihrer Mutter drückte, fasste sie den Entschluss, nach dem Kaninchenloch zu suchen, wie eben auch nach dem Schwarzen König. Vermutlich musste sie ihn auch noch wecken, dass könnte sogar noch schwieriger werden, so tief wie er bekanntlich schlief. Aber versuchen musste sie es. Schließlich kannte niemand ihren Vater besser als dieser Freund. Wenn es jemanden gab, der aufrichtig und ehrlich sagen konnte, dass ihr Vater sich nicht umgebracht hatte, dann war er es.
 

♫♯

 

Yuki kam nur langsam wieder zu sich, nicht mehr so sicher, was vorher geschehen war. Ihre graue Welt drehte sich – zumindest fühlte es sich so an – und sie hatte einen penetranten, metallischen Geschmack im Mund. Ihr war noch etwas schwindlig, als sie sich aufrichtete. Das Gesicht tat weh.

Obwohl sie noch etwas benommen war, begann Yuki sich zu fragen wo sie war und versuchte zumindest das Wo zu beantworten, aber sie hatte keine Ahnung wo Wo war. Der Boden unter ihr war rau und sie war draußen, aber die hörte nichts was vertraut schien. Um sie herum lag nichts außer Kies und Sand und sie hörte auch niemanden. Nichts war hier, an dem sie sich orientieren konnte und während Yukis Hand über den Boden hin und her glitt, geriet sie immer mehr in Panik. Sie griff an ihre Hosentasche, aber ihr Blindenstab war weg. Ihr Herz schlug so hart, dass ihr die Brust wehtat und die Luft ausblieb. Der Schmerz und die anhaltende Panik, die ihr kein bisschen half, so dass Yuki nicht einmal mehr sicher war wo rechts oder links sei, brachten sie fast dazu zu weinen.

(Yukino)

Die Stimme ihres Vaters sprach zu ihr und automatisch griff Yuki nach dem Wappen, dass für sie immer noch nur ein normaler Anhänger war. Sie nahm es in die gefalteten Hände und legte ihr Kinn darauf ab.

(Yuki du musst besser aufpassen denk nach wo warst du heute schon)

„Ich bin in Odaiba... Ich war mit Mama Papa besuchen. Ich war im Krankenhaus.“

Yukis Atemzüge wurden langsamer. Ihr Herzschlag war noch schnell, aber es schmerzte nicht mehr.

„Ich bin mit der Bahn wieder Heimgefahren. Ich war im Park schaukeln.“

Es hätte auch anders sein können, aber nachdem Yuki sich beruhigt hatte, war sie sich wieder sehr sicher, dass sie in Odaiba war. Während sie versuchte ihren Standort weiter und genau zu bestimmen, überlegte sie gleichzeitig, was passiert war bevor sie in ihrer grauen Welt Sternchen gesehen hatte. Behutsam tasteten sich ihre Finger über den Boden und nun traute Yuki sich auch ihren Radius zu erweitern. Rechts von ihr war eine Wand, aber sie fühlte noch den nackten Beton. Sie ragte weiter nach links und fühlte Steine. Als Yuki sich auf ihre wackligen Beine stellte, pfiff ihr der Wind laut um die Ohren. Aber bei weitem lauter war das Wellenrauschen und da ihre kurze Hysterie nun abgeklungen war, hörte sie das Wasser und wie die Wellen gegen Wände schlugen.

„Ich...“, sagte Yuki weiter auf, dann hörte sie einen Donnerschlag und zuckte zusammen. Da erinnerte sie sich wieder an Onkelchen, nicht nur dass sie ihn am Nachmittag getroffen hatte, sondern an alles. Ihr Kopfkinos endete damit, dass sie den Jabberwock angebrüllt hatte, dann ein Schnitt ins Schwarze.

Ihre Wange begann zu zucken und da merkte Yuki wieder, wie weh diese tat und woher dieser Geschmack nach Blut herkam. Der Jabberwock hatte ihr eine verpasst.

„Blöder Jabberwock...“

Wieder donnern. Fledermäuse. Das alles geschah irgendwo über ihr. Kämpfte sie etwa? Aber hatte Onkelchen nicht gesagt, der Jabberwock war in seiner neuen Form stärker als er? Was, wenn der Jabberwock ihn wie zuvor geplant umbringen würde?

Aber was sollte sie machen? Hatte sie nicht alles nicht eher schlimmer gemacht? Sie hörte immer noch das Echo von Onkelchens Gebrüll,

(Hau endlich ab!)

und das des Jabberwock. Seine Stimmung hatte sich auch verändert, aber das war mehr gewesen wie schlechte Laune oder ein kurzer Geduldsfaden. Er würde Onkelchen umbringen. Ganz sicher. Und wer weiß, was der Herr Jabberwock dann machen würde.

Aber außer kämpfen schienen die beiden Streithähne keine andere Alternative zu kennen!

„Was mach ich jetzt nur?“, flüsterte Yuki sich selbst zu. Noch vom Schwindel und Kopfschmerzen gepackt streiften ihre Hände über die umliegenden Oberflächen um etwas zu finden, an dem sie sich für einen Moment lehnen konnte. Sie hielt sich schließlich an den Haufen Ziegelsteine fest.

Ein leichtes Klappern ertönte. Ihre Spieluhr war aus der Hosentasche gefallen. Sofort hob Yuki sie wieder auf und in dem Augenblick, als sie es berührte, kam ihr ein Geistesblitz:

Wenn die Spieluhr es schaffte Onkelchen in Schach zu halten, warum nicht auch den Jabberwock?

Allerdings war dann immer noch das Problem, dass sie keine Ahnung hatte wie das möglich war. Es könnte funktionieren. Es könnte aber auch komplett schief gehen. Außerdem -

„Onkelchen wird mich anbrüllen, bis er heiser ist.“

Fast zeitgleich aber stieg Yukis Adrenalinspiegel in die Höhe, mitsamt den Willen, dass irgendwie zu beenden. Oder zumindest bevor irgendeiner starb (wobei Onkelchens Prognose in dem Punkt weit schlechter aussah). Schließlich war auch sie an der Misere Schuld. Papa, der im Wunderland war und gekämpft hatte, Seite an Seite mit seinem Freund, mitten in einem sinnlosen Krieg wäre sicher nicht einfach abgehauen.

Und Onkelchen und ihre wahrscheinliche Gardinenpredigt? Ihr Mutter hätte gesagt Scheiß' drauf. Da Yuki sich so aber nicht ausdrücken sollte, hielt sie sich etwas bedachter, auch wenn es niemand gehört hätte.

„Soll er halt.“



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