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Wintersonett

Which dreamed it?
von

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Konzert XI - WHICH DREAMED IT?, 1. Satz, Vivace tempo primo C-Moll


 

𝄡

 

„Sanzomon.“

Ihren Namen zu hören riss Sanzomon nicht sofort aus dem Schlaf, vielmehr die Erkenntnis, dass es Myotismons Stimme war, die sie rief. Ehe sie die Augen öffnete, versuchte sie sich ihre letzte Erinnerung ins Gedächtnis zu rufen. Sie hatte ihre Kleinen ins Bett gebracht, aber es dauerte nicht lange da hörte Sanzomon sie weinen. Es fing wohl bei den beiden Pagumon an, die durch irgendeinen banalen Reiz an vergangene Tage erinnert worden waren, an den Rassismus, den sie als Viren in einem konservativen Landabschnitt zu spüren bekamen und Sanzomon schließlich selbst gut kannte. Ihre Trauer übertrug sich auf die sensiblen Baby-Digimon, die sich an ähnliche Gegebenheiten und die Einsamkeit erinnerten. Zum Schluss heulten sie alle.

Nachdem beruhigende Worte nicht halfen, blieb Sanzomon nichts als Verstärkung zu holen, die Baby- und Ausbildungs-Digimon zusammenzurotten und sie mit Spielen und Albernheiten abzulenken. Als sie sich irgendwann beruhigten begann Sanzomon ihnen was vorzulesen, dazu führten die Sistermon und ihre Schüler ein passendes Theater mit Handpuppen auf um das Gelesene sichtbar zu machen, während Sirenmon die Geräuschkulisse bildete. Und da hörten ihre Erinnerung auf.

Sanzomon erwachte und sah als erstes Kyaromon, Pupumon und Torikaramon auf ihrem Schoß liegen. Gokuwmon saß an ihrer Seite, der ebenfalls schlief, Sagomon direkt neben ihm. Cho-Hakkaimon schlummerte zwischen den beiden Sistermon. Sirenmon hatte sich eingerollt und den Kopf zur Seite gelegt, dass dieser fast unter ihren Flügeln verschwand (Sanzomon verstand nie, wie Sirenmon so schlafen konnte). Sie alle hatten ebenfalls Baby- und Ausbildungs-Digimon auf oder um sich liegen. Die Handpuppen waren im Zimmer verteilt. Eine Prinzessin, die Sanzomon doch recht ähnlich sah lag fast vor ihr, zusammen mit der eines blonden Mädchens und eines Schafes.

Dann resignierte Sanzomon Myotismon, der in Babamons alten Schaukelstuhl saß und das Buch las, dass Sanzomon den Kleinen vorgelesen hatte, ehe sie selbst eingeschlafen war. Alice hinter den Spiegeln.

„Der Stuhl ist zu klein für dich“, sagte Sanzomon und lachte bei der Feststellung. Myotismon war im Stuhl versunken und zog die Knie stark an. Es wirkte unnatürlich und nicht sehr bequem. Als er Sanzomons Stimme wahrnahm, klappte er das Buch auf der Stelle zu.

„Sieh an, du bist doch wach.“

„Ich bin gerade zu mir gekommen. Wie lange bist du schon hier?“

„Zehn Minuten vielleicht“, antwortete Myotismon mit einem Blick auf eine Handpuppe. Sie sah humanoid auf, ihr Gewand schwarz, die Haare ocker und man hatte ihr ein sehr grimmiges Gesicht aufgenäht. An den überaus tiefhängenden Mundwickeln hatte man Eckzähne aufgemalt.

„Soll das ich sein?“

„Die Handpuppe war vor dir hier“, kicherte Sanzomon , während sie beobachtete wie Myotismon weiter diese Handpuppe anstarrte und dabei fast das gleiche Gesicht zog.

„Die Zähne sind erst vor kurzem aufgemalt worden, das sieht man doch!“

„Die Kleinen dachten, du machst dich gut als Schwarzer König. Sie haben Fantasie.“

„Ich kann der Assoziation nur nicht folgen.“

„Vielleicht die Tatsache, dass du tagsüber genauso tief und fest schläfst und du nun einmal dunkel gekleidet bist?“

Myotismon sprang mit einem Satz aus dem Schaukelstuhl. Ehe Sanzomon sich aufrichtete, legte sie die Baby-Digimon zaghaft und vorsichtig bei Gokuwmon ab.

„Nun, auch wenn mich deine Anwesenheit freut – was machst du hier?“

„Ich habe eigentlich nach meinen Soldaten gesucht“, erklärte Myotismon und deutete auf zwei Bakemon, die in einer Ecke neben den Sistermon und Cho-Hakkaimon lagen und schnarchten, ebenfalls mit Handpuppen in der Hand (ein Hase und ein alter Mann). Sunmon, Moonmon und die drei Choromon lagen bei ihnen und Sanzomon wunderte sich, dass dieses Geschnarche sie nicht weckte, während sie sich langsam auch wieder erinnerte, wie sie die beiden Bakemon in einem der Flure traf und um Hilfe bat.

„Entschuldige, ich habe sie mir ausgeliehen und kam nicht dazu, dich vorher zu fragen. Schimpf nicht mit ihnen, ich habe sie genötigt.“

„Na gut. Wenn du schon die Schuld auf dich ziehst.“

„Soll ich sie wecken?“

„Lass nur. Zu dir wollte ich auch noch, daher trifft sich das sehr gut.“

„Und was ist dein Anliegen?“

„Bereden wir das draußen. Am Ende wecken wir noch jemanden auf.“

Sanzomon warf noch einen umfassenden Blick auf ihre Meute, die friedlich schlief und erst als sie das Gefühl hatte, dass sie sie alleine lassen konnte nickte sie Myotismon zu und folgte ihm hinaus.

„Also, was ist los?“, fragte sie, als sie vorsichtig die Tür hinter sich schloss. „Sind es die Moosemon?“

„Mit denen habe ich keine Probleme. Es sind die Dokugumon, die mir mehr Sorgen bereiten. Ist dir noch nicht aufgefallen, dass sie dem Schloss immer näher kommen und sich immer höher einnisten?“

„Ich sehe sie nie. Dokugumon sind schließlich nachtaktiv.“

Doch bei der Vorstellung wurde Sanzomon mulmig. Problematisch an Dokugumon war ihr hohes Aggressions-Level. Es reichte, dass die Grizzlymon und Moosemon sich nicht verstanden, aber wenn nun noch die Dokugumon dazukämen wäre es eine Katastrophe.

Myotismon reichte der nachdenklichen Sanzomon den Arm und nickte ihr zu. Sie nahm die Geste an, harkte sich bei Myotismon ein und ließ sich von ihn den Gang runterführen.

„Um die Kyubimon und Reppamon brauchst du dir vorerst keine Sorgen zu machen“, sagte Myotismon zu ihr. „So weit oben sind sie noch nicht, aber es könnte bald ein Problem werden. Die Devidramon können sich nicht die ganze Nacht nur um diese Digimon kümmern.“

„Deine Devidramon kümmern sich um sie? Alle drei?“, wunderte sich Sanzomon.

„Wenn Dokugumon vor etwas Angst haben, dann vor Devidramon. Ihnen macht das Gift nichts aus. Außerdem fressen sie die Kudokugumon.“

„Was?!“, schrie Sanzomon und blieb entsetzt stehen nach ihrem Aufschrei, was bei Myotismon auf Unverständnis stieß. „Das sind Baby-Digimon!“

„Es sind schwächere Kopien der Dokugumon, keine eigenständigen Digimon. Meine Fledermäuse sind weiter entwickelt wie sie und sie haben nicht einmal ein eigenes Bewusstsein. Die Devidramon können sich satt fressen und wir verbrauchen weniger Vorräte. Oder willst du eine Kodokugumon-Plage im Schloss?“

In Sanzomons Kopf entstand eine Vorstellung der ganzen Bergspitze, das dem Dornröschen-Schloss ähnelte, nur statt von Dornen war es von Spinnenfäden umhüllt.

„Nein...“, seufzte sie.

„Siehst du? Also lass mich das mit den Devidramon regeln."

„Nur so viele wie nötig, so wenig wie möglich", unterbrach ihn Sanzomon und klang ernst. „Du weißt, wie die Regeln hier bezüglich Gewalt sind."

„Sanzomon, es -"

„Sind Lebewesen", unterbrach sie ihn erneut und noch strenger. Myotismon sah sie ruhig an und wusste, weiter zu diskutieren war sinnlos. Verwirrend war zudem seine eigenen Prinzipien aus ihrem Mund zu hören und was wäre er für ein Digimon, würde er gegen seine eigenen Werte verstoßen?

„Ja. So wenig wie möglich", sagte er, einerseits mit der Idee Frieden geschlossen, andererseits verärgert, dass er nachgab. Doch als er sie lächelnd und erleichtert sah, minderte sich sein Ärger.  

„Aber sag mir, ob du eine Vermutung hast warum sie so weit hochkommen?“

„Ich hatte meine Vermutung, also habe ich Raremon befohlen die unterirdische Strömungen zu untersuchen“, erzählte Myotismon. „Vielleicht gab es einen Erdrutsch oder dergleichen und dieser hat die Verstecke der Dokugumon überflutet. Am besten wäre es sie umzusiedeln, aber ich muss sichergehen, dass keine unterirdischen Strömungen in der Nähe sind. Und da kommst du ins Spiel. Du weißt doch sicher, wo ein geeigneter Platz wäre.“

„Du könntest versuchen mit ihnen zu reden.“

„Dokugumon sind nicht sonderlich intelligent. Sie sind sehr primitiv.“

„Unterschätze nicht wie viel der primitivste Geist verstehen kann.“

„Sie verstehen die Sprache des Stärkeren. Also, wo soll ich mit ihnen hin?“

Sanzomon sagte erst nichts. Sie überlegte zwar und ihr fielen viele geeignete Plätze ein, doch bei den Wasserströmungen musste sie passen.

„Ich weiß nicht, wo überall Wasserströmungen sind“, sagte Sanzomon, doch im selben Moment überkam sie ein Geistesblitz. „Aber ich wüsste, wo man nachsehen könnte.“

„So?“

„Komm einfach mit!“, forderte sie Myotismon auf und nun war sie es, die ihm am Arm zog und führte. Myotismon rechnete damit, sie würde ihn in die Bibliothek oder in ihr Studierzimmer schleifen, stattdessen aber führte Sanzomon ihn in die unteren Ebenen und machte vor einer großen Doppeltür aus Holz halt. Es hing ein Vorhängeschloss dran und es schien einen Schlüssel zu brauchen, doch Sanzomon nahm es nur in die Hand und durch Magie öffnete sich das Schloss von selbst.

Der Raum war stockfinster und hoch. Nur ein paar schwache Mondstrahlen von draußen gaben etwas Helligkeit. Sanzomon schnipste mit den Fingern und zwei Kerzen direkt neben der Türe entzündeten sich.

„Ich habe hier Jijimons Aufzeichnungen verstaut“, erklärte Sanzomon und ging langsam durch die Reihen. „Er hat zu seiner Zeit angefangen die Flora und Fauna auf Grey Mountain zu studieren und hat viele Karten angefertigt. Ich bin sicher, er hat auch Aufzeichnungen über die Wasserströmungen – Ah, da ist es!“

Behutsam zog Sanzomon eine eingerollte Karte aus einem der Fächer und während sie wieder zu Myotismon zurück lief, der mit großen Interesse durch den Lagerraum sah, rollte sie die Karte auf. Mit der ausgebreiteten Karte stellte Sanzomon sich neben Myotismon, damit er selbst schauen konnte.

„Hier ist ein gutes Exemplar. Die Strömungen sind blau aufgezeichnet worden. Ich kann nur nicht garantieren, dass die Karte akkurat ist. Die Natur in, auf und um Grey Mountain neigt leider sehr oft dazu die Daten ständig auszuwerten und umzusortieren.“

Sanzomons Vermutung lag nahe, dass dies mit dem Tor zusammenhing. Gennai achtete schließlich immer darauf, dass die Daten, auch die des Schlosses immer auf dem neusten Stand waren um zu verhindern, dass das Tor gefunden oder manipuliert wurde.

„Hm, ich sehe schon ein paar geeignete Gebiete. Ob die Strömungen noch so verlaufen kann man leicht herausfinden. Was ist mit den Tunnelsystem? Meine Bakemon haben ganze Gänge im Berg entdeckt. Was wäre doch ein guter Ort.“

„Nein“, antwortete Sanzomon knapp und ihre doch entsetzte Aussage weckte in Myotismon Misstrauen.

„Warum nicht?“

„Das sind Fluchtwege. Für den Fall, dass doch... Nun, das Unverhoffte passiert. Außerdem haben Jijimon und Babamon diese Wege als Abkürzung benutzt, um so schneller zwischen Wald und Berg umherzuwandern. Siehst du?“

Sanzomon zeigte das jeweilige Ende der Tunnel, die auf der Karte aufgezeichnet waren. Einige führten bis hinunter zum See, der den Ewigen Wald von der Kaktuswüste trennte.

„Am Ende gelangen die Dokugumon noch wirklich ins Schloss und vergiften jemanden.“

„Ich würde mir eher über ihren übersteigerten Jagdtrieb und ihre Geschwindigkeit sorgen machen, wie um ihr Gift. Dieses ist nicht zwingend tödlich und nur ein simples Nervengift. Ein Gegenmittel ist leicht herzustellen.“

Myotismon nahm die Karte an sich und studierte sie noch einen Moment, sich überlegend, welchen davon diese Weißkutten oder andere Anhänger der Souveränen nutzten um hier ins Schloss zu kommen (die Suche nach Hinweisen brachte nur ein paar Reste von Digizoid in diesen Tunneln zum Vorschein, was ein Indiz war, dass diese Weißkutten hier auf Grey Mountain sein mussten), starrte Sanzomon ihn aufmerksam und interessiert von der Seite an.

„Was ist los?“, fragte er nach einiger Zeit.  

„Ich bin überrascht, dass du dich für Toxikologie interessierst“, sagte sie erfreut. Über die Zeit und Nächte hinweg hatten sich für Sanzomon immer mehr Dinge offenbart. Allgemein war Myotismon etwas offener geworden und ließ sich zu mehr hinreißen. Wenn sie mal wieder Schach spielten, konnte sie ihn dazu überreden einige ihrer eigenen Regeln auszuprobieren. Er brachte ihr Noten lesen bei, sie ihm wie man tanzte (das hatte Sanzomon auf ihrer Reise gelernt). Und doch schien ihr die Zeit so kurz.

Myotismon steckte die Karte wieder ein.

„Ich kann mich nicht nur mit Sozialwissenschaft, Politik und Philosophie beschäftigen, Sanzomon. Diese Themen sind ermüdend und ihre Theorien und Ziele scheitern oft an unterschiedlicher Wahrnehmung, kultureller Entwicklung und der Inkompetenz und Ignoranz ganzer Digimon-Gruppen“, erläutert Myotismon und klang zurückhaltend wütend über diese Tatsache. „Daten zu analysieren liegt mir eher. Chemie dreht sich ausschließlich um Zahlen, Formeln und Daten. Es ist reine Logik, die keine vagen Interpretationen benötigt.“

„Und das kommt ausgerechnet von dir, der Mathematik und Babamons Kräuterlehren immer so sehr hasste.“ „Ich habe meine Meinung eben geändert.“

Dass ihn Babamons Kräuterlehren einige Zeit sogar über Wasser hielten würde Myotismon für sich behalten. Myotismon beobachtete Sanzomon, die ihre Chance witterte nicht nur in Ruhe etwas Zeit mit ihm verbringen zu können, sondern auch etwas aus ihm herauszukitzeln, wenn sie es geschickt anstellte. An den Methoden wie Sanzomon das machte hatte sie in den letzten Monaten ausgiebig gefeilt.

„Hast du dich mit noch mehr Giften beschäftigt?“,fragte sie spielerisch.

„Das ist sehr trockener Stoff. Ich denke nicht, dass es dich begeistern könnte.“

„Ich würde es aber gerne von dir hören.“

Sanzomon stellte sich auf ihre Zehenspitzen und legte ihre Arme in Myotismons Nacken um sich noch etwas nach oben ziehen zu können. Ihre Neugierde blitzte in den Augen und Myotismon wusste nicht, ob das gut oder schlecht für ihn war. Aber interessant war es.

„Du bist doch sonst nicht um Worte verlegen. Und ich kann mir vorstellen, dass sich deine Worte auch auf Papier gut machen.“

„Ich ziehe es vor mein Wissen für mich zu behalten, dass ich nur auserwählten Digimon zuteil lassen würde, die auch etwas von der Materie verstehen.“

„Das verstehe ich durchaus. Aber -“, Sanzomon fing an, an Myotismons Kragen rumzuspielen und ihm tiefer in die Augen zu sehen, „- würde es dich nicht mit Stolz erfüllen, wenn ein Digimon, dass eben nicht viel darüber weiß – so wie ich – dies liest und sich von Worten in den Bann ziehen lässt, über Stunden hinweg und selbst wenn es das Buch zuschlägt die Worte im Kopf behält?“

„Wendest du gerade deine psychologischen, manipulativen Erziehungsmethoden an mir an?“

„Bitte... Ich wurde so gerne etwas von dir Geschriebenes in der Hand halten.“

„Ihr seid nicht sehr überzeugend, ehrfürchtige Hohepriesterin“, sagte er nur und Grinsen umspielte seinen Lippen.

„Bitte.“

„Hm, ich weiß nicht.“

„Bitte... Ich bitte Euch inständig, erhabener Meister.“

„Das klingt schon viel besser...“

Sanzomon zog sich noch etwas hoch und als ihre Füße den Kontakt zum Boden verloren, rutschte ihr Halstuch fast von selbst runter und ihre Lippen Myotismons. Seine Arme, die Myotismon die ganze Zeit über hinter den Rücken versteckt hielt, waren dabei sich um Sanzomon zu legen – sie nicht nur festzuhalten, sondern sie wirklich zu halten -, kam Sanzomon eine Idee und sie ließ sich wieder sinken.

„Ich habe was für dich“, sagte sie euphorisch und zog Myotismon wieder mit sich her, ohne eine Antwort abzuwarten. Man merkte auch nun, wie großer dieser Raum war. Die beiden quetschten sich durch die eng nebeneinander stehenden Regale und Kisten, bis sie am anderen Ende angelangt waren, dessen einzige Lichtquelle schwaches Mondlicht war, dass durch ein schmales, rechteckiges Fenster schien. Sanzomon untersuchte die unteren Reihen und fand unter den vielen Holzkisten und Truhen auch gleich die Richtige. Sie bat Myotismon noch sie mit ihr herauszuziehen. Die Truhe war schwer.

„Was ist da drin?“

„Das ist Jijimons Arbeitstruhe“, erklärte Sanzomon und öffnete sie. Ihr Inhalt kam Myotismon gleich bekannt vor. Die Stifte, die Zirkel, die Federn, sogar das Papier war dies von damals. Jijimons ganzes Werkzeug war darin, sogar mit kleinen Flaschen, Reagenzgläsern und Unmengen an Notizzetteln in der krakligen Schrift des uralten Digimon.

„Es gehört dir“, sagte Sanzomon, nachdem Myotismon sich nur lange schweigend den Inhalt ansah.

„Mir?“

„Irgendwo da drin sind auch Skalpell, Pinzetten und Material um destilliertes Wasser herzustellen. Das könnte dir behilflich sein, falls du noch mehr Gifte genauer unter die Lupe nehmen möchtest.“

„Ich muss ja sagen...“, begann Myotismon und holte ein paar der Notizen heraus, die Jijimon in der Kiste hinterließ. Überwiegend Zeichnungen, auch von Sanzomons Lieblingsblumen, den Seerosen – mit einer kleinen Zeichnung in der der Ecke, wie sie einst aussahen, ehe sich ihre Daten veränderten.

„Deine Seerosen würde ich gerne genauer untersuchen. Nur um zu wissen wie stark sie wirklich sind.“

„Nicht besonders, sonst würde ich keinen Tee daraus machen.“

„Weil du nur ihre Blätter benutzt und nicht die Knolle, in der sich die meisten Inhaltsstoffe befinden. Nur warum vertraust du mir das hier an?“

„Jijimon hätte es sicher gefreut, wenn ein Digimon sein Werkzeug bekommt, dass damit auch umzugehen weiß“, erklärte sich Sanzomon, dann wurde ihre Stimme ruhiger. „Außerdem wollte ich dir eine Freude machen. Meine Arbeit nimmt mich immer sehr ein. Bei den Kleinen helfen wir uns gegenseitig. Kann ich mich nicht um sie kümmern, sind meine Schüler da. Aber bei dir denke ich oft, dass du zu kurz kommst.“

Vor Sanzomon lagen ein paar Stufen und sie ließ sich auf der obersten nieder, dabei stützte sie ihre Arme auf der Truhe ab, die Myotismon schloss, ehe sich neben sie setzte. Er schnaufte.

„Sanzomon, ich bin ein Ultra-Level-Digimon. Ich kann mich selbst beschäftigen und auf mich aufpassen.“

„Das meine ich nicht. Du machst so viel für uns. Du kümmerst dich nachts hier um die Gegend, du vertraust mir deine Truppe an und du bist sogar mein persönlicher Lektor. Im Vergleich zu dem tue ich kaum etwas für dich, während ich gleichzeitig den ganzen Tag alles für meine Schützlinge tue. Dabei möchte ich auch mehr Dinge tun, die ganz allein dir zu Gute kommen.“

„Wärst du lieber frei?“, unterbrach Myotismon sie.

„Von was?“

„Von dem allem hier. Würdest du lieber rein nach deinen Instinkt handeln? Oder das, was eben in der Natur von Digimon wie dir liegt? Reisen und Entdecken, statt hier festzusitzen, weil Pflichten und Regeln das von dir erwarten?“

Ein Schauer überkam Sanzomon, obwohl kein Wind wehte. Sie rieb sich den Arm und widerstand den Wunsch Myotismons eindringlichen Blicken auszuweichen. Sanzomon legte ihre Hände gefaltet auf ihren Schoß. Alles um sie herum strahlte bläulich.

„Manchmal würde ich gerne wieder in die Welt hinaus und reisen“, gestand sie vorsichtig. „Ich habe viel gesehen. Das meiste davon war schrecklich. Aber viele kleine Dinge waren eine bewegende Erfahrung. Und ich wünsche mir, dass jene Digimon, die ich hier großziehe auch diesen Schritt und diese Erfahrungen machen können. Ohne Angst versteht sich.“

„Also bereust du nicht hier zu sein?“

„Niemals. Ich bin auf Reisen gegangen um zu erlernen und ich habe gelernt wo mein Platz in dieser Welt ist. Ich bin kein Kämpfer, aber ich kann andere Digimon zu solchen ausbilden, wenn sie es wünschen. Ich halte ihre Hand und schenke ihnen was sie brauchen, bis sie meine Hand nicht mehr brauchen. Sie ziehen zu sehen, das macht mich stolz.“

Ihre rechte Hand öffnete Sanzomon, um die Handinnenfläche anzusehen. Der erste Gedanke war, wie viele kleine Digimon sie schon damit umhergetragen und wie viel sie damit, auf einer reinen geistigen Ebene ausgegraben hatte. Der zweite, dass immer noch Tintenreste an ihren Händen waren.

„Wurdest du dieser Aufgabe auch weiterhin nachgehen, auch wenn es keinen Grund dafür gäbe?“, fragte Myotismon sie und während Sanzomon kurz nachdachte, was sie sagte, merkte sie nicht, wie sein Ton kurz umschlug. Der tiefe, breite Ton eines Hintergedankens.

„Natürlich. Denn das ist, was ich immer wollte. Aber würde ich auf Reisen gehen, würde ich euch alle mitnehmen.“

„Was würdest du gerne einmal sehen?“

„Also... Es gibt viele Ecken, die ich den Kleinen schon immer einmal zeigen wollte, und -“

„Ich fragte, was du sehen willst.“

Sanzomon erschrak kurz, als Myotismon sie kalt und scharf unterbrach. Um so paradoxer schien es, dass seine Mimik so sanft wirkte. Er saß nur da, das Kinn ruhig auf seiner Hand liegend und wartete geduldig. Er erinnerte Sanzomon an Schnee bei Nacht. Schnee und Nacht und der Norden...

„Aurora Polaris...“, hauchte Sanzomon zu sich selbst und merkte erst anhand von Myotismons Stirnrunzeln, dass sie ihren Gedanken ausgesprochen hatte. „Ich habe noch nie Polarlicht gesehen. Ich habe davon erzählt bekommen, aber ich war nie weit genug nördlich, um es wahrhaftig sehen zu können. Dabei soll es wunderschön sein.“

„Ist es auch. Man hat nur nicht überall im Norden die Gelegenheit es sehen zu können. Seit die Meister der Dunkelheit ihr Unwesen treiben hat dieses Naturphänomen nachgelassen und Wolken behindern die Sicht. Aber ich kenne ein paar verstecke Winkel wo die Chance gut ist, solch einen Anblick erhaschen zu können.“

Nun war es Sanzomon, die ruhig dasaß und wartete, dass Myotismon weiter erzählen würde, während sie seinen Klang analysierte. Er wusste, welche Tasten man bei Sanzomon drücken musste, um ihre Neugierde zu wecken und sobald dies passierte, war sie für fast alles zu begeistern und wenn es eine Schandtat war (zu Babamons Leidwesen). Doch wie so oft nahm Sanzomon diesen offensichtlichen Köder nicht an.

„Ich verstehe, was du sagen möchtest. Aber mein Platz ist hier. Meine oberste Priorität ist die Sicherheit aller hier. Ich habe Pflichten, die ich nicht für mein Vergnügen ablegen kann.“

„Wo ist denn deine Neugierde hin?“, fragte Myotismon mit einem leisen Lachen.

„Ich habe über die Zeit auch gelernt mich zu zügeln. In Zeiten wie diesen darf man nichts riskieren. Ich habe andere Dinge, an denen sich meine Wissbegier ausleben kann.“

„Und wenn diese Zeiten vorbei wären?“

Sanzomon starrte. Es war ruhig und irgendwie war diese Ruhe bedrückend.

„Wenn du keine Angst mehr vor Piedmon haben müsstest oder davor, was er mit deiner Kinderschar machen könnte – meinst du, du könntest dann deine Pflicht ablegen? Und sei es nur für eine Nacht?“, fragte Myotismon und beäugte sie weiter sehr eindringlich. Sanzomons Unterlippe zitterte unter ihrem Halstuch und strich nervös ihre Haarsträhnen zur Seite.

„Ich... A-Also, Myotismon, ich...“

„Hör mir einmal zu, Sanzomon“, unterbrach Myotismon sie wieder und nahm diesmal ihren Kopf in seine Hände. „Wir warten doch beide auf den Tag, an dem wir all das hier nicht mehr machen müssen. Wir glauben auch beide, dass dies der Tag sein wird, an dem sich alles in der Digiwelt ändert. Möchtest du das nicht mit eigenen Augen sehen?“

„Doch, natürlich möchte ich das“, sagte Sanzomon, nicht zu energisch, aber nicht so leise und zurückhaltend wie die ganze Zeit und Myotismon schenkte ihr dafür ein Lächeln.

„Siehst du. Und wenn wir diesen Tag irgendwann erreicht haben, nehme ich dich mit in den Norden und zeige dir das schönste Polarlicht, dass ich finden kann.“

Von den schmeichelnden Worten überrumpelt merkte Sanzomon nicht, wie die kalten Hände sie losließen.

„Du kannst es danach natürlich auch deiner Anhängerschaft zeigen, wenn du darauf bestehst dein Wissen zu teilen.“

„Das werde ich auch. Aber wenn ich es das erste Mal sehe, dann möchte ich das mit dir. Nur mit dir“, entgegnete sie und verlegen schaute Sanzomon kurz zur Seite. Sie hoffte, nicht allzu rot im Gesicht zu werden, dass war ihr immer peinlich.

„Aber bist du sicher, dass du das willst?“, fragte Sanzomon.

„Ich würde dieses Angebot nicht machen, wenn ich nicht vor hätte es auch in die Tat umzusetzen.“

„Nur was wenn wieder etwas passiert, nun, wie die letzten Male, als es schneite?“

„Schon gut. Darum musst du dir keine Sorgen machen. Es ist belanglos.“

Die Luft, die Sanzomon einzog um Widerworte zu geben blies sie sogleich wieder aus. In ihrem Inneren bahnte sich ein Konflikt zwischen ihrem Versprechen und ihrer eigenen Natur an. Die letzten Monate hatte Sanzomon geschwiegen, obwohl es Hinweise gab, die, hätte sie diese bei ihren Mündel bemerkt sie sofort wissen lassen, dass die Albträume an die Oberfläche krochen und ein Erdbeben auslösten, dass sich durch Streit, Weinen und absoluter Starre offenbarte. Myotismon war kein Ausbildungs-Digimon, er ging wesentlich besser damit um. Aber etwas lag auf seiner Seele (die Myotismon selbst natürlich verneinte) und ihn zu sehen, wie er für sich auf dem kleinen Piano spielte und sich verzog, löste ebenso diesen Alarm aus. Ebenso der kalte Blick, wenn er feststellte, dass sie den Digimon ihre Lieblingsgeschichte vorlas, der gleiche Blick wie damals schon, wenn Babamon nach ALICE IM WUNDERLAND griff. Und doch sah Sanzomon Myotismon hin und wieder in diesem Buch blättern.

Er würde sie mit Ignoranz strafen. Aber Sanzomon konnte nicht mehr wegsehen.

„Wieso hasst du Alice im Wunderland so sehr?“, sagte Sanzomon nach langer Zeit und etwas verwirrt über diese Frage weiteten sich Myotismons Augen.

„Man kann ein Buch nicht hassen.“

„Glaubst du, ich merke wirklich nicht, wie du es anstarrst? Es ist, als wolltest du dem Autor einen Vorwurf machen.“

„Sanzomon, hast du deine eigenen Worte vergessen?“

„Es ist nur – ich mach mir Gedanken.“

„Über was?“, fragte Myotismon und man hörte bereits, dass die Richtung, die dieses Gespräch einschlug ihm missfiel. Tatsächlich bekam Sanzomon auch ein schlechtes Gewissen und bereute es. Sie hatte doch versprochen, nicht mehr zu fragen. Aber wer wäre sie, wenn sie nur zusehen würde? Aber würde er ihr antworten? Schließlich war Myotismon geschickt darin, den Kernpunkt zu umgehen, auszuweichen und doch gleichzeitig einen klaren Punkt zu setzen. Vielleicht konnte sie ja -

„Warum träumt der Schwarze König von Alice?“, fragte Sanzomon schließlich und war es nun, die verwundert dasaß, da Myotismon nicht unbedingt so auf die Frage reagierte, wie sie es erwartet hätte. Natürlich wunderte er sich, doch er verstand welches Spiel Sanzomon spielen wollte. Er wusste, wie sie ihn in ihren geheimen Briefen nannte und still und heimlich fragte sich Myotismon manchmal, ob es blanker Zufall war oder ob sie ahnte wer oder was er war.

Sanzomon wartete, aber ihr Blick war nicht fordernd. Myotismon konnte davon ausgehen, wenn er schweigen würde, würde sie es akzeptieren. Er musste nichts sagen. Sie würde es gut sein lassen.

Aber wenn er doch sprach? Würde sie es verstehen? Würde sie wissen, was Wunderland-Gerede war und was Realität? Piedmon hätte es verneint, doch Myotismon schätzte Sanzomon nicht nur weit empathischer ein, sondern auch wesentlich intelligenter.

„Vielleicht...“, begann Myotismon leise und kam Sanzomon dabei etwas näher. „... weil Alice das einzig Gute im Wunderland war, was der Schwarze König je zu sehen bekam. Ein unschuldiges Kind aus einer Welt, mit anderen Regeln und Gesetzen. Ich weiß nicht ob sie sich je trafen, aber Alice ist für den Schwarzen König alles. Er träumt, um sich einzureden, dass Alice noch bei ihm sei und alles im Wunderland nicht so schlimm ist. Zumindest bis er erwacht und er sehen muss, dass seine Alice nicht an seiner Seite ist. Und dass das Wunderland nicht so wunderbar ist. Das Höchste, was er sehen wird ist, wie tief es fallen kann. Weißt du, wie so eine Welt aussieht, Sanzomon? Weißt du es?“

Sanzomon bewegte sich nicht, auch nicht als Myotismons Finger über ihr Gesicht strichen und unter ihrem Kinn stoppen, um so ihren Kopf anzuheben.

„Wenn der Schwarze König erwacht, wird er Alice suchen und feststellen, dass Alice fort ist, weil Alice es im Wunderland nicht mehr aushielt. Eine Welt die Wut und Scham sogleich weckt. Man will sie mögen, man kämpft sogar um diese Welt, weil man sie ja mag. Aber wenn man eine Weile die Augen aufhält erkennt man schnell was schief läuft. Und wenn man noch länger schaut, sieht man den Wahnsinn. Das Chaos in den Köpfen aller, am meisten in denen, die beteuern das Chaos beseitigen zu wollen.“

Von den Worten in Eis verwandelt bewegte sich Sanzomon immer noch nicht. Mehr zu tun wie zuzuhören erschien unangemessen. Myotismon redete ruhig und langsam und doch waren diese Worte erfüllt von Zorn auf die Digiwelt. Sie nahm nicht einmal wahr, dass sich sein Gesicht ihrem näherte.

„Der Schwarze König träumt von Alice, denn ohne Alice hält er es nicht aus. Alice allein bewahrt ihn vom Wahnsinn. Und wenn er erwachen würde und der Traum endet...“, flüsterte Myotismon ihr ins Ohr. Sein Atem war bitterkalt wie jeder einzelne Satz, der über ihr Gehör in ihren Kopf gelang um die Kälte von dort aus ihren gesamten Körper einzunehmen. Unscheinbar, fast lautlos. Wie Schnee.

Myotismons Finger krallten sich in ihre Haare. Es tat weh.

„... was glaubst du macht er dann mit dem Wunderland? Mit einer Welt, die sich nur selbst auffrisst? Deren jede einzelne schlechte Eigenschaft er kennt und zusehen musste, wie sie immer mehr von innen verfaulte und die Fäulnis selbst auf jene überging, die mit ihm auf dem Schachbrett kämpften? Glaubst du, er würde so ein Land regieren wollen, wissend, dass sich das Chaos nur ständig wiederholt?“

Leere herrschte in Sanzomons Kopf, obwohl sie angestrengt versuchte nachzudenken. Myotismons Worte haben sie innerlich erfrieren lassen und ihre Sinne schienen wie verlangsamt. Sie brauchte etwas, bis sie merkte, dass Myotismon seine Hände auf ihren Schultern ablegte und ihr wieder ins Gesicht sah.

Dann begann ihr Verstand zu arbeiten, die ganze Maschinerie ihres Geistes, die die Worte einfingen und den Klang darin zu deuten. Dieser hieß Apartheid.

„Du hast keine Amnesie...“

„Das habe ich auch niemals behauptet“, sagte Myotismon und seine Ruhe schien so unpassend für die Situation.

„Aber warum sagst du nichts?“

„Weil ich vergessen will. Ich will diesen... Anblick vergessen und jeden einzelnen Reiz, der in meinem Verstand eingespeichert ist. Du magst viel gesehen haben, Sanzomon. Doch von dem was ich weiß, bis du noch weit entfernt.“

Obwohl immer noch nur Myotismons Hände auf ihren Schultern lagern, schien Sanzomon zu glauben seine Last würde nun auch auf sie übergehen, während dieser von Hass triefende Blick sie weiter bewegungsunfähig machte. Hass, so stark, dass Sanzomon nicht einmal graben müsste, um ihn zu sehen.

Und dies reichte. Selbst Myotismon war überzeugt, dass es besser war, wenn sie niemals mehr erfuhr. Wie es aussah, wenn die mit Geierkrallengift gefüllten Spritzen im zu grellen Licht der Wiederherstellungslager aufblitzten oder das Weiß der Zimmer, wo die Umschulung und Umerziehung jener Digimon stattfand, denen man zuvor das Gedächtnis nahm. Digimon zu sehen, die auf ihrer Flucht verletzt wurden und niemand half ihnen, weil sie den falschen Typus hatten. Das Lachen und der Hohn der Artgenossen, die sich über unreine Serum-Digimon echauffierten. Lager, die Nachts errichtet wurden und kaum dass die Morgensonne den Boden berührte musste man feststellen, dass Viren die Digimon allesamt im Schlaf überfallen und getötet haben. Und dieser Wind der einem den Staub ins Gesicht schlug und noch bevor man diesen markanten, metallischen Geruch vernahm wusste man, dass dies kein Staub war, sondern die Reste hunderter Digimon, die ein Dämonenkönig mit nur einer Armbewegung umpustete.

Doch man unterdrückte den Ekel – der zitternden Kinderhand zuliebe, die man niemals loslassen wollte. Diese zarte, warme Hand von Alice, aber immer wenn sich Myotismon daran erinnerte, erinnerte er sich an Alice' Gesicht, als er...

(Hört endlich aaaaaaaaauf!)

(Ich liebe dich)

„Ich will vergessen. Doch ich höre Musik und kann es nicht. Ich sehe den Schnee und ich kann nicht vergessen.“

„Wegen Alice?“, fragte Sanzomon. Zwar saßen sie sich dicht gegenüber,doch Myotismon schien erst, als er ihre warme, weiche Stimme hörte wieder zu begreifen, dass sie anwesend war.

„Du sagtest, dir fehlt etwas. Ist das Irgendetwas das, was Alice für den Schwarzen König ist?“

„... Ja.“

Es gab viel, was Sanzomon nun gesagt und gefragt hätte, doch jedes Wort schien ihr unangemessen. Die Kraft und Gefühl kehrte in ihre Arme zurück, nachdem sie lange wie taub erschienen. Sanzomon wollte sein Gesicht berührten, doch Myotismon packte sie am Handgelenk, um es zu verhindern.

„Glaube nicht, dass ich mich als Opfer oder dergleichen sehe. Sich als Opfer zu präsentieren ist mit Tränen getarnter Narzissmus. Ich brauche kein Mitgefühl. Aber ich plädiere auf mein Recht zu hassen. Und das solltest du auch, wenn du nicht weiter von der Digiwelt ausgenutzt werden willst“, knurrte Myotismon und ließ anschließend Sanzomons Hand los. Mit ihrer anderen fuhr sie über die Haut, auf der sie immer noch den Druck spüren konnte. Diesen Hass...

„Verzeih...“, hauchte Sanzomon beschämt.

„Hör auf dich ständig zu entschuldigen. Das bleibt aber unter uns, verstanden? Ich will nicht bereuen, dir vertraut zu haben.“

Sanzomon registrierte die leichte Drohung hinter der Aussage nicht. Sie freute ich mehr darüber, dass Myotismon zugab, dass er ihr vertraute.

„Du sollst es nicht bereuen. Ich freue mich, das von dir zu hören.“

„Aber ich möchte eine Gegenleistung“, forderte Myotismon und rückte daraufhin näher an Sanzomon heran.

„Und die wäre?“

„Warum vergisst du nicht, was deine Geschwister mit dir taten und beteuerst stattdessen, ihnen vergeben zu haben?“

Das von einem Lächeln erhellte Gesicht Sanzomons löste sich in Bruchteil einer Sekunde auf. Doch sie schwieg und plötzlich auch überkam sie Unbehagen. Sie wusste, er beobachtete nun jede ihrer Bewegungen, würde aber, selbst wenn er alles schon wüsste schweigen, nur um es von ihr zu hören.

„Also warum?“, forderte er weiter, während Sanzomon, eher sie sprach ihre Hand auf die legte, an der noch die Tinte hing.

„Ich habe mich zu Beginn meiner Reise viel mit Politik und Geschichte beschäftigt. Ich habe jede einzelne Schrift verschlungen. Ich weiß, was in meiner alten Heimat geschah, ehe die Souveränen erschienen. Es war grausam. Und die Digimon, die es überstanden mussten mit diesen Erinnerungen an Trümmer, Hunger und Gewalt weiterleben. Sie verdrängten es irgendwann, doch der Hass auf Viren und Andersdenkende keimte weiter auf diesem Nährboden aus Angst, Verzweiflung und dem Mangel an Perspektive."

Sanzomon legte ihre Hände übereinander, aber sie hielt sie nicht still. Sie schwitzten und Myotismon hatte den zusätzlichen Verdacht, sie versuche mit aller Gewalt die Tinte von ihren Fingern zu reiben. 

„Und dies übertrug sich auf jede weitere Generation. Sie haben vergessen, um hassen zu lernen. Hass ist der Nährboden aller Kriege in der Historie der Digiwelt. Und er entsteht, weil man vergisst oder verdrängen will. Aber ich darf nicht vergessen, auch die unangenehmen Dinge nicht. Ich darf nicht so werden wie sie, wenn ich diesen Teufelskreis durchbrechen will. Auch meinen Kleinen zuliebe nicht. Sie sollen nicht so werden.“

„Sie werden aber, Sanzomon. Du sagtest selbst, dass einige von ihnen den Rassismus zu spüren bekam. Die alte Generation gibt ihre alten Predigten an die neue weiter. So etwas stirbt nie aus.“

„Nein. Sie werden so nicht“, widersprach Sanzomon weiter. Doch Myotismon, der sonst so seine Probleme mit Widerworten hatte war nicht einmal erzürnt, nur verwundert.

„Sie kennen die alten Spottreime von damals. Egal ob es die der Serums oder die der Datei oder Viren ist“, erzählte Sanzomon äußerst ernst und aufgebracht. „Sie singen sie sogar und albern herum. Babamon hätte ihnen dafür eine übergezogen, ich habe sie gelassen. Aber das, was sie vermitteln sollen kommt nicht an sie heran. Sie wissen, dass das was in den alten Kinderreimen gesagt wird Humbug ist. Viren sind nicht brutal und Serums nicht herzlos. Wir haben ihnen das jeden Tag wieder bewiesen. Sie haben von uns gelernt und sie sollen weiter lernen. Nur hassen nicht. Dafür muss ich diese Erinnerungen bewahren, so sehr es mich quält. Der Geruch der Geierkrallen... Jeden einzelnen Schubs ins Wasser... Und jede kalte Nacht...“

Kalte Luft strömte hinein und Sanzomon war sich im ersten Augenblick nicht sicher, ob dass nur eine Täuschung war, weil sie gerade an diese vergangen, bitterkalten Nächte zurückdachte. Nächte zwischen Steinen, die Artgenossen keine fünf Meter entfernt und doch schien die Distanz zu ihnen unendlich.

„Ich habe mir bei ihren Streichen eingeredet, dass sie mich nur ärgern wollten. Das tat man doch unter Geschwistern. Doch wenn sie schliefen und ich mich zu ihnen legen wollte, gingen sie auf Abstand. Ich sei komisch... ich sei schmutzig... Der Hass der alten Generationen hatte ihre Herzen verseucht...“

Ihr Blick fiel auf die Tintenreste, die sie nicht abbekam, egal wie stark sie rieb.

„Und ich saß außerhalb, habe mir den Himmel angeschaut, habe Sternbilder gesucht und Sternschnuppen gezählt, damit ich nicht darüber nachdenken musste, wie es wäre, bei ihnen zu liegen... Auch wenn sie mich hassten, waren sie doch meine Geschwister...“

Sanzomon hob ihr Gesicht. Traurigkeit zeichnete sich darin ab. Ihr war kalt geworden und sie rieb sich wieder über die Schultern. Sie wollte etwas fragen und Myotismon sah es ihr an, genauso wie sie sich es kaum traute überhaupt zu fragen. Myotismon war kein Digimon für so etwas.

Jedoch und nicht zuletzt bekannt dafür, doch immer wieder eine Überraschung aus dem Hut zu zaubern hob Myotismon, wenn auch etwas beklommen die Hand. Sanzomon zögerte noch und erst nach wenigen Sekunden streckte sie auch ihre aus. Sanzomon berührte mit ihren Fingerspitzen nur die Oberfläche von Myotismons Handschuhen und der aufgenommenen Reiz löste eine Kettenreaktion aus, über die sie keinerlei Gewalt besaß. Sie sprang auf, in Myotismons Arme hinein und ihr entwich ein Seufzer, als seine Arme, nachdem die Überraschung verflogen war sich um sie schlossen.

Es war ungewohnt still. Das ganze Schloss schien aus Rücksicht zu schweigen, um den Moment nicht die Intimität zu nehmen. Einzig was man hören konnte war Sanzomon, die Luft einzog, den Geruch einatmete und fühlte, wie warm sie in ihrem Gesicht wurde. Ihre Arme schlangen sich enger um Myotismons Körper. Das Pochen in ihrer Brust war so stark, dass es weh tat.

Sie sah nicht den Zwiespalt in Myotismons Gesicht. Es blieb im Dunkeln und ungesehen, aber es barg Böses und Freude über Sanzomons Offenherzigkeit mit der verbundenen Naivität. Er sollte etwas zu ihr sagen, hielt aber für einen Moment inne und das Böse verschwand aus seinem Blick. Dabei war der Augenblick perfekt. In die Labilität getrieben und weinend in seinen Armen hätte er Sanzomon leicht überzeugen können und wie schmackhaft eine Welt wie seine war. Es hätte die perfekte Nacht sein können, in der Myotismon nicht nur einen großen Schritt in seinem Plan weiter wäre, sondern auch Sanzomon zu seiner Braut gemacht hätte, die nicht mehr über so einen Unsinn wie ein Herz und eine Seele nachdachte.

Woher aber dann dieser kleine Stich in seiner Brust, ähnlich dem, wenn er über Alice nachdachte? Dieser kleine, aber verheerende Schmerz eines schlechten Gewissens und der Zweifel das Richtige zu tun?

Statt also Sanzomon mit Süßholzraspelei in die Fänge einer emotionalen Abhängigkeit zu treiben, damit er leichtes Spiel haben könnte wenn er Sanzomon mit in eine Welt zog, wo etwas wie das, was sie erfuhr nicht mehr passieren würde, tat Myotismon etwas, was er sonst nie tat – er war ehrlich.

„Ich bin nicht hier, damit wir gegenseitig Wunden lecken können. Das ist nicht meine Art. Du musst selbst klar kommen, statt dich von irgendeinem anderen Digimon abhängig zu machen. Die meisten Dinge während seines Daseins entscheidet man alleine. Aber wie ich dich einschätze, weißt du das.“

„Ich weiß es. Ich habe auch nie etwas anderes von dir erwartet“, hauchte Sanzomon und presste sich noch mehr an ihn. „Ich habe diesen Weg gewählt. Ich muss ihn gehen, um nicht selbst diesen Hass zu verfallen. Und alles was ich möchte ist zu wissen, dass ich zu dir kann, wenn ich den Schmerz und das Brennen nicht mehr ertrage. Und es wäre mir eine Ehre, wenn auch meine Arme der Ort für dich sein könnten, an dem du Linderung und Frieden finden kannst.“

Ihr erster Blick in die Augen des anderen nach langen, langen Minuten war nicht so emotionsgeladen, wie Sanzomon erwartet hätte. Sie sah nur Myotismons nachdenkliches Gesicht und wenn ihr dies sonst eigentlich doch gefiel, wurde ihr mulmig. Noch mehr noch, als Myotismon die Umarmung löste, die Hände wieder auf ihre Schultern legte und sie von sich drückte.

„Wir sind Daten, Sanzomon. Nur Daten.“

„Denkst du wirklich, Daten sehnen sich nicht auch manchmal nach... so etwas? Wir sind doch trotz allem Lebewesen und als solches sucht man doch danach. Nenn mich verrückt – aber ich bin froh, dass es damals so gekommen ist. Ich war nicht am richtigen Ort. Ich habe hierher gehört, zu diesen Digimon. Und vielleicht - “

Plötzlich schlug Sanzomon sich auf den Mund, was in Myotismon Unverständnis auslöste, bei ihr jedoch Peinlichkeit. Eigentlich wollte sie sich diese Frage aufheben, für einen besseren Zeitpunkt, wenn es keine Geheimnisse gab, die sie bewahren musste. Doch hier in diesem bläulich leuchtenden Raum sitzend, in absoluter Stille, ganz allein...

Hier waren auch keine geheimen Gänge (nicht, dass sie wüsste), es bestand nicht einmal das Risiko, dass Gennai oder dergleichen es mitbekommen könnten. Sie musste fragen. Sie musste es von ihm hören.

„Ich weiß, das Leben auf Grey Mountain ist nicht perfekt. Es bedeutet viel Verantwortung und es ist nicht sonderlich spannend. Aber ich mag unsere Gemeinschaft, so wie sie ist. Für nichts würde ich das hier aufgeben. Ich wünsche mir, dass es so bleiben könnte.“

„Sanzomon...“, und mehr schaffte Myotismon nicht zu sagen, denn da griff Sanzomon mit ihrer rechten Hand seine.

„K-Könntest du dir vorstellen, dieses Leben weiter zu führen? Selbst wenn es irgendwann keinen Grund mehr gibt, die Nebelwand aufrecht zu erhalten? Könntest...“, nun legte Sanzomon auch ihre anderen Hand auf seine, “- ...du dir vorstellen, dass wir zusammen bleiben? Egal was in Zukunft aus der Digiwelt wird?“

Schweigen. Das überraschte Sanzomon nicht sonderlich, schließlich hatte sie damit gerechnet, dass Myotismon nicht gleich antworten würde. Nur die Zeit ging an ihnen vorbei und es geschah weiterhin nichts, was Sanzomon nur nervöser machte. Myotismon sagte nichts, nur sein Mund öffnete sich leicht. Er wandte den Blick zu Seite, dann den ganzen Kopf und fuhr mit der noch freien Hand erst übers Haar, dann über den Nacken. Sanzomon glaubte, er mache sich gerade unzählige Gedanken und wisse sie nicht zu ordnen oder was er damit anfangen sollte. In Wirklichkeit dachte Myotismon aber gar nichts.

Ihn so um Worte verlegen zu sehen war zwar etwas neues, aber Sanzomon machte sein Schweigen nervös. Myotismon schnaufte, dann antwortete er, ohne Sanzomons Hand loszulassen, aber todernst:

„Du solltest besser darüber nachdenken, Sanzomon. Entscheidungen, die man aus einem emotionalen Impuls heraus trifft, enden meistens nicht gut. Müsstest du das nicht begriffen haben? Lehrst du dies nicht sogar selbst?“

„Ich lehre auch, auf sein Innerstes zu hören. Und das tue ich hiermit.“

„Wegen Worten wie diesen halten dich andere Digimon für verrückt.“

„Dann sollen sie eben“, antwortete sie energisch. Da sich in Myotismons Mimik nichts änderte, wurde Sanzomon nicht nur ruhiger, sondern auch niedergeschlagener und bereute es, gefragt zu haben.

„Ich haben nur geglaubt, es hätte sich zwischen uns etwas geändert. Verzeih mir, wenn das anmaßend war.“

„Du redest wieder dummes Zeug. Es hat sich viel geändert, Sanzomon“, redete Myotismon ernst auf sie ein. „Mit Tinkermon hätte ich mir das hier niemals vorstellen können. Aber du bist nicht mehr wie früher. Ich versteh zwar nicht was in deinem Kopf manchmal vorgeht, aber du hast es geschafft etwas aus dir zu machen und das hier aufzubauen. Auch wenn deine Lebensweise nicht unbedingt meiner Vorstellung einer funktionierenden Gesellschaft entspricht, darfst du durchaus stolz sein.“

„Stolz ist nicht meine Tugend“, entgegnete Sanzomon und doch fühlte sie doch kurz etwas wie Stolz ihr Inneres – stolz dass zu hören und ein Digimon dazu gebracht zu haben, so von ihr zu denken. „Ich kann nicht mit stets erhobenen Haupt und ausgestreckter Brust herumlaufen und jedem Digimon mein Können unter die Nase reiben. Ich bin nicht wie du.“

„Zum Glück. Wenn du wie wie ich wärst, würde ich mich zu Tode langweilen.“

„Ginge das überhaupt? Du bist untot.“

„Im Gegenteil, ich bin ein Digimon mit untoten Eigenschaften, dies ist ein gravierend minimaler Unterschied.“

Es dauerte zirka fünf Sekunden, bis Sanzomon den Sinn des Satz verstand, sondern auch die Wortwahl, den Widerspruch darin und die Stimmlage ordnen konnte. Jijimons Art wie er sprach und was er sprach war schrullig und eigen, aber eben dieses Schrulligkeit aus Myotismons Mund zu hören, zu dem diese Beschreibung so gar nicht passte – und dann noch so trocken –, hatte einen humoristischen Effekt. Sanzomon schmunzelte unter ihren Halstuch, presste noch die Lippen zusammen, bis sie schließlich loslachte. Ihr Versuch es ein wenig zu unterdrücken scheiterte. Sanzomon krümmte sich regelrecht und hielt sich an Myotismon fest.

„So intelligent und dann so ein schrecklich kindischer Humor. Du enttäuschst mich“, schnaubte Myotismon und schüttelte den Kopf.

„Du kannst Jijimons Art einfach so gut imitieren. Es ist zu ulkig...“

„Erzähle das bloß niemanden. Und erwarte nicht, dass ich das in Zukunft öfter mache.“

Sie kicherte noch, als sich Sanzomon über die Augen wischte und begriff das gesagt erst nicht. Als sie dann über Myotismons Worte nachdachte, war sie verwundert. Vielleicht hatte sie sich das eingebildet, aber es klang so. Oder wollte sie es nur glauben? Statt ihrem Mund öffnete sich nur weiter ihre Augen, die Myotismon anstarrten, der nicht wirklich wissen schien wo er hinschauen sollte.

„Du willst bleiben? Verstehe ich das richtig?“

„Habe ich je etwas gegenteiliges behauptet?“, brummte er. „Ich möchte nur nicht, dass du dich zu unüberlegten Dingen hinreißen lässt.“

„Wären sie unüberlegt, wäre ich nicht so überzeugt davon oder würde sie in Betracht setzen sie auszusprechen. Ich mag nicht so souverän sein, aber ich weiß, was ich will. Und ich möchte nichts sehnlicher, wie mit dir zusammenzubleiben... Für immer. “

Zu der Hand, mit der sie Myotismons schon hielt kam noch ihre andere hinzu. Das Chaos ihrer Gefühle färbte Sanzomons Gesicht in ein stärkeres Rosarot, während sie wartete. Und hoffte, ihre Gefühle, die sie einst schon in ihrem Herz trug und sich all die Jahre nie verändert hatten würden erwidert werden – und sie könnte es der ganzen Welt zeigen. Dass es etwas wie Liebe auch hier in einer verrückten, digitalen Welt gab, während Myotismon weiter nachdenklich ihre Hand anstarrte. Um genau zu sein auf die letzten Reste der blauschwarzen Tinte, die an ihren hellen Händen klebten, wie Sanzomons Idealismus und ihre Vorstellung einer schönen Welt. Aber allmählich störte ihn das mit fortschreitender Zeit immer weniger. So wie Sanzomon war, war es in Ordnung. Sie musste nicht so sein wie er. Er mochte sie so, wie sie war. Er...

„Es ist sehr schmeichelnd, diese Worte von dir zu hören, Sanzomon. Es wäre auch für meine Truppen besser, wenn sie hier offiziell sesshaft werden könnten. Und...“

Von Freude und dem warmen Klopfen in der Brust regelrecht sediert spürte Sanzomon den Handkuss erst gar nicht, erst als ihr Gehirn bemerkte, dass genau an der Stelle die Haut eiskalt wurde.

„... Es wäre mir auch eine Ehre, dich an meiner Seite zu wissen. Und wer weiß, vielleicht schaffen wir es in Zukunft, uns mehr wie nur eine Stunde täglich zu sehen. Dann kann ich dich öfter zu nächtlichen Ausflügen entführen.“

„Darf ich dir während solcher Ausflüge auch weiter von dem erzählen, was mir in meinem ach so verdrehten, idealistischen Verstand vorgeht?“

„Ich wäre enttäuscht, würdest du das nicht.“

Myotismon hatte ihre Hand nicht einmal ganz losgelassen, da warf sich Sanzomon wieder in seine Arme. Durch den Schwung verlor Myotismon kurz die Balance, aber konnte es verhindern umzufallen. Dazu erdrückte Sanzomon ihn fast. Er spürte sogar ihre Fingernägel durch seinen Anzug. Sie hielt sich so krampfhaft an ihm fest, als hätte sie Angst. Sie spürte, dass Myotismon zögerte, aber er hätte nicht sagen können wieso. Zuvor ging es doch auch, obwohl es doch keinen Unterschied gab. 

Nein. Es gab einen.

Sie zu umschmeicheln war das eine. Oder sie zu ködern. Aber das war zu intim. Zu nah. Und der einzige Sinn dieser Aktion war, dass dieser warme Sinnesreiz, der bis unter die Haut ging noch ein wenig anhielt.

Man konnte sich nicht wehren. Myotismons Körper, der sich anfangs gegen dieses Gefühl sträubte gab nach all der Zeit immer schneller auf. Die Stimmen in seinem Kopf brüllten ihn an, dass er sich bloß nicht darauf einlassen durfte, egal wie gut sich diese zarten Hände anfühlten. Aber sie verstummten immer früher. In dieser Nacht schwiegen sie komplett.

Die Glieder waren entspannt und der Kopf war frei. Er fing an, es wahrhaft zu genießen.

Sanzomons noch gerötetes Gesicht presste sich gegen seine Brust. Tränen liefen über die Wangen.

„Wieso weinst du?“

„Ich... weiß es nicht. Dabei freue ich mich nur. Weil ich...“

Seufzend legte sich Sanzomon tiefer in die Umarmung. Sie weinte und sie konnte nicht einmal sagen wieso. Dabei war doch alles gut. Sie war glücklich.

Wie gerne hätte sie das gesagt. Doch sie würde sich das aufheben, für den Tag ihrer Beichte und sie hoffte, dass Myotismon es verstehen würde, dass sie daraus so ein Geheimnisse machte. Also sprach Sanzomon es allein für sich nur in ihrem Kopf aus:

Sie liebte Myotismon. Sie liebte ihn. So sehr...

„Ich... ich bin nur erschöpft“, seufzte Sanzomon noch einmal. Die Tränen stoppten, ihre Augen blieben geschlossen. Sie war wirklich erschöpft. Die Herstellung des Wappens raubten ihr zu viel Energie und obwohl sie sonst nach ein paar Tagen wieder gut bei Kräften war um sich wieder an die Arbeit zu setzen, zog sich dieser Erholungsprozess nun sehr in die Länge. Nun, statt erst das Wappen an sich zu erschaffen und ihm dann sein Licht zu geben, setzte Sanzomon bei diesem Wappen gleich alles auf einmal um und büßte Unmengen Energie ein. Gennai riet ihr ab dies beim letzten Wappen auch so zu machen. Er hielt das für gefährlich. Sie sollte sich gut und zwar sehr gut erholen. Sie hatten noch Zeit.

Doch wenn Sanzomon sich Myotismon ansah, schien sie nicht das Gefühl zu haben wirklich Zeit zu haben. Es stimmte etwas mit ihm nicht und nicht wissend, dass Myotismon heimlich auf Blutjagd ging, schob sie es weiterhin auf Mangelerscheinungen, statt auf den schlichten Wahnsinn. Vampire – selbst wenn es ein Digimon war – die ohne Blut überlebten, so was dämliches.

Vademon galt als zwielichtiger Händler wie Sirenmon ihr sagte, aber man konnte so gut wie alles von ihm bekommen, wenn man bei vielen Dingen auch nicht wusste, was man damit anstellte. Sanzomon konnte sich auch erst nicht vorstellen, wie das mit der Nadel und den Beuteln funktionieren sollte, aber die beiden Sistermon schienen Ahnung zu haben. Etwas wie medizinisches Grundwissen gab es auch in der Digiwelt und wurde von Sistermon gelehrt und würden Sanzomon helfen, dass man ihr Daten abnehmen konnte (kühl lagern sei wichtig, aber Vademon wäre ein schlechter Schwarzhändler, hätte er keine Kühlbox). Und wenn sie die Wappen fertig hatte, durfte sie beichten. Das war der Deal. Sie müsste nichts verheimlichen. Sie müsste keine Sorgen haben, dass Myotismon in ihren Daten irgendetwas finden könnte, was sie verraten würde. Myotismon konnte so viel von ihrem Blut haben, wie er bräuchte und sie hätte immer Vorrat zur Hand. Vielleicht...

Sanzomon stierte auf seine Zähne. Vielleicht konnte sie sich auch irgendwann dazu überwinden, sich einfach fallen zu lassen. So schlimm wäre es sicher nicht. Sanzomon hatte seine Zähne schon mit ihren Finger berührt und geküsst. Ob sein Speichel so giftig war wie er schmeckte und wie Sanzomon es von Hör-Sagen kannte wusste sie nicht. Aber sie war sicher, Myotismon würde ihr nie schaden wollen. Es war nur ein Biss. Fast wie ein Kuss, nur etwas schmerzhafter. Intimer...

„Du bist blass“, sagte Myotismon zu ihr und Sanzomon erschrak kurz, da sie so tief in Gedanken war.

„Ich habe lange an meiner Arbeit gesessen. Und weil ich mir die ganze Nacht Gedanken gemacht habe, konnte ich nicht schlafen.“

Sanzomon versuchte aufzustehen, aber sie war wirklich schwach. Vielleicht wirklich von der Arbeit, vielleicht durch das Gefühlschaos, so ließ sie sich gleich wieder in Myotismons Arme nieder.

„Weißt du, was ich denke? Dein Körper rächt sich für die viele Arbeit. Vielleicht lernst du so endlich, dass du deine Aufgaben auch manchmal liegen lassen solltest.“

„Vielleicht muss ich das wirklich“, seufzte sie und lächelte dabei. „Aber wenn ich dafür hier bei dir liegen kann, ist es mir das beinahe wert.“

„Das klingt fast, als tätest du das mit Absicht“, stellte er fest und Sanzomon hörte kurz einen Anflug von Belustigung.

„Früher, als Gokuwmon, Cho-Hakkaimon, Sagomon und ich noch auf der Reise war, schliefen wir oft nebeneinander Arm in Arm ein. Heute passiert uns das hin und wieder auch noch, so wie heute. Es wäre daher schön, wenn ich dies auch öfter bei dir könnte.“

„Dafür musst du doch nicht bis zur Erschöpfung arbeiten. Ich kann auch einfach nachts zu dir kommen. Während du arbeitest... oder in deinem Bett.“

Sanzomon fuhr in sich zusammen und sagte sich, sie hatte sich verhört. Myotismons Grinsen nach hatte sie das aber absolut nicht und sprang regelrecht von ihm weg. Sie blieb aber auf den Stufen sitzen und nicht nur ihr Herz, auch ihr Kopf pochte. Das Grinsen verging Myotismon, aber es verschwand nicht ganz.

„Zu direkt?“

„Überraschend, zugegeben...“, antwortete Sanzomon schüchtern.

„Schon gut, ich wollte auch nur dein überraschtes Gesicht sehen. Und wie es aussieht, scheinst du auch gar nicht so erschöpft zu sein.“

Weiter leicht schmunzelnd stand Myotismon auf und reichte Sanzomon die Hand, um ihr aufzuhelfen. Sie schien etwas beleidigt oder wütend, aber eher auf sich selbst, weil sie so dumm war und auf seinen Scherz herein fiel. Oder hatte er es ernst gemeint?

„Du solltest schlafen gehen“, meinte Myotismon zu ihr, als er sie aus den Lagerraum führte und klang dabei sogar etwas besorgt. Sanzomon schloss die Türe wieder zu.

„Und arbeite weniger. Du kannst deinen Schülern auch öfter etwas mehr Arbeit aufdrücken. Schaden wird es ihnen nicht.“

„Sie machen schon sehr viel für mich.“

„Viel sehe ich davon nicht.“

„Weißt du, eines Tages wirst du das ja vielleicht...“, sagte Sanzomon in einem sachten, aber vielsagenden Ton, der in Myotismon Neugierde weckte und seine Vermutung bestätigte. Er hatte Sanzomon fast da, wo er sie brauchte. Sie vertraute ihm nahezu blind. Genau das, was er wollte.

Ein Pfeifen war zu hören. Der Ton war viel zu hoch, als dass Sanzomon ihn hätte hören können, anders wie Myotismon.

„Was ist los?“

„Die Fledermäuse haben etwas bemerkt“, erklärte er. Eine Schar versteckte sich am Waldrand und schlugen Alarm, sobald sich fremde Digimon nährten, solange die Rabbitmon schliefen.

„Ich sehe nach. Vermutlich sind es nur irgendwelche Diebe, die hier auf ein Versteck hoffen. Aber man weiß ja nie. Es sind erschreckend viele Maschinen-Digimon unterwegs und ich trau dem nicht“, sagte er weiter und Myotismon machte sich schon auf den Weg, doch Sanzomon hielt ihn am Ärmel fest und hielt ihn so noch für einen Augenblick zurück.

„Der Abend war kurz“, begann sie. „Aber es war schön.“

„Die Freude ist ganz meinerseits. Ich...“

Myotismon biss sich selbst kurz auf die Zunge, ehe er seinen Satz beendete. Die genauen Worte waren noch nicht in seinem Kopf angelangt, aber ihn überkam die Ahnung, dass es etwas durch und durch Dummes und Irrationales war, als er sich zudem daran erinnerte, wie sich Wisemon und Rosemon einst an einem Diensttag gegenüberstanden. Unfassbar, zu was dieses Digimon ihn brachte. Er war verrückt. Irre. Das war alles.

Sanzomon starrte und konnte sich nicht erklären, was Myotismon hatte oder ihr eigentlich sagen wollte, obwohl es etwas war, was sie gern von ihm gehört hätte.

„Ja..?“

„... Nicht so wichtig. Geh nur. Und träume süß, ehrfürchtige Hohepriesterin.“

Etwas zögerlich schenkte Sanzomon ihm ein Lächeln, dass Myotismon sogar erwiderte. Er war bereit sich auf den Weg zu machen, doch Sanzomons Räuspern hielt ihn noch einmal zurück. Ihre Haltung hatte sich verändert. Sanzomon ahmte seine Haltung nach. Ihre Arme versteckte sie hinter sich und sie hob ihr Kinn an. Sie wollte etwas, also spiegelte er sie und wartete darauf, was sie nun machen würde. Nach wenigen Augenblicken ging Sanzomon auf ihn zu, blieb vor Myotismon stehen, sagte aber nichts, sondern starrte ihn nur an, dann zog sie ihr Halstuch runter. Im Glauben, sie wollte ihm nur einen Kuss geben beugte sich Myotismon etwas zu ihr runter. Doch sie küsste ihn nicht, sondern flüsterte ihm stattdessen ins Ohr:

„Es würde mich auch freuen, wenn du hin und wieder etwas Zeit finden könntest dich zu mir zu legen...“

Ein kurzes Ächzen, dann schluckte Myotismon kaum hörbar. Mit etwas Verwunderung sah er Sanzomon an, fragend, ob sie das ernst meinte. Aber so wie er Sanzomon kannte und sich vor allem daran erinnerte, wie sie klang wenn er sie etwas fester anpackte, tat sie das.

„Ich werde auf dieses Angebot zurückkommen“, antwortete Myotismon, schelmisch grinsend und peinlich gerührt, aber auch zufrieden küsste Sanzomon ihn schließlich doch noch, ehe er sich auf den Weg machte.

Sanzomons Weg führte sie nicht auf ihr Gemach, sondern zurück ins Spielzimmer. Alle lagen immer noch da, wie sie sie zurückgelassen hatte.

Sanzomon kehrte an ihren Platz neben Gokuwmon zurück. Die Baby-Digimon ließ sie auf seinen Schoß liegen und zog nur die Decke etwas hoch und deckte dabei SnowBotamon auf. Es hatte sich mit der grimmigen Handpuppe in die Laken gewickelt und schlief auch weiter, als Sanzomon es zu sich holte.

„Und? Habt Ihr ihn fragen können, Meister?“

Dass Gokuwmon wach war, überraschte Sanzomon nicht sonderlich. Sie schmiegte sich an ihn und schloss die Augen.

„Ja. Er hat gesagt, dass er gerne hier bleiben möchte... Und dass er bei mir bleiben will...“

Ihre Augen blieben geschlossen. Sie hörte Gokuwmon schnaufen. Er schwieg und auch das überraschte Sanzomon nicht wirklich. Es war nicht, dass Gokuwmon Einwände hegte, aber es herrschte bei ihm ein Hauch eines Widerwillens, seinen Meister so einem Digimon zu überlassen. Aber Gokuwmon hatte versprochen, es zu versuchen. Und Sanzomon war glücklich, nur das zählte.

„Ich freue mich für Euch, Meister. Wir freuen uns alle. Und wisst, dass Ihr unseren Segen habt. Ihr beide.“

Sanzomon war zu müde um ein Danke zustande zu kriegen, aber ihr glückliches Gesicht und wie sie Gokuwmon umarmte, während sie langsam einschlief reichte ihm vollkommen. Wenn sie glücklich war, wer er es auch. Und Sanzomon war in diesem Moment glücklicher wie nie zuvor in ihrem Dasein. Ein Traum, den sie schon so lange träumte wurde wahr und blühte wie eine eine Blume auf dem Wasser in all ihrer Fülle.

Von hier an sollte es nur noch drei Tage dauern, bis Sanzomons Traum zerplatzte.

 
 

𝄀x

 

Jemand streichelte ihr über den Kopf. Es waren kleine, raue Hände mit sehr langen Fingernägeln. Das kam Sanzomon irgendwie vertraut vor. Aber sie sah nichts. Ihre Augen, sie musste sie öffnen, aber sie erinnerte sich nicht, wie das ging.

Da war ein Licht. Ein einzelnes Licht in der Dunkelheit, die sie umhüllte. Sie kannte dieses Licht und das Gefühl, wie eben dieses Licht ihre Geister weckte. Dieses Licht hatte sie schon einmal gerettet.

„Täubchen“, rief eine kratzige, alte Frauenstimme. Täubchen... Wie lange war das her, dass sie wer so rief?

Sanzomon erinnerte sich wieder und öffnete ihre Augen. Sie lag mitten in der Finsternis. Und vor ihr stand Babamon. Es war ihre Hand, die sie streichelte.

„Ach, Täubchen. So gerne würde ich mit dir schimpfen, dir mit dem Besen eine überziehen und wünschen, dass dir das eine Lehre ist. Aber ich bin auch Schuld. Und Kummer ist schmerzhaft genug. Ich weiß das.“

Babamon strich ihr weiter über den Kopf. So zärtlich hatte Sanzomon sie gar nicht in Erinnerung. Aber es fühlte sich gut an. Tröstlich. Sie war traurig gewesen. Traurig wegen...

„Als du Tsukaimon gefunden hast und ich ihn sah, hat etwas tief in mir gewusst, dass dieses Tsukaimon mein vermisstest Gänslein war. Aber mein Gänslein war kein Gänslein mehr. Ein anderes Digimon hatte sich an ihm zu schaffen gemacht und korrumpiert. Dieses Digimon hat mir meine Gänschen und Gänslein weggenommen“, sagte Babamon und presste ihre Lippen feste zusammen. Sie versuchte nicht zu weinen.

„Du warst schon immer ein verträumtes, neugieriges und blauäugiges Ding. Aber er hat dich gemocht. Weil ich es nicht geschafft habe zu ihm durchzudringen, habe ich gehofft, du könntest das. Bis ich merkte, wie du ihn angeschaut hast. Damals schon. Da bekam ich Angst.“

Er...? Sanzomon überlegte. Ja, er, nun wusste sie es wieder. Babamon sprach von Myotismon. Wo war er? War sie nicht bei ihm gewesen? Und warum war ihr Herz so schwer? Das war es doch sonst nie, wenn sie an Myotismon dachte.

„Trotz der vielen, vielen Findelkinder, haben sie nie meine Gänslein ersetzen können. Es mag wunderlich klingen, doch egal ob nun die Meister der Dunkelheit oder die Souveränen, sie waren wie mein und Jijimons eigen Fleisch und Blut. Und dich, Täubchen, wollte ich nicht auch noch verlieren“, sagte Babamon und hörte auf Sanzomon über die Haare zu streichen. „Ich wollte nicht noch ein Kind an den ewigen Kreislauf aus Schicksal und Krieg verlieren.“

Sanzomon wollte nicht, dass Babamon mit dieser Zärtlichkeit aufhörte, aber wie sie sich zuvor nicht erinnern konnte wie man sah, so hatte sie auch vergessen wie man sprach. Doch das Bedürfnis sich mitzuteilen erstarb auch schnell wieder. Da war noch etwas, was ihr dieses zärtliche Gefühl gab. Sie glaubte, jemand lag bei ihr. Sie sah ihn nicht, aber sie konnte es spüren.

(Schlaf noch ein bisschen du bist erschöpft)

Es fühlte sich an, als hielte sie jemand im Arm. Ein sehr vertrautes Gefühl. Kalt, aber trotzdem lindernd. Dieser Geruch... Sie spürte ein kurzes Stechen an Arm und Schultern, dort, wo man noch die Abdrücke seiner Bisse sah. Sie erinnerte sich. Dieser schmale Grad zwischen Wonne und Schmerz.

(Mach die Augen zu Sanzomon ich bin hier und halte dich in meinen Armen)

Myotismon war hier. Er hielt sie im Arm. Warum aber freute sie sich dann nicht...?

„Du hattest wirklich Glück“, sprach Babamon weiter und blickte auf Sanzomon herab. „Er hat weder viel Blut ausgesaugt, noch hat er dich ausreichend infizieren können. Daten von solch einem Digimon wird man schwer wieder los. Ich frag mich ja, ob er dich einfach unterschätzt oder sich bewusst zurückgehalten hat. Aber für ein gebrochenes Herz ist selbst eine geringe Menge ausreichend. Der perfekte Nährboden für einen Virus, der im ganzen Körper streut.“

Wieder erinnerte sich Sanzomon an einen Schmerz. Dieser war aber weder zärtlich, noch angenehm. Der Schmerz an ihrem Hals. Dann kehrten ihre Erinnerungen zurück. Myotismon. Die Meister der Dunkelheit. Piedmon. Alles. 

Er hatte sie gebissen. Er hatte sie hintergangen. Er hatte alles zerstört, an dem Sanzomon so lange gearbeitet hatte. Sie hatte ihre Familie wegen ihm verloren. Und nun vermutlich sogar ihren freien Willen. Sie war hier in der Dunkelheit gefangen...

„Liebe hin oder her, du solltest aufpassen, mit welchen Digimon du ins Bett springst. Gerade bei so einem. Digimon wie ihn hat man damals nicht ohne Grund mit Freude vernichtet. Aber sei unbesorgt, diesen mickrigen Haufen eines Computervirus kann ich auch noch löschen“, erklärte Babamon, aber Sanzomon hörte nicht zu. Sie konnte nur daran denken, was ihr Körper in der Digiwelt nun spürte, wenn ihr Verstand doch nun unter Myotismons Bann stand. Sie wollte das nicht glauben. Das konnte er doch nicht wirklich getan haben. Das, was sie spürte war er doch. Sie lag sicher nur in ihrem Bett, alles was geschehen war nur ein böser Traum und er war bei ihr. Anders konnte es doch gar nicht sein. Das konnte nicht sein. Es durfte einfach nicht anders sein.

„Trauer nicht. Das was du siehst sind nur noch Restdaten. Es mag wie er klingen, aber er ist nicht hier. Genauso wie ich. Ich bin schon lange nicht mehr. Vielleicht bleibt mir sogar die Wiedergeburt verwehrt. Meine Daten entstammten noch aus einer Zeit weit vor der Apartheid. Ich bin mehr wie veraltet.“

Auch Babamon war also nicht echt. Diese Welt war nur ein dunkler Winkel, in dem der letztes Rest ihres Geistes ruhte. Hier war nichts echt. Nicht einmal Babamon. Sie vermisste dieses Digimon so sehr. Wenn sie an ihrer Seite wie eine Mutter geblieben wäre, wäre sie vielleicht nicht so dumm gewesen...

„Nimm es nicht so schwer, Täubchen. Egal wo ich gelandet bin, ich weiß, mein Gatte ist bei mir. Er könnte vielleicht wiederkehren, aber ich bezweifle, dass dieser debile Narr ohne mich irgendwo hingehen würde.“

Babamon tätschelte wieder ihren Kopf. Doch die dunkle Aura dämmte diese mütterliche Geste. Diese Aura, die sich durch und durch wie Myotismon anfühlte hielt sie weiter in seiner Gewalt. Machte schwach. Und müde. Sie wollte schlafen und hoffen, dass es nur ein Albtraum war...

(Hab keine Angst ich bin bei dir du musst dir um nichts Sorgen machen ich wache im Schlaf über dich)

„Sei jetzt still! Du bist auch nichts weiter als ein paar korrupte Daten, die ihren Verstand benebel! Scher dich endlich weg von ihr! Fluch der Königin!

Das Tifaret-Symbol auf ihrer Perlenkette strahlte. Die dunkle Präsenz um Sanzomon ließ sie los und kroch davon, mit ihr der winterliche, erdige Geruch und die Kühle. Alles, was an Myotismon erinnerte war weg. Er war weg...

„Du wirst es verkraften, Täubchen. Irgendwann lässt der Schmerz nach. Und jene, die ihren Schmerz überwinden werden irgendwann dafür belohnt. Hör also nie auf damit weiter dagegen anzukämpfen. Werde zu keinem Digimon, das es einfach hinnimmt oder leugnet. Du hast dein Selbstmitleid schon einmal überwunden.“

Nun, da diese schwarze Präsenz fort war, war Babamon viel klarer zu sehen und ihre Hand deutlich spürbarer. Aber es brachte Sanzomon zum weinen. Sie wollte Babamon um den Hals fallen und weinen, doch ihr fehlte die Kraft um aufzustehen.

Babamon sollte nicht gehen. Sie war nicht mehr wie ein dummes Digimon, dass sich hat an der Nase herumführen lassen. Sie war dumm – denn sie wollte nicht, dass Myotismon ging. Sie wollte doch nichts mehr, als dass diese kleine Welt, die sie zusammen errichtet hatten bestehen blieb. Auch wenn ihre Schützlinge und ihre Schüler alle irgendwann ihren eigenen Weg gegangen wären, wäre es in Ordnung gewesen, solange Myotismon geblieben wäre. Sie wollte doch nicht mehr, wie mit einem Strauß aus Lavendel vor ihm zu stehen und in seinen Armen zu liegen. Hatte sie zu viel verlangt? Waren ihre Empfindungen und Wünsche so utopisch gewesen? War es von Anfang an zum Scheitern verurteilt?

„Babamon... Es tut mir Leid. Aber ich - ich liebe ihn. Immer noch...“, weinte Sanzomon leise und so von Scham erfüllt, schaffte sie es kaum Babamon länger anzustarren. Dass Babamon schließlich nicht schimpfte, sondern Mitleid für sie empfand beschämte sie sogar noch mehr. Sie war wirklich dämlich.

Aber sie liebte Myotismon. Sie liebte ihn. Sie konnte nicht anders.

„Ich weiß, Täubchen. Aber selbst wenn du niemals aufhörst ihn zu lieben, lass dich nicht von deinem Kummer packen. Weine, schreie, falle und stehe wieder auf. Du siehst, was Schmerz und Kummer aus meinen Gänslein gemacht hat. Was er aus mir und meinem geliebten Gatten gemacht hat. Werde nicht auch so. Mach weiter.“

Babamons Hand verschwand, in dem Moment als Sanzomons Augen wieder zufielen. Aber sie hörte den Stoff vom Babamons Gewand, als dieses alte Digimon in die Knie ging und in ihr Ohr sagte:

„Jetzt aber wird es Zeit, dass du aufwachst. All die wunderlichen Kreaturen aus dem Wunderland, die du um dich geschart hast warten darauf, von deinen vielen unmöglichen Dingen zu hören, Weiße Königin.“

Aufstehen. Das klang so unmöglich. Warum sollte sie? Hier war nichts...

Aufstehen.

(Meister!)

Aufstehen klang so mühselig. Anstrengend. Zu viel Arbeit... Aber seit wann scheute Sanzomon Arbeit? Wenn sie aufstand, sah sie vielleicht wo sie war. Vielleicht war hier mehr wie nur Düsternis.

(Meister!)

Aufstehen. Ja, aufstehen. Sie musste aufstehen. Sie konnte hier nicht liegen bleiben. Babamon hatte Recht. Das, was sie gespürt hatte war nicht er. Hätte Myotismon sie so liegen sehen, hätte er sie längst dazu ermahnt wieder auf die Beine zu kommen und sich zusammenzureißen. Sie hatte junge Digimon, für die sie ein Vorbild war. Sie konnte sich nicht so gehen lassen. Aufstehen.

Sanzomon glaubte Babamon noch einmal stolz lächeln zu sehen, ehe der letzte Rest ihrer Ziehmutter aus ihrem Geiste verschwand, als sie sich langsam erhob. Hoch. Aufstehen. Sie musste aufstehen. Aufstehen. Sie hatte das schon mal geschafft. Aufstehen. Sie musste. Aufstehen. Aufstehen aufstehen aufstehen...

 
 

 

 

„Meister...“, rief Opossumon noch einmal und rüttelte dabei Sanzomon an den Schultern. Doch sie reagierte immer noch nicht. Sie waren nun einen ganzen Tag bei Piximon und Sanzomon war immer noch nicht aus ihrem komatösen Zustand erwacht. Die Baby- und Ausbildungs-Digimon, die um die Holzpritsche mit der dünnen Decke standen, auf der Sanzomon lag schluchzten, nachdem sie zum Heulen keine Kraft mehr besaßen. Die Ablenkungsversuche von Sistermon Blanc und Sistermon Noir blieben ohne Erfolg. Selbst Piximon, dass Baby-Digimon eigentlich überhaupt nicht leiden konnte (sie wurden nur Krach und Dreck machen) hatte sich dazu herabgelassen für sie kleine Zaubertricks vorzuführen, scheiterte.

Piximon galt als etwas eigen und launisch und besonders Gawappamon war von der Idee nicht angetan, aber von Sanzomons Verbündeten war sonst keiner in unmittelbarer Nähe. Außerdem lebte Piximon in einem Tempel, auf der Spitze eines Hügels in einem verzerrten Raum innerhalb der Kaktuswüste. So schnell würde man sie also auch nicht finden. Und solange sie nicht länger blieben (und Sirenmon für Piximon kochte) würde es sich erst einmal nicht über einen längeren Aufenthalt beklagen.

„Ich verstehe es nicht. Sie hätte doch aufwachen müssen“, seufzte Gawappamon, der gerade von Sistermon Blanc einen neuen Verband um seinen Arm umgebunden bekam.

„Weil Myotismon das gesagt hat? Auf sein Wort würde ich nichts mehr geben“, knurrte Gokuwmon und zuckte zusammen. Das Desinfektionsmittel, dass Sistermon Noir auf seinen Wunden verteilte brannte schlimmer wie die Hölle.

„Wie habt ihr auch so dumm sein und so ein Digimon in euer Versteck lassen können, Piep?“, schimpfte Piximon. Die Schimpftirade würde weniger albern wirken, wenn Piximon nicht die Größe eines Ausbildungs-Digimon hätte und die Stimme nicht so piepsig.

„Ihr hättet doch wissen müssen, wie solche Digimon ticken.“

„Er war ebenfalls Jijimons und Babamons Schüler und ein Freund von Meister Sanzomon“, erklärte Gokuwmon. „Wir leben nun einmal nach der Devise, dass Digimon nach ihrer Persönlichkeit und ihren Erfahrungen handeln, nicht nach ihren Daten.“

„Mag sein, piep – aber muss man deswegen gleich jeden Kannibalen in sein Haus lassen, piep?!“, moserte Piximon weiter, dann starrte es noch einmal zu Sanzomon und Opossumon. Sie hatte es mittlerweile aufgegeben ihren Meister wachzurütteln.

„Ist dieses Myotismon dieser Schwarze König, von dem Sanzomon in ihren Briefen schrieb?“

„Ja, ist er“, seufzte Sirenmon.

„Ach, hätte ich das früher geahnt. Ich habe den Tod eines Bekannten von mir untersucht. Jewelbeemon war ein General von Folder Island, der auf den Namen Butterbrotfliege hörte. Vor knapp eineinhalb Jahren wurde er überfallen und vernichtet. Wie ich erfuhr wurde er von Geist-Digimon angegriffen. Und ihr Anführer soll angeblich ein Myotismon gewesen sein, aber ich hielt das für Humbug. Myotismon sind schließlich ausgestorben.“

„Also kam er wirklich von Anfang an nur zu uns, um uns zu hintergehen“, stellte Sistermon Noir traurig fest. Sie erinnerte sich auch an einen überaus komischen Traum, dass war aber schon Monate her. Sie hatte bis zum späten Abend Sirenmon geholfen und Myotismon hätte sie aufgesucht. Er hat sie sehr eindringlich angeschaut und mir ruhiger Stimme nach sehr komischen Dingen gefragt, an die sich Sistermon Noir kaum mehr erinnerte, nur an Wortfetzen. Souveränen. Agenten. Tor. Pläne. Mit nichts davon konnte sie etwas anfangen. Als sie erwachte, lag sie in ihrem Bett und blieb dabei, dass es ein Traum war, für den sie große Scham empfand und eine Woche lang weder Sanzomon, noch Myotismon in die Augen sehen konnte. Nun erst stellte sie fest, dass ihre Schwester und auch Sirenmon eine ähnlich Begegnung hatten und dass dies offensichtlich kein Traum war.

Während Sistermon Noir weiter die Wunden von Gokuwmon behandelte, die er bei dem Fluchtversuch erlitt und Sistermon Blanc sich nun um Sirenmon kümmerte, bemerkte sie, dass Piximon etwas nervös alle Digimon anstarrte.

„Was ist los?“, fragte schließlich Gawappamon, der dies auch bemerkte.

„Ihr... ihr seid doch nicht... oder?“

„Was?“, harkte Gokuwmon nach und klang gereizt.

„Ihr seid nicht von ihm gebissen worden, oder?“

„Nein, sind wir nicht.“

„Ganz sicher, piep?“

„Sehr sicher!“

„Ich meine nur...“

Immer noch nervös sah Piximon sich die Truppe an und blieb bei Opossumon hängen.

„Was, Piximon?“, fragte sie.

„Es ist etwas befremdlich. Dieses Digimon lebte ein Jahr bei euch und hat weder versucht euch anzugreifen, noch zu fressen?“

„Glaube es oder nicht, es ist so.“

„Es ist schwer zu glauben, piep. Wäre ich so ein Digimon, ich hätte euch alle sofort im Schlaf überfallen.“

„Nett von dir“, brummte Gawappamon verärgert, auch wenn Piximon nur scherzte.

„Jetzt krieg das nicht gleich in den falschen Hals, piep. Ich verstehe es nur nicht.“

„Weißt du -“, Gokuwmon blickte kurz zu Sanzomon, „- es ist eine komplizierte Geschichte. Aber das hat uns zumindest das Leben gerettet.“

„Kapier ich nicht.“

„Myotismon hat Sanzomon gern!“, rief Viximon aus der Ecke, in der es sich mit Kokomon und KyoKyomon verkrochen hatte.

„Ja, ganz gerne!“, fügte Budmon hinzu. „Myotismon war immer schlecht gelaunt, aber zu Sanzomon war er nett.“

„Er hat Sanzomon im Arm gehalten. So wie die Könige und Königinnen in unseren Büchern“, sagte Paomon mit Tränen in den Augenwinkeln. Fragend und verwirrt schaute Piximon zu den älteren Digimon, die seufzten aber nur.

„Verstehe. Jetzt macht es auch Sinn“, sagte es und sah sich Sanzomon an.

„Was verstehst du?“, fragte Opossumon.

„Wenn es wirklich so ist... Vielleicht will Sanzomon ja gar nicht aufwachen.“

„Wie kannst du nur so etwas sagen?“, schimpfte Sirenmon, als sie die geschockten Gesichter der jüngeren Digimon sah. „Sanzomon wollte sich für uns opfern. Sie würde doch nicht -“

„Weißt du das so genau, piep?“, unterbrach Piximon Sirenmon. „Ich habe gesehen, was so etwas anrichten kann. Ich kenne Jijimon und Babamon seit den ersten Aufständen der Rassenkriege und weiß, dass sie so etwas wie die Eltern der Souveränen sind. Sie hat eines ihrer Kinder dabei verloren. Von dem, was sie in der Apartheid sah kann ich nur spekulieren, aber es gibt Gerüchte. Ich könnte Sanzomon verstehen, wenn sie sich diese Schmach und den Liebeskummer ersparen will.“

„Sanzomon wacht auf!“, kreischte Yaamon. „Sie wacht bestimmt gleich wieder auf!“

„Sanzomon hat versprochen sie kümmert sich um uns, bis wir groß sind!“, heulte Kyaromon – und schließlich weinte die gesamte Gruppe.

„Hast du toll gemacht, du Genie“, maulte Gokuwmon.

„Man darf ja wohl noch etwas hinterfragen, piep!“, verteidigte sich Piximon, bereute aber dennoch es laut ausgesprochen zu haben. Den Kindergarten nach der Flucht wieder ruhig zubekommen war schwer genug gewesen. Kyaromon zog an Opossumons Weste, die drei Choromon verkrochen sich unter den langen Ohren der Pagumon. Pupumon, Sunmon und Moonmon krochen unter Sanzomons Halstuch und hofften, sie würde darauf reagieren. Der Rest weinte. Für SnowBotamon blieb in den oberen Reihen kein Platz. Doch Sanzomons rechter Arm lag regungslos neben ihr und es legte sich in ihre Hand. Und während es die Augen schloss und sich in die Hand hinein schmiegte, spürte es wie der Daumen über seinen Kopf strich, dann schloss sich die Hand etwas, um den runden, weichen Körper greifen zu können. Die Augenlider bewegten sich, anschließend der Kopf. Ein Stöhnen war zu hören.

„Meister...“, hauchte Opossumon, Gokuwmon und der Rest sprangen regelrecht zum Bett. Die Gesichtsfalten zuckten und schließlich öffneten sich wie eine Blume am Morgen Sanzomons Augen.

Sie begriff erst nicht wo sie war. Ihre Erinnerungen sagten ihr, dass sie eigentlich hätte auf Grey Mountain sein müssen, aber das Zimmer hier war nicht ihres. Aber ihre Mündel waren hier. Ihre Schüler waren bei ihr, die fröhlich und traurig zugleich auf sie herabblickten.

„Meister. Alles ist gut. Ihr seid in Sicherheit“, sagte Gawappamon zu ihr, aber Sanzomon schien noch immer nicht erfasst zu haben, in welcher Lage sie sich gerade befand. Aber ihre Erinnerungen kehrten nach wenigen Augenblicken wieder.

Sanzomon versuchte aufzustehen, doch nicht nur Kraftlosigkeit, auch der Schmerz hinderte sie weitgehend daran. Schmerz. Der Biss. Myotismon hatte sie gebissen. Panisch fasste Sanzomon sich genau an die Stelle, wo zwei Löcher hätten sein müssen. Doch da war nichts. Es brannte kurz, man sah noch eine leichte Rötung von einem Kratzer. Mehr auch nicht.

„Ich.. ich wurde nicht...“,stammelte Sanzomon völlig überfordert und tastete ihren Hals mehrmals ab, um auch ganz sicher zu sein. Genauso überfordert starrten ihre Schützlinge und Sanzomon sah jedem einzelnen in die Augen, um so die Gewissheit zu haben dass sie Wirklichkeit waren und keine Einbildung oder ein Zauber, der mit ihren Gedanken Schabernack trieb. Aber Sanzomon sah die Seelen in diesen Augen und ihre Mutterinstinkte schalteten sich ein und vergewisserten, dass diese Digimon vor ihr echt waren.

„Ihr... Ihr seid es. Euch geht es gut...“

„Sanzomon!“, heulten und jubelten alle vierundzwanzig Digimon und warfen sich an Sanzomon, die versuchte mit ihren ausgebreiteten Armen alle ihre Findlinge zu umarmen, was ihr nicht ganz gelang. Dann bemerkte sie ihre Schüler, Sirenmon und die Sistermon, die sie anlächelten, während sie von den jüngeren Digimon erdrückt wurde.

„Guten Morgen, Meister. Oder eher guten Abend“, sagte Gawappamon freundlich. Sie erwiderte sein Lächeln, doch es verschwand, als Sanzomon auch Opossumon bemerkte und sich fragen musste, warum Sagomon und Cho-Hakkaimon wieder auf dem Champion-Level waren, dann kehrte auch diese Erinnerung zurück und damit die Erkenntnis, dass sie nicht nur nicht gebissen wurde, sondern dass sie irgendwo war, wo sie eigentlich gar nicht sein sollte. Eigentlich, dass wurde ihr auch klar, hätte sie doch im Schloss sein müssen. Nur mit Myotismon, dessen Gift ihren Verstand zu dem einer treuen Partnerin umgewandelt hätte. Sagte er nicht er würde sie, wenn gar nötig eingemauert und an Bretter genagelt, im glauben sie so vor Piedmon zu beschützen? Aber warum war sie hier? Sie war froh darüber, aber es machte keinen Sinn. Es dämmte ihre Freude.

Überaus ernst starrte Sanzomon ihr Gefolge an, die kleinen Digimon wunderten sich und waren verwirrt über ihren plötzlichen Sinneswandel.

„Wie bin ich von dort weggekommen?“

Gokuwmons erfreute Mimik sank in sich zusammen. Natürlich würde diese Frage früher oder später kommen und er und der Rest hatten bereits ausgiebig diskutiert, was sie sagen sollten. Myotismons Bitte war sich was auszudenken. Aber was hätte glaubwürdig geklungen? Sie stimmten in der Runde ab, sogar mehrmals. Dann, als sie sich wirklich geschlossen einig waren, entschieden sie, dass Gokuwmon es ihr sagen sollte. Mit den Händen in die schmale Hüfte gestemmt atmete Gokuwmon einmal tief durch.

„Myotismon hat Euch rausgemogelt. Wir haben keine Ahnung, wie er das angestellt hat, nur, dass er den Biss vorgetäuschte. Er hat uns noch geholfen wegzukommen. Mehr können wir Euch nicht sagen“, erzählte Gokuwmon und traute sich kaum in Sanzomons erschüttertes Gesicht zu sehen. Vielmehr wirkte sie sogar, als glaubte sie es nicht. Sanzomon versuchte sich an irgendetwas zu erinnern, aber eine Wolke lag über den letzten Sekunden kurz vor ihrer Ohnmacht. Was sie jedoch noch wusste war die Sekunde, als ihr Herz in Stücke brach. Sanzomon glaubte sogar es immer noch zu spüren.

Wer nun auch mehr in Sanzomons Fokus rückte waren Sirenmon und die Sistermon. Es war alles so schnell gegangen, um ihnen alles zu erklären. Gokuwmon, Opossumon und Gawappamon hatten ihnen bereits so weit alles erklärt, aber es lag noch etwas Unglauben da. Sistermon Blanc war verblüfft darüber, die ganze Zeit im Territorium der Souveränen gewesen zu sein ohne es zu wissen, Sistermon Noir fragte sich, wie sie so blind sein konnte das nicht zu merken. Sirenmon hingegen überlegte nur angestrengt, ob es solche Andeutungen auf geheime Tätigkeiten gab, die sie aber im Leichtsinn und Respekt (was ging es sie denn an was Sanzomon im Geheimen trieb?) verdrängt oder ignoriert hatte.

„Ich hätte euch aufklären sollen“, seufzte Sanzomon beschämt und mit hängenden Kopf.

„Dumm war es aber nicht. Wir haben kürzlich feststellen müssen, dass Myotismon schon früh begann uns auszuspionieren und uns zu manipulieren.“

„Aber wir waren ihm nicht nützlich genug“, seufzte Sistermon Noir erleichtert und zwang sich zu einem Lächeln, hoffend es würde auf Sanzomon erleichternd wirken, was es aber nicht tat.

„Wisst ihr denn jetzt alles?“

„Die drei haben uns alles erzählt“, sagte Siremnon. „Ist immer noch schwer zu glauben. Und ihr wart wirklich alle von Anfang an dabei?“

„Von Anfang an“, bestätigte Sanzomon noch einmal leicht nickend. Die Baby- und Ausbildungs-Digimon verstanden nicht viel davon. Nur dass es um etwas überaus Ernstes ging.

„Jijimon und Babamon waren bereits unter den Souveränen tätig und ich übernahm die Nachfolge.“

„So ist das also...“, seufzte Sistermon Blanc nachdenklich. Dann herrschte Schweigen und die beiden Sistermon wie auch Sirenmon wusste nicht was sie nun mehr sagen sollten. Sanzomon deutete ihr Schweigen als Zeichen von Enttäuschung und sie versank immer mehr in Schamgefühl.

„Ich verstehe, wenn ihr enttäuscht seid.“ 

„Nur ein wenig überrascht. Ich ging davon aus, der Hass, den die Meister der Dunkelheit Euch gegenüber hegen lege einzig an Euren Büchern.“

„Dann wäre Piedmon ja wirklich sehr kleinkariert, findest du nicht, piep?“, sagte Piximon, Sirenmon verzog daraufhin etwas die Lippen und etwas beleidigt, dass dieses Digimon sie unterbrochen hatte plusterten sich die Federn an ihrem Kragen sich auf.

„Wer weiß schon, wie so ein Digimon tickt, gerade weil Sanzomons Büchern bei Sympathisanten der Souveränen großen Anhang finden. Das Ihr zum Widerstand gehört war mir klar. Das Ihr aber für die Souveränen arbeitet, dass hätte ich nicht erwartet.“

Sirenmon glaubte, ihre Worte könnten die Stimmung etwas lockern, doch bei Sanzomon erzielte es nicht den gewünschten Effekt. Betrübt kümmerte sie sich wieder um ihre Mündel. Viximon und KyoKyomon als Älteste waren die Einzigen, die den Zusammenhang verstanden, wenn auch nur wenig. Die Souveränen kannten sie von Sanzomons Erzählungen. Das waren nette und gute Digimon, da aber keines der Findlinge die je zu Gesicht bekommen hatten (zumindest bis zum gestrigen Tag), waren die vier Souveränen für sie gleichauf mit Fabelwesen und diese waren eigentlich nicht real. Die restlichen Findlinge waren überfordert und besonders die Ausbildungs-Digimon schienen noch sich damit zu beschäftigen, was nun kam. Gokuwmon versicherte ihnen, dass diese fiesen Digimon (zu denen das schwarze Boogymon auch gehörte, das war der schlimmste Schock) sie nicht kriegen würden und sie glaubten das. Aber Sorgen machten sie sich.

Die Baby-Digimon dachten noch nicht so weit und waren schlichtweg froh, dass Sanzomon wieder wach war, der Rest interessierte sie kaum. Die drei Choromon pressten sich mit SnowBotamon, Torikaramon und Yuramon auf Sanzomons Schoß, wo doch ohnehin schon kaum Platz war. Doch anders wie sonst wirkte sie auf ihre Mündel nicht sehr glücklich, auch wenn sie großzügig Streicheleinheiten an alle vierundzwanzig Findlinge verteilte.

„Was war denn Eure Aufgabe, Sanzomon?“, fragte Sirenmon weiter, um so der peinlichen Stille zu umgehen.

„Ich sollte die auserwählten Digimon der legendären Digiritter großziehen, bis sie hierher kämen. Ich wollte sie unter die anderen Mündel verstecken. Dann wäre es niemanden komisch vorgekommen.“

„Also wolltet Ihr einen sicheren Ort für diese Digimon, damit die Meister der Dunkelheit sie nicht finden.“

„Nein, so ist es nicht!“, protestierte Opossumon sofort, doch Sanzomon unterbrach sie, indem sie einfach die Hand hob. Aber sie ließ diese genauso schnell wieder sinken wie ihren Kopf.

„Ich habe das alles aufgebaut, weil ich daran glauben wollte, dass auch Digimon Familien aufbauen können, egal wie unterschiedlich sie sind. Und das jedes Digimon die Fähigkeit in sich trägt sich von seinem Herzen leiten zu lassen. Ein Ort, wo wir zusammenleben können - Mehr wollte ich nicht.“

Die letzten Strahlen des Sonnenuntergangs erleuchteten das Zimmer rötlich und täuschte vor, Sanzomon besäße etwas Farbe im Gesicht, obwohl sie nahezu bleich war. Der Wald, der Piximons Domizil umschloss war von Prunkwinden überwuchert und teilweise wuchsen sie bis in den Himmel hinauf. Die buntesten von ihnen schlossen sich und die Mondblumen ragten nun ihre Köpfe heraus. Die Nacht brach allmählich an.

„Ihr seid bestimmt wütend. Ich habe euch nicht frei wählen lassen können und auch euer Leben riskiert. Wenn ihr gehen wollt, würde ich es verstehen.“

„Sanzomon, du willst doch nicht wirklich, dass Sirenmon, Sistermon Blanc und Sistermon Noir gehen?!“, fragte Yaamon empört und etwas weinerlich. Sie reagierte nicht und nicht nur in Yaamon auch in bei einigen anderen Digimon sammelten sich Tränen in den Augenwinkeln. Sie ahnten nicht, dass sich Sanzomon schon überlegte, was sie nun mit den Kleinen hier machte. Sie konnte diese noch weniger bei sich lassen. Zu gefährlich. Gokuwmon, Opossumon und Gawappamon ahnten schon, dass Sanzomon sich bereits Gedanken in diese Richtung machte und sahen hilfesuchend zu Sirenmon und den Sistermon.

Sirenmon flog schließlich zu Sanzomon – sie verzog ihr Gesicht dabei etwas vor Schmerz – und landete auf der Pritsche direkt neben ihr. Nyokimon, Pinamon und Budmon rückten an sie und zogen leicht an ihrem Federkleid. Sirenmon legte den Kopf schief zur Seite, beobachtete Sanzomon, die keinerlei Erwartungen zu haben schien. Sanzomon so zu sehen tat Sirenmon weh und sie war sich nicht einmal sicher ob ihr Versuch, sie positiv zu stimmen etwas bringen könnte. Myotismon und die Meister der Dunkelheit hatten Spuren hinterlassen. Aber darauf zu hoffen, dass ihre Schüler den Mund auf bekamen und wenn es drauf ankamen Sanzomon zurechtzuweisen wäre verschwendete Zeit. Warum musste sie immer alles selber machen?

Das Schweigen machte die Baby-Digimon nervös und Sirenmon tätschelte sie kurz, ehe sie etwas sagte.

„Jetzt redet keinen Mist. Wie könnt Ihr nur denken, dass ich einfach gehe? Ich will mich doch nicht umsonst mit Digitamamon gestritten haben“, schimpfte Sirenmon. „Auch wenn wir es nicht wussten, aber als wir hierher kamen, war uns klar, dass wir im Notfall auch eingreifen müssen, um unsere Heimat zu beschützen und das werden wir auch weiterhin. Es ist auch unsere Familie. Und wir wären eine schlechte Familie, würden wir einfach verschwinden, weil es etwas brenzlig wird.“

„Aber wir haben keine Heimat mehr.“

„Dann finden wir eben eine neue!“, rief Sistermon Blanc mit ungewohnten Elan auf. Dann rannte sie auf ihren Meister zu und nahm Sanzomons Hände in ihre.

„Das können wir doch! Soll Piedmon doch über uns lachen, wir bauen einfach ein neues zu Hause! Er hat uns schon einmal Heimat und Schwestern genommen, nochmal lassen wir uns das nicht gefallen! Richtig, Schwester?“

„Richtig. Auf dass dieser Clown an seiner Lache erstickt!“, stimmte Sistermon Noir zu, begeistert von dem plötzlichen Elan, den ihre kleine Adoptivschwester plötzlich entwickelte. Die beiden klatschten sich in die Hände und auch Opossumon war angetan davon. Sie sprang zu ihnen hinüber und wollte ihnen ebenfalls einen Handschlag geben, doch nur Sistermon Blanc ging etwas in die Knie damit ihre zurückdigitierte Freundin dies überhaupt schaffen konnte. Sistermon Noir hingegen ließ die Hand etwas oben, so dass Opossumon einige Zentimeter fehlten. Sie schimpfte, während Sistermon Noir schadenfreudig grinste.

Als Opossumon gerade anfing sich lauthals zu beschweren und Sistermon Noir das heimzahlen würde, sobald sie wieder die Kraft besäße zu digitieren, ging die Schiebetür auf. Eine weiße Gestalt trat hinein und tatsächlich erschraken die Digimon, abgesehen von Piximon. Die Baby- und Ausbildungs-Digimon klammerten sich verängstigt an Sanzomon. Die Gestalt, die in den Raum trat wirkte kränklich und Sanzomon und ihre Schüler brauchten etwas, bis sie ihn wiedererkannten.

„Gennai!“, riefen Sanzomon und ihre drei Schüler. Sie wollte aufstehen, aber schaffte es nicht, was zum einen an der Schwäche lag, zum anderen da überall Digimon an ihr hingen.

„Gennai, alles in Ordnung? Du siehst so eingefallen aus.“

„Er hatte einen Peilsender im Rückenmark“, erklärte Piximon. „Ich konnte ihn entfernen, aber das setzte einen Virus frei. Er ist nicht allzu schädlich, aber fürs erste ist er hier zu nichts zu gebrauchen.“

„Was ist mit dem Peilsender?“, fragte Sistermon Noir.

„Den habe ich an ein Flymon befestigt. Damit sind die Meister der Dunkelheit fürs Erste beschäftigt“, erklärte Piximon weiter, Gennai setzte sich derweil mit fahlen Gesicht auf den Boden, fast direkt vor Sanzomon, die ihre Hand auf seinen Schultern ablegte.

„Gennai?“

„Ich... bin nur noch etwas kraftlos“, stöhnte er und klang dabei wie ein alter Mann. „Ich bin mit dem Mekanorimon vor der Küste abgestürzt und umhergeirrt, bis Piximon mich aufsammelte.“

„Sind die Eier etwa auch noch dort?“, fragte Sanzomon und Gennai reagierte darauf nicht, auch nicht als sich die restlichen Digimon um ihn versammelten und gespannt auf eine Antwort warteten.

„Eier...?“, wiederholte er. „Was für Eier?“

„Die Digieier, Gennai!“, erklärte Opossumon. „Die Digieier der auserwählten Digimon!“

„A-Ach so. Nein, sie sind nicht an der Küste. Ich habe sie versteckt.“

„Und wo?“

„Unter einem Baum, im hohen Gras.“

„Es gibt sehr viele Bäume in der Digiwelt“, brummte Gokuwmon. „Wo steht dieser Baum?“

„Welcher Baum?“

„Der, unter dem du die Digieier versteckt hast!“

Gennai legte zwar den Kopf zurück, um Gokuwmon anschauen zu können, doch er schien mehr leer durch das große Affen-Digimon hindurchzusehen. Es schien sogar als strenge es Gennai an, überhaupt nachzudenken, geschweige denn zu begreifen, was Gokuwmon von ihm wollte.

„....Welche Digieier?“

„Eh. Es ist sinnlos“, ächzte Gawappamon.

„Ich sagte ja, der ist zu nichts zu gebrauchen“, schnaubte Piximon. „Den könnt ihr auf den Schrottplatz werfen.“

„Ich darf doch bitten!“, baffte Gennai empört, aber das Feen-Digimon beachtete ihn nicht. Sistermon Noir stierte auf Gennais Rücken und durch den Stoff der Kutte hindurch glaubte sie seine Wunde zu sehen, die der Peilsender verursacht hatte. Dann nickten sie und Sistermon Blanc sich zu.

„Vielleicht können wir etwas machen. Es wird nicht viel sein, aber wir können verhindern, dass sein Erinnerungsvermögen komplett zerstört wird“, erklärte Sistermon Blanc, dann knüpfte ihre Schwester an: 

„Bestimmt sind noch Reste des Peilsenders im Körper, als er zersplitterte. Das ist dunkle Energie.“

„Kennt ihr euch damit aus?“, fragte Paomon neben Sanzomon. Kyaromon, Nyokimon und Yuramon hoben aufmerksam ihre Köpfe, dann nach und nach weitere. Sistermon Blanc wurde es schnell unangenehm im Rampenlicht zu stehen, besonders als Paomon, Kyaromon und die beiden Pagumon noch zu ihnen sprangen. Opossumon räusperte sich laut und nickte den beiden Sistermon eifrig und entschlossen zu, ebenso Sanzomon, wenn auch etwas zaghafter.

„J-Ja, ei-ein bisschen“, erklärte Sistermon Blanc verlegen. „Wisst ihr, es gibt eine Legend die sagt, dass Ophanimon uns Sistermon in die Digiwelt schickte, um den königlichen Rittern beiseite zu stehen.“

Vermutlich war genau das der Grund, warum die Meister der Dunkelheit sie angriffen, dachte sich Sistermon Noir. Piedmon war ja nicht er Einzige, mit dem sie Ärger hatten. Wobei Sistermon Noir zumindest Etemon lassen musste, dass er, wenn sie auch belästigte und verlangte, dass sie seine Truppen versorgten – dabei hatten sie kaum für sich alleine etwas -, ihnen aber gegenüber nie sehr gewalttätig wurde. Ob es daran lag, dass sie gleicher Rasse ( Puppen-Digimon ) waren?

Bei der Erwähnung der königlichen Ritter staunten die jungen Digimon und Sistermon Noir nahm sich der Gelegenheit an um ihrer besten Aufgabe nachzukommen. Babysitter sein.

„Ja, aber das gilt nur für die besten Sistermon. Und die besten können auch unserem dementen Onkel hier helfen, oder Schwester?“, lachte Sistermon Noir, nahm Sistermon Blanc in den Schwitzkasten und zwinkerte ihr zu. Gennai, etwas vor den Kopf gestoßen bei der Umschreibung dement, wehrte sich erst, als die beiden Sistermon ihm am Arm nahmen und fortzerren wollten. Doch er schien keine Wahl zu haben, wenn sie noch etwas von seinem Verstand und einige Informationen retten wollten, wenn er auch schon längst wieder vergessen hatte, was das für Informationen waren.

„Los, kommt mit, dann seht ihr wie wir den Onkel hier verarzten“, forderte Sistermon Noir die Ausbildungs-Digimon auf. Paomon, Kyaromon und die Pagumon folgten ihnen bereits, der Rest mitsamt den Baby-Digimon trotte, von Neugier angelockt nach und nach hinterher. Sistermon Noir schaute über die Schulter, zwinkerte triumphierend und hob den Daumen, dann schloss sich die Tür hinter der Truppe.

„Als Babysitter sind die beiden wirklich genial“, sagte Gokuwmon, Piximon stimmte ihm zu.

„Ja, endlich Ruhe hier. Dann können wir nun auch die wichtigen Dinge besprechen.“

„Muss das jetzt sein?“, moserte Opossumon. „Wir sind noch keinen Tag hier und Meister Sanzomon ist eben erst zu sich gekommen.“

„Ihr müsst euch trotzdem Gedanken machen, wie es weitergeht. Vermutlich suchen die Meister der Dunkelheit euch. Und denkt ihr, ich stehe nicht auf ihrer Abschussliste?“

„Du bist doch hier super versteckt.“

„Und denkst du, das hält ewig? Ich muss trotzdem immer wieder den Aufenthaltsort wechseln, ansonsten merken die noch, dass der Raum verzerrt ist.“

Während Opossumon und Piximon sich weiter ankeiften, blendeten trübe Gedanken und Schuldgefühle in Sanzomon den Streit aus. Sirenmon bemerkte als Erste, wie die Hände des Mönch-Digimon sich in den Stoff ihres Gewands gruben, dann sich ballten.

„Jetzt klärt das doch wann anders. Kannst du nicht warten, bis unsere Wunden verheilt sind?“, schimpfte Sirenmon.

„Die Meister der Dunkelheit werden alles genau absuchen und ich habe nun einmal nicht so viele Vorräte, um euch mit zu versorgen“, verteidigte sich Piximon. „Mir wäre es ja auch lieber, wenn ich nicht so übervorsichtig sein müsste.“

„Ein, zwei Tage wirst du ja noch aushalten können. Wir bleiben schon nicht ewig, aber jetzt lass uns mal durchschnaufen!“

Sirenmon selbst verzichtete aber auf dieses durchschnaufen, stattdessen plusterte sie ihr Federkleid auf und schubste Piximon unter dessen Protest mit ihr aus dem Raum und die Schiebetür knallte laut zu. Gokuwmon, Opossumon und Gawappamon warteten noch ab, bis das Gezeter sich von ihnen entfernte, dann erlaubten sie es sich tief zu Seufzen und, wenn auch unter Schmerzen sich auf den Boden fallen zu lassen. Solange die Kleinen bei ihnen waren, hatte sie versucht alles zu unterdrücken, was ihnen hätte Sorgen machen können. Sie hatten seit ihrer Flucht nicht gegessen, sie hatten die wenigen Vorräte, die Piximon hatte den Jüngeren überlassen. Sie waren ohnehin zu müde überhaupt essen zu können.

„Ich bin egoistisch...“

Sanzomons Worte waren so leise und monoton wie die Stille der Nacht. Ihre Fäuste krampften noch immer auf ihrem Schoß und sie wagte es immer noch nicht, ihren Kopf zu heben, sondern von Reue und Scham erfüllt auf den Boden zu starren. Gokuwmon lag auf dem Rücken und schreckte alle Extremitäten von sich, nur seine Augen bewegten sich in die Richtung seines Meisters.

„Ich habe ihn nicht ins Schloss gelassen, weil er ein Hilfe sein könnte, sondern weil ich nur daran dachte, wer er mal war. Ich war als Rookie-Digimon schon ihn verliebt. Mein Traum war es, dass er wieder zurückkommt und mich so, wie ich bin akzeptiert und meine Gefühle erwidert. Ich wollte, dass er diesmal bei mir bleibt und habe dabei so viel aufs Spiel gesetzt. Ich hätte es merken müssen, um was es ihn eigentlich ging. Das ihr hungrig und verletzt hier sitzt habe ich zu verantworten.“

„Wer hätte es denn ahnen können? Myotismon ist nicht das erste Virus-Digimon, dass bei uns lebte“, meinte Opossumon.

„Es wäre meine Aufgabe als Schlossherrin gewesen ihn neutral zu beobachten und dann zu verhandeln, wie sonst auch. Ich habe eure Sicherheit und alles, was der Widerstand aufgebaut hat für mein persönliches Glück riskiert. Und jetzt...“

Tränen kamen hoch, aber Sanzomon konnte sie gerade so noch unterbinden, wenn das Brodeln in ihrem Bauchraum blieb. Sanzomon schämte sich. Sie schämte sich für alles. Dafür, ihn ins Schloss gelassen zu haben. Ihm vertraut zu haben. Ihm helfen zu wollen. Mit ihm geschlafen zu haben. Das war wohl das Schlimmste. Wenn die Sistermon sie wirklich verarztet hatten, wussten sie, was für Bisse das auf Sanzomons Körper waren. Hatten sie sie nicht sogar nackt im Bett vorgefunden? Hatten sie es erzählt? Was sie wohl darüber dachten, dass ihr Meister für ein feindliches Digimon die Beine breit machte?

Ihr Arm tat weh unter dem Verband. Sanzomon sah regelrecht durch die Bandagen hindurch die Bissspuren und rief die Bilder wieder ins Gedächtnis. Der Schmerz des Bisses, die kalte Zunge, die das Blut auffing und der anschließende Kuss auf die Wunde, vielleicht sogar noch einen zweiten, die diesem Akt eine Note von Zärtlichkeit gab, bis dieser sich an anderer Stelle wiederholte. In dem Moment, wenn zwei Körper eins und Grenzen damit schwammig wurden, mochte Schmerz an den richtigen Stellen und der richtigen Intensität lustvoll sein. Es war gut sich treiben zu lassen, so paradox es klang.

Ihr hatte es gefallen. Nun aber, wo die Grenzen klarer denn je waren, war der Schmerz einfach nur Schmerz und die Bisse nur Bisse. Sie waren kein Zeichen eines Kampfes, aber auch kein Beweis für Verbundenheit. Sanzomon wusste nicht, was sie für ihn war -

Doch, sie wusste es. Sie war in seinen Augen verrückt. Myotismon irrte sich. Zwischen ihnen lag bei weitem mehr wie einfach nur Politik.

„Wieso hat er uns einfach so verraten?“, sagte Sanzomon geknickt, die Arme legte sie um sich. „Waren wir für ihn wirklich nie mehr wie der Feind?“

„Das müsst Ihr uns sagen, Meister“, meinte Gokuwmon. „Ihr standet ihm am nächsten.“

„Ich weiß es nicht. Ich... weiß gar nichts.“

Sanzomon schüttelte nur langsam den Kopf, dann stützte sie ihn mit der Hand ab. Sie besaß immer noch nicht die Energie um überhaupt klar denken zu können.

„Hat er euch gegenüber einen Grund genannt, warum er sich umentschieden hat?“, fragte Sanzomon schließlich und wieder sahen die Digimon vor ihr untereinander an und diskutierten auf nonverbaler Ebene, wer denn nun etwas sagen sollte. Diesmal fühlte sich Gawappamon dazu erkoren.

„Er liebt Euch“, sagte er, doch es bewirkte nicht das, was sie sich von diesen Worten erhofft hatten. Eher war es, als weinte Sanzomon beinahe, mit der Unternote des Zorns. Gawappamon traute sich nicht mehr weiter zu sprechen. Dann nahm Gokuwmon wieder das Ruder an sich.

„Er hat begriffen, dass, auch wenn man nur schlecht von wahren Emotionen reden mag, man nicht automatisch von ihnen verschont bleibt. Nicht von Trauer. Nicht von Wut. Nicht von Liebe. Auch wenn er es ewig leugnet, weil dass in seine Welt nicht passt.“

„Hat er uns deswegen als Volksverräter beschimpft? Weil wir nicht in sein Weltbild passen?“

„Vielleicht hat er uns gerade deswegen verschont.“

Unter Schmerzen und stöhnen rappelte Gokuwmon sich auf, setzte sich aber gleich wieder auf den Boden, als er vor seinem Meister stand. Gokuwmon hatte tiefe Augenringe, wie Sanzomon feststellen musste. Sein Fell war an einigen Stellen zerzaust. Er war verletzt. Wie lange waren sie unterwegs, bis Piximon sie auffand? Was war auf der Flucht passiert?

„Er würde es nie so direkt sagen, aber er liebt Euch, dafür dass Ihr seid, wie Ihr seid. Sonst hätte er Euch nicht gehen lassen. Er hat uns verrückt geschimpft, aber er war der größte Verrückte von uns. Und das wusste er.“

„Warum glaubst du daran, mein sonst so skeptischer Schüler?“

„Weil ich mir eingestehen muss, dass Myotismon und ich uns in einigen Punkten doch ähneln. Ich sah, wie er Euch ansah und ich wusste, was er dachte. Am Anfang hat er uns vielleicht wirklich nur etwas vorgemacht, aber das hat sich gelegt. Wir alle haben es gespürt, ansonsten hätten wir ihn nie akzeptiert. Und glaubt mir, ich erkenne verliebte Vollidioten auf drei Meilen Entfernung.“

Nicht zuletzt, weil Gokuwmon diesen auch immer sah, wenn er in den Spiegel starrte.

Sanzomon saß weiter da wie ein Häufchen Elend, das Herz zerrüttet und nicht mehr in der Lage geradeaus zu denken. Keine Röte im Gesicht gleich eines Sonnenaufgangs, kein Glanz in den goldenen Augen.

Das war es doch, dachte sich Gokuwmon und richtete seine Gedanken an Myotismon, wenn er diese wohl auch nie zu hören bekommen würde.

(sie so zu sehen sie unglücklich zu wissen sie zu zwingen etwas zu sein dass sie nicht sein will konntest du nicht ertragen sie war dir wichtig genug dass selbst ein empathieloses Digimon wie du ihren Willen nicht mehr ignorieren konnte)

Opossumon, die ganze Zeit ruhig sitzend und Gokuwmon reden lassen – wann erlebte man ihn sonst so redselig? - sprang auf und griff nach dem Blumenstrauß, der auf dem einzigen, kleinen und flachen Tisch in der Mitte des Raumes lag und rannte damit auf ihren nun kleinen Füßen wieder zu ihrem Meister zurück.

„Da!“, sagte sie und Opossumon hielt Sanzomon den blauen Lavendelstrauß direkt vor die Nase, den sie auch gleich an sich nahm.

„Für mich? Habt ihr -“

„Der ist nicht von uns. Den hattet Ihr bereits in der Hand, als man uns Euch übergeben habt. Außerdem hab ich den Strauß schon vorher gesehen. Er ist definitiv von ihm.“

„... Warum? Er kennt doch die alten Reime von Babamon. Er weiß doch genau, dass -“

Sie sprach nicht weiter. Nun gänzlich verstummt starrte Sanzomon den Strauß an. Da waren auch Rosmarinzweige dazwischen. Wie in dem alten Mutter-Gang-Reim. Wo hatte er die her? Lavendel wuchs hier kaum, dazu musste man eine Weile suchen. Hatte er einfach die Bakemon losgeschickt? Nein, eher war er selbst losgegangen. Er wusste Dank Babamons Unterricht schließlich, wo man und zu welcher Zeit suchen musste, er würde es wenn selbst erledigt haben, anstatt den Bakemon alles vorher genau zu erklären. So viel Geduld besaß Myotismon nun auch wieder nicht.

Die Pflanzen waren frisch, einige der Blumen waren offen, die Farbnuance genau zwischen blau und lila. Der Duft war angenehm und hätte vielleicht gut mit dem der Seerosen gepasst. So einen Strauß wünschte sich Sanzomon seit dem Tag, als Babamon ihr damals ihre als Märchen und Mutter-Gans-Reim getarnte Liebesgeschichte erzählte. Doch was nützte Sanzomon ein Strauß, wenn das Digimon, mit dem sie für immer zusammen sein wollte sie am selben Tag hinterging und verließ?

Sanzomon seufzte und warf den Strauß zur Seite, nicht energisch genug das man hätte sagen können, dass sie wütend war, aber auch nicht so zaghaft für jemanden, der nur traurig war. Opossumon war etwas enttäuscht über das Ergebnis, hatte sie doch gehofft ihren Meister mit diesem Überbleibsel eines subtilen Liebesbeweises aufheitern zu können.

„Bitte, lasst mich allein. Ich bin noch müde.“

„Dann bleiben wir bei Euch“, sagte Gokuwmon und versuchte dabei fürsorglich zu klingen, was aber an seiner rauen Stimme etwas scheiterte. Sanzomon schaute kurz auf, brach den Augenkontakt aber sogleich wieder ab. Opossumon und Gawappamon waren sich unsicher und wären eigentlich Sanzomons Bitte nachgekommen, nur Gokuwmon blieb stur sitzen.

„Ich will alleine sein.“

„Ihr klingt aber nicht danach“, sagte Gokuwmon und behielt seinen ruhigen, rauen Ton. Sanzomon wollte ihn erneut darum bitten, energischer wenn es sein müsse, doch der Kloß in ihrem Hals machte ihr einen Strich durch die Rechnung. Ihre Augen brannten, wurden nass und sie versuchte mit aller Kraft es zu unterdrücken. Ihre Zähne bissen unter ihrem Halstuch auf die Unterlippe, zweimal hörte man, wie sie scharf Luft einzog.

Dann konnte sie nicht mehr. Sanzomon legte ihr Gesicht in die Hände, die Finger krallten sich in die fallenden Haarsträhnen. Erst kam ein Schluchzen, ein Wimmern und dann, als gerade Gokuwmon aufstand und sie in den Arm nahm, weinte sie.

„Gokuwmon, es tut mir Leid! Es tut mir so Leid!“, heulte sie und Sanzomons Gesicht verschwand in seiner weißen Mähne. „Ich bin ein furchtbarer Meister! Wegen mir und Myotismon wärt ihr fast getötet worden! Und ich Idiot habe geglaubt, ich könnte ihm noch helfen! Ich habe daran geglaubt!“

„Es ist doch gut... Es ist in Ordnung gewesen. Ihr habt es versuchen wollen.“

„Es war sinnlos... So sinnlos... Aber ich kann nicht aufhören ihn zu lieben. Ich kann es nicht!“

„Das ist nicht schlimm. Es ist okay, wenn es so ist, Meister“, beruhigte Gokuwmon sie weiter, stand mit Sanzomon im Arm auf, um sich neben sie setzten zu können. Er wusste nicht ob dass, was er sagte wirklich half, schließlich weinte Sanzomon weiter – aber besser das, als dass sie es weiter unterdrückte.

„Er...“, schluchzte Sanzomon. „Er sagte, er würde dafür sorgen, dass mir kein Leid mehr geschieht... Dabei hat er alles zerstört. Er hat unser zu Hause zerstört! Ich dachte, er ist zufrieden mit dem Leben, dass wir führen. Er hat doch gesehen, das es möglich ist! Warum hält er so an seinem Hass fest? Ich verstehe es nicht! Ich verstehe ihn nicht!“

Die Worte lagen Gokuwmon auf der Zunge, doch heraus brachte er sie nicht. Noch einmal zu betonen, dass Irren meist nicht mehr zu helfen war wäre überflüssig.

Beim Anblick von Sanzomon, die zusammengekauert dasaß und weinte, fiel es nicht nur Opossumon schwer ihre Tränen zurückzuhalten. Gawappamon wollte eine Hand auf Sanzomons Schulter ablegen, schreckte jedoch zurück, als ihr Schluchzen lauter und stärker wurde. Hilflos sah er zu Gokuwmon, doch er schüttelte nur den Kopf. Ihr Gesicht vergrub Sanzomon im Stoff seiner Hose, ebenso krampfte sie ihre Finger in diese.

„Ich habe ihn verloren. Ich habe ihn an den Wahnsinn verloren... Sein Wahnsinn hat euch und den Kleinen geschadet... Sein Wahnsinn hat mir die Digieier genommen. Meine Gänschen sind weg... Ich muss doch bei ihnen sein, wie sie geboren werden... Und jetzt weiß ich nicht, wo meine Gänschen sind...“

Bevor auch Opossumon, sensibel wie sie eben war, selbst zu weinen begann, sprang sie in Sanzomons Arme und hielt ihren Meister fest, Gawappamon folgte ihr. Dann fiel Sanzomons letztes bisschen Selbstbeherrschung in sich zusammen. Sie heulte in den Stoff von Gokuwmons Hose und bekam kaum Luft. Das Gesicht war nass und rot und ihre geradezu herzzerreißenden Laute füllten nicht nur Raum, sondern hörte man auch darüber hinaus.

Gokuwmon merkte, wie die Schiebetür wieder auf ging, allerdings nur einen Spalt, damit die Baby- und Ausbildungs-Digimon hineinschauen konnten. Die beiden Sistermon und Sirenmon standen hinter ihnen. Gokuwmon nickte und bat sie somit hineinzukommen, doch keiner traute sich erst so wirklich. SnowBotamon aber, dessen Knopfaugen schon Tränen vergossen quetschte sich als Erstes durch. Rückblickend auf seine Spielkameraden folgten ihm anschließend Viximon, dann Yaamon, Budmon, die Choromon und nach und nach alle Findelkinder. Sistermon Noir und Sistermon Blanc sahen sich erst fragend an und dann zu Sirenmon, da sie nicht wussten ob sie die Kleinen zurückrufen sollten um Sanzomon die gewünschte Ruhe zu gönnen, oder nicht. Sirenmon schien es auch nicht zu wissen und wusste es auch nicht, als sie sich entschloss mit den beiden wieder ins Zimmer zu gehen. Doch als sie sahen, wie sich die Baby- und Ausbildungs-Digimon um Sanzomon drängten und jeden freien Zentimeter um Sanzomon beanspruchten, konnten sie auch nicht anders, wie bei ihrem weinenden Meister zu bleiben.

Die Sonne ging unter. Sanzomons Weinen verstummte nicht, aber mit ihren Mündeln in den Armen und von ihrem Gefolge umzingelt wurde es leiser. Irgendwann schlief sie ein und erwachte wieder mitten in der Nacht. Ihr verheultes Gesicht lag noch immer auf Gokuwmons Schoß. Er war im Sitzen eingeschlafen, aber eine Hand hielt die seines Meisters. Sanzomon zog ihre kurz heraus, um über Gokuwmons zu streichen. Sie konnte sich kaum bewegen. Um und auf ihr lagen überall Digimon.

„Du hast echt Glück, so viele Digimon um dich zu haben“, sagte Piximon, doch kurz dachte Sanzomon, es waren Jijimon und Babamon, die da vor ihrem Bett standen. „Sie haben alles erzählt, aber keiner von ihnen machte dir einen Vorwurf. Du hast sehr treues Gefolge. Wie hat ein Digimon wie du das gemacht, piep?“

„Ich habe nichts gemacht“, antwortete Sanzomon müde. „Ich liebe sie einfach. Sie sind meine Familie...“

„Hat Liebe dich nicht erst in diese Situation geführt?“, harkte Piximon weiter nach. Beschämt sah Sanzomon ihm nicht mehr in die Augen. Sie fürchtete, Piximon könnte merken, dass sie trotz des Verrates immer noch Gefühle hegte. Doch Piximon wusste es auch so.

„Manchen Digimon ist nicht zu helfen, egal wie oft man auf Vernunft plädiert. Vernunft ist ein mannigfaltiger Begriff, Weiße Königin, der von persönlicher Wahrnehmung getrübt wird. Und rar gesät.“

Piximon drehte sich um, doch ehe es den Raum verließ schaute es noch einmal kurz zu Sanzomon zurück.

„Gennai geht es besser. Die meisten seiner Daten sind beschädigt und man wird ihn kaum mehr komplett wiederherstellen können. Er weiß nicht, wo er die Digieier versteckt hat, aber die Digivice sind bei ihnen. Ihr Licht wird sie beschützen. Und, Gennai sagte auch, wenn auch nur irgendetwas von dir in diesen Digimon ist, werden sie auch so anständige und starke Digimon werden, piep. Dir täte es gut, wenn du dir ein gutes Versteck suchst. Ich wüsste jemanden, der dir dabei behilflich sein könnte. Er ist ein recht eigensinniges Digimon aus der Dunklen Zone, aber schwer in Ordnung, piep.“

Dann verschwand Piximon. Nachdenklich versank sie tiefer auf den Berg Digimon, der sich um sie sammelte. Sie bekam kaum Luft. Aber für eine, vielleicht auch für eine zweite oder dritte Nacht wäre es nicht so schlimm.

Sanzomon spürte etwas kaltes auf ihrer Wange. Ein vertrauter Reiz, aber ganz sicher war es etwas anderes. Tatsächlich war es auch nur SnowBotamon, dass schlaftrunken seine kalte Nase an Sanzomons Wange presste und glaubte, es würde der Geste nahekommen, die es so oft bei Sanzomon und Myotismon beobachten konnte und es würde sie aufmuntern.

Es erzielte zumindest eine Wirkung. Sanzomon, wieder im Schlaf dahindämmernd glaubte für einen kleinen Augenblick, dass die Kälte von Myotismons Lippen käme, der noch einmal zurückkam, nur um sicher zu gehen, dass Sanzomon wirklich dort lag, wo sie hingehörte.

(Und träume süß ehrfürchtige Hohepriesterin)

 
 

 

Die ersten Tage ließen sie Sanzomon nicht alleine. Ihre Schüler schliefen mit ihr jede Nacht in einem Bett. Es war eng und viel zu heiß, die drei ertrugen es aber, wenn ihr Meister dafür schlief. Hin und wieder wachte Sanzomon noch in der Nacht auf und auch manchmal kamen einzelne Tränen durch, aber in der Regel schlief sie wieder ein.

Ihre Schützlinge versuchten mit Sanzomon zu spielen, aber aufgrund mangelnder Motivation kuschelten sie mit ihr und gaben ihr die Umarmungen und die Küsse, die sie sonst immer von ihr bekamen. Nicht selten waren es die Kleinen, anstelle der drei Schüler, die bei Sanzomon im Bett lagen.

Die beiden Sistermon, bestrebter denn je versuchten zu lernen. Sie zeigten, was sie gelesen hatten. Zeigten ihr ihre Fortschritte. Sagten, sie wollten Sanzomons Schülerinnen sein. Immer noch. Sie sei schließlich ein guter Meister. Konzentrieren konnte sich Sanzomon nur schwer darauf, bemühte sich aber um ein Lob.

Sirenmon war zwar sonst ein Befürworter direkter Worte, hielt sie aber für unangebracht. Sie versuchte Sanzomon zumindest dazu zu motivieren anständig zu essen oder wenn sie mal einen Wunsch äußerte, dem entgegen zu kommen. Und wenn es nur der Wunsch nach einer mütterlichen Schulter war, an der man sich ausweinen konnte.

Ein Stimmungshoch zeigte sich selten. Manchmal erschien es, als würde der Trost nichts bringen. Gokuwmon glaubte, zwei- dreimal D'arcmon statt Sanzomon vor sich sitzen sehen. An manchen Tagen redete sie kaum ein Wort. Und die Angst wuchs, dass der Kummer sich weiter durch Sanzomons Herz fraß, bis sie zurückdigiteren würde. Dass sie schwächer werden würde. Dass sie sich nie mehr davon erholte.

Aber sie versuchten es weiter.

Irgendwann wurde es besser. Irgendwann, man wusste nicht wie lange nach diesem Vorfall, begann sie wieder mit den Baby- und Ausbildungs-Digimon zu lachen. Eher mit Mühe, aber es fiel ihr nach und nach leichter, wieder zu lachen. Irgendwann sang sie wieder. Dann schrieb sie wieder. Und sie war bestrebt eine Heimat zu suchen. Ein neues zu Hause für sie alle, wo sie sicher und friedlich leben konnten, wie auf Grey Mountain einst.

Ob sie den Schwarzen König vermisste fragte man sich und wenn ihre Schüler etwas gelernt hatten, dann diesmal direkter zu sein. Sie fragten sie direkt, ob sie Myotismon vermisste. Und ja, sie vermisste ihn. Schrecklich. Wenn sie an ihn dachte, schnürte es ihr Herz zu und die Sehnsucht nach seinen Armen kam wieder hoch. Sie war wütend auf ihn, aber hassen könnte sie ihn niemals.

Aber von sich aus redete Sanzomon nicht über ihn. Wenn sie Kontakt mit Gennai aufnahm, der sich auch irgendwo versteckt hielt und sie über die Pläne und Machenschaften der Meister der Dunkelheit und deren Anhänger sprachen, wurde alles, was Myotismon betraf weitgehend gemieden, wenn auch mehr von Gennai, wie von ihr. Es war besser. Sie sollte nicht so viel von dem mitbekommen, was er tat.

Ihr neues zu Hause war kleiner, aber besser versteckt. Nicht mal wirklich mehr auf Server. Nicht mal wirklich in der Digiwelt. Eher irgendwo dazwischen, ein Wunderland hinter Spiegeln, die Forte dazu bewacht von Piximons Bekannten, einem alten, göttlichen Digimon, das zwischen den Welten lebte. Piximon warnte sie zwar, dass Anubimon nicht jedem half und in die Kunst einweihte die Grenzen zu überschreiten, aber da Sanzomon redlich und ein Freund eines Freundes war, der ihm einst an Gerechtigkeit glauben ließ und wenn nur kurz, machte er eine Ausnahme. Sanzomon glaubte genau zu wissen, dass nicht Piximon dieser Freund war, von dem Anubimon sprach.

Sanzomons neues Arbeitszimmer war wie gewohnt von Seerosenduft erfüllt, aber unter diesem süßlichen Geruch verbarg sich noch ein anderer.

In all der Zeit, auch wenn sie nie mehr ein Wort über Myotismon verlor - der Lavendelstrauß, wenn auch schon längst vertrocknet thronte stets auf ihrem Arbeitstisch und hin und wieder konnte man Sanzomon dabei beobachten, wie sehnsüchtig sie ihn anstarrte, ehe sie sich weiter in ihre Arbeit stürzte.



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