Wintersonett von Rakushina (Which dreamed it?) ================================================================================ Konzert X - LOOKING GLASSES, 1. Satz, Largo meno mosso ------------------------------------------------------ 𝄢   „Hisaki?“ Verzweifelt versuchte Tsukaimon seinen Partner wachzurütteln, doch er blieb bewusstlos. Sie schwebten in der dunklen Endlosigkeit umher. Neben ihm versuchte Betamon das Gleiche bei Touko, ebenso vergebens. Keiner erinnerte sich mehr genau an das Geschehene. Sie hatten Apokalymon angegriffen, dann gab es eine gigantische Explosion. Keine Ahnung wie lange sie bewusstlos waren, aber als Tsukaimon zu sich kam, spürte er, dass diese Dimension dabei war in sich zusammenzufallen. Es wurde unerträglich heiß, wie bei einem Großbrand. „Renta! Komm zu dir, Renta“, jammerte Koemon. Auch er hatte keinen Erfolg. Dennoch probierten sie es alle weiter, auch Tsukaimon, der Hisaki noch einmal an den Schultern rüttelte und bemerkte, wie ein unheilvolles Flackern seine Hand kurz taub werden ließ. Seine Daten hielten dieser Dunkelheit nicht ewig stand und Floramon schrak auf, als besagtes Flackern nun auch anfing auf die Kinder überzugehen. „Oh Nein...“, winselte Candlemon leise. „Wir müssen zusehen, dass wir hier wegkommen, sonst werden wir alle mit diesem Raum noch gelöscht!“, rief Dorumon in die Runde. „Und wie?“, fragte Betamon, dabei besorgt auf Touko blickend, die noch immer nicht zu sich kam. Die Hitze wurde drückender. Feuer stieg aus der Ferne, die Druckwelle, die diese aber erzeugte reichte bis zu der Gruppe. „Was ist das?“ „Keine Ahnung“, antwortete Tsukaimon Koemon. Candlemon schrie, als Natsu, an den er sich die ganze Zeit so eisern festgeklammerte von ihm fort bewegte. Candlemon versuchte ihn noch zu erreichen, aber sie stießen sich ab wie zwei gleich gepolte Magnete. Auch die anderen spürten diesen Sog, der sie von ihren Partner wegriss und je mehr sie sich wehrten, um so schneller vergrößerte sich die Distanz. Die Digimon stiegen hoch, während die Kinder fielen. Der Raum spaltete sich. „Nein, Kana!“ „Bleib hier, Renta!“ „Touko! Touko!“ „Natsu, nicht!“ „Soichiro, wach auf!“ „Hisakiiiii!“ Eine Feuerwand erhob sich vor den Digimon. Der Druck aus nächster Nähe warf sie regelrecht weg. „Bleibt zurück!“ Die Digimon schauten hoch. Shakamon thronte über ihnen, leuchtend wie die Sonne. „Wenn ihr zu weit geht, werdet ihr wieder in die Dunkle Zone geworfen und niemand weiß, was mit euch geschieht.“ „Aber unsere Freunde!“, protestierte Dorumon. „Ich kümmere mich um sie.“ Das war nicht Shakamon. Sie kannten die Stimme, der Ton jedoch war fremd. In der Ferne der Tiefe stoppte der Fall der Kinder. Ein Digimon rettet sie vor ihrem Sturz. Anubimon hatte überlebt. „Kommt schnell zurück, Anubimon!“, rief Tsukaimon zu ihm hinunter, doch er schüttelte den Kopf. „Ich bin hier, um diesen Kindern zu helfen. Das bin ich ihnen noch schuldig.“ „Die Digiwelt baut sich auf, nachdem Zeit und Kämpfe so viele Wunden hinterlassen haben“, unterbrach Shakamon die Digimon. „Die Energie der Dunklen Zone zerrt jedoch weiter an der Digiwelt. Man muss diesen Raum von ihr trennen.“ „Trennen?“, wiederholte Floramon. „Eine Feuerwand wird dies tun und die Digiwelt vor der Dunkelheit schützen. Und euch wieder zurückbringen. Für mehr reicht meine Macht nicht.“ „Aber was ist mit Soichiro und den anderen?“, fragte Dorumon aufgeregt und alle ihre Gesichter verzogen sich entsetzten, als Shakamon den Kopf schüttelte. „Sie müssen in ihre Welt zurück. Sie sind Menschen. Die Digiwelt würde sie als Fremdkörper ansehen und löschen.“ „Warum? Wir haben sie gerettet, warum tut die Digiwelt das?“, bellte Koemon wütend, mit Tränen in den Augen. Doch sie müssten sich eingestehen, dass etwas dran war. Das Flackern auf dem Körper der Kinder wurde stärker. Sie wurden tatsächlich gelöscht. „Ich bringe sie sicher zurück“, rief Anubimon hinauf. „Ich bringe sie hier raus und wieder in ihre Welt.“ „Du wirst es aber nicht schaffen rechtzeitig wieder zurückzukehren, ehe die Feuerwand vollst errichtet ist. Und länger warten kann ich nicht“, antwortete Shakamon, irgendwo zwischen Strenge und Trauer. „Du wirst nie mehr in die Digiwelt zurückkehren können.“ „Schon gut. Als Herr der Unterwelt ist mein vorbestimmter Ort ein anderer. Ich werde die Seelen derer leiten, die fielen und sie ihren Platz zuweisen, wie es für Digimon wie mich bestimmt ist. Das hier ist mein Dank, dass ihr mich einst gerettet habt. Dann bin ich auch wieder bei meinem Bruder.“ „Labramon...“, seufzte Kana in seinen Armen und kam wieder zu sich, nach und nach auch der Rest. Aber sie waren schwach. In ihrem Dämmerzustand hatten sie aber alles mitbekommen. Sie waren kraftlos. Sie hatten ihre ganze Energie und ihr Herz in den letzten Angriff gesteckt. Sie schafften es kaum ihre Digimon anzuschauen. Vielleicht aber auch aufgrund der Tatsache, dass dies ein Abschied war, den niemand je auch nur erdachte und nie wollte. „Macht euch keine Sorgen um uns, ja?“, rief Natsu. „Der Krieg und die Apartheid sind vorbei. Ihr habt keinen Grund mehr Angst zu haben“, erklärte Renta sachte und zuckte. Seine Beine taten immer noch weh. „Übt schön weiter mit den Instrumenten, ja?“ „Wir wollen aber nicht ohne euch Musik machen!“, rief Betamon zu Touko hinunter. „Wir wollen mit euch durch die Digiwelt und Musik machen.“ „Ihr habt es doch versprochen.“ „Das werden wir auch...irgendwann“, rief Soichiro zu Dorumon, der Tränen in den Augen sammelte. „Wir kommen wieder“, sagte Hisaki schwach. „Wir werden üben und kommen wieder.“ „Wann?!“, schrie Tsukaimon hinunter in die Tiefe. Von so weit weg sahen seine sonst eher grünen Augen für Hisaki blau aus. Und dass sie mit Tränen gefüllt waren. „Wann sehe ich dich wieder?“ „Bald. Ganz bestimmt.“ „Aber wann ist bald?“ „Bald!“, rief Hisaki zurück, mit der Bitterkeit dahinter, dass er eigentlich selbst nicht wusste wann Bald denn sein sollte. „Aber wo ist bald?“, fragte Tsukaimon und genauso gespannt wieder er starrten auch die anderen Digimon zu ihren Kindern, versuchten noch einmal in ihre Augen zu sehen, wie am ersten Tag. Der erste Tag... „Schnee...“ Hisakis Hals war trocken. Die Dunkelheit trübte sein Bewusstsein und machte ihn schwach. Die zunehmenden Schwäche aller Kinder wurde von Anubimon bemerkt. Er konnte nicht länger bleiben und steuerte somit in die Tiefen der Finsternis, wo irgendwo der Weg in die Reale Welt war. „Dort wo der Schnee ist“, rief Hisaki mit letzter Kraft, ehe die Entfernung zu groß wurde. „Dieser Ort... Da treffen wir uns wieder. Ich versprech es dir.“ „Wir sehen euch irgendwann wieder.“ „Vergisst uns bis dahin nicht.“ „Wir vergessen euch auch nicht.“ „Und übt auch ihr immer schön.“ „Macht so lange ohne uns für die Digiwelt Musik.“ Die Kinder und Anubimon waren nur noch ein Schein in der Ferne. Ein letztes Aufblitzen. Protest und Ablehnung kam von den Digimon, doch Shakamons Macht hinderte sie daran ihrem Gegenstück nachzugehen. Die Feuerwand erhob sich und trennte die Dunkle Zone endgültig von der Digiwelt.   𝅘𝅥𝅮   Zu sich kamen die Digimon wieder im Wald, gar nicht so weit weg von ihrer Villa. Rosemon und Wisemon waren bei ihnen und über allen war der Himmel klar, wenn die Welt auch immer noch grau schien. Shakamon hatte den Reparaturprozess gestartet, aber es würde lange dauern, bis die Digiwelt sich komplett erholt hätte. Doch es war besser wie alles zu Löschen oder zu rebooten. Die Digiwelt musste endlich einen neuen Weg einschlagen. Lernen. Leben. Die Apartheid löste sich schleichend auf. Es waren zu viele Soldaten gefallen, das Volk bestand fast nur noch aus Ausbildungs- oder Rookie-Digimon und die Stadt des Ewigen Anfangs wurde von Digieiern überschwemmt. Die wenigen Viren waren ohne Anführer und Ophanimon, die Letzte der Gestirne hatte kein Interesse mehr daran diesen sinnlosen Kriegsakt fortzuführen. Den Absolventen der Akademie entzog sie die Macht der Digi-Armor-Eier, ohne das jemand wusste, was Ophanimon nun mit ihnen machen wollte. Der graue Schleier verzog sich langsam und in der ersten Nacht nach dem Errichten der Feuerwand war der Himmel klar und von Sternen durchzogen. Und als die Digimon diesen Himmel sahen vergaßen sie, wenn auch nur für einen Augenblick das Böse. Für einen kleinen Moment fühlten sie sich wie Helden. Auf dieses Gefühl des Triumphs folgte aber sogleich jenes der Ernüchterung. Nun, ohne Krieg wussten sie nicht, was sie nun tun sollten. Sie waren so lange Soldaten gewesen, dass sie sich ein Dasein als schlichte Musiker plötzlich kaum vorstellen konnten. Man sagten ihnen zu einem Orchester brauchte man einen guten Kapellmeister. Der dirigiert, hilft wenn man sich verspielte, unterstütze, komponierte, Mut zusprach. Das waren die Kinder gewesen. Doch ohne Kapellmeister fühlten sie sich unvollkommen. Ohne sie konnten sie nicht von selbst digitieren. Ein Rookie zu sein fühlte sich plötzlich falsch an. Schlimmer aber war, dass sie sich nutzlos fühlten. Einzig geblieben waren ihnen Rosemon und Wisemon, die sich weiterhin um sie kümmerten wie aufopfernde Elternteile. „Ihr könnt lernen, so wie die Digiwelt jetzt“, hatte Wisemon zu ihnen gesagt. „Lernt. Und macht weiter Musik. Erschafft euer eigenes Orchester. Nun, da wir aktuell nicht einmal eine Politik haben, wird euch niemand stören. Eine neue – nein, eine nächste Generation wird gerade geboren. Beten wir, dass sie aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt hat. Und die Digiwelt ein besserer Ort wird.“ Die Hoffnung hatten sie, wenn auch der Kummer diese fast gänzlich verschlang. Fast schlimmer jedoch wie der Verlust ihrer Partner, war das Unwissen, wo Dracmon geblieben war. Er war nicht bei ihnen, als sie nach dem Kampf aus dem Koma erwachten. Er war auch nicht bei ihnen, als sie wieder in der Digiwelt waren. Niemand wusste wo er war. Man dachte, man fände ihn vielleicht an der Stelle, wo Kouta beerdigt worden war. Man dachte, er wäre im Puppenland. Man dachte, er käme von selbst wieder. Nichts davon traf ein und die Sorge wurde groß. „Weiß du denn nicht, wo er sein könnte, Tsukaimon?“, fragte ihn die anderen, aber selbst er hatte keine Ahnung (und schließlich hatte er fest auf das Puppenland gewettet). „Wir sollten ihn suchen“, schlug Floramon vor. „Und wo sollen wir Dracmon suchen? Wir haben doch schon alle möglichen Plätze nach ihm abgesucht.“ „Willst du etwa nur hier sitzen und warten, dass er vielleicht wieder kommt, Dorumon?“, baffte Floramon weiter und Dorumon blieb still, wenn seine Bedenken aber durchaus berechtigt waren. „Dann müssen wir eben auch die unmöglichen Plätze absuchen“, warf Tsukaimon ein. In der Dunkelheit des Zimmers sah man schwer, dass auch er in Sorge war. Es war mitten in der Nacht und Rosemon hatte lange bei ihnen gesessen, aber ihr gutes Zureden bewirkte kaum etwas in diesen Digimon. Vermutlich schliefen sie und Wisemon auch schon, während sie hier im Halbkreis saßen. „Also sollen wir uns einfach aufmachen?“, fragte Betamon ängstlich und Candlemon klopfte ihn auf den Rücken. „Na, wenn Dracmon nicht kommt, müssen wir zu ihm. Außerdem haben wir keine Apartheid mehr, wir müssen uns also auch keine Gedanken über Wachposten und Grenzkontrollen machen.“ „Wir können aber nicht einmal digitieren, wenn es brenzlig wird.“ „Wir sind dafür zu sechst“, sagte Koemon selbstbewusst. „Das wird. Also, brechen wir auf?“ „Du willst jetzt schon gehen?“, fragte Tsukaimon mit weit aufgerissenen Augen. „Wie wäre es mal mit einem Plan? Oder Rosemon und Wisemon Bescheid sagen?“ „Meinst du, sie würde uns gehen lassen?“ Nachdenklich schaute Dorumon zu Boden. „Koutas Tod hat auch Tante Rhody und Onkel Remus ganz schön verändert. Sie zeigen es nur nicht so. Sie würden nicht zulassen, dass wir alleine losziehen.“ „Aber sie wollen doch Dracmon auch finden“, meinte Betamon. „Und dann? Dann bleibt er genauso hier wie wir. Ich habe Soichiro versprochen mit an der Digiwelt zu arbeiten. Aber von hier kann ich das nicht. Ich will nicht ewig hier bleiben.“ „Ja. Geht mir auch so“, murmelte Tsukaimon zustimmend. Der Rest nickte schlicht nur. Die Kämpfe waren anstrengend, aber ein Dasein ohne eine Berechtigung und ohne ein Ziel war nicht erstrebenswert. Sie hatten für Freiheit gekämpft und dass, da waren sich alle einig, mussten sie nun auch endlich nutzen. Auf dem Schlachtfeld hatten sie genug Schreckliches gesehen. Da draußen würde es kaum etwas geben, was sie noch schocken könnte. Sie zogen noch in der selben Nacht los. Floramon hinterließ einen Zettel für Rosemon und Wisemon. In dem Brief versprachen sie wiederzukommen, sobald sie Dracmon gefunden hätten und wüssten, was sie nun mit ihrer Freiheit anstellen wollten. Keiner von ihnen würde das Versprechen halten.   ♫   Den ersten Monat zogen sie noch zu sechst los. Neben ihrer Suche nach Dracmon mussten die Digimon für sich feststellen, wie leer die Digiwelt plötzlich war und wie simpel. Die Bevölkerung war durch Krieg und die Hetzjagd nach den Viren deutlich geschrumpft. Champions trafen sie selten, Ultra- , geschweige denn Mega-Digimon gar nicht. Aber irgendwie beruhigend, gerade weil sie nicht digitieren konnten und sie sich keine Sorgen um Bredouillen machen mussten, in die sie hineingelangen könnten. Nach über einen Monat ohne einen Hinweis über Dracmons Aufenthalt trennten sie sich. Floramon, Betamon und Dorumon zogen nach Osten, Candlemon, Koemon und Tsukaimon gen Westen. Ungewollt aber kam ihr Kurs etwas ab und so wanderten sie Richtung Norden. Tsukaimon sah die Berge von weitem und schwaches Polarlicht in der Ferne. Ob das Frigimon-Dorf in der Nähe war? Ob... „Vielleicht“, begann Koemon, plötzlich und gedankenverloren, während sich die Gruppe in einem hohlen Baum verkroch um dort die Nacht rumzukriegen. Candlemon und Tsukaimon spitzen zwar die Ohren, aber Koemon schien vergessen zu haben, dass er etwas gesagt hatte und stierte wieder stumm seine Zehen an. Erst als Tsukaimon sich räusperte, wurde Koemon wieder aufmerksamer. „Vielleicht was?“ „Vielleicht will Dracmon gar nicht gefunden werden.“ „So ein Blödsinn“, rief Candlemon auf. „Wir sind Freunde. Warum sollte er nicht wiederkommen? Gerade jetzt, wo auch wir keine Partner mehr haben müssen wir doch zusammenhalten.“ „Vielleicht ist es ja genau deswegen?“, meinte Tsukaimon, in das kleine Lagerfeuer starrend, dass Candlemon entzündet hatte. „Unsere Partner sind in ihrer Welt. Sie leben und kommen irgendwann wieder. Aber Kouta kommt nicht wieder. Ich denke, dass er irgendwo ist und etwas Neues aufbauen will. Nur nicht mit uns.“ „Das glaube ich nicht“ meinte Candlemon weiter stur. „Ich denke, er ist nur verwirrt.“ „Ja, das kann gut sein“, stimmte Koemon zu und sprang auf. „Wir haben kaum Zeit gehabt wirklich für ihn da zu sein, weil alles auf einmal passiert ist. Jetzt aber, wo es die Apartheid nicht mehr gibt können wir uns ganz auf Dracmon konzentrieren. Und dann werden wir ein richtiges Orchester.“ „Lern erst einmal ohne Kapellmeister richtig zu spielen.“ Tsukaimons Pessimismus schlug Koemons Optimismus und das eben noch ganz euphorische Digimon setzte sich wieder. In seinen Knopfaugen aber ließ sich ablesen, dass er sich schon mental eine Stundenplan schrieb. Irgendwie beneidete Tsukaimon Koemon fast dafür. Er selbst hatte es noch nicht übers Herz gebracht ein Klavier anzufassen. Ohne Hisaki zu spielen fühlte es sich falsch an. Ob er genauso empfand? Gedanken wie diese hielten Tsukaimon wach, auch wenn Koemon appellierte, dass sie dringend schlafen mussten. Wie er so schnell schlafen konnte war Tsukaimon ein Rätsel. Womöglich überspielte er es auch einfach gut. Renta war schwer verletzt gewesen. Hoffentlich kümmerten sich die anderen gut um ihn. Bei Candlemon war es ähnlich. So große Sorgen wie er sich immer um Natsu machte, konnte Tsukaimon kaum glauben, dass er überhaupt ein Auge zu bekam. Und dann, als Tsukaimon fast schon eingeschlafen war, flog etwas weißes in das Innere des Baumes und landete vor seiner Nase. Der Wind trug den nassen Geruch von Schnee in ihr Lager. Plötzlich hellwach sprang Tsukaimon auf seine Beine (leise, um die anderen beiden nicht zu wecken) und starrte hinaus, wo noch mehr kleine, weiße Flocken ihren Eröffnungstanz für das nahende Unwetter vorführten. (Dort wo der Schnee ist) Tsukaimon war von Natur aus eher rational veranlagt. Es war Wunschdenken, so sagte er sich. Aber diese Wunschvorstellung, dieser Hoffnungsschimmer war stärker wie jede Rationalität und statt zu bleiben und warten, dass das Unwetter sich von selbst verzog flog Tsukaimon hinaus in die Nacht. Über ihm verfinsterte sich der Himmel, was ihn jedoch nicht davon abhielt weiter durch den Wald zu fliegen, bis er auf das offene Feld kam, etwas erhöht von ihrem Lager. Dort war der Wind schon stärker und der Pulverschnee fegte über die Oberfläche hinweg. (Dort wo der Schnee ist) Entlang des weißen Teppichs ging Tsukaimon weiter. Der Schnee unter seinen Füßen schien dichter zu werden. Die Zeichen in der Rinde der dunklen Bäume zeichnete sich irgendwann in einer eisigen, bläulichen Farbe ab. Das schien Tsukaimon so vertraut. Er warf den Kopf in alle Richtung und irgendwann, als der Pulverschnee zu dicken, federgleichen Flocken wurde stand etwas zierliches in Tsukaimons Weg. Eine Eisblume, deren strauchige Blätter sich auf den Boden ausbreiteten, mit einem einzigen, geraden, aber empfindlichen Stiel und sich an der Spitze wieder in alle Richtungen entfaltete. Viele, weiße Blütenblätter in einem Kreis, umrandet von Eiskristallen. Tsukaimon kannte diese Pflanzen. Wenn man sie kochte und schmolz wirkt der leicht süßliche Geruch und der dezent psychotrope Wirkstoff, den sie dabei freisetzten beruhigend. Es gab nur einen Ort, wo sie wuchsen. Trotz des starken Windes flog Tsukaimon nach oben und über die Bäume. Der Schnee fiel dicht, aber man sah die Bergreihen in der Ferne und auch ein paar Lichter scheinen, die vom Berg runter ins Tal führten. Er hatte also Recht, er war wirklich wieder hier beim Frigimon-Dorf. Wo er geboren wurde und wo er auch Hisaki das erste Mal traf. Wenn Hisaki irgendwo auf ihn wartete, dann dort. Es wunderte ihn nicht einmal, warum einige der Lichter erloschen waren. Wäre Tsukaimon näher herangeflogen, hätte er auch bereits gesehen, wieso es so war. So zog sich die böse Überraschung noch etwas hin, bis dahin, wo er die Dachspitze eines kleinen, schmalen Uhrenturmes sah, ein Lächeln sich auf seinem Gesicht breit machte, nur um dann wenige Sekunden danach wieder zu verschwinden. Das Frigimon-Dorf war zerstört. Genau wie einige der Eissäulen mit den schockgefrorenen Fischen. Kein einziges Haus (Iglus, nur vereinzelte waren richtige Holzhütten) war mehr unversehrt. Auch das Rathaus mit dem Uhrenturm. Der Uhrenturm stand noch auf fast wackligen Balken, die Zeiger waren stehen geblieben. Sie zeigte sechs Minuten nach Sechs an. So wie alles wirkte, schien das Dorf schon vor einer ganzen Weile angegriffen worden zu sein. Die Präsenz von Leben und Gelächter war vollst verschwunden, stattdessen wirkte alles wie ein Geisterdorf. Wie viele Monate es schon her war? Noch während der Apartheid? Waren es die Serums oder die Viren? Tsukaimon ließ den Blick über die Darstellung seines zerplatzten Traumes schweifen, bis seine Augen anfingen zu brennen. Sich einzureden, dass dies der Wind war sparte er sich. „Hisaki...“ Auf den kühlen Gesicht wirkten die warmen Tränen regelrecht heiß. Der Versuch, das Weinen zu unterdrücken machte es nur schlimmer, denn sein Kopf half ihm nicht. Tsukaimon sah das Frigimon-Dorf, dass nicht mehr da war. Genauso wie Hisaki nicht mehr da war. Er war fort. Alles war fort. Tsukaimon dachte noch einmal über dieses Versprechen nach und wie verdammt dumm es war. Noch dümmer, dass sie alle daran glaubten. Diese Kinder waren Menschen und Menschen gehörten nicht hierher. Die Digiwelt vermisste sie schon nicht. Das sie unter solchen Qualen und Verlusten die Digiwelt von der Apartheid befreit und das Digimon, dass den HCF-Befehl durchführte aus dieser Welt verbannt hatten interessierte niemanden. Das Leid des Krieges kümmerte die Zivilisten nicht. Sie genossen die Freiheit für die man gekämpft hatte, aber jenen, die ihnen diese überhaupt bescherte dankten sie es nicht. An die Digimon oder an die Namen der Menschen erinnerten sie sich nicht oder machten sich die Mühe, sie zu merken. Sie hatten ihre Aufgabe erfüllt, ja, dass hatte man ihnen gesagt, aber je öfter Tsukaimon diesen Satz in seinem Kopf wiedergab, um so weniger erfüllend war es und der bittere Beigeschmack breitete sich aus. Sie hatten ihre Aufgabe geschafft. Nun brauchte die Digiwelt die Menschenkinder nicht mehr. Es gab nichts zu fürchten und sie konnte weiter die Daten der Realen Welt kopieren. Die Digiwelt hatte nichts dazu gelernt. Sie machte einfach weiter. Und die Digimon, wie Tsukaimon eines war hatten keinen Grund mehr zu digitieren. Keine Berechtigung mehr. Nichts mehr. (Was mache ich hier eigentlich?) „Hisaki... Hisaaaakiiihiii...“ Weinend warf sich Tsukaimon in den Schnee, ignorierend wie die Schneeflocken auf seinem Körper schmolzen und sein Fell nass wurde. Sein Gesicht war heiß von dem, was er über die letzten Monate unterdrückt hatte. Er schämte sich zu sehr davor, es vor den anderen zu zeigen. Er fror. Eine dicke, weiße Decke hatte sich auf sein Fell gelegt. Doch Tsukaimon war es egal. Was sollte er auch in der Digiwelt da draußen, wo man zwar ihre Märchen und Lieder kannte, aber nicht wer sie gespielt und erzählt hatte? Der Tag, als sie vor den Hoheiten der Apartheid spielten? Erinnerte sich daran denn einer? Hatte ihr Orchester überhaupt einen Sinn? Waren sie ohne Kapellmeister überhaupt ein Orchester? „Tsukaimon?“ Er schreckte auf. Tsukaimon kam fast nicht hoch, die Beine waren taub und der Schnee, der auf ihm lag schwer. Aufgeregt warf er seinen Kopf in alle Richtung. Dann, gar nicht so weit weg von ihm, zwischen den Ruinen eines Iglus stand Dracmon. „Ich hab Candlemon und Koemon getroffen“, erzählte er. „Dann haben wir gemerkt, dass du weg warst. Wir hatten echt Sorge, dass dir was passiert ist.“ Langsam lief Dracmon zu dem erstaunten wie erstarrten Tsukaimon, blieb vor ihm stehen und nachdem er dieses Digimon lange nur mitfühlend angeschaute, klopfte er ihm den letzten Rest Schnee von Tsukaimons Körper. „Besser?“, fragte er, auf diese unbeschwerte, lockere Art, die Tsukaimon schon lange nicht mehr von ihm gehört hatte. Es war so unwirklich und auch so überwältigend, dass Tsukaimon nicht mehr anders konnte, wie Dracmon in die Arme zu fallen. Überrascht war Dracmon, aber er nahm die Umarmung an. „Wir dachten, du wolltest uns nicht mehr sehen.“ „Ich war nur etwas überfordert“, sagte Dracmon und klopfte Tsukaimon auf den Rücken. „Nachdem Apokalymon vor unseren Augen regelrecht explodierte, bin ich weggeschleudert worden. Hab eine Weile gebraucht, um da wieder rauszukommen. Ich wusste zwar nicht wo ich war, aber ich wollte euch finden. Ich hätte euch doch nie hängen lassen. Ich habt mir ja auch beigestanden.“ „Dracmon...“ Tsukaimon schluchzte, dann ließen seine Beine nach. Daraufhin stützte Dracmon ihn etwas. „Komm. Gar nicht so weit weg ist eine Höhle. Müssen mal den IceDevimon gehört haben. Candlemon und Koemon sind dort auch.“ Tsukaimon fragte und wunderte sich auch nicht, warum die beiden sicher in einer Höhle warteten und nur Dracmon allein in dem Schneegestöber nach ihm gesuchte. Dafür war er zu erleichtert und hätte in dieser Gefühlslage trotz seiner stets skeptischen Art alles geglaubt. Dracmon führte ihn den Berg hinauf, vorbei an den einstigen leuchtenden Skulpturen und etwas traurig stimmte Tsukaimon der Anblick. Es war so schön hier gewesen und der Krieg hatte alles zerstört. So wie er auch überall sonst alles immer zerstörte. „Kannst du noch? Es ist nicht mehr weit“, rief Dracmon Tsukaimon zu und deutete auf den Eingang der Höhle über ihnen. Sie legten einen Zahn zu, als der Wind an Intensität zunahm. In der Höhle fiel Tsukaimon gleich auf, wie drückend warm es hier war. „Geh weiter. Die Höhle ist tief, sie führt fast bis ganz runter, wo die Kälte nicht hinkommt. Koemon und Candlemon warten“, drängte Dracmon Tsukaimon, der den komischen, zwielichtigen Unterton nicht bemerkte. Stattdessen flog er los und ja, die Höhle war wirklich tief und je weiter er ging um so wärmer wurde es. Irgendwann hörte Tsukaimon Dracmons Schritte nicht mehr, doch eher er stehen blieb und sich umdrehte, sah er Schatten an der Wand und der Form nach waren dies eindeutig Candlemon und Koemon. „Candlemon! Koemon, ich bin's! Ist alles in Ordnung bei eu-“ Tsukaimon verschlug es den Atem und sein kleines Herz kam zum Stillstand. Knopfaugen kleiner Figuren starrten ihn direkt an. Sie waren groß, schwarz, doch leer schienen sie nicht. Sie bettelten regelrecht nach Hilfe. Fünf Augenpaare und jene, die sie gehörten sahen nicht nur aus wie die anderen Orchestermitglieder, sie waren es. Diese Schlüsselanhänger, die wie Trophäen nebeneinander standen waren seine Freunde. „D- Dracmon... Dracmon! D-Die anderen sie... Wir müssen -!“ „Clowntrick!“ Tsukaimon überschlug sich und landete auf dem harten Boden. Ihm tat alles weh. Gelbe Stiefel liefen an ihm vorbei. Er sah fassungslos zu, wie Piedmon die Schlüsselanhänger an sich nahm. „Du warst das? Du hast sie verwandelt?“, bibberte Tsukaimon. Piedmon sah zu ihm hinunter und schenkte ihm ein Lächeln, dass zwar nett gemeint, aber unheimlich war. „Wie bist du digitiert...?“ „Ich sagte doch, ich war lange in der Dunkelheit. Aber ich war nicht allein. Apokalymon hat mit Gesellschaft geleistet, damit mir nicht so langweilig ist.“ Hinter Tsukaimon stiegen Flammen empor. Die Höhle schien im grellen rotorange und warf Schatten in Piedmons Gesicht. Nur seine Augen waren hellerleuchtet. Tsukaimons linker Flügel tat weh, wie auch die Seite, aber er schaffte es, sich umzudrehen. Hinter ihm war ein Loch. Ein endloser Abgrund. „Die Flammen, die du siehst ist die Feuerwand, die Shakamon errichtet hat bei seinem Freitod. Allerdings ist sie noch ein wenig lückenhaft. Das hat mir geholfen wieder zurückzukommen.“ „Was hat Apokalymon mit dir gemacht?!“, brüllte Tsukaimon zurück ohne auf das, was Piedmon sagte einzugehen. „Warum hast du das unseren Freunden angetan?“ „Ich möchte nur mein Glück mit ihnen teilen. Das macht man unter Freunden“, erklärte Piedmon, so fröhlich, so verspielt, wie es nur einer konnte. Tsukaimons Hoffnung, das dieses Piedmon vielleicht eine Fälschung war wurde damit zerstört. „Ich fand keinen Weg hinaus. Schließlich war ich ohne Partner. Was sollte ich also in der Digiwelt, wenn es nichts gab, wofür sich eine Rückkehr lohnt? Apokalymon hat mein Gejammer gehört. Wir haben lange geredet. Ich habe ihm viel von Kouta erzählt. Viel von dem Elend, dass wir alle im Krieg ertragen mussten, nur um am Ende verraten zu werden. Fühlst du nicht auch diesen Zorn, Tsukaimon?“ Tsukaimon wusste nicht, ob es die Kraftlosigkeit oder der Schock war, der ihn nicht antworten ließ. Doch ja, er spürte den Zorn. Die Unzufriedenheit. Diese Unvollkommenheit. „Und sieh da, Apokalymon hat mich verstanden. Apokalymon ist fast so alt wie die Digiwelt selbst. All die gelöschten Daten hat er in sich aufgenommen. Er kennt den Schmerz. Die Verzweiflung. Die Heuchelei. Du siehst keinen Sinn, hat er zu mir gesagt, dann, na schön. Dann gebe ich dir einen. Du möchtest ein Konzert? Deinen Kapellmeister kann ich nicht ersetzen, aber dann lass mich dein Dirigent sein.“ „Ist dir nicht klar, über welches Digimon du sprichst? Dieses Digimon hätte uns alle und die ganze Digiwelt beinah in Schutt und Asche verwandelt.“ „Was kümmert dich die Digiwelt? Du bist sie genauso leid wie ich. Denkst du, ich sehe euch nicht an, dass ihr diese Welt satt habt?“ Als Piedmon zu Tsukaimon ging, sammelte er Candlemon und Koemon ein. Nun hielt er in einer Hand alle Schlüsselanhänger, mit der anderen packte er Tsukaimon im Genick und hob ihn auf. „Apokalymon ist uns sehr ähnlich. Wir haben ähnliche Ziele. Auch er sehnt sich nach Ruhe und Gleichheit. Das ist doch, was wir wollten. Die Apartheid ist ausgemerzt. Es fehlt nur noch der Feinschliff.“ „Ich werde mich Apokalymon nie anschließen. Niemals!“, knurrte Tsukaimon. „Es ist doch nicht auf ewig. Wir sollen ihn ja nur rausholen und dafür gibt er uns die Kraft, die wir verloren haben. Sobald alles geregelt ist, können wir in der neuen Welt tun was wir wollen. Dann haben wir das Sagen. Dann können die Kapellmeister vielleicht auch wirklich wiederkehren.“ Kurz machte Tsukaimons Herz einen wenn auch etwas zurückhaltenden Sprung. Er würde alles tun, damit Hisaki wieder zurückkäme. Aber sich dafür dem Digimon verschreiben, dass sie fast vernichtete hätte? Es gab doch andere Wege. Andere Wege die Digiwelt – alle Welten gleich zu machen. Andere Wege, die Welten zu formen und dafür zu Sorgen, dass so etwas nicht noch einmal geschah. Es gab Wege, die Grenzen zu überschreiten. Dieses Myotismon, dass er im Krieg tötete wusste einen. Diese Digimon wussten einen Weg... Sie wussten von dem Tor... „Damit das aber funktioniert, müssen wir alle auf gleichen Stand sein. Darum habe ich auch alle in Schlüsselanhänger verwandelt, dann kriegen sie von dem Prozess nicht so viel mit.“ „Warum hast du mich dann nicht -?“, ächzte Tsukaimon, Piedmon fiel ihm aber ins Wort. „Nun, ich kann mich nicht selbst verwandeln. Ich werde alles spüren und bekomme alles mit. Du und ich, wir sind doch beste Freunde. Wir halten das schon aus. Dann sind wir nicht nur gleich, sondern auch gleicher. Wie richtige Freunde.“ Piedmon ging näher an das Loch heran und streckte beide Arme aus. Die Schlüsselanhänger und Tsukaimon schwebten über der unendlichen Finsternis. „Momentan sind wir zu schwach. Der Herr Dirigent braucht Zeit. Alles muss gut durchdacht sein. Und üben müssen wir. Sehr viel. Dann kannst du auch irgendwann ohne Kapellmeister digitieren. Schließlich soll das unser bestes Konzert werden, dass wir an dem Tag spielen werden, wenn wir allesamt wirklich gleich sind.“ Piedmon ließ ihn los. Die Dunkelheit in diesem Abgrund zog Tsukaimon zu sich hinunter. Er hatte keine Chance. Er, wie auch seine in Schlüsselanhänger verwandelten Freunde stürzten in die Tiefe. Tsukaimons Welt war schwarz geworden.   𝅝♯   Im Jahre 1985 war der Bezirk Nerima zwar immer noch einer der Orte in Tokio, wo man noch mehr Zivilisten traf und an der Straße sich Hochhäuser mit Familienwohnungen reihten, statt große, überteuerte Gebäude und Hotels, wo Geschäftsmänner und sondergleichen ein und aus gingen und die Wirtschaft und den zunehmenden Tourismus damit am Laufen hielt. Um so mehr waren die Jugendlichen für diese Leute ein Dorn im Auge, unabhängig vom Bezirk, die sich ein Beispiel an dem Auftreten der westlichen Länder machten, nicht zuletzt auch, weil sie laut waren und in die Vorstellung von einem karriereorientierten und traditionellen Werdegang nicht hineinpassten. Jugendliche die sich die Haare färbten und bleichten, sich mehr und mehr wie die High School Schüler und Rocker aus den Vereinigten Staaten kleideten oder einfach schrill und auffallend wie ein Weihnachtsbaum im Hochsommer. Nicht selten waren diese Jugendlichen aggressiv, einige sogar – auch wenn mancher sagte die Mehrheit sei so – schon auf den besten Weg kriminell zu werden. Je lauter diese Teenager wurden, um so mehr bemühte man sich als normaler Bürger sie zu ignorieren. Leider sprang diese Ignoranz auch auf die Opfer dieser Teenie-Launen. An der Hikariogaoka Station ignorierte man den überraschten Schrei eines junges Mannes. Es war zwar spät und da es auch ein Werktag war entsprechend ruhig auf der Straße, aber selbst wenn man ihn gehört hätte, hätte niemand eingegriffen. Er stand auf den Stufen zur Bahnhaltestelle, dann schubste ihn ein Mädchen aus einer Laune heraus. Während er also hinfiel und Kies tiefe Druckstellen in seiner Hand hinterließen, lachten die beiden Mädchen. Beide hatten sich die Haare gebleicht, wie es für Yankees üblich war, ein Mädchen war rothaarig, die andere sogar silbern. Sie trugen zwar ihre Schuluniform, aber ganz bestimmt nicht gingen sie damit zur Schule. Der Rock bis zu den Knöcheln, die Bluse aber dafür so kurz geschnitten, dass die beiden fast bauchfrei rumliefen. Ärmel, Halstuch und Falten der Uniform waren mit generischen Kampfsprüchen bestickt, wie FIGHT oder BANZAI oder eben dem Namen ihrer kleinen Gang. „Glotz nicht so blöd!“, rief das rothaarige Mädchen hinunter, als der Junge wütend mit den Zähnen knirschte. „Selbst schuld. Sobald es dunkel wird gehört die Straße uns!“ „Verpiss dich, wenn du in einem Stück nach Hause willst!“ Erst dann sah er, dass beide Mädchen Baseballschläger bei sich hatten. Er schluckte, denn auch wenn sie Mädchen waren und vermutlich genauso alt wie er selbst, wenn sie damit nur gut genug ausholten war er krankenhausreif. Man las immer öfter von Prügeleien unter Jugendlichen, die eskalierten. Und im Krankenhaus landen konnte er sich nicht leisten. Die Mädchen gingen die Treppe runter, die Rothaarige aber lief auf etwas Glänzendes zu, dass auf dem Boden lag. Vermutlich gehörte es dem Jungen, aber das interessierte sie nicht. Sie hob den Anhänger auf. „Was hast du da, Konoka? Lass das billige Ding da liegen.“ „Das gehört mir! Gib das wieder her!“, brüllte der Junge los, er stoppte aber, als die Silberhaarige ihren Schläger hob und dessen Spitzen seinen Bauchraum berührte. Der Rotschopf mit dem Namen Konoka hielt den Anhänger hoch. Er war golden, aber ob das Gold echt war? In der Mitte war ein grüner Stein. Glas? Und was war das für ein Symbol? „Der gefällt mir. Grün ist zwar nicht meine Farbe, aber ich behalte ihn.“ „Den kannst du nicht behalten!“ „Und was hält uns davon ab? Das ist unser Revier, Bursche.“ „Euer? Ihr tickt doch nicht richtig!“, brüllten ein paar Jungs. Vermutlich waren sie gerade aus der Bahn gestiegen. Jungen in Lederjacken, langen, dunklen Mänteln und zu Tollen gegelten Haaren die noch weniger sympathisch wirkten wie diese zwei Mädchen. Ähnlich wie der junge Mann waren auch die beiden Mädchen nicht erfreut diese Gruppe zu sehen. Acht Jungs, alle zwischen Fünfzehn und Achtzehn. „Na schau einer an, das sind welche von den Kamikaze-Sisters.“ „Mal wieder? Die werden auch immer lästiger“, brummten zwei der Jungs. Die beiden Mädchen, zuvor noch große Töne spuckend, waren plötzlich eingeschüchtert und wenn man darauf achtete, war insbesondere Konoka auffallend nervös. Schließlich hatte sie in letzter Zeit öfter Bekanntschaft mit diesen Typen in ihren zu breiten Jeans und Lederjacken gemacht. Alle trugen Sonnenbrillen mit unterschiedlichen Modellen und bunten Gläsern. Die Schriftzeichen an den Ärmeln waren für Konoka aus der Entfernung schwer zu lesen, aber sie wusste, dass es etwas mit dem Militär zu tun hatte. Passend für eine Gruppe, die sich the Soldiers nannte. „Lästig? Das sagt ihr gerade? Wir haben hier in Nerima das sagen! Glaubt ihr etwa, wir lassen uns von euch verjagen, weil ihr Männer seid?!“ „Aber, aber, Ladys, wer wird denn gleich so kratzbürstig?“, sagte einer der Jungen, der Größte von ihnen, mit einer sehr voluminösen schwarzen Haar und einer runden Sonnenbrille mit rotem Glas. Er trug als einziger statt einer Jacke einen Kimono. Der junge Mann, der eben noch Opfer der Launen der beiden Kamikaze-Sisters wurde schien man vergessen zu haben, was ihm selbst nicht störte, aber verwirrte. „Ähm... Tachibana uuuund Konoka, richtig?“, fragte er die beiden Mädchen, die rümpften nur ihre Nasen. „Hey, hey, nicht gleich so grimmig schauen. Wir sin' echt keine schlechten Typen. Wenn ihr beide mit uns ausgeht, zeigen wir euch auch gerne, wie nett wir sind.“ „Jetzt lass die Kleinkinder in Ruhe, Eri!“, rief es aus der Schar Jungs heraus. Das Wort erhoben hatte jedoch niemand von denen mit einer schwarzen Tolle und Sonnenbrille, sondern mit unbändigen blonden Haar, die nicht einmal gefärbt, sondern natürlich waren. Ein blasser Junge, der mit dem schwarzen Rollkragen und dem ebenso schwarzen Mantel (der zwei Nummern zu groß war) noch blasser wirkte und fast schon viel zu ausländisch aussah, drängelte sich durch die Gruppe. Einer nuschelte überrascht „Senpai?“. Ein Mundschutz versperrte den Blick auf seine Lippen, aber es reichte die blauen Augen zu studieren um zu wissen, dass er schlecht gelaunt war. „K-Kleinkinder? Was bildest du dir eigentlich ein?!“, keifte Tachibana, wurde aber kurz vom Anführer dieser Soldier-Gruppe ignoriert. Er hatte stattdessen dem jungen Mann hinterher geschaut, der besagten Anführer als Hisaki Amano erkannte und weglief. Hisaki wunderte sich, dann aber widmete er sich wieder den beiden Mädchen, die penetrant seine Sicht einnahmen. Die Kamikaze-Sisters nervten ihn. Sie wussten doch, dass wie oft sie hier in der Gegend rumhingen und trotzdem musste sich dieser Haufen pubertärer Mädchen jedes Mal hier an der Hikarigaoka-Station breit machen. Hisaki war zwar groß für einen Japaner, jedoch nicht der größte der Gruppe und der Kräftigste erst recht nicht. Aber er hatte diese Art an sich, diese Haltung und den Blick der etwas autoritäres an sich wahrte. Man sah ihn an und bekam ein mulmiges Gefühl im Bauch. So ging es auch den beiden Mädchen, die Hisaki in seinen Gedanken aufgrund der Haarfarben Schneeweißchen und Rosenrot taufte, wenn sie auch krampfhaft versuchten keine Angst zu zeigen. „Was machen wir mit den beiden, Amano?“ „Sie sollen die Chance bekommen sich rauszureden, dann entscheiden wir“, sagte er zu seinem Kameraden, den er mit Eri angesprochen hatte und schaute zwischen den Mädchen hin und her, fragend wem er den Vortritt lassen sollte. Er entschied sich für Rosenrot. „Konoka, wenn ich mich Recht entsinne? Wärst du so freundlich und erklärst, was ihr hier in unserem Refugium treibt? Haben wir euch nicht schon ein paar Mal klar gemacht, dass ich euch hier in Hikarigaoka nicht sehen will?“ „Wir lassen uns bestimmt nicht von irgendsoeinem Typen wie dir Befehle erteilen!“, kreischte ihn das Schneeweißchen stattdessen an, da Asami Konoka auf einmal kein Wort rausbekam. „Was glaubst du, wer du bist?“ „Im Augenblick derjenige in der Überzahl.“ Die Jungen hinter ihnen lachten. Einige saßen auf ihren Motorbikes, die sie in grellen Farben bemalt hatten, zündeten sich Zigaretten an, während sie weiter zusahen, wie ihr Boss den Mädchen Angst einjagte. Darin war Hisaki ein Profi, ansonsten wäre er ja nicht Hauptmann geworden. „Zieht Leine“, ermahnte Hisaki die beiden streng, aber sie hörte nicht. „Zwing uns doch!“ „Oh, sehr gerne, wenn ihr es unbedingt darauf anlegt. Glaubt jedoch nicht, dass ihr weniger einstecken müsst, nur weil ihr Mädchen seid. Gleiches Recht für alle.“ „Dann versuche es doch, du -!“, brüllte Asami los, die aus ihrer Schockstarre erwacht war. Sie beendete den Satz nicht, sondern nahm ihren Baseballschläger und holte weit aus. Er sauste direkt auf Hisakis Kopf, er musste aber nur die Hand heben, um den Baseballschläger abzufangen. Der Baseballschläger gab nach, als Hisaki fester zupackte. „Der ist ja aus Plastik“, stellte er unbeeindruckt fest. „Und dazu noch hohl, genau wie eure Schädel.“ Asami, mittlerweile völlig aus der Fassung geraten und im Gesicht knallrot konnte nichts machen, als Hisaki ihr den Schläger aus der Hand riss und ihn wegwarf. Seine Anhängerschaft fing an zu lachen. „Da wir das nun geklärt haben, wie wäre es für eine Entschädigung?“ „G-Gut. Was willst du?“, brummte Asami wütend, ihre Freundin stellte sich näher zu ihr. „Ich will diesen Anhänger“, sagte Hisaki und deutete auf ihre Hand. Asami fragte sich zwar, was er mit diesem Ding wollte, aber sie würde es nicht riskieren wegen so etwas weiter Stress mit ihm zu bekommen. Also legte sie den Anhänger langsam in Hisakis Hand. Zufrieden nahm er ihn an sich und keinen Augenblick später nahm ihre Freundin Tachibana Asami an der Hand und zog sie vom Ort des Geschehens fort. Sie schimpften laut bei ihrem Abgang. „Du hättest sie nicht wirklich geschlagen, oder, Amano?“ „Sehe ich so aus? Ich habe Prinzipien. Ich schlag auf niemand ein, der unterlegen ist“, sagte er zu Eri und lief mit ihm zum Rest zurück, wo die anderen Soldiers ihm auf die Schulter klopften. „Hast den beiden ja richtig Angst gemacht, Senpai.“ „Haben sich fast ins Hemd gemacht.“ „Dann lernen sie vielleicht endlich, dass man sich mit uns nicht anlegt.“ Hisaki grinste unter der schlichten Atemschutzmaske. „Steig auf, Amano. Wir fahren runter ins Bill 'n Unbill, mal seh'n was da abgeht“, forderte Eri ihn auf und schnappte sich sein knallrotes Bike, dass neben Hisakis in Blautönen gehaltenem lag. Hisaki aber erhaschte noch einen kurzen Blick auf den ergatterten Anhänger, ehe er ihn in seinen Mantel steckte und sich auf sein eigenes Bike zurückgriff. Der Anhänger war gold, mit einen grünen Chip. Das Symbol nicht klar definierbar, ob es eine Tulpe oder ein Kranz war. Der Anhänger sah seinem ähnlich. Es war Soichiros Wappen.   𝅘𝅥𝅮   Eri wachte gegen halb neun auf, was für seine Verhältnisse verdammt früh war. Er besaß einen kleine Einzimmer-Wohnung, gar nicht so weit von der Hikarigaoka-Station. Er lebte alleine, obwohl er eine Freundin hatte und arbeitete am Wochenende in einer Bar. Die Abwesenheit seiner Freundin glich dafür sein Senpai aus. Hisaki lebte noch bei seinen Eltern, solange er noch zu High School ging, übernachtete aber nie dort. Warum, darüber sprach er offen nicht und Eri sagte nicht Nein, wenn Hisaki bei ihm pennen wollte (außer es kündigte sich Damenbesuch an). Eri kroch aus seinem Futon und beobachtete Hisaki, der mit Augenringen SUPER MARIO BROS. auf dem Famicon spielte. Er war schon in WORLD 6-3 und musste seinem gereizten Blick nach bereits ein paar Game Over hinter sich haben. Nur noch zwei Leben. „Spielst du schon die ganze Nacht?“ „Konnte nicht pennen“, sagte Hisaki ohne vom Bildschirm wegzuschauen. Hisaki hatte sich die halbe Nacht mit dem Gedanken an Soichiros Wappen rumgeschlagen. Der junge Mann, der von den Mädchen bedrängt wurde und wegrannte, war das Soichiro gewesen? Die Kinder vom Wunderland-Fall hatten seit ihrem Finden kaum mehr miteinander geredet und nachdem alle unterschiedliche Mittelschulen besuchten und einige sogar in andere Bezirke zogen, verloren sie sich komplett. Er wusste nur, dass Touko noch im Bezirk Nerima wohnte. Er hatte sie auch schon gesehen, Papas geliebte, adrette Tochter, die nie etwas ausfressen würde. Sie würdigte Hisakis keines Blickes, wie umgekehrt. Was für eine Heuchlerin. Genau wie Renta und Natsu, die sich ebenso dazu entschieden hatten nach der Pfeife ihrer Eltern zu tanzen. Welchen Weg hatten die Morikawa-Zwillinge eingeschlagen? Und ob Soichiro sein Wappen vermisste? „Kann ich dich mal was fragen, Eri? Du kennst doch hier so ziemlich jeden.“ „Ich kenne jeden!“, verbessert Eri ihn und fing gelangweilt an in einer LALA zu blättern (gehörte, so Eri, angeblich seiner Freundin, was Hisaki nicht glaubte). „Sagt dir der Name Morikawa was?“, fragte Hisaki, das Game Over Theme ließ ihn aufschrecken. In seiner Unachtsamkeit hatte ein Koopa ihn über den Haufen gerannt. „Geht's 'n bisschen genauer?“ „Ich suche einen alten Schulkamerad von mir. Soichiro Morikawa. Ist ein Jahr jünger als ich. Er lebte mit seiner Schwester und seiner Mutter hier in Nerima, ich weiß aber nicht, ob er noch in dem Bezirk wohnt.“ „Ist er der Grund, warum du keine Frauen datest?“, scherzte Eri. Hisaki zuckte wieder und folglich wurde er von einem Kugel-Willie getroffen. Als der GAME OVER Schriftzug auftauchte, legte Hisaki den Controller energisch auf den Boden. „Nur weil ich diese Schminkkoffer auf hässlichen Schuhen die du datest nicht ab kann. Ich habe Ansprüche.“ „Nette Umschreibung für ich bin verklemmt“, meinte Eri und Hisaki warf ihm eine HANA NO YUME (auch angeblich ein Besitztum seiner Freundin), die neben ihm lag an den Kopf. „Sagt dir der Name jetzt was oder nicht?“ „Ich glaube, da klingelt was. Den hab ich sogar schon in der Bar gesehen, wo ich arbeite.“ „Weißt du wo ich ihn finden kann?“, fragte Hisaki vorsichtig. Eri hob die LALA etwas hoch, um Hisaki besser sehen zu können, der ganz ernst schien. „Keinen Schimmer. Aber ich wüsste jemanden, der es wissen könnte.“   𝅘𝅥𝅯   Eris Beschreibung nach war dieser jemand, der wusste, wo er Soichiro fand niemand geringeres als seine Zwillingsschwester. Wie Touko waren auch sie im Bezirk geblieben, mit dem sie so viel Schlechtes verbanden. Die Tagara Oberschule klingelte zur Mittagspause. Jungen und Mädchen liefen an Hisaki vorbei, erkannten die Schriftzeichen auf seinem Mantel, den er über seiner Schuluniform trug und liefen schnell an ihm vorbei. Hisaki zog den Kragen höher. Es war Anfang Oktober, das Wetter zwar noch sonnig, aber der Wind war beißend kalt und die Blätter peitschten Hisaki ins Gesicht. Der Wind wirbelte auch die Haare einiger Schülerinnen auf, zusammen mit ihren karierten Faltenröcken. Hisaki ertappte sich, dass er ein paar Sekunden länger starrte, wie es angemessen gewesen wäre. „Hisaki?“ Kana nach all den Jahren zu sehen war komisch und man lies an ihrem Gesicht ab, dass es ihr ähnlich ging. Wären seine doch auffallenden Haare nicht, hätte sie ihn in diesem Yankee-Outfit gar nicht erkannt. Kana hatte Wellen in ihre Haare gedreht, wenn man genau hinsah erkannte man auch, dass sie geschminkt war (war das auf ihrer Schule nicht verboten?), was gar nicht zu der schüchternen Art passte, die Hisaki von ihr gewohnt war. Kana hob die Augenbrauen und blinzelte zweimal sehr schnell. „Aber... wieso...? Ha-hast du keinen Unterricht?“ Kana erkannte die Schuluniform unter dem Mantel. Es war die einer privaten Jungenschule in Shinagawa. „Ich habe heute Morgen meine Tests geschrieben, den Rest des Tages kann man sich schenken“, antwortete Hisaki nüchtern. „Ich schwänze aber nicht wegen dir. Ich wollte dich nur kurz etwas fragen.“ „So?“, fragte sie und dabei hatte ihre Stimme einen merkwürdigen Unterton. „Es geht um deinen Bruder. Ich glaube, er hat was verloren“, erklärte Hisaki und zog dabei das Amulett mit dem Wappen der Entschlossenheit heraus. „Ich wollte es ihm wiederbringen.“ „Zu freundlich von dir.“ Kana ging auf ihn zu, um das Amulett an sich zu nehmen, doch Hisaki zog die Hand und damit Soichiros Wappen aus ihrer Reichweite. „Erst will ich wissen, wieso Soichiro selbst nicht hier ist. Ich war auch erst bei euch zu Hause, aber eure Mutter sagte, ihr seid fort gegangen. Was ist passiert?“ „Halt dich da raus! Und rück das Wappen raus!“ „Ich will es Soichiro persönlich geben.“ „Das geht nicht!“ „Du führst abends Männer aus, habe ich gehört, um nebenbei ordentlich Geld zu verdienen.“ Ehe sich Hisaki versah, holte Kana zu einer Ohrfeige aus. Hisaki ging aber noch rechtzeitig zurück, nur die Fingerkuppen streiften sein Haar. „Stell mich nicht hin, als sei ich ‘ne Prostituierte oder so!“ „Das behaupte ich doch gar nicht.“ „Dann verschwinde endlich! Lass mich und Soichiro in Ruhe!“, brüllte Kana Hisaki an – Kana, die schüchterne, ängstliche Kana hatte ihn angebrüllt – und rannte schnurstracks davon. „Versteh einer Frauen“, ächzte Hisaki, dann meldete sich sein Magen. Er hatte noch nichts gegessen.   𝅘𝅥𝅰   Hisaki kannte sich in Nerima kaum aus, aber Hikarigaoka und alles was darum war kannte er, selbst nach sechs Jahren noch wie seine Westentasche. Er kannte jeden Winkel und immer wenn er die Hauptstraße entlanglief, überkam ihn ein Schwall Nostalgie. Schöne Kindheitstage. Beim Anblick des Lawsons geriet er ins Schwanken. Es war zwar genauso nostalgisch an diesem Laden vorbeizugehen, aber Hisaki überkam immer ein komisches Gefühl. Hier fing alles an. Er ging nicht gerne in den Laden, aber er hatte keine Lust ewig herumzulaufen um was zwischen die Zähne zu bekommen. Also zog er seinen Mantel aus, im Glauben weniger aufzufallen, klemmte sich ihn unter den Arm und hoffte, Akira Watai würde ihn nicht an der Kasse empfangen. Hisaki hatte Pech. In den sechs vergangen Jahren waren sich die beiden schon öfter über den Weg gelaufen. Zuletzt, als Hisaki aus Jux und Tollerei mit seinen Anhängern den Laden demolierte. Hisaki ließ schlicht seine Wut an allem aus. Dieser Laden war an allem Schuld, weil es hier anfing. In dem Laden begann alles. Wären sie damals nur weitergegangen. Das seine Kumpels Ware mitnahmen fand er selbst nicht ganz so toll, aber er sagte auch nichts dagegen. Warum Watai ihn nicht anzeigte verstand Hisaki nicht. Unangenehm wie ihn dieses Treffen an der Kasse war, legte er schweigend die Reis-Cracker und eine Flasche RAMUNE SODA LITSCHI auf den Tresen. „Das ist alles?“, fragte er aus gewohnter Freundlichkeit und Hisaki nickte ab, ehe er das Geld ablegte. „Sagen deine Freunde nichts, wenn du wie ein anständiger Bursche deine Ware bezahlst?“ „Sie sind nicht meine Freunde“, brummte Hisaki. „Ich hänge mit ihnen ab und sie haben Respekt vor mir. Die Meisten mögen stärker sein als ich, ich bin aber klüger.“ „Und doch hast du dich von meinen Überwachungskameras filmen lassen“, erklärte Watai und sein Lächeln ließ Schadenfreude aufblitzen, aber nur für einen Moment. Er hoffte sogar, Hisaki verstehe den Spaß und würde lachen, aber er zuckte nicht einmal. Aber was man Hisaki ansah war, dass er nachdachte. „Warum haben Sie eigentlich auf eine Anzeige verzichtet? Die Leute halten Sie für bescheuert. Und Ihre Kollegen sicher auch.“ „Nun –“ Watai sagte erst nichts. Er packte Hisakis Sachen in eine kleine Tüte und warf noch eine Packung PICOLA mit rein, die Hisaki früher gern aß. „Sagen wir als Schuldbegleichung.“ „Schuldbegleichung?“ „Du weißt schon… Die Tamagotchis. Und all das dana-“ Watai hielt inne und mit offenem Mund schaute er zur Türe. Man hörte das Klingeln eines Glöckchens, als ein Kunde hereinkam und ein zweites, als besagter Kunde rückwärts wieder hinausrannte. Hisaki hob fragend eine Augenbraue. „Was war das denn?“ „Eines der Morikawa-Kinder“, antwortete Watai, auch wenn Hisaki ihn nicht direkt gefragt hatte. „Soichiro ist fast noch öfter hier unterwegs als du.“ „Das war Soichiro?“, platzte es aus Hisaki heraus. Er rannte aus dem Laden und ließ seine Einkäufe zurück. An die dachte er auch nicht mehr, sondern hielt nach Soichiro Ausschau. Im Augenwinkel sah er jemanden in eine schmale Seitenstraße hineinlaufen. Hisaki ging der Spur nach, doch als er um das Eck schaute, sah er niemanden. Aber er lief wieder los, vorbei an einem noch schmaleren Weg zwischen zwei Häusern, in den sich Soichiro verkrochen hatte. Erleichtert atmete dieser auf, sicher seinen Verfolger los zu sein. Doch gerade als er sein Versteck verließ kam Hisaki zurück und während er Soichiro am Kragen packte, drückte er ihn gegen die Wand. „Wo kommst du plötzlich her?“ „Du bist nicht der Einzige, der sich in toten Winkeln verstecken kann“, sagte Hisaki und sah sich Soichiro genauer an. Sein Gesicht war schmal geworden und seine Haut blass (wenn auch nicht so blass wie Hisaki selbst), auch wenn der Schatten seiner Kappe versuchte das zu kaschieren. Dunkle Ringe lagen um seine Augen und er hatte sein Haar ein wenig wachsen lassen. „Lass mich in Ruhe!“ „Sachte. Ich will dir nur dein Wappen wiederbringen“, erklärte Hisaki. Kaum dass er das Wappen rausholte, riss es Soichiro wieder an sich. „Wenn du denkst, durch diese Geste sei alles vergessen, hast du dich geschnitten!“ „Ist doch gut. Beruhige dich mal wieder. Du redest schon so wirres Zeug wie Kana.“ „Wage es nicht so über meine Schwester zu reden! Du glaubst echt, du kannst dir alles erlauben! Soll das Rache sein für irgendwas?“ „Hä?“, ächzte Hisaki und runzelte die Stirn. „Soichiro, ich habe keinen Plan, was du von mir willst. Ich wollte dir nur dein Wappen bringen, weil ich dachte, du hängst daran. Ein Danke wäre angemessen. Nachdem ich erfuhr, dass ihr nicht mehr bei eurer Mutter lebt, hatte ich eigentlich keine Lust euch hinterher zu rennen. Aber weil wir Freund sind…“ „Du… du weißt wirklich nichts?“, fragte Soichiro erstaunt. Seine erst trüben Augen wurden klar, Hisaki aber verstand immer noch nichts. „Du weißt es nicht. Ich sehe deinen Auge an, dass du die Wahrheit sagst. Du weißt gar nicht, warum ich an dem Abend am Bahnhof stand?“ „Warum sollte es das? Was interessiert es mich wo du abends rumhängst? Kannst du endlich mal Klartext reden?“ „Du stehst nicht hinter ihnen?“ „Hinter wem?“ „Na deiner Gang.“ Hisaki runzelte die Stirn weiter. Er blinzelte und stellte fest, dass er immer noch nichts verstand und Soichiro kam zu gleicher Erkenntnis. Nebeneinander herlaufen schritten sie aus den Nebenstraßen und liefen die Hauptstraße hoch, Richtung der Hikarigaoka Haltestelle, wo nicht nur Soichiro, sondern auch Hisaki oft seine Runde drehte und betete, dass sich wie damals im Jahr ’79 das Tor zur Digiwelt sich öffnete und sie hineinzog. Natürlich aber geschah dies nicht. Auf dem Weg dorthin packte Soichiro endlich aus. Er und Kana waren schon vor ein paar Monaten von zu Hause ausgezogen. Oder eher abgehauen. Vor über zwei Jahren lernte ihre Mutter einen Mann kennen, den sie ein Jahr später auch heiratete. Weder Soichiro noch Kana waren von ihrem Stiefvater besonders angetan. Es gab oft Streit mit ihrer Mutter, also packten die beiden eines Tages ihre Koffer. Eine Bleibe fanden sie schnell, doch das Geld war knapp. „Datet Kana deswegen diese ganzen alten Säcke?“, bemerkte Hisaki und nippte an einem Kaffee, den Soichiro ihm spendierte. „Sie setzt sich dafür extra Perücken auf und schminkt sich immer anders. Ich will nicht, dass sie das macht, aber sie verdient eben schnell Geld. Ohne Sex, natürlich.“ „Und was hat das nun mit mir zu tun?“ Soichiro setzte sich. Sie saßen auf den Stufen und sahen Zügen zu, wie sie an- und abfuhren. „Vor ein paar Wochen buchten ein paar Typen ein hübsches Mädchen, dass mit ihnen auf eine Party mitkommen sollte“, erzählte Soichiro, während Hisaki sich schwer tat Kana mit dem Wort hübsch in Verbindung zu bringen. Er sah nur ihr zehnjähriges-Ich. Aber doch, sie hatte was auch sich gemacht. „Kana musste dafür herhalten. Kana sagte, sie hätten angefangen sie unsittlichen anzufassen, obwohl laut Geschäftsklausel dies nicht erlaubt war. Sie haben mehr von Kana verlangt, aber sie ging und meldete das ihrer Leitung. Ihr Chef mahnte die Typen ab und drohte mit einer Anzeige.“ „Haben sie auch verdient.“ „Nur… Eines Tages passten sie mich ab. Sie haben irgendwie Kanas echten Namen rausbekommen und verlangten Geld von mir. Wenn ich nicht zahle, würden sie Kanas Schule melden, dass sie für eine Dating-Agentur jobbt oder würden gar das Gerücht verbreiten, dass sie ihre Kunden mit in Love Hotels nimmt.“ „Es ist toll ,dass du ihr helfen willst, aber ich kapiere immer noch nicht, was ich damit zu tun habe.“ „Na, weil die Typen zu deiner Gang gehören. An dem Abend wollte ich mich mit ihnen treffen und das Geld übergeben. Doch dann kamen die zwei anderen Tussis und als ich dich dann sah hatte ich eine Kurzschlussreaktion. Ich konnte nicht glauben, dass du echt mit so Bosozoku-Typen rumhängst.“ Der viel zu süße Kaffee in Hisakis Mund wurde bitter und er brachte die Menge kaum runter. Er glaubte nicht, was er hörte. Die Männer mit denen er rumhing kamen aus den untersten Milieus, schlugen sich, waren der Polizei bekannt. Dass sie ein Mädchen belästigten und einen Typen erpressten waren keine neuen Geschichten für ihn. Er hieß es nicht gut und schnauzte sie an, wenn er sie dabei erwischte, aber im Grunde war es Hisaki eher egal. Doch dass es ehemalige Freunde von ihm so traf bereitete ihn dann doch ein schlechtes Gewissen. „Bist du sicher, dass die zu mir gehören?“ „Absolut. Sie hatten THE SOLDIERS auf ihren Jacken stehen, mit Nummern und trugen dicke Sonnenbrillen. Das sind doch eure Markenzeichen?“, fragte Soichiro und er sah sich dabei Hisakis Mantel an, auf dessen Ärmel die Nummer 1131 und darüber TAII (HAUPTMANN) stand. Die Sonnenbrille, die Hisaki nur beim Fahren trug war in seiner Innentasche. „Ja, das klingt nach meinen Leuten. Aber davon wusste ich nichts.“ „Müsstest du das als ihr... Hauptmann aber nicht? Du bist echt lausig in deinem Job.“ „Seh ich aus wie 'n Babysitter?“, moserte Hisaki und lehnte sich zurück. „Und willst du den Typen nun das Geld nachträglich bringen, oder warum bist du hier?“ „Ich hatte es vor, aber weil es letztes Mal schief ging haben sie das zum Anlass genommen noch mehr Geld zu verlangen. Und mein Erspartes reicht dafür ehrlich gesagt nicht mehr.“ „Warum haust du ihnen nicht einfach mal eine rein? In der Grundschule hast du dich nie geziert und bei jeder Schlägerei mitgemacht und -“, Hisaki schnaufte, „- in der Apartheid auch nicht.“ „Wir sind keine Kinder mehr, falls dir das entgangen ist. Und wir sind auch nicht mehr in der Digiwelt. Vielleicht auch nicht schlecht. Ich würde nicht wollen, das Dorumon mich so sieht.“ Auch Soichiro lehnte sich zurück, aber er wirkte nicht so entspannt. Hisaki hörte Wut in der Bemerkung. „Watai sagte, du wärst oft hier. Hoffst du, du könntest, so wie damals...?“ „Der von uns beiden, der in Shinagawa wohnt und trotzdem so oft hierher kommt sollte die Antwort wissen.“ „Touché“, schnaubte Hisaki. Er fühlte sich tatsächlich ertappt. „Denkst du oft an Tsukaimon?“ „Wie man's nimmt“, antwortete Hisaki ausweichend. Ehrlich wäre gewesen, dass er ständig an Tsukaimon dachte. Wie Soichiro hatte er auch gehofft, das Kaninchenloch hier in Hikarigaoka wiederzufinden. Doch er fand es nicht, also gab er auf etwas zu erwarten. „Was glaubst du, würden unsere Digimon sagen wenn sie wüssten, wohin wir uns entwickelt haben, Hisaki?“ „Ist es nicht unnötig darüber nachzudenken? Wir würden sie ohnehin nie wiedersehen.“ „Kana glaubt an etwas anderes.“ „Kana hat ja auch bis in die vierte Klasse an Berghexen und Fuchsdämonen geglaubt, die einem die Seele klauen“, bemerkte Hisaki schnippisch und fast im selben Moment, als die Erinnerung daran wieder hochkam begann er breit zu grinsen. „Oder erinnerst du dich noch an den Winter, wo es so heftig geschneit hat und wir ihr erzählt haben, dass Yuki-Onna hier rumlaufen?“, lachte nun auch Soichiro. „Ja, und die anderen waren auch dabei. Natsu hat fast geweint vor Angst.“ „Dein Yuki-Onna-Kostüm war aber auch wirklich gruselig. Wusste gar nicht, dass Kana so kreischen konnte.“ „Ich erinnere mich nur noch, wie sauer sie am nächsten Morgen war und an die Predigt von Touko.“ Beide lachten, erst noch etwas zurückhalten, dann bekamen sie vor Bauchschmerzen kaum noch Luft. Soichiro lehnte sich so weit zurück, dass er auf der Treppe lag und klatschte eine Hand ins Gesicht. Hisaki sah ihm zu und sah wieder den Soichiro vor sich, den er einst kannte. Seine Augen tränten. „Warum sind wir eigentlich keine Freunde mehr?“, fragte Soichiro und wischte sich über die feuchten Augen. „Frag mal unsere Eltern.“ „Gibst du ihnen allein die Schuld?“ „Nicht allein. Auch der Presse, den Nachbarn, den Lehrern,...“ Dann stoppte Hisaki. Soichiros Gesicht war ernst, dann schüttelte er den Kopf. „Sind wir nicht auch Schuld? Wir haben es zugelassen. Jeder von uns. Wir waren in der Digiwelt so tatkräftig. Aber kaum waren wir hier, haben wir alles über uns ergehen lassen.“ „Die Digiwelt war auch anders. Die Digiwelt war die Welt unserer Träume. Doch in der Realität haben Träume keinen Platz.“ „Denkst du das? Schade zu hören... Kouta wäre sicher -“ „Erwähne Kouta nicht.“ Die eben noch lockerer und fröhliche Stimmung war hin. Eine dicke, dunkle Wolke zog an ihnen vorbei. Die gelbgoldenen Herbstblätter reflektierten jedoch den letzten Rest der Nachmittagssonne. Der Anblick war paradox. Doch es erinnerte an Tag Eins in der Digiwelt, als er sein Botamon aus einem Ei bekam. Soichiro wünschte sich, er hätte seine Klarinette parat. „Ich knöpf sie mir vor“, sagte Hisaki nach einer Zeit der Stille und Soichiro glaubte erst, sich verhört zu haben. „Die Typen, die dich erpressen. Ich befehle ihnen, dass sie dich und Kana in Ruhe lassen sollen.“ „Das würdest du tu?“ „Sonst würde ich es nicht sagen.“ „Aber kannst du das? Das waren ziemlich klobige Typen. Würde mich nicht wundern, wenn die schon zwanzig sind.“ „Soichiro, siehst du das hier?“ Hisaki hob seinen Ärmel an und deutete auf den HAUPTMANN-Schriftzug. „Egal wie alt oder groß die sind, ich bin Senpai. Solange sie unter mir stehen, wird gemacht, was ich sage. Weißt du, wie die Typen heißen?“ „Keinen Schimmer“, ächzte Soichiro, betrachte aber nachdenklich die Stickerei. „Aber ich glaube, zwei hatten auf ihren Ärmeln FELDWEBEL stehen. Einer auf jeden Fall. Und beim dritten LEUTNANT. Aber die Nummern habe ich mir nicht gemerkt.“ Da gab es nicht so viel Auswahl. Alle Mitglieder fingen als Gefreiter an, waren sie erst einmal fest in der Clique und arbeiteten sich anschließend hoch. Gefreite wie auch Feldwebel gab es ein paar. Leutnant aber, der Rang vor dem Hauptmann trugen nur vier in Hisakis Gruppe. Eri war einer davon. „Ich denke, damit lässt sich was machen. Ich kriege raus, wer es war. Wenn sie nicht hören sollten, in Shinjuku und Shibuya sitzen unsere Oberst und Mayor. Die sehen es nicht gerne, wenn die Soldaten nicht auf den Hauptmann hören.“ „Das ist... Danke, Hisaki!“ Emotionsgeladen nahm Soichiro Hisaki in den Arm, kaum dass sie wieder standen. Hisaki rührte sich nicht, unbeholfen wie er sich vorkam. Doch weil Soichiro sich freute, ließ er es über sich ergehen. „Da, da ist er!“ „Hey, Arschloch! Verzieh dich aus unserem Revier!“, riefen erboste Mädchen-Stimmen hinter ihm und Hisaki musste nicht einmal hinsehen, um zu wissen, dass dies nur die Kamikaze-Sisters sein konnten. Womit er aber nicht rechnete war, dass nicht nur zwei oder drei wie sonst vor ihm standen, sondern gefühlt die halbe Truppe, mitsamt ihrer Chefin (deren Namen Hisaki sich nie merkte, aber er wusste, dass die Anführerin der Kamikaze-Sisters lange, weißgebleichte Haare und lange Fingernägel trug). Die Mädels, im Schnitt zwischen achter und zehnter Klasse waren mit Baseballschlägern ausgerüstet, die diesmal sogar echt aussahen. „Das ist der Kerl, Senpai! Das ist der Anführer der Soldiers aus Shinagawa, der hier andauernd Stress macht“, meckerte das Mädchen mit dem Namen Tachibana aus den hinteren Reihen. „Dein Fanclub, Kumpel?“ „Schnauze, Soichiro“, knurrte Hisaki ihn an. „Hört zu, ich bin diesmal aus privaten Gründen hier. Ich habe keine Lust meine Zeit an euch zu verschwenden.“ „Tja, Pech für euch. Wer unerlaubt unser Revier betritt wird umgepustet“, sagte die Anführerin der Kamikaze-Sisters und erhielt Zustimmung von den anderen Mädchen. Soichiro erschrak kurz als sie euch sagte. „Ihr Typen glaubt, ihr könnt euch in jedem Bezirk breit machen und andere Gangs aus ihren Revieren scheuchen! Aber Hikarigaoka gehört uns und wenn das nicht in euren Schädel geht, prügeln wir es euch eben rein!“ „Am besten, wir fesseln ihn nackt an eine Laterne, wenn wir mit ihm fertig sind und machen Fotos davon, damit jeder in Zukunft weiß was passiert, wenn man sich mit uns anlegt.“ Drei der Mädchen macht einen Schritt nach vorne, die Baseballschläger bereit zum ausholen. „Was los? Hast du nicht geprahlt, dass du keine Rücksicht nimmst, nur weil wir Mädchen sind?“, lachten sie und kamen näher. Hisaki blieb nachdenklich stehen und sagte nichts. Zehn hatte er gezählt und alle mit Schlägern ausgerüstet. Nicht gerade fair. Bis Hisaki sich aber überlegen konnte, wie er am besten aus dieser Sache rauskam, packte ihn Soichiro am Arm und rannte mit ihm davon. Die Mädels reagierte erst nicht, dann rannten sie ihnen nach, waren aber langsamer wie die beiden Jungen. Ihr Abstand wurde größer, als sie über einen Drahtzaun kletterten, vor ihnen Bahngleise. „Geh rüber, ich renn in die andere Richtung und lenke sie ab“, schlug Soichiro vor. „Aber sie wollen doch von dir nichts.“ „Eben. Ich kann sie vielleicht etwas verwirren. Die merken früher oder später, dass ich nicht zu deiner Gang gehöre. Ist dafür, dass du mir und Kana hilfst.“ Soichiro musste ihn schubsen, um ihn dazu zu bringen, schnell über die Gleise zu rennen. Auf der anderen Seite angekommen, blickte Hisaki nochmal zu Soichiro zurück. Er lächelte. „Wenn du mal keinen Bock auf deine Biker-Kumpel hast, können wir mal was zusammen trinken gehen. Ich kenn 'nen prima Laden, der es nicht so mit Jugendschutz hat“, rief er ihm zu. In dem Moment kamen die Kamikaze-Sisters aus der Gasse gestürmt. Soichiro rief ihnen zu und einige rannten ihm nach. Wenige aber merkten, dass ihr eigentliches Ziel nicht dabei war und kamen ebenfalls auf die Idee, über die Absperrung und über die Gleise zu gehen. Fluchend rannte Hisaki wieder los, kletterte erneut über einen Drahtzaun und als er in eine Seitenstraße flüchten wollte, stand Asami Konoka vor ihm. „W-Was? Wie habt ihr mich -?“, stammelte Hisaki erschrocken, so sehr, dass er nicht wahrnahm, dass Asami eigentlich nicht verstand, was er meinte. Denn sie war nicht bei den Verfolgern gewesen. Die kamen immer näher und Hisaki glaubte, nun eingekesselt zu sein. Doch dann zog Asami ihn mit sich und verkroch sich mit ihr hinter einen Container. Die anderen Kamikaze-Sisters blieben stehen, sahen die beiden aber nicht und rannten schließlich weiter. „Das war knapp...“, atmete Asami erleichtert auf. „Wieso hast du mich nicht ausgeliefert?“, fragte Hisaki mehr wie verwirrt und irgendwo überzeugt, dass das nur ein Trick war. „Willst du lieber auf offener Straße krankenhausreif geschlagen werden?“ „Das nicht, nur...“ Sie schwiegen kurz. Man hörte, wie die Mädchen sich gegenseitig zuriefen, dass ihnen Hisaki abhanden gekommen sei. Sie gingen aber nicht, sondern suchten die Gegend ab. Weit könne er ja nicht sein. „Hör zu. Ich wohne hier in der Nähe. Versteck dich bei mir daheim.“ „Was?“ „Frag nicht so blöd. Oder willst du erwischt werden?“, meckerte sie, Hisaki schüttelte nur den Kopf. „Pass auf, geh hier die Gasse durch, da kommst du an der Hauptstraße raus. Folg der bis zum Bahnübergang, geh auf die andere Straßenseite und den Hügel hoch. Ich wohn fast ganz oben, kannst du nicht verfehlen. Unter dem großen Blumentopf ist der Zweitschlüssel. Meine Eltern kommen erst abends, aber geh in mein Zimmer, verhalte dich ruhig und warte dort. Und nimm die Schuhe mit!“ „Und was machst du?“ „Ich lenk die anderen ab.“ „Warum sollte ich dir trauen?“ „Hast du 'ne Wahl?“ Nein. Hatte er nicht.   𝅘𝅥𝅱   Während Asami Konoka irgendwann aus dem Versteck kroch und vor ihren Mitstreiterinnen und ihrem Senpai beteuerte sie hätte „dieses feige Arschloch Richtung Bahnhof verschwinden sehen“, tat Hisaki brav, was sie ihm geraten hatte. Die Wegbeschreibung stimmte soweit und es dauerte nicht so lange, bis er vor den Haus der Konokas stand, wie das Schild an einer Mauer verriet. Sein Misstrauen sagte Hisaki, dass das auch eine Falle sein konnte, seine Intuition aber, dass dieses Mädel auf ihn nicht so heimtückisch schien. Und wenn sich diese Mädchen irgendwohin nicht verirrten, dann hier in dieses doch ruhige Wohngebiet, jenseits der Gleise. Und solange die Kamikaze-Sisters am Bahnhof ihr Unwesen trieben, konnte er nicht wieder nach Shinagawa, geschweige denn zu seinem Zweitsitz bei Eri (ob er ihn anrufen sollte?). Das Haus der Konokas war klein, aber zweistöckig und wie Asami ihm sagte, stand vor der Haustüre ein Topf, in dem noch der Rest von etwas steckte, dass während des Sommers mal eine einmeterfünfzig hohe Sonnenblume gewesen war. Er kippte ihn leicht nach oben und fand auch gleich den Ersatzsschlüssel. Wie Asami auch prophezeit hatte, schien niemand da zu sein. Er hörte nichts aus dem Inneren, die Einfahrt stand leer. Dennoch ging Hisaki ganz leise hinein. Er sah sich nicht großartig um, sondern machte, was Asami ihn riet. Warum er auf eine der Kamikaze-Sisters hörte verstand er nicht, aber sie hatte ihm vorerst aus der Patsche geholfen. Er zog die Schuhe aus, nahm sie in die Hand und huschte durch die schmale Diele zur Treppe, die hoch zu Asamis Zimmer führte. Oberhalb der Treppe war es etwas düsterer wie unten, aber kaum das er die Schiebetür zu Asamis Zimmer zurückzog, kam ihm Licht entgegen, das ihn blendete. Hisaki rieb sich kurz über die Augen und das Erste was er sah, als er seine Augen wieder öffnete waren eine Reihe Girlanden, einige kugelrund oder eher in die breite gehend, mit verschiedenen Mustern und Größen über ihren Bett hingen. Ein Windspiel am Fenster erschreckte Hisaki kurz und mit dem Blick aus dieses gerichtet, schob er die Schiebetür wieder zu. Erst dann wagte er es erleichtert zu seufzen, seinen Mantel auszuziehen und aufs Bett zu legen. Was für ein Tag. Das Windspiel klingelte erneut. Eine Blume war darauf gemalt. Er tippte auf Seerosen. Als hätte das Glöckchen ihn wachgerüttelt, begann Hisaki sich umzuschauen. Auf dem Bett lagen Ausgaben der SEVENTEEN und der LALA rum. An den Wänden hingen gepresste Blumen in Bilderrahmen, Cover oder ausgeschnittene Bilder der VOGUE oder ähnlichen Modezeitschriften (von Mode hatte Hisaki keine Ahnung und er war sich nicht sicher, ob die Kleider, die in solchen Magazinen gezeigt wurden wirklich dafür da waren, dass man sie trug) und, was er erst komisch fand, Ausschnitte und Fotos von Blumengestecken. Auf dem Schreibtisch lachte ihn eine Geisha im bunten Blumen-Kimono und eine weiße Ming-Katze an, zusammen mit einem Buch über Ikebana. Das fiel Hisaki gleich auf – ein volles Bücherregal, mit mehr als nur Mangas, Zeitschriften und Liebesromanen (wenn ihm jedoch die Roman-Reihe VAMPIRE HUNTER D direkt ins Auge sprang). Asami hatte einige Bücher aus verschiedenen Genre, das Meiste aus dem Fantasy- oder Horror-Genre, einige sogar in englisch. Viele Sachbücher über Botanik. Und noch mehr Ikebana-Bücher. „Asami? Bist du zu Hause? Die Tür war nicht abgeschlossen. Hast du deine Schuhe wieder mit ins Zimmer genommen?“ Ohne auf eine Antwort zu warten schob eine Frau (Hisaki schätzte sie auf Mitte Vierzig) die Schiebetüre auf. Hisaki vermutete, dass diese Frau Asamis Mutter war und als er diesen Gedanken im Kopf verarbeite, fiel ihm auch eine gewisse Ähnlichkeit auf. Im braunen Haar, zu einem Duett zusammengebunden, sah man schon dunkelgraue Strähnen, so wirkte ihr schmales Gesicht etwas kantig und streng. Doch nun sah sie nur überrascht den jungen Mann im Zimmer ihrer Tochter. Noch verblüffter wie Frau Konoka war nur Hisaki selbst. Er spürte, wie er rot im Gesicht wurde und legte, ohne Frau Konoka dabei aus den Augen zu lassen das Buch über Ikebana wieder hin, dass er sich eigentlich anschauen wollte. „Guten Tag. Ich schätze, Sie sind Asamis Mutter. Sehr erfreut“, sagte er steif und verbeugte sich, gleichzeitig verfluchte er Asami. Hatte sie nicht behauptet, bis abends käme niemand? Wieso war er so bescheuert und hatte auf sie gehört? Frau Konoka sagte weiter nichts. Ihre braunen, großen Augen (die gleichen, die ihre Tochter auch hatte) schauten auf Hisakis Jacke, die ausgebreitet auf dem Bett lag, die Stickereien gut sichtbar. „Du bist kein Schulkamerad von Asami. Deine Uniform kenne ich nicht“, stellte sie fest und stumm nickte Hisaki. „Ich gehe auf die Azabu Oberschule, elfte Klasse.“ „Dann bist du aus Shinagawa? Wusste nicht, dass es dort auch solche Jugendlichen gibt. Aber merkwürdig, Asami sagt immer, sie seien eine reine Mädchengruppe.“ „Nein, also... Ich gehöre zu einer anderen Gruppe.“ Hisaki bemerkte, wie Frau Konoka sich noch einmal die Jacke ansah, um sie die Muster und Schriftzüge anzuschauen und überlegte, woher sie diese kannte, aber es schien ihr nicht einzufallen. „Und dein Name, junger Mann?“ Hisaki reagierte erst nicht auf die Frage. Ein wenig verzögert erhob er sich wieder. „Wie heißt du?“ „Ich heiße Hisaki Amano, sehr erfreut, Frau Konoka.“ Kaum dass Hisaki seinen Namen aussprach, biss er sich mit geschlossenem Mund auf die Zunge. Immer wenn er sich namentlich vorstellte fürchtete er, es könnte die Leute an etwas erinnern, die Vermutung wecken, dass er der vermeidliche Sohn des Komponisten Amano war. Oder dass sie den Namen noch aus den Berichten des Wunderland-Falls kannten. Frau Konoka sah man an, dass sie zwar überlegte, ob sie diesen Namen kannte, aber zu Hisakis Glück war Amano nun einmal ein überaus häufiger Name. „Für einen Jungen, der zu einer Yankee-Truppe gehört redest du aber nicht unbedingt wie einer“, stellte sie fest und Hisaki glaubte, sie lachte ein wenig. „Das ist lustig.“ „Lustig?“, wiederholte Hisaki fragend und kam zum Schluss, dass diese Frau, die ihm nun auch ein Lächeln schenkte komisch war. „Magst du zum Essen bleiben?“, fragte sie Hisaki und war schon dabei aus dem Zimmer zu gehen, während er verdutzt weiter auf der Stelle stand. „Ich?“ „Ist noch jemand hier? Also komm mit runter. Ich mach Curry heute Abend. Du kannst dich ja nützlich machen und mir helfen. Und sag ruhig Saeko.“ Ohne Widerworte – für eine halbwegs schlagfertige Antwort war Hisaki zu verwirrt – folgte er ihr. Da sich Hisaki nun etwas entspannter in der Wohnung bewegte überkam ihm nun auch ein komisches Gefühl. Es hingen und standen Unmengen von Fotos herum. Viele Schwarz-Weiß, manche zeigten sogar nur Landschaften, andere Familienfotos. Auf einigen war Asami zu sehen, als Baby, als Kind. Hochzeitsbilder und die Personen auf den Bildern schienen Hisaki unentwegt anzustarren. Unheimlich irgendwie. Selbst, als er sich an den Tisch im Wohnzimmer setzte, blickte er direkt auf ein Bild von Asami mit ihren Eltern. Sie war darauf schätzungsweise fünf und hatte noch braunes Haar. Frau Konoka - er konnte sich kaum dazu bringen sie beim Vornamen anzureden - kam aus der Küche und stellte Schüssel, Messer, Schneidebrett und einen Kürbis vor Hisakis Nase. „Ein starker, junger Mann, der mir hilft den Kürbis zu schneiden kann ich sehr gut gebrauchen.“ „Kürbis... zum Curry?“, murmelte Hisaki weiter verwirrt. „Asami isst gerne Kürbis, also nehme ich den, statt Kartoffeln. Stört dich das?“ „Es ist was anderes“, entgegnete er und versuchte nicht abwertend zu klingen. Probieren konnte er es ja und fing an, den Kürbis zu vierteln, ehe er ihn in kleine Stücke schnitt. Ab und an schaute Hisaki auf, sah Frau Konoka beim kochen zu und manchmal trafen sich ihre Blicke und sie schenkte ihm ein Lächeln. Und jedes Mal schaute Hisaki anschließend weg. „Wohnst du eigentlich auch in Shinagawa?“ „Mehr oder weniger. Ich wohne bei einem Kumpel hier in der Nähe von Hikarigaoka.“ „Erlauben deine Eltern das denn? Und die Schule?“ Hisaki hielt inne. Wieder musste er das Familienbild betrachten und feststellen, dass es solche Bilder von ihm und seinen Eltern nicht gab. Zumindest keines wo sie glücklich aussahen. „Na ja, wohnen war das falsche Wort. Ich übernachte einfach häufig dort. Meine Eltern sind nicht oft zu Hause“, erklärte er tonlos und Frau Konoka schien regelrecht zu riechen, dass sie ungewollt einen Punkt getroffen hatte, über den Hisaki ungern sprach. Daher fragte sie auch nicht, als Hisaki ihr schließlich den zerstückelten Kürbis brachte und diese in den Topf mit dem kochenden Wasser kippte. „Du hast hübsche Augen. Und schöne Haare“, sagte Frau Konoka zu ihm. Wieder überrumpelt schaffte Hisaki nicht etwas zu sagen und ließ zu, dass sie ihm durch das blonde Haar strich. „Die Farbe ist echt. Und es fühlt sich anders an, nicht wie die Haare von Japanern. Ist ein Elternteil von dir aus Europa? Oder jemand von deinen Großeltern?“ „Also -“ Er stoppte sofort und blinzelte einmal, ehe Hisaki eine Antwort von sich gab, die nicht ganz der Wahrheit entsprach, aber auch nicht gelogen war. „Ich habe ausländische Verwandtschaft, aber ich weiß nicht woher sie kommt“, antwortete er und sowohl für ihn, als auch für Frau Konoka klang es mehr wie eine Ausrede. „Aber wie haben Sie das gemerkt? Also, dass die Farbe echt ist und das alles?“ „Ich bin schon seit achtzehn Jahren Friseur, ich erkenne so etwas“, erklärte sie lächelnd und fuhr Hisaki wieder übers Haar. Das zweite Mal war wesentlich angenehmer. Asami tauchte nicht auf, dafür aber ihr Vater eine Stunde später. Herr Konoka war überrascht Hisaki bei seiner Frau sitzen und Tee trinken zu sehen, doch sie erklärte ihm, dass Hisaki ein Freund ihrer Tochter sei – ein Freund, wohl gemerkt. Katsuya Konoka war ein hagerer Mann mit einem runden Gesicht, dafür ohne den Ansatz von Bartwuchs und mit lichten Haaren. Wie er Hisaki nach einer sehr freundlichen Begrüßung erzählte, war er Redakteur für junge Autoren und Mangaka. Er war extrem freundlich und redete überschwänglich, sobald seine Frau aber das Wort erhob schwieg er. Man erkannte gleich, wer die Hosen in dieser Ehe anhatte. Dennoch gingen die beiden liebevoll miteinander um, küssten sich aus reiner Laune heraus und wie Frau Konoka ihren Mann zügelte, wenn er, wie sie sagte zu viel auf einmal plapperte, so riet ihr Mann sie zur Ruhe, wenn der etwas ältere Herd mal wieder nicht wollte wie sie. An irgendjemanden erinnerten die beiden Hisaki, er kam nur nicht drauf. Punkt 19 Uhr stellte Frau Konoka eine überaus großzügige Portion vor Hisakis Nase. „Das ist... sehr viel.“ „Du bist ein großer junger Mann, du musst gut essen“, sagte Herr Konoka zu ihm und reichte ihm einen Löffel. „Ich habe früher, während ich studierte nebenbei Taxi gefahren. An manchen Tagen hab ich nachts Leute umher gefahren und bin morgens zur Uni.“ „Und hättest du keine liebevolle Verlobte gehabt, wärst du jedes Mal verhungert“, fügte Frau Konoka hinzu und lachte. Ehe sie sich aber setzte blieb sie mitten in der Bewegung stehen. Ihre Augen wanderten zur Seite. „Asami, ich weiß, dass du zu Hause bist. Komm runter, es gibt Essen. Dein Freund sitzt auch hier.“ Wie auch immer sie gehört hatte, dass ihre Tochter da war und wie sie reingekommen war ohne bemerkt zu werden, es sollte nicht lange dauern, bis man Schritte aus der oberen Etage hörte und schließlich wie sie die Treppe runter kam. Asami sah nicht erfreut aus. Vor allem musste sie schon eine ganze Weile wieder zurück sein. Sie hatte sich abgeschminkt und sah gleich jünger aus, hatte sich eine enge Leggings und einen übergroßen und langen Pullover angezogen. Stumm setzte sie sich neben Hisaki und versuchte mit aller Kraft nicht ihre Eltern anzusehen. „Habe ich dir nicht gesagt, dass du dich unauffällig verhalten sollst?“ „Ich habe gar nichts gemacht“, flüsterten sich Hisaki und Asami zu, was absolut unnötig war, da man sie trotzdem gut hörte. „Wo bist du eigentlich gewesen, Asami? Du kannst doch Hisaki nicht einfach hierher bringen und dann so lange verschwinden“, schimpfte ihre Mutter. „Ich hatte Stress mit den Mädels.“ Mit erbosten Gesicht fing Asami schließlich an zu essen. Ihre Mutter schnaufte. „Was für ein Stress?“ „Musst du immer fragen? Ist doch egal, was wir machen.“ „Es ist nicht egal, wenn die Schule mich anruft und mir erzählt, dass du wieder geschwänzt hast.“ „Du hast geschwänzt, Asami?“, fragte ihr Vater nun verblüfft, sie aß aber weiter. „Warum?“ „Keine Lust.“ „Also wirklich, wenn du keine Lust auf Schule hast dann behaupte wenigstens, dass du krank oder so wärst, das wäre authentisch“, sagte ihre Mutter trocken. Asami verschluckte sich, Hisaki hingegen kicherte kurz. Dass wurde allerdings von Asami gehört und sie kniff ihn in den Oberschenkel. Hisaki unterdrückte seinen Schmerz. „Schmeckt dir der Kürbis, Hisaki?“ „Ähm, ja, vielen Dank“, sagte er und vergaß kurz, dass er böse auf Asami war. „Du kannst gerne öfter zum Essen kommen.“ „Was?!“, rief Asami empört, als sie den Vorschlag ihres Vaters hörte. „Warum denn nicht? Wir sagen dir schon so oft, dass du Freunde nach Hause bringen sollst, Kind.“ „Amano und ich sind keine Freunde!“ „Wieso hast du ihn dann nach Hause gebracht? Das machen Freunde. Schämst du dich, weil er ein Junge ist?“ „D-Das ist -“, stotterte Asami, aber es verschlug ihr die Sprache. Ihr Gesicht war genauso rot wie ihre Haare und kurz musste sich Hisaki eingestehen, dass sie so tatsächlich ganz süß aussah. Der Gedanke verflog, als Asami sein schiefes Grinsen bemerkte und ihn böse anfunkelte. „Grins nicht so blöd! Ich helfe dir nie wieder! Sobald du hier rausgehst sind wir wieder Todfeinde!“ „Oh, nun bin ich sogar dein Todfeind. Mein Körper erzittert bereits bei der bloßen Erinnerung an deinen verbeulten Plastik-Zahnstocher.“ „Rede nicht so geschwollen daher! Ich kann so großkotzige Typen wie dich nicht leiden!“, schimpfte sie weiter und Hisaki überlegte (den Mund voll mit Curry und Reis), ob er über ihre kratzbürstige Art hinwegsehen oder lachen sollte. Ihr Vater sah sprachlos hin und her, ihre Mutter verkniff sich das schadenfrohe Lachen ein wenig und aus einem unerfindlichen Grund erinnerten ihn Asamis Eltern plötzlich an Wisemon und Rosemon. „Hör auf zu lachen, ja? Du bist mir wirklich keine Hilfe, Mama.“ „Wie du dich aufregst ist eben lustig. Wieso mögt ihr euch nicht?“ „Ist doch egal! Was mischst du dich immer in meine Sachen ein?“ „Asami, ich möchte nur Interesse an deinen... Aktivitäten zeigen. Ich mache mir manchmal Sorgen“, entgegnete Frau Konoka und klang überraschend ernst. „Ist das deine Entschuldigung, dass du schnüffelst? Habe ich keine Privatsphäre?“ „Du stellst es so hin, als würde ich dich ausspionieren.“ „Wer hat denn letzt meine ganze Klassenliste abgeklappert, als ich mal zu spät kam?!“ „Es war ein Uhr nachts und ich wusste nicht, wo du warst!“ „Das geht dich auch nichts, wann und mit wem ich rumhänge! Ich kann das selbst entscheiden.“ „Asami, du bist erst in die Oberstufe gekommen, tu also nicht so, als hättest du schon die Welt verstanden.“ „Siehst du, du behandelst mich immer noch wie ein Kleinkind! Dich interessiert es nicht was ich mache, du willst mich nur kontrollieren, weil sich die Nachbarn das Maul zerreißen!“ Wütend klatschte Frau Konoka den Löffel auf den Tisch. Man sah, wie sie sich auf die Unterlippe biss und um Selbstbeherrschung rang. Ein vorsichtiges Räuspern ihres Mannes gab ihr schließlich die Ruhe, die sie benötigte um ihr Kind nicht doch anzubrüllen, zumindest nicht vor einem Gast. „Denkst du, mir wäre es nicht lieber, wenn ich das nicht müsste? Mir wäre es ja egal, mit wem du deine Zeit verbringst. Doch ich bin deine Mutter und wenn ich hören muss, dass mein Kind die Schule schwänzt und sich mit anderen schlägt habe ich ein Anrecht auf Sorge. Diese Yankees, mit denen du rumhängst haben schon genug Ärger am Hals. Diese Mädchen bekommen schon Kinder und brechen die Schule ab. Willst du das auch?“ „Es sind nicht alle so...“, nuschelte Asami trotzig und sank in ihrem Stuhl ein. „Kind, ich will nur nicht, dass du dir an den falschen Leuten ein Beispiel nimmst.“ „Soll ich mir etwa an euch ein Beispiel nehmen?“ „Wir wollen, dass du dir überlegst, was du willst und mit dir machst“, mischte sich nun ihr Vater ein. „Du musst nicht werden wie wir. Wir sind eine ganz andere Generation. Aber diese Clique, die du da hast ist nichts für die Ewigkeit. Irgendwann werden auch diese Mädchen erwachsen, doch sie werden es schwer haben und merken, dass sie vielleicht eine falsche Entscheidung getroffen haben.“ Weiterhin beleidigt sagte Asami nichts mehr. Ihr Teller war halb leer, aber sie hatte keinen Appetit mehr. Hisaki schienen sie bei ihrer Diskussion komplett ausgeblendet zu haben, aber so konnte er in Ruhe die kleine Familie analysieren. Spannung lag im Raum und die gute Stimmung war hin, aber irgendwie war Hisaki nicht so unwohl, wie es ihm hätte sein müssen. Asami bemerkte es nicht, aber Hisaki sah sich ihre Eltern an, die, auch wenn sie sie keines Blickes würdigte sanft und nachdenklich wirkten. Sie hatten es gut gemeint. Vielleicht auch etwas im Ton vergriffen, hatte Hisaki ihren Worten doch entnehmen können, wie besorgt sie um ihre Tochter waren. Und wie sehr sie sie liebten. Plötzlich kam sich Hisaki fehl am Platz vor. Die Familienfotos grinsten ihn an. Es war immer noch gruselig. Bei ihm zu Hause hingen kaum Familienbilder. Er und seine Eltern stritten sich auch nie beim Essen. Sie hatten sich auch nie viel zu sagen. Sie wussten, was Hisaki tat, aber sie sagten und fragten nicht. Sie ignorierten es, so gut wie möglich. Sie ignorierten ihn. Kaum dass Hisaki seinen Löffel auf den fast leeren Teller ablegte, stand er abrupt auf und die drei erinnerten sich wieder daran, dass er anwesend war. „Danke für das Essen, Frau Konoka. Aber ich glaube, ich gehe jetzt.“ „Oh je. Haben wir dich vergrault?“, sagte Herr Konoka vorwurfsvoll. „Das tut uns unheimlich Leid.“ „Nein, das ist es nicht. Wirklich. Aber es ist spät, ich sollte zusehen, dass ich nach Hause komme.“ „Amano...?“, sagte Asami verblüfft. Als sie die Hand nach ihm ausstreckte, setzte Hisaki sich in Bewegung, sprang in seine Schuhe und ging mit großen Schritten aus der Türe. Es war frisch draußen, aber angenehm und noch besser, es hatte schon gedämmert und die Straße war leer. Die Nacht war wesentlich angenehmer. Eilig lief Hisaki die Straße abwärts. Er wollte nur so schnell es ging hier weg. „Amano, warte mal!“ Er ignorierte Asamis Stimme erst und als er sein Tempo noch einmal beschleunigen wollte, hatte sie Hisaki bereits überholt. „Was willst du?“, baffte er sie an und statt zu antworten, hielt sie Hisaki seinen Mantel entgegen. „Den hast du vergessen“, sagte sie und beobachtete, wie Hisaki den Mantel wieder an sich nahm und ein gezwungenes „Danke“ brummte. Er steckte die Hände in die Taschen, aber alle seine Habseligkeiten, die er bei sich trug waren noch da. Asami stand vor ihm mit verschränkten Armen. „Hey, tut mir Leid wegen eben. Das war total peinlich“, sagte sie durch die zusammengepressten Lippen. „Hätte dir meine Eltern gern erspart.“ „Sie sind -“, nachdenklich blickte Hisaki die Straße hinunter, hörte irgendwo in der Nähe einen Zug fahren, „- Erwachsene eben.“ „Ja, ich weiß. Sie kapieren es nicht. Wie es auf der Straße läuft und mischen sich dann in alles ein. Was bin ich, 'n Baby? Echt ätzend.“ „Die Einzige, die hier ätzend ist, bist du selbst!“ Erschrocken fuhr Asami zusammen. Hisaki starrte ihr direkt in die Augen und plötzlich verstand sie, warum seine anderen Bosozoku-Freunde, die so alt wie er, aber wesentlich kräftiger und aggressiver waren so eine Heidenangst vor ihm hatten. Durch die helle Farbe wirkte sein Blick stechend und eisig. „Deine Eltern machen sich Sorgen um dich und du beschwerst dich nur! Sei froh, dass sie nach dir suchen und warten, obwohl sie wissen, dass du nur pubertären Blödsinn treibst. Möchtest du lieber verprügelt auf der Straße liegen, ohne dass es wen kümmert? Oder schlimmeres? Ich verstehe immer weniger warum du mit solchen Tussis rumhängst! Kannst du so wenig mit dir anfangen, oder willst du so nötig deinen Eltern einen Denkzettel verpassen?“ „D-Das sagt gerade der Richtige! Gerade von dir muss ich mir das nicht gefallen lassen!“, schrie Asami zurück, dabei ging sie einen Schritt vor und stieß Hisaki mit der Hand gegen die Brust. „Du gibst dich so super wichtig und taff, kommst aber aus einer Familie mit Geld, dackelst brav zur Highschool und spielst Klavier wie so 'n Snob um mit deinem Daddy den tollen Komponisten mithalten zu können.“ „Woher weißt du das?“ Asami klatschte beide Hände vor ihren Mund. Ihre Lippen zitterten, als sie begriff, dass sie sich verplappert hatte, während Hisaki die Arme ineinander kreuzte und versuchte, selbst eine Antwort zu finden. Schließlich hatte er das Klavierspielen nie an die große Glocke gehängt. Von seinen Kumpeln wusste es niemand und außer auf internen Schulfesten spielte er nicht. „Observierst du mich etwa?“, fragte Hisaki und meinte das eher als Scherz, aber so geschockt wie Asami daraufhin wirkte, schien er Recht zu haben. „Warst du auf meiner Schule und beobachtest mich? Oder hast du meine Klassenkameraden ausgefragt?“ „Ich... e-es ist nicht so, wie du denkst“, entgegnete Asami, eingeschüchtert und mit rosaroten Gesicht. „Und was denke ich? Dass du mich bloßstellen willst?“ Weiterhin eingeschüchtert und verängstigt von Hisakis Blicken auf ihr hob sie die Schultern an. Hisaki stand nun direkt vor ihr und merzte damit das letzte bisschen Abstand, dass zwischen ihnen war aus. Aber Asami weigerte sich wegzusehen und während sie sich weiter ununterbrochen in die Augen sahen, wurde sie immer nervöser und ihr Gesicht rosiger. Da hatte Hisaki einen Geistesblitz. „Stehst du etwa auf mich?“ „Was?! W-Wie kommst du darauf?“, krächzte Asami, aber ihr Gesicht verriet sie und Hisaki verengte die Augen. „So, so, deswegen rückst du mir ständig auf die Pelle. Du weißt genau, wo unsere Ecken sind und immer wenn ich eine von euch in unseren Territorium erwische bist du dabei! Du provozierst das und ziehst deine Gruppe mit rein, damit es nicht auffällt.“ „Das hättest du großkotziger, arroganter Snob gerne!“ Asami fauchte zwar wie eine in die Enge getriebene Katze, aber es gab einfach zu viel an ihr, dass Hisaki offenbarte, dass er ins Schwarze getroffen hatte. Und sein erster Gedanken darüber war, dass es ihn nervte. Nicht genug, dass sie ihm nach ging, nun das auch noch. Objektiv betrachtet war Asami zwar ganz hübsch, aber zu gegebenem Zeitpunkt hatte Hisaki kein Interesse für Mädchen oder für irgendwelche Teenie-Gefühle. Warum er sich dann nun dafür entschied, wusste er nicht, auch Jahre später nicht. Vielleicht war er zu aufgewühlt und wusste nicht wohin mit. Vielleicht waren es auch nur Hormone. Während Asami vor ihm stand, ihm nicht mehr krampfhaft widersprach, aber auch nicht den Anschein machte zu gehen, packte er sie an den Schultern. Sie wurde stockstreif und realisierte erst gar nicht, dass sich Hisaki, immer noch mit diesen eiskalten Blick zu ihr beugte und sie küsste. Und für einen Moment, wenn es auch nur ein winzigkleiner war, ließ Hisaki sich gehen. Er öffnete kurz seinen Mund, versuchte an Asamis Lippen zu saugen, ließ aber rechtzeitig von ihr ab, ehe der Gedanke in seinem Kopf aufkeimte, dass er mehr wollte. „Bist du jetzt zufrieden?“, sagte er zu ihr und klang überaus herablassend. Asami, deren Herz einen kurzen Freudensprung gemachte, stand nur irritiert vor ihm. Als Hisaki sie wegschubste, wehrte sie sich kaum. „Jetzt lass mich gefälligst in Frieden! Mit Kindern wie dir, die es nicht schaffen weiter wie über ihren eigenen Tellerrand schauen zu können will ich nichts zu tun haben! Halt dich in Zukunft von mir fern!“ Als Hisaki sich umdrehte, streifte sein Mantel Asami noch, dann ging er schnurstracks wieder seines Weges. Asami selbst blieb nur für wenige Augenblicke wie angewurzelt stehen, versuchte sich innerlich zu ordnen bis sie, keine Ahnung nach wie viel Zeit, mit hängenden Kopf nach Hause ging. Wo Hisaki hingehen sollte wusste er nicht. Vielleicht zu Eri und fragen, ob er über Nacht bleiben konnte. Vielleicht war der Rest seiner Gruppe auch dort und sahen Eri und seinen Kumpeln zu, wie sie ihre Motorräder aufmotzten. Vielleicht auch ins Bill 'n Unbill. Oder sehen, was so in Shibuya abging. Egal, Hauptsache weg hier. Er hatte immer noch den Geschmack vom fremden Speichel auf den Lippen und gleich, wie oft Hisaki mit der Hand über die Lippen strich, er wurde es nicht los. Tatsächlich spürte Hisaki, dass er rot im Gesicht wurde und neben einen Hauch Scham empfand er Wut. Von allen Yankee-Bräuten auf der Straße hatte er ausgerechnet sie küsst. Dann war das auch noch sein erster Kuss. Nun, zumindest der, der von ihm ausging. Sein wirklich ersten Kuss bekam er von einem Mädel aus der Clique (war sie nicht sogar eine Ex von Eri gewesen?). Hisaki war dreizehn, gerade frisch aufgenommen worden und die Mädels der anderen Soldiers in der Gruppe fanden ihn süß. Sagten, er sehe aus wie die vornehmen Jungen aus den schnulzigen Animes, fuhren ihm durchs Haar und eine von ihnen hatte ihn geküsst, kurz nachdem sich noch großzügig an einer Zigarette zog. Es war ekelhaft gewesen und danach war es Hisaki vergangen, es nochmal zu probieren. Er rieb sich mit dem Handrücken noch einmal über die Lippen. „Dusslige Kuh.“ An einer Kreuzung, die wieder auf die Hauptstraße führte fuhren ein Krankenwagen und zwei Polizeiwagen an Hisaki vorbei. Sie ignorierten sogar die Ampeln und als Hisaki wieder in den Sinn kam, dass er ja vorhin schon Sirenen gehörte hatte, kam er zum Schluss, dass es was Großes war. Er tippte auf einen Unfall, passiert oft genug und er wäre weiter gegangen, hätte er nicht kurz ein sehr markantes, schlichte,s aber dafür markerschütterndes Alarmsignal gehört. Keine Sirene oder von einem Auto. Dieser Laut kam aus seiner Manteltasche. Sein Digivice... Sein Gesicht wanderte von dem Digivice die Straße runter. Er sah die blauen Lichter in der Ferne und das Geheule erinnerte ihn an einen Hilferuf. So setzte er sich in Bewegung, begann nach kurzer Zeit zu rennen. An der Unfallstelle hatten sich bereits viele Schaulustige versammelt. Polizisten drängten sie zum Weitergehen. Sanitäter quetschten sich hindurch, um zu den Unfallopfern zu kommen. An einem Bahnübergang hatten aus nicht erklärbaren Gründen die Schranken ihren Dienst quittiert und ein Zug fuhr in einen Bus, als dieser gerade über die Schienen fuhr. Hisaki hörte die Leute nervös Informationen austauschten. Einige sagten, alle Insassen seien tot. Ein paar sprachen davon, dass es ein bis drei Tote gab. Einer sprach, dass nur der Busfahrer tot sei. Hisaki kam kaum durch, als kroch er mehr an den Menschen vorbei, als dass er wirklich ging, bis er in den vordersten Reihen angekommen war. Auf den Knien schaute er an den Beinen des Polizisten vorbei, die erneut alle aufforderte zu gehen und hatte einen doch guten Blick auf das Geschehen. Der vordere Teil des Busses war vollkommen demoliert. Ein paar verletzte wie auch geschockte Zivilisten saßen oder standen dort, weit weg von denen Schienen und versuchten zu erklären, was geschehen war oder erlitten Nervenzusammenbrüche. Er konnte sehen, dass es drei Tote gab. Einer war der Busfahrer selbst, den man noch versuchte zu reanimieren, aber erfolglos. Der zweit eine ältere Dame, die sofort tot war. Der Dritte, ein junger Mann hatte man auch noch versucht wiederzuholen, aber der Versuch scheiterte. Und als die Sanitäter den schwarzhaarigen Jungen in den Leichensack packten, der verkrampft sein Digivice festhielt und dessen hellgrünes Wappen in dem Augenblick jeden Glanz verlor, kam aus Hisakis trockenen Hals ein einziger, gequälter Laut. „Soi... chiro...“   ♬    Die Gründe dieses Unfalls wurden nie vollständig aufgedeckt oder wer letztlich die Schuld daran trug. Die Schranken wurden mehrmals kontrolliert, ebenso der Computer, der sie steuerte, aber alles schien in Ordnung. Auch die Befragung der Unfallopfer ergab nichts. Nur über Soichiros Rolle war man sich uneinig. Einige Mitfahrer sagten aus, er hätte plötzlich angefangen Selbstgespräche zu fuhren, lief im Bus auf und ab und deswegen hätte der Busfahrer nicht den Zug bemerkt. Andere aber, und das war die Mehrheit, sagten aus, dass Soichiro überhaupt der Grund war, dass es nicht mehr Tote gab. Er hätte den Fahrer angeschrien, dass er anhalten sollte, als er dies nicht tat, stürmte Soichiro vor und wollte ihm zum bremsen zwingen. Der Bus kam aufgrund der hohen Geschwindigkeit nicht gleich zum stehen, aber früh genug. Jene Leute, die dies aussagten kamen auch zu seiner Beerdigung, um ihn so Dank zu erweisen. Soichiros Beerdigung war zwei Tage später und dicke, graue Wolken verdeckten den Himmel. Der Morgen war neblig, gegen Mittag zog sich dieser zurück. Herbstblätter flogen umher. Hisaki fühlte sich nicht wohl hier. Er tat es, weil Soichiro sein Freund war und es gehörte sich, dass er ihm die Ehre erwies. Er hatte sich sogar um gesittetes Aussehen bemüht. Die Haare glatt gekämmt, statt seinem Mantel (den hatte Hisaki im Arm) trug er einen schwarzen Blazer, die Krawatte ordentlich gebunden. Die Stimmung bei Beerdigungen war drückend, aber nicht sein Hauptproblem. Ihm wurde erst viel später klar, dass sie alle kommen würden. Kana, als Soichiros Schwester war ihm bewusst und sie weinen zu sehen tat ihm weh. Dann kam nach und nach der Rest ihres alten Orchesters. Touko war als Erste da und Hisaki zu sehen war ihr mehr wie unangenehm, denn als sie ihn in der Menge erblickte, flüchtete sie regelrecht zu Kana. Natsu kam als Nächstes. Er war gewachsen, die Haare an den Seiten kurz geschnitten und er trug eine Brille, die ihm sogar stand. Renta kam als Letztes und er hatte sich von ihnen allen am wenigstens verändert. Das einzig Neue an ihm war der Rollstuhl. Sie alle sahen sich nicht länger an wie nötig. Um Soichiros Urne war sein Amulett mit dem Wappen gebunden, das Digivice im Inneren mit der Asche. Man hatte sich dagegen gesträubt Soichiro damit zu verbrennen und nachdem man sich vor Ort wunderte, dass Digivice und Amulett der enormen Hitze des Krematoriums standhielten verneinte man auch erst sie mit ins Grab zu legen. Mit etwas Nachdruck von Soichiros und Kanas Mutter und ihrem Stiefvater aber gab man bei. Sie fragte sich nicht warum ihr Stiefvater sich dafür einsetzte, aber sie war dankbar. Vielleicht gaben sie sich eine Mitschuld. Hätte es diesen Streit nicht gegeben, hätten die beiden nicht ausziehen müssen. Wie in Trance sah Hisaki zu, wie Soichiros Grab zugeschaufelt und der Grabstein daraufgelegt wurde. Blitz erschienen vor seinen Augen. Er sah statt Soichiros Koutas Tod vor sich. Die Szenerie war ähnlich. Die Mädchen weinten, Natsu sah fort und Renta wie auch Hisaki waren starr. Als sich die Traube aus Trauernden auflöste und nur die engsten Verwandten blieben, ging Hisaki weiter auf Abstand. Er lief an Natsu vorbei, der noch überlegte ob er etwas Kana sagen sollte, aber diese stand nun bei ihrer Mutter und ihrem Stiefvater und schien niemand sonst mehr an diesem Tag sehen zu wollen. Natsu merkte, dass Hisaki ihn beobachtete und versuchte Worte zu finden, doch Hisaki wandte sich von ihm ab, ein wenig mit Scham. Und Wut. Wären diese verdammten Kamikaze-Sisters nicht gewesen, wäre er bei Soichiro geblieben und ihm wäre das nicht passiert. Wenn er selbst nicht gewesen wäre... Hisaki schüttelte den Gedanken aus seinem Kopf. Wenn etwas Schuld war, dann die beschissene Technik. Und vielleicht seine eigenen Anhänger, die Soichiro die letzten Tage und Wochen zur Hölle gemacht haben. Nun würde er sich diese drei erst recht vorknöpfen, das schuldete er Soichiro. Sein merkwürdig nachdenklicher Blick entging Kana nicht, genauso wenig, wie es Hisaki nicht entging, dass sie sich nach der Trauerfeier auf und davon machte. Ihre Mutter passte sie am Ausgang ab und aufgrund der Distanz hörte Hisaki nicht was sie sprachen, er sah nur wie Kana den Kopf schüttelte und ging. Schließlich, ohne zu wissen warum folgte Hisaki ihr. Kana lief in Gedanken versunken umher und bemerkte ihren Verfolger daher auch nicht. Am Bahnsteig verlor er sie aus den Augen, aber die Linie führte wieder nach Nerima. Heim würde sie nicht gehen, ihre Eltern hatten ihr zuvor doch angeboten sie nach Hause zu bringen, dass sie also nun mit der Bahn dorthin fuhr machte keinen Sinn. Es blieb eine vage Vermutung, die Hisaki hegte, aber er sollte recht behalten. Kana fuhr nach Hikarigaoka, um sogar genau zu sein zur Harunokaze Grundschule. Jene Grundschule, auf der sie zuvor alle waren. Nicht mal darüber nachdenkend ob der Hausmeister, der gegenüber von der Schule wohnte sie bemerken könnte oder nicht, kletterte Kana über den Zaun. Wie sie Türen mit einer Haarnadel aufschloss hatte Soichiro ihr schon vor Jahren beigebracht und das Schloss für den Haupteingang zu öffnen war kinderleicht. Das dunkle Gebäude war unheimlich, doch die Geräusche allein schon weckten Erinnerungen. Es hatte sich kaum etwas verändert. Alles war noch wie damals. Kanas Weg sollte sie an den Ende des Korridors im Erdgeschoss führen, wo immer noch der Proberaum für die Orchestergruppe war. Kana sah die Instrumente und glaubte wieder zehn zu sein. Sie steuerte auf eine Flöte zu, die jemand auf dem Notenständer hat liegen lassen. Sie blies hinein, spielte die Melodie von Jack und Jill und dann von der armen Clementine, die ersten Lieder, die man ihr hier beibrachte. Ihr kamen beinahe die Tränen, als ihr Blick auf eine Klarinette fiel und bereute es, so lange keine Flöte gespielt zu haben. „Du spielst noch genau wie damals“, sagte Hisaki, der im Türrahmen stand. Kana schreckte zusammen. „Du? Bist du mir etwa gefolgt?“, fragte sie erschrocken, aber auch erbost zugleich. „Kann man so sagen.“ „Warum?“ „So halt“, erklärte Hisaki und zuckte mit den Achseln. Am Fenster stand ein Klavier, auf das er zusteuerte. Kana verschränkte ihre Arme. „Du bist ziemlich lästig. Ich hab dir neulich schon gesagt, dass du mich gehen lassen sollst.“ „Ich hab deinem Bruder was versprochen.“ „Und was?“, fragte sie deutlich genervt, Hisaki aber antwortete nicht, sondern tippte auf ein paar der Klaviertasten herum. „Sag erst, warum du hierher bist.“ „Ich... ich weiß es nicht. Ich wollte irgendwo hin, wo ich nachdenken kann.“ „Und brichst in eine Grundschule ein?“ „Wir haben hier eben so viele schöne Tage erlebt.... Ich konnte nicht anders.“ „Wir scheinen die gleiche Idee gehabt zu haben.“ Touko stand in der Türe. Während Kana sich zu freuen schien, fühlte sich Hisaki etwas beklommen und Touko fühlt genauso. Sie waren sich so oft über den Weg gelaufen und haben sich zu oft ignoriert. „Bist du uns auch nach?“, fragte Hisaki etwas abfällig. „Wir haben eigentlich damit gerechnet alleine zu sein.“ „Wir?“, wiederholte Kana und Touko machte einen Schritt zurück, um den Blick auf Renta und Natsu freizugeben. Renta, der im Rollstuhl saß und von Natsu angeschoben wurde fuhr in den Raum und lächelte schließlich zufrieden. „Das Orchester wieder in seinem Proberaum versammelt. Wir scheinen uns ja nicht verändert zu haben.“ „Oder ziemlich, wenn wir wirklich gedacht haben, hier alleine zu sein“, meinte Natsu und lächelte ebenfalls, wenn auch eher schüchtern. Laut seufzend ließ sich Kana auf einen der Stuhl sinken und legte den Kopf in beide Hände. „Wieso müsst ihr alle hier sein? Ich will doch nur in Ruhe nachdenken! Ihr habt euch den schlechtesten Moment für ein Klassentreffen ausgesucht!“ „Ich dachte, der schlechteste Moment wäre auf dem Friedhof.“ „Du weißt, wie ich es meine, Natsu! Ich will nur Ruhe...“ Man sah Kana an, dass sie gern einfach losweinen wollte so wie es früher immer tat, wenn ihr etwas zu viel wurde. Doch seit dem Krieg hatten sich ihre Heulattacken reduziert. Zudem war weder ihr Bruder, noch Floramon da, die sie im Ernstfall getröstet hätten. Der Rest begann sich etwas zu schämen, da sie eigentlich gedacht haben, Kana würde sich freuen, wenn sie mitfühlende Gesellschaft um sich hätte. „Weißt du, wie du und Soichiro das erste Mal in diesen Raum kamt?“, warf Hisaki ein, hoffend, dass es Kana auf einen etwas anderen Gedanken brachte. Tatsächlich schien es Wirkung zu sein. Sie dachte nach. „Ja. Ich erinnere mich. Ich habe mich wahnsinnig gefreut im Schulorchester zu spielen. Soichiro und ich haben Mama ewig angebettelt beizutreten.“ „Obwohl du so schüchtern warst“, sagte Renta und lächelte ihr freundlich zu, dabei fuhr er weiter in den Raum, bis er vor Kana war. Natsu und Touko folgten ihm. Nun bildeten sie einen Halbkreis. „Konnte ja nicht jeder so übereifrig sein, du Perfektionist.“ „Bitte, der Oberlehrer von uns war schon immer Hisaki.“ „Wie war das, alter Schnösel?“, fragte Hisaki und man konnte anhand seines Tonus nicht sagen, ob er wirklich beleidigt war oder auf Kosten der Albernheit nur so tat. „Du bist immer grantig geworden wenn es mal nicht richtig funktioniert hat.“ „Soichiro und du habt euch deswegen so oft in die Haare gekriegt.“ „So oft auch wieder nicht“, nuschelte Hisaki Touko zu, wissend dass sie Recht hatte. Er und Soichiro wurden auch nur Freunde, nachdem sie sich einmal ordentlich gefetzt hatten und sich anschließend gegen die Handwerk-AG verbündeten, als sie ihren großen Proberaum beanspruchen wollten. „Da hatte es Natsu schwerer.“ „Nur weil ich der Jüngste war.“ „Schmoll nicht, Natsu. Du weißt ja, vor mir hatten die beiden auch kein Erbarmen“, seufzte Kana. „So wie die Yuki-Onna-Geschichte?“ „Bitte rede nie mehr davon, Touko.“ „Es war nicht böse gemeint", verteidigte sich Hisaki. „Eine Klassenfahrt ohne Gespenstergeschichten ist langweilig.“ „Da war unser Klassenlehrer aber anderer Meinung“, lachte Touko. Ihr Lachen, dass sie erst klein halten wollte war ansteckend. So rückblickend betrachtet, auch wenn Hisaki Soichiro damals Vorwürfe machte, als sie dafür eine Woche Nachsitzen mussten und wie er selbst nur so verdammt blöd sein konnte sich darauf einzulassen – er wusste es doch besser – war es wirklich witzig. Nun auch schloss sich Hisaki der Gruppe an. Sie saßen im Kreis und nachdem das Eis nach all der Zeit gebrochen schien, redeten sie. So, als wären sie nie auseinander gewesen. Wie komisch. Wie überaus komisch. Hisaki empfand nicht einmal mehr die Wut, die er zuvor auf dem Friedhof fühlte. Er saß hier mit ihnen und zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte er sich wieder wirklich wohl. „Meine Eltern sind geschieden“, begann Natsu zu erzählen. „Mein Vater ist ausgezogen und hat mich mitgenommen. Es ist etwas chaotisch, aber uns geht es eigentlich gut.“ „Man sieht es dir an. Deine Mutter hat dich schon immer an der kurzen Leine gehalten“, erinnerte sich Hisaki. „Nicht nur mich, uns alle. Vater ist richtig aufgeblüht und auch meine Schwester fühlt sich freier, nun da sie nicht mehr zu Hause lebt. Und nebenbei jobbe ich in einem Elektroladen in Juuban. Sagt das aber keinem.“ „Ist das der mit dieser niedlichen Kassiererin?“, stachelte Kana – sie ging oft nach Juuban zum bummeln -, Natsu schwieg verlegen und wechselte das Thema. „Was macht ihr so?“ Die Runde Jugendlicher senkte die Köpfe und aus einer irrationalen Angst heraus schwieg man. Touko bemühte sich schließlich einige Worte herauszubekommen. „Bei mir hat sich kaum etwas verändert. Ich lebe immer noch in Nerima bei meinen Eltern und gehe hier zur Schule. Nichts besonderes.“ „Ach, und wer war dieser Student mit dem ich dich letzt in der Stadt gesehen habe? Ist das dein Freund?“ „Yosuke ist nicht mein Freund!“, keifte sie Kana an. Dass Touko laut wurde war selten. Die Jungs grinsten, am deutlichsten Hisaki, der sich an die elfjährige Touko erinnerte, die Jungs immer für so doof hielt und ihn als Paradebeispiel nannte. „Schaut nicht so! Er ist nur ein Student von der Uni, wo ich später Biologie studieren will!“ „Jetzt schäm dich doch nicht“, warf Kana ein. „Ich hab auch einen Freund. Es ist nur ein wenig kompliziert mit seiner Clique. Aber er gibt sich Mühe und ist wirklich sehr lieb und witzig. Das Geld, was ich gespart habe wollte ich dafür nutzen, mit ihm von hier wegzuziehen.“ „Wohin?“ „Nach Osaka. Einfach von vorne Anfangen. Soichiro hat diese Idee begrüßt. Er wollte nicht, dass ich mich auch so in ein Loch ziehen lasse wie er.“ Kana fuhr sich einmal seufzend durch die Haare, dann über das Gesicht. Das Bild des Leichnams ihres Bruders, als sie ihn identifizieren musste und der Urne, die in diesem Loch verschwand war noch zu frisch und trotz der heiteren Gesellschaft spürte sie Schmerz in der Brust. Doch sie riss sich zusammen. Sie wollte dieses ersten Treffen ihrer Freunde seit Jahren nicht runter reißen. Der Anlass ihres Treffens war schon deprimierend genug und die würde noch lange genug brauchen, das zu verkraften. Aber die Ablenkung tat gut. „Renta, erzähl du.“ „Ich geh auf die Tokio International Oberschule“, begann er, aber zögerte, hinsichtlich dass die Trauer in Kana wieder hoch kam. Da sie aber keine Träne vergoss erzählte er einfach weiter, so wie sie wollte. „Außerdem nimmt mich mein Vater oft mit in die Firma, zusammen mit meinem älteren Brüdern. Vater hat sich nicht verändert, aber seit ich im Rollstuhl sitze, haben meine Geschwister angefangen mir den Rücken zu stärken. Wir kämpfen zu dritt gegen Vaters strenges Regime. Mein ältester Bruder, der schon in der Firma arbeitet bindet mich auch aktiv ein. Es frisst Zeit, aber ich mag das Zusammensein mit meinen Brüdern.“ „Ich freu mich für dich“, seufzte Hisaki und Renta nickte ihm dankend zu. „Und der Rollstuhl? War deine Verletzung von damals so schlimm?“ „Na ja, ich bin nicht ganz gehunfähig. Ich schaffe kurze Strecken mit einer Gehhilfe, aber es ist mit viel Schmerz und Anstrengung verbunden. Es ist ein Handicap, aber ich habe gelernt, damit zu leben und umzugehen... und manches zu meinem Vorteil zu nutzen.“, grinste Renta Hisaki an. Den beiden Mädchen war abzulesen, dass sie auch von Renta wissen wollten, ob es wen gab, auf den er zumindest ein Auge geworfen hatte. Und weil es viel zu offensichtlich war, dass Kana und Touko darüber spekulierten, drehte Renta beschämt das Gesicht zur Seite. „Und du Hisaki?“, fragte Natsu und starrte dabei auf die Stickerei seines Mantels. Natsu wohnte zwar in Edogawa, aber auch dort waren the Soldiers bekannt. „Ich wohne mit einem Freund zusammen.“ „Also bist du von zu Hause weg?“ „Kann man so sagen.“ „Und was machst du in einer Bosozoku-Gang?“, fragte Renta. „Ich habe das Sagen in unserer Clique, reicht das nicht?“ „Und wie bist du da reingeraten?“ „So wie Hisaki immer in Schwierigkeiten kommt“, moserte Touko. „Bestimmt ist er ins falsche Loch gefallen, während er im Gehen vor sich hinträumte und hatte wieder ein viel zu großes Mundwerk.“ „Ich habe schon in der Digiwelt bewiesen, dass es funktioniert, wieso also auch nicht hier?“ Die Erwähnung der Digiwelt, wenn auch eigentlich gar nicht beabsichtigt brachte Schweigen. Die Erinnerung, warum sie sich mieden kam zurück. Die Digiwelt war der Grund. Oder eher, was dort geschehen war. Sie hatten damals keine Zeit oder den Raum, das Geschehene in ihrer Psyche wirklich zu verarbeiten. Der Kinderpsychologe, bei dem fast die ganze Gruppe war verglich ihr Verhalten nach dem Auffinden mit dem von Soldaten, die nach Jahren auf Kriegsgefangenschaft entlassen wurden. Der Vergleich war mehr wie treffend. Schlimmer jedoch war nur der Verlust. Koutas toter Körper am Boden des Abgrunds war tief in ihrem Gedächtnis eingebrannt. Es fehlte etwas in ihrer Gruppe und die Depression machte sich diese Lücke zu nutze und die Schmach, ihren besten Freund mit ihrer ersten Todeserfahrung in Verbindung zu bringen. Und dann waren da noch ihre Digimon... „Ob Dorumon weiß, dass Soichiro tot ist?“, fragte Kana, aber sie bekam keine Antwort, nur Touko schüttelte zaghaft den Kopf. „Ich wünschte, wir könnten unsere Digimon kontaktieren. Oder ihnen ein Zeichen schicken.“ „Habt ihr noch einmal versucht in die Digiwelt zu kommen?“ „Mehr wie nur einmal“, seufzte Natsu auf Rentas Frage. „Aber es funktioniert nicht. Außer Musik abspielen tut mein Digivice nicht mehr.“ „Meins auch auch nicht“, fügte Hisaki ein, dabei zog er sein Digivice aus der Hosentasche und las die Uhrzeit ab. Es war zwanzig nach neun. „Ich habe noch die Musikdateien auf dem Computer. Die, durch die der Troubadour damals schon auf uns aufmerksam wurde. Ich habe jede Datei immer und immer wieder abgespielt, in der Hoffnung man würde so wieder eine Verbindung aufbauen können. Es hat natürlich nichts gebracht.“ „Warum auch? Die Digiwelt braucht uns nicht mehr.“ „Scheint so“, seufzte Touko bei Hisakis abfälliger Bemerkung. Kana, immer noch mehr bei ihrem toten Bruder als in der Digiwelt nahm die Flöte in den Mund. Sie brauchte ein paar Versuche, bis sie sich wieder daran erinnerte, wie man die Zunge legen und atmen musste, um die gewünschte Töne zu erzeugen. Beim zweiten Versuch klappte es, nur ihre Finger wollten noch nicht so wie sie. Doch diese einfache Melodie von Stand by me konnte Kana noch zustande bringen. Ihre Freunde, die um sie saßen hörten zu, wie sie dieses Lied für ihren Bruder spielte und klatschten, als sie fertig war. Kana lächelte, aber es verschwand wieder beim Anblick einer neben ihr stehenden Klarinette. „Ob Soichiro in der Digiwelt ist?“ „Sei nicht albern, Kana“, sagte Natsu. „Ich möchte es aber glauben. Soichiro hat sich immer nach der Digiwelt gesehnt, bis zuletzt. Er tat sich so schwer damit. Ich habe die Hoffnung das irgendwas von ihm in der Digiwelt weiterlebt und er mit Dorumon zusammen sein kann. So wie Kouta.“ Nach kurzem Schweigen spielte Kana erneut. Diesmal aber stand Natsu auf und griff sich eine Trompete. Auch er hatte erst Probleme, wieder die richtige Atemtechnik zu finden. Touko war die nächste und holte sich eine Violine, doch spielte nicht gleich, sondern griff nach einem der Cello, dass sie Renta übergab und der es sich zwischen die tauben Beine klemmte. Hisaki überreichte ihm noch den Bogen, ehe er ans Klavier lief. Sie spielten wie früher. In diesem Raum, wo sie sich einst trafen und anfreundeten. Dieser Raum war ihr erster Zufluchtsort vor der Realität, ein Ort voller Lacher. Nun, da sie hier standen und wieder synchron spielten, schien es als hätten sie diesen Ort nie verlassen. Der Takt und die Schwingungen der Musik konnte man im ganzen Körper spüren und legte sich um sie, gleich der Umarmung eines Geliebten, denn man so lange nicht mehr gesehen hatte. Wie schön. Wie nostalgisch. Ob Soichiro und Kouta sie sahen? „Heeey, Minami, Darling!“ „Wir wissen das du hier bist! Komm raus, komm raus, Minami!“, gröllte es draußen von den Fluren. Die fünf hörten sofort auf zu spielen. Während vier sich fragten, wer da so einen Krach veranstaltete und wer hier außer ihnen noch diese Idee hatte in einer Grundschule einzubrechen, verzerrte sich Kanas Gesicht vor Schreck. Mit Minami war sie gemeint. „Minami?“, fragte Renta sie. „Mein Synonym. Verflucht, die müssen mich gesehen haben.“ „Wer?“, fragte Natsu weiter, dann ging die Tür auf. Drei (offensichtliche leicht angetrunkene) Kerle, nicht älter als siebzehn oder achtzehn kamen in den Raum. Hisaki kannte sie und zu seinem Glück schienen sie sich erst nur für Kana zu interessieren und bemerkten ihren Senpai nicht. Das waren seine Leute. Auf den Jacken die Stickerei der Soldiers. Die Typen sprach Hisaki mit Shinozaki, Furuta und Kato an, wenn auf ihren Jacken auch FELDWEBEL 045 und 179 und LEUTNANT 132. Also stimmte es, was Soichiro ihm erzählte. Seine eigenen Leute hatten seinen Freund bedroht. „Kennst du die, Kana?“, flüsterte Touko, Kana aber hob ihre Stimme. „Diese Typen haben mich belästigt und meinen Bruder erpresst!“ „Was heißt hier erpresst?“, schimpfte Kato, der von den dreien am wenigstens betrunken schien. „Wir wurden um unsere Kohle betrogen. Und wenn wir nicht das bekommen, für was wir zahlen wollen wir unser Geld zumindest zurück, samt Entschädigung.“ „Was heißt hier dafür bezahlt? Ich bin keine Nutte, kriegt das endlich einmal in eure hohlen Köpfe rein!“ „Dann zieh dich nicht so an wie eine!“ „Du -“, knurrte Kana wütend. Ihre Beleidigung blieb ihr im Hals stecken, als die drei weiter in den Raum hineinliefen. Sofort fuhr Renta mit seinem Rollstuhl etwas näher an sie heran und auch Natsu machte einen Schritt auf sie zu. „Redet nicht so über sie.“ „Was glaubt ihr, wer ihr seid?“ „Wollt ihr uns etwa Angst machen? Ein Krüppel und ein Zwerg?“ „Und was ist mit mir?“, warf Hisaki ein und kam hinter dem Klavier hervor. „S-Senpai?!“, rief Shinozaki erschrocken. Auch die anderen beiden schluckten, als sie Hisaki sahen. Kato und Furuta waren sogar größer und alle drei breiter gebaut als Hisaki, doch fehlte ihnen die drückende, kalte Aura, die ihn selbst eigentlich immer umgab und wenn er wollen würde, das ganze Klassenzimmer in eine Tiefkühltruhe verwandelt hätte. „Was machst du denn hier?“ „Hat euch nicht zu interessieren“, brummte er. „Und lasst sie gefälligst in Ruhe. Ihr habt sie belästigt, richtig?“ „Wir haben bezahlt!“ „Das heißt nicht, dass ich alles mit mir machen lasse!“, schimpfte Kana weiter, dann hob Hisaki die Hand, um ihr zu zeigen, dass sie ruhig bleiben sollte. „Lasst sie. Das ist keine Bitte, sondern ein Befehl. Oder wollt ihr euch einem Ranghöherem widersetzen?“ Die Unzufriedenheit kam Hisaki spürbar entgegen. Hisaki mochte Hauptmann sein, war aber nicht bei allen beliebt. Man duldete ihn, weil er gute Ideen und stets den Überblick behielt, egal wie stressig eine Situation war. Er mochte nicht stark sein, aber er wusste, was er sagen musste und die Worte waren oft ein Schlag knapp über der Gürtellinie. Und da bei den Soldiers die Rangordnung heilig war, würden die drei es nicht wagen zu widersprechen oder gegen ihren Senpai zu rebellieren. Zumindest zu diesem Zeitpunkt nicht. Es war ein ungeschriebener Codex unter jeder Bosozoku-Gang, dass Einigkeit und Zusammenhalt oberste Priorität hatte. Hisakis Verhalten glich Verrat. Aber das wusste er. „Wer ist da?“, hallte eine kratzige, alte Männerstimme von draußen. „Zeigt euch! Ich habe die Polizei bereits informiert, also stellt euch freiwillig!“ „Das ist der Hausmeister!“, stellte Touko mit Entsetzen fest. „Weg hier!“, rief Natsu und automatisch schnappte er sich Rentas Rollstuhl, um ihn fortzubewegen. Die drei Mitglieder der Soldiers rannten zum Fenster, um von dort aus herauszuspringen, allerdings nicht ohne ihren Hauptmann gezielt anzurempeln. Hisaki sah noch die verachtenden Blicke der drei, ehe sie hinaus sprangen. Obwohl Kana, Touko und auch Hisaki ebenso aus den Fenster hätten fliehen können, rannten sie Natsu und Renta nach. Zwei Klassenzimmer vom Proberaum entfernt gab es noch eine Abzweigung, wo es zum Sportplatz hinausging und von dort hätten sie hinaus gelangen können. Doch die Doppeltür war zu. Natsu rüttelte daran, was logischerweise nichts brachte. „Geh zur Seite!“, forderte Kana auf und versuchte mit ihren Haarklammern die Türe zu öffnen. Von weitem hörten sie die Schritte des Hausmeisters und hinter sich streifte der Lichtkegel der Taschenlampe die mit Kinderbasteleinen und Flyern bestückten Wände. „Kana, mach schon!“ „Hetzt mich nicht so, Natsu!“, schimpfte Kana, doch vor Nervosität rutschten ihr die Haarnadeln immer wieder aus der Hand. Die Schritte wurden lauter. „Touko!“, sagte Hisaki und berührte sie dabei an der Schulter. „Seht zu, dass ihr wegkommt, ich lenke ihn ab.“ „Und was ist mit dir? Wenn er oder die Polizei dich erwischen?“ „Ich bin nicht das erste Mal unerlaubt irgendwo eingestiegen. Ich komme klar“, versicherte er ihr weiter und machte kehrte. Er lief zurück in den Gang mit Klassenzimmern und schlug den anderen Weg ein, aber erst als er sicher war, dass der Hausmeister ihn gesehen hatte. Dann rannte er los, über die Treppe hoch in den ersten Stock, wo einst sein Klassenzimmer war. Von einem der Fenster stand ein Baum, für ein Kind schwer zu erreichen, für einen Teenager aber machbar. Hisaki schloss die Klassenzimmertüre möglichst lautlos und blieb geduckt, bis er hörte wie der Hausmeister den Gang weiterlief, statt die Zimmer zu kontrollieren. Dann öffnete Hisaki das Fenster. So weit sah es nicht aus. Angeblich hätten die Sechstklässer das damals schon geschafft, wieso sollte er es nicht hinbekommen? Er kletterte nach draußen, hielt sich noch am Fensterrahmen fest und brauchte gar nicht einmal so viel Schwung, um hinüberzuspringen. Er schaffte es, auf dem Ast zu landen – doch hielt dieser, anders wie bei den Sechstklässlern damals Hisakis Gewicht nicht stand und brach durch. Hisaki fiel auf den Rücken und blieb vor Schmerz ächzend liegen. Der Schmerz jagte durch die Wirbelsäule und Hisaki blieb liegen, während er sich nach rechts und links drehte, um wieder hochzukommen. Es dauerte bis er es schaffte und als Hisaki wieder hochkam, strahlten ihm zwei Polizisten das Licht ihrer Taschenlampen in sein Gesicht. „Haben wir dich“, sagten die beiden Polizisten triumphierend. Er selbst brachte nur ein Seufzen zustande. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)