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Wintersonett

Which dreamed it?
von

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Konzert XI - WHICH DREAMED IT?, 3. Satz Allegro senza tempo Aes-Moll


 

𝄞

 

Yuki holte Luft, sagte aber letztlich doch nichts. Ihr Bedürfnis sich mitzuteilen war groß, aber sie wusste nicht, was sie sagen sollte und irgendetwas von sich plappern ohne jede Substanz wollte sie auch nicht. Sie wollte nur, dass Myotismon mit ihr redete und sie hätte anhand seine Betonung gewusst, wie seine Stimmung war und wie sie reagieren sollte, um die Situation zum Besseren zu wenden.

Myotismon hatte nichts mehr zu ihr gesagt. Irgendwann während sie dastanden und er sie im Arm hielt hob er sie hoch und verließ mit ihr zu Fuß die Baustelle, ehe Polizisten kamen, die von Passanten darüber in Kenntnis gesetzt wurden, dass Monster hier kämpfen würden. Den Vampir mit dem kleinen Mädchen sah niemand, aber in der Ferne sah Myotismon das Blaulicht der Streifenwagen und das Aufblitzen von Taschenlampen, die die Gegend beleuchteten.

Er selbst saß mit gekreuzten Armen und dem rechten Bein über das andere geschlagen auf einer einsamen Bank des Mizuno Hiroba Parks. Seinen Trenchcoat und den Fedora hatte Myotismon verloren, aber so dunkel gekleidet wie er war fiel er im diesem unbeleuchteten Teil des Parks in der Nacht nicht auf. Yuki saß neben ihm und ihr Gesicht schaute in seine Richtung, er selbst nur auf das Meer, lugte aber hin und wieder zu dem Mädchen, dass offensichtlich reden wollte, sich aber nicht traute. Ihm war aber auch nicht danach. Myotismon sah Yuki und im selben Moment erinnerte er sich wieder, wer sie war. Es machte ihn wütend sie anzusehen – und gleichzeitig melancholisch.

Yukis feines Gespür wahrte sie vor seiner Laune. Die Situation war beklemmend und sie wünschte sich, er würde wenigstens über irgendetwas meckern, dann könnte sie zurückbaffen, der Rest käme von selbst. Dann gib ihm halt einen Grund zum meckern, hörte Yuki ihre eigene Stimme sagen. Sie streckte die Hände aus und berührte erst nur Myotismons Umhang, von dort aber, was sie zu fassen bekam tastete Yuki sich zu seinem Arm und dann zu seiner Hand und hielt diese fest.

„Was soll das jetzt?“, knurrte Myotismon in der bekannten, übellaunischen Betonung, wenn es auch etwas gedauerte, bis er sich dazu bereiterklärte den Mund aufzumachen.

„Ich möchte, dass du etwas sagst. Ich mag dich so still nicht.“

„Ich habe nichts zu sagen. Ich will meine Ruhe.“

Aber doch ließ Yuki Myotismons Hand nicht los und er machte auch nicht einen Versuch Abstand zu gewinnen. Yuki legte nun beide Hände auf seine.

„Was kapierst du an meinem Satz nicht?“

„Ich dachte nur... Dass du vielleicht traurig bist, Onkelchen.“

„Du denkst wieder zu viel“, brummte er erneut, aber wie auch zuvor schreckte dies Yuki nicht ausreichend ab.

„Onkelchen... Hasst du Papa?“

Myotismon sagte wieder nichts, sondern starrte nur aufs Meer hinaus und hätte Yuki sehen können, hätte sie gesehen wie emotionslos seine Mimik war.

„Ja. Ja, das tue ich.“

„Aber warum?“, fragte Yuki empört und eingeschüchtert. Wieder blickte Myotismon zu ihr, sah in ihr Gesicht und glaubte, in Hisakis zu schauen. Es war sein Gesicht, aber es war nicht seine Hand, die seine hielt, wie damals in der Apartheid. Die Hand, die ihn einst glauben ließ, dass alles sich noch ändern könnte.

„Weil ich ihn vermisse...“, hauchte Myotismon über die Lippen und auch wenn er sich Mühe gab weiter emotionslos zu klingen, hörte Yuki dennoch, dass er traurig war. „Ich habe nicht die Zeit gehabt darüber nachzudenken, was es heißt, dass er tot ist. Ich wusste es schon seit Jahren, aber wirklich begriffen habe ich es nicht. Ich war nicht einmal traurig darüber. Unsere Wege hatten sich Jahre zuvor schon getrennt, ob er also bei mir war oder nicht – das war egal. Ich hatte damit abgeschlossen.“

„Und warum bist du jetzt traurig?“, harkte Yuki weiter nach, aber Myotismon würde es nicht sagen. Wenn er an Hisaki dachte, dachte er an ein elfjähriges Kind, nicht an einen Erwachsenen. Ein Menschen, der einen Lebenslauf von mehreren Jahren hinter sich hatte passte nicht zu Myotismons Erinnerungen. Hisaki wollte nie in die Menschenwelt zurück. Er wollte nie erwachsen werden. Er wollte nie Familie.

Aber Hisakis Tochter saß hier bei ihm, die er bei vollen Bewusstsein und Klarheit, was es hieß Vater zu sein in die Welt setzte und plötzlich glaubte Myotismon seinen eigenen Partner, der für ihn im Eis gestorben wäre nicht mehr zu kennen. Hisaki hatte ein Leben – und er war nicht bei ihm gewesen.

Und dann hatte Hisaki nicht einmal so viel Anstand und vergaß sein Digimon, sondern er...

„Hat dein Vater viel von mir erzählt, Yukino?“, fragte Myotismon zurückhaltend.

„Ja, sehr viel. Ich erinnere mich nicht mehr an alles, aber er hat etwas von großen Tieren und mächtigen Wesen erzählt und dass er mit dir kämpft hat. Und das du miesepetrig bist. Und viel am Tag schläfst, genau wie der Schwarze König.“

„Das habe ich erwartet...“

„Aber auch, dass du sehr schlau und stark bist und du zu ganz bestimmten Leuten auch sehr nett.“

Dies hielt Myotismon persönlich für ein Gerücht, aber er würde vorerst dem nicht widersprechen.

„Und das ihr Musik gemacht habt und gereist seid. Und dass er dich, als du kleiner warst immer baden musste, aber du das nie mochtest.“

„Ausgerechnet das musste er erzählen...“, brummte Myotismon und diesmal tatsächlich so leise, dass Yuki es nicht verstand, sondern es sich nur zusammenreimen konnte. Zumindest hatte Yuki endlich verstanden, was ihr Vater mit klein meinte. Sie hatte sich immer eine kleine Schachfigur vorgestellt, da sie aber nun wusste, dass Onkelchen mal eine Fledermaus war, ehe er zu einem Hund und dann zu einem Vampir wurde änderte sich das Bild ihrer Vorstellung.

„Und was hat dein Vater gemacht, die ganze Jahre ohne das Wunderland?“

„Ich erinnere mich nicht mehr an alles.“

„Was weißt du noch? Erzähl es mir“, bat Myotismon sie und tatsächlich hatte Yuki den Eindruck, dass diese Bitte von Herzen kam, wenn sie aber auch nicht wusste, ob er eins besaß (müsste er aber, wie sollte man einen Vampir sonst pfählen?)

„Was soll ich dir denn erzählen?“

„Nun, was machen denn die Erwachsenen hier in dieser Welt?“

„Sie arbeiten!“, platzte es aus Yuki heraus. „Papa hat auch gearbeitet. Papa war Lehrer.“

„Lehrer?“, wiederholte Myotismon ungläubig und Yuki hörte ihn kurz lachen, bis ihm dieses im Hals stecken blieb, als Myotismon sich an vergangene Tage erinnerte, als Hisaki ihm beibrachte Klavier zu spielen. „Für Musik?“

„Ja. Papa hat Kindern Klavier spielen beigebracht. Papa muss streng gewesen sein, aber er sagte, er muss das manchmal sein, weil einige davon und deren Eltern nicht mit den Augen, sondern mit den Nasen sehen. Was das auch immer heißen soll.“

„Ich glaube, ich verstehe es.“

Myotismon erinnerte sich an eine ähnliche Umschreibung, als Hisaki Witze über die hochnäsigen, heiligen Soldaten riss, die sich ohnehin für etwas besseres hielten.

„Aber er muss gut gewesen sein. Manche Eltern und Schüler haben ganz freundlich und höflich mit ihm geredet, wenn wir sie trafen. Papa hat immer jemanden getroffen, wenn wir etwas erkundet haben. Papa war jeden Tag mit mir woanders, auch als ich nichts mehr sehen konnte. Hier in Tokio gibt es so viel was man erlebt haben muss, aber das schaffst du nicht einmal in einem Monat.“

„Nein, Danke. Wie soll ich sagen – ich mag den Trubel und die Enge der Großstadt nicht.“

„Nein...?“, sagte Yuki fast enttäuscht, dabei hätte sie ihrem Onkelchen gerne die Stadt gezeigt, in der Hoffnung es lenkte ihn ab. Aber dass er das als Vampir nicht mochte war für Yuki verständlich.

„Weißt du, wo Papa, Mama und ich auch oft waren? Dort gefällt es dir bestimmt. In Hokkaido ist auch nicht so warm wie hier“, erzählte sie eifrig weiter. „Papas Familie kommt eigentlich von dort. Kennengelernt habe ich sie nie, aber Hokkaido ist wunderschön. Im Frühling sind die Wiesen nicht grün, sondern pink und gelb und rot. Und sie haben auch... Ich weiß nicht, wie sie heißt. Sie war nicht blau aber auch nicht lila. Und sie riecht sehr stark. Mama hat gesagt, da bleiben Motten und Blattläuse weg.“

„Lavendel?“

„Ja, genau, das war's! Da gibt es auch Felder nur damit!“

Yuki spürte, dass Myotismon aufmerksam zuhörte und freute sich. Ob es ihn nun interessierte oder nicht, es lenkte ihn zumindest ab. Tatsächlich war er nicht wirklich zu begeistern – aber er wüsste jemanden, dem solch ein Meer aus Blumen gefallen könnte.

„Oh, und weißt du, dass es in Hokkaido auch viel mehr schneit wie hier? Und wenn es kalt genug ist bauen die Leute Statuen und Figuren aus Schnee. Die leuchten sogar bei Nacht.“

„Das klingt wirklich interessant...“

„Papa hat auch immer eine Figur mit mir zusammen gebaut. Auch einmal, als ich nicht mehr sehen konnte. Es war schwer, aber lustig. Und Papa ist dort auch immer Ski gefahren.“

„Hisaki konnte Ski fahren?“

„Ich glaube nicht. Ich glaube, er wollte nur vor Mama angeben. Dann hat er sich dabei das Bein gebrochen. Aber da war ich noch viel kleiner.“

Myotismon schaffte es nicht, sein Schmunzeln bei der Vorstellung zu unterdrücken, aber er konnte sich noch so weit beherrschen nicht zu lachen.

„Papa hat es nie gemocht, wenn er lange im Bett liegen musste. Papa hatte mal eine ganz böse Erkältung, seitdem wurde er immer schnell krank, wenn es Herbst wird. Aber mich hat das gefreut. Dann habe ich bei ihm Bett liegen können. Wir haben uns unter die Decke verkrochen und er hat mir Geschichten erzählt.“

Während Yuki näher zu Myotismon rutschte und es sich erlaubte, sich an ihn zu lehnen, woraufhin er eine Hand auf ihre Schulter legte. Das, was Yuki ihm erzählte war seinen Erinnerungen sehr ähnlich.

„Im Herbst sind wir auch immer nach Kyoto. Mama ist gerne in Kyoto. Und nach Osaka sind wir auch oft. Papa hat da seinen Freund, Onkelchen Eri. Papa sagte, sie waren beide viel unterwegs, haben komische, große Mantel getragen und sind nachts auf Bikes durch Shinagawa bis nach Nerima gefahren. Ich glaube, in Osaka hat Papa mit anderen Musiklehren mal bei einem Konzert mitgespielt. Das war so ein Fest für einen guten Zweck... Er wollte erst nicht, aber Mama hat ihn umstimmen können, es doch mal zu versuchen.“

„Dann war Hisaki zufrieden mit seinem Leben?“, unterbrach Myotismon Yuki, doch statt ihrer vorherigen Euphorie weiter ihren Lauf zu lassen, hielt sie sich zurück.

„Ich weiß es nicht. Papa hat mir viel gezeigt und hat mir so viel vorgelesen... Aber da waren immer diese grauen Gedanken. Zwei- oder dreimal ist es vorgekommen, dass ich richtig Angst vor Papa hatte. Er hat mir oder Mama nie weh getan, aber da habe ich gemerkt, dass diese grauen Gedanken nicht im Kopf bleiben. Sie sind ansteckend.“

Yuki rückte noch näher an Myotismon heran. Sie zitterte. Ihre Kleider waren noch nicht ganz trocken.

„Papa hat die Welt nicht gemocht. Das weiß ich. Weil die grauen Gedanken ihn immer wieder an den Krieg erinnerten und sie haben die Stimmen von Großvater und von den Nachbarn. Aber...“

Yuki musste pausieren. Sie spürte Tränen hochkommen, schluckte sie aber runter. Sich wieder die Empfindung von Papas Umarmungen ins Gedächtnis zu rufen war schmerzlich. Sie konnte regelrecht spüren, wie er sie fast drückte und selbst weinte, an dem Tag wo Mama so mit ihm schimpfte und er seine Frau und seine Tochter um Vergebung bat. Sie hatte die Situation damals nicht wirklich begriffen, aber doch, dass es ihrem Vater Leid tat. So unendlich Leid. Danach hatte es aufgehört, dieser Schneesturm der um Hisaki wehte. Der selbe Schneesturm, der auch Onkelchen umgab.

Ihr Vater sagte zu ihrer Mutter, dass er sie liebte. Und selbiges sagte er zu seiner Tochter. Er liebte sie. Und es war das Ehrlichste und Reinste, dass Yuki je zu hören bekam.

„Aber Papa hat Mama und mich geliebt. Jeden Tag. Auch wenn die grauen Gedanken nie verschwanden, er hatte uns. Wir waren ihm wichtiger als das.“

Mit feuchten Augen starrte Yuki geradeaus. Myotismon beugte sich etwas nach vorne und legte den Kopf zur Seite, damit sein Gesicht in ihrem Blickwinkel lag. Er hatte das Gefühl, sie schaute ihn an und auch Yuki hatte die Vermutung, dass Myotismon ihr in die blauen Augen sah.

„Papa hat sich nicht umgebracht. Stimmt doch, oder?“

„Hast du Zweifel?“

„Ich weiß es nicht. Ich glaube daran. Ich möchte aber wissen, was jemand denkt, der Papa nicht so kennt wie Mama oder ich. Der ihn vielleicht sogar besser kennt wie wir.“

Der Satz, der Myotismon einfiel strich er sofort wieder. Über die Frage nachzudenken war eigentlich Verschwendung. Hisakis Tod ging auf das Konto Apokalymons. Doch Myotismon fragte sich, was es denn nun bringe ihr zu erklären, dass ihr Vater weder das Opfer eines Unfalls, noch seiner Depressionen war, sondern dass es sich im Grunde um Mord handelte. Hatte sie wirklich nicht mitbekommen, was Deemon erzählte oder tat sie nur so? Und sollte er sie korrigieren? Was würde sie tun? Weinen? Rache schwören? Wie dämlich und unnötig zugleich.

Wie auch immer, Yuki fragte danach nicht. Sie wollte nur einzig hören, dass ihr Vater kein Selbstmörder war. Nüchtern musste sich Myotismon gestehen - der Hisaki, den er kannte hätte er es zugetraut, dass die grauen Gedanken und der Hass, der in seiner Brust pochte ihn nicht nur an den Rand des Wahnsinns, sondern auch auf die Bahngleise trieb. Wer oder was hätte ihn abhalten sollen?

Rückblickend jedoch, wenn er an die verliebten Augen von Yukis Mutter dachte, die Myotismon für Hisaki hielt und Yuki beobachtete, die ihrem Vater äußerlich und im Verhalten ähnelten, aber in ihrer Einstellung so ganz anders war. Diesen Hisaki, der neben seinem Digimon auch gelernt hatte zwei Menschen zu lieben kannte Myotismon nicht. Aber er hätte es gerne.

„Wie kann man nur eine Minute so etwas denken? Hisaki hat viel dummes Zeug getrieben und sich in Schwierigkeiten gebracht. Aber er hatte die, die er mochte zu schätzen gewusst. Er wäre auf viele dumme Ideen gekommen – aber bestimmt nicht darauf, seinem Leben einfach so würdelos ein Ende zu setzen.“

„Also denkst du das auch...“, stellte Yuki fest und obwohl sie glücklich, sogar sehr glücklich über diese Worte schien, kullerten dicke Tränen aus ihren Augen.

„Wieso weinst du jetzt?“

„Entschuldige Onkelchen!“, flennte sie lauter und Yuki rieb sich mit den Händen über die Augen. „Ich habe nur so lange nicht mehr über Papa geredet. Es macht mich traurig. Und dass ihr euch nicht mehr sehen könnt macht mich traurig, dabei hat Papa dich so vermisst. Das ist nicht fair!“

„Die Welt ist nicht fair. Je früher man das lernt, um so eher wird es erträglicher.“

„Aber es tut mir für dich so Leid. Du wolltest Papa doch auch wiedersehen, Onkelchen!“, heulte sie weiter und schien mehr von der Tatsache betroffen zu sein, als Myotismon selbst, wenn sie auch Recht hatte. Er hätte Hisaki wirklich gerne glücklich gewusst, auch wenn er niemals in das Wunderland kehren konnte, dass er sich erträumte. Doch Hisaki schien sich etwas erbaut zu haben, was dem etwas nahe kam. Er hätte Hisaki wirklich gerne so gesehen. Sehen...

„Vielleicht kann man ja doch etwas machen“, murmelte Myotismon und ließ Yuki los. Die Bank, auf der sie beide saßen knirschte, als Myotismon aufstand, aber nicht wegging. Er ging vor Yuki in die Hocke. Sie waren auf Augenhöhe.

„Was hast du vor, Onkelchen?“

„Nichts schlimmes“, antwortete Myotismon, doch obwohl nichts an ihm verräterisch war, blieb Yuki etwas unsicher. Myotismon streckte die Hand aus, doch sie zuckte, als er ihren Pony streifte.

„Ich sagte doch, es ist nichts schlimmes. Halt doch einfach still.“

„Sag was du vor hast!“

„Das wirst du merken. Du hast doch selbst gesagt, ich bin ein Vampir.“

„Ja, das habe ich.“

„Und die Vampire in deinen Gruselmärchen können viele tolle Dinge, richtig?“

„Ja... Also willst du zaubern, oder so?“

„Zaubern ist das falsche Wort. Ich bin mir nur nicht sicher, ob es funktioniert. Schließlich bestehe ich aus Daten und du aus Kohlenstoff, das macht es schwieriger.“

„Hä? Ich dachte, ich bestehe aus Fleisch und Knochen?“, sagte Yuki verwirrt und Myotismon hob nur stumm die Augenbrauen, blinzelte einmal und unterdrückte ein genervtes Seufzen. Währenddessen hatte Yuki darüber nachgedacht und als sie zu dem Schluss kam, dass das mit Kohlenstoff doch irgendwie Sinn machte – Kohle wurde ja weiß wenn man sie verbrannte, also bestehen Knochen aus Kohle, oder nicht? -, versuchte Myotismon wieder die Hand nach ihr auszustrecken. Doch wieder fuhr ihr Körper zusammen.

„Du vertraust mir doch, oder Yukino?“

„Nun...“, antwortete Yuki weiter misstrauisch. Sie fragte sich, ob sie den Angreifer ihrer Mutter Glauben schenke konnte, geschweige denn ob es überhaupt intelligent war einem Vampir zu vertrauen. Aber es war Onkelchen. Es war Papas Freund. Und das Wichtigste – sie mochte ihn. Deswegen wollte sie ihm ja noch einmal vertrauen.

Ein sehr zaghaftes „Mhmm“ ertönte und Yuki nickte, sie zuckte aber, als sich etwas auf ihre Augen legte. Das war Onkelchens Hand.

„Denke für einen Moment an gar nichts. Und lass dich einfach fallen. In Ordnung?“

„...In Ordnung.“

Einmal holte Yuki tief Luft und als sie diese ausatmete glaubte sie wirklich ihr Körper würde nach hinten kippen, obwohl sie weiter brav auf der Bank saß. Sie fiel, mental, und schaffte Platz für etwas anderes, dass Yuki nie angemessen beschreiben könnte. Dafür kannte sie zu wenig Abgründe. Zu wenig Böses. Aber was entfernt an dieses Gefühl kam, war der Gedanken, dass es Onkelchen war. Und ehe sie sich auch nur Gedanken machen konnte – was sie ja eigentlich nicht sollte -, nahm Myotismon seine Hand von ihrem Gesicht.

„Mach die Augen auf“, befahl er ihr und Yuki dachte nicht darüber nach, ob ihre Lider geschlossen waren oder nicht, sondern sagte sich, dass sie es einfach machen sollte. Und sie sah etwas.

Wegen der blonden Haare und der blauen Augen dachte Yuki für einen Moment wirklich, es wäre ihr Vater, aber sie merkte schnell, dass er es nicht war. Das Gesicht des Mannes vor ihr war länger und die Haut war unnatürlich aschfarben und die Lippen violett. Und die Zähne. Diese langen Eckzähne.

Yuki streckte ihre Hände aus und berührte dieses Gesicht und als sie die kalte Haut fühlte, die Wangenknochen und die Haare verstand sie es. Das vor ihr war Onkelchen.

Kaum das die Erkenntnis ihren Verstand erreichte, war der Zauber vorbei. Myotismons Gestalt verblasste vor Yuki und ihre Welt wurde wieder in nichtssagendes Grau gehüllt. Mehr konnte Myotismon für sie nicht machen. Dazu fehlte ihm die Macht.

Ihre Daumen führen über die restlichen Finger an der jeweiligen Hand, ihr Gesicht starrte regungslos geradeaus. Yukis Kopf war immer noch leer und war überfordert mit dem, was sie gesehen hatte. Sie hatte gesehen, wenn auch nur für ein paar Sekunden.

„Ich... Onkelchen...“, stammelte sie los und schluckte dass, was sich in ihrem Hals sammelte wieder runter, ehe sie sich doch dazu entschied zu lächeln. „Ich hatte Recht. Du bist hübsch.“

„Das ist alles, was dir einfällt?“, fragte Myotismon und klang tatsächlich etwas enttäuscht über diese Reaktion. Yuki begriff nicht ganz weshalb, schließlich war das ein Kompliment.

Dann aber, als Myotismon schon mit nichts mehr rechnete, rutschte Yuki von der Bank, griff nach ihm und als sie Myotismon zu fassen bekam drückte sie sich an ihm.

„Dankeschön... Das war so lieb von dir“, murmelte Yuki in den Stoff des Anzugs.

„Du musst dich nicht bedanken. Das war im Grunde nur ein kleiner, willkommener Nebeneffekt. Siehe es als Ausgleich, dass du mich in deinen Kopf hast schauen lassen. Und dass du mich vor Deemons Zorn weitgehend bewahrt hast. Wir sind damit quitt.“

„In meinem Kopf?“, wiederholte Yuki verblüfft. „Was wolltest du da?“

„Nur etwa stöbern. Du hast ziemlich viel krudes Zeug da drin. Was nicht überraschend ist. Aber für dein Alter hast du sehr klare und starke Erinnerungen. Besonders die an deinen Vater.“

Yuki sagte nichts, sie überlegte nur ob sie Myotismon Worte richtig interpretierte. Die Vorstellung allein war seltsam und unheimlich (aber wen wunderte das bei einem Vampir?). Aber auch die Vorstellung, dass Onkelchen so wenigstens die Möglichkeit hatte Papa zu sehen stimmte Yuki glücklich. Sie drückte sich noch enger an ihn und irgendwie konnte Myotismon nicht anders wie ihre Umarmung diesmal zu erwidern. Sie nervte ihn, machte nur Ärger und so langsam fürchtete Myotismon, Hisaki hätte absichtlich ihren sturen Charakter gefördert, nur um ihn irgendwann damit den Alltag zu erschweren. Aber so schlimm war Yuki nicht. Dumm war sie ja auch nicht, sogar recht gewitzt, dafür dass sie gehandicapt war. Für einen Mensch war sie in Ordnung.

Und wichtiger noch – sie war die Tochter seines Partners. Das Letzte, was von Hisaki noch im Diesseits wahrte. Die Inkarnation eines alten Versprechens an sein Digimon. Und Versprechen hielt man. Versprechen an die Liebsten mussten gewahrt und geehrt werden und waren heiliger wie ein Gelöbnis an eine omnipräsente, aber nicht greifbare oder zu verstehende Obrigkeit.

„Das du blind bist stört dich, oder?“, fragte Myotismon einer paradoxen Ruhe, die keine war. Eine Ruhe vor dem Sturm, die Yuki vielleicht bemerkt hätte, würde sie nicht noch immer rührselige und frühkindliche amouröse Gefühle hegen.

„Ein bisschen ja... Es gibt Dinge, die ich nie verstehen kann, weil ich sie nie sehen werde.“

„Macht dich das traurig? Wütend?“, fragte er weiter und Yuki nickte leicht.

„Für manches reicht meine Fantasie nicht. Dein Wunderland zum Beispiel. Ich werde es nie sehen können. Und wenn es dort so viele Digimon gibt wie dich oder Herr Deemon...“

„Oh, vor solchen Digimon brauchst du keine Angst zu haben. Es gibt schließlich nicht viele Exemplare, die sich mit mir messen können. Sie würden es nicht wagen, dir auch nur ein Haar zu krümmen.“

„Also... kann ich doch ins Wunderla – ich meine, in die Digiwelt?“

Plötzlich gar nicht mehr so traurig hielt sich Yuki nicht mehr so sehr an Myotismon fest, jedoch hielt er sie weiter dort, wo sie stand. Dass Onkelchen stark war wunderte Yuki eigentlich überhaupt nicht, aber es nun so zu spüren verlieh ihr ein flaues Gefühl im Magen.

„Vielleicht musst du es ja auch nicht. Vielleicht kann ja das Wunderland zu dir kommen, so wie ich auch“, sagte er weiter ruhig und wenn Yuki auch nicht sah, wie Myotismon grinste – sie hörte es regelrecht und dass es weder freundlich, noch charismatisch noch sonst etwas dergleichen war.

„Zu mir? Aber das geht doch gar nicht.“

„Im Wunderland ist alles möglich, oder etwa nicht?“

„Schon...“

„Und ich bin ein König. Könige haben viel Macht. Wer Macht hat, kann Dinge bewegen, wovon andere nur träumen können.“

„Und ein Vampir bist du auch“, merkte Yuki noch an, war sich aber nicht sicher, ob es so gut war Myotismon auf diese Art weiter zu bestätigen.

„Vampire haben auch viel Macht. Vampire können viele coole Dinge, die Menschen nicht können.“

„Gut. Du hast es verstanden.“

Myotismons Hand strich Yuki über den Kopf. Es war für Yuki zwar zärtlich, aber nicht liebevoll. Es war eher gruselig. Das war sie ja gewohnt von ihm. Jedoch machte es Yuki nicht so viel aus. Dieses gruslige mochte sie doch schließlich an ihm. Die unheimlicher Geister, die Onkelchen umgaben spürte sie auch nicht mehr sehr so deutlich. Sie versuchten Yuki nicht mehr fern zu halten, sondern die Aura zog sie an. An den Rand eines Abgrundes, den sie selbst bei vollster Sehkraft nicht erkennen würde.

„Es ist bedauernswert, dass ich dir nicht dauerhaft dein Augenlicht wiedergeben kann. Bestimmt hänseln dich die anderen Kinder deswegen.“ „Ein bisschen... Sie finden meinem Stab albern. Und das ich manchmal da hinstarre, wo niemand ist, wenn ich mit anderen rede.“ „Und bestimmt tuscheln sie auch. Ich weiß, die Leute haben das bei deinem Vater gemacht. Weil er blond war und nicht aussah wie die meisten Kinder. Bestimmt ist es bei dir genauso.“ „Ja. Ein wenig...“

Yukis ohnehin schon leer wirkender Blick verlor nun auch noch ihren Glanz. Ein Teil ihres Bewusstseins war aber noch nicht benebelt – oder, so wie es aussah zugeschneit geworden und hinterfragte noch ein wenig. Wieso auf einmal machte es ihr was aus, dass andere schauten? Natürlich war es lieber, wenn sie die Blicke nicht auf sich spüren würde und Kinder, die nicht wussten was Blinde waren keine allzu lauten, unangenehme Fragen stellten. Aber es war nie niederschmetternd gewesen oder dass sich Yuki allein deswegen in Grund und Boden schämte. Auch wenn ein anderen darauf kam sie zu hänseln oder sie aufzuziehen wehrte sie sich immer lauthals.

Aber wehren war anstrengend, dass zumindest sagte das verdächtig verzerrte Echo ihrer eigenen Stimme und das war es auch. Seine eigenen Position zu verteidigen war mühselig. Sich zu behaupten wenn man eingeschränkt war war schwierig und kraftaufwendig. Onkelchen hatte diese Probleme sicher nicht, mächtig wie er war.

„Weißt du, so langsam gewöhne ich mich ja an deine Anwesenheit. Und weil du die Tochter meines Partners bist, ist es nahezu meine Pflicht ein Auge auf dich zu werfen, nachdem er nun verschieden ist. Dir soll es schließlich gut gehen. Und dafür kann ich sorgen.“

„Das ist... lieb von dir...“

Nur noch Schnee in ihrem Kopf sehend, der Yuki zudem glauben ließ dass es bitterkalt war – und das mitten im Sommer – schwanden ihre Sinne dahin. Nur Myotismons fast zu nettes Streicheln auf ihren Haar spürte sie, nicht aber die anderen verräterischen Anzeichen, die sie alarmiert und gesagt hätten, dass Myotismon auf ihren Hals starrte. Er würde sie aber nicht einfach aussaugen und liegen lassen wie ihre Mutter oder die Frauen davor. Es wäre nur ein kurzer Biss. Er würde sie einfach behalten. Es war ja auch in Hisakis Interesse, wenn sein Digimon auf seine Tochter Acht gab und ihr als Erste die Ehre zu Teil werden ließ der absoluten Gleichheit näher zu kommen. Dann würde ihr Kopf keine schädlichen Gedanken mehr ausbrüten, die in einer Gesellschaft, die der Digiwelt leider sehr ähnelte ohnehin nur verlacht wurden. Myotismon müsste sich nur überlegen, was er dann mit der Kleinen machte, sobald sie unter seinem Bann stand. Vorerst irgendwo verstecken, damit kein Mensch und kein Digimon sie fand.

„Wie wäre es, wenn du dich bei deinem Onkelchen dafür angemessen bedankst?“

Yuki sagte nichts, sie hob nur ihre Arme für eine Umarmung hoch. Sie reagierte nicht auf Myotismons düsteres Lachen, nicht auf die erdrückende Spannung um sie herum, sondern nahm weiterhin nur wahr, wie er ihr weiter über den Kopf strich. Irgendwann hörte er damit auf. Er überlegte. Etwas war anders an ihrer Erscheinung. Etwas fehlte. Da erinnerte er sich wieder.

„Eine deiner Haarspangen fehlt.“

„Ja... Herr Deemon hat sie mir aus den Haaren gerissen“, sagte Yuki geistesabwesend.

„Wie unhöflich. So geht man doch nicht mit einer jungen Dame um. Aber gut, dass ich sie gefunden habe. Du kannst sie wieder haben.“

„Danke... Onkelchen...“

Yuki streckte zwar beide Hände aus um so die Haarspange wieder an sich zu nehmen, aber Myotismon gab sie ihr nicht, sondern Yuki spürte seine Finger in ihren Haaren und sie ließ es zu. Wollte er das machen? Wie nett, dachte sie. Erinnerte sie wieder an Papa...

Das war kurz nach dem Abend, an dem sich Mama und Papa so stritten und er Yuki um Verzeihung bat. Danach war gut. Danach war er ruhiger und hörte auf zu befehlen. Stattdessen fragte er sie. An einem Tag verlor Yuki schon einmal ihre Haarspange. Ihr Vater nahm sie an sich, doch statt ihr zu sagen, sie solle das selbst machen, fragte er.

Willst du oder soll ich dir helfen, Häschen?, fragte er und Yuki entschied sich es selbst zu machen. Es gelang ihr nicht und schließlich bat sie doch um Hilfe, als ihr Pony dabei war sich zu verheddern. Sie entschuldigte sich, aber Papa sagte, dass es okay sei wenn sie es nicht hinbekam. Wichtiger war, sie hatte es versucht, aus freien Stücken, nicht weil er das wollte.

Und als Myotismon sie gerade packte, um im Anschluss zu der zugegeben für ihn doch freundlichen Geste vorsichtig in den dürren Hals zu beißen, kam Yukis Bewusstsein wieder. Der Schnee verschwand und ihr offenbarte sich Schwärze. Ein tiefer, dunkler, endloser Abgrund an dessen Rand sie stand.

Nein!“, schrie Yuki los, ging einen Schritt zurück und schlug dabei in ihrer Panik gegen Myotismons Hand. Die Haarspange fiel ihm dabei aus den Fingern, aber das realisierte er erst nicht, sondern wunderte sich, wie Yuki es schaffte aus dieser Trance zu kommen. Er hatte doch ihren Geist fest im Griff, nachdem er es doch geschafft hatte, dass sie sich ihm öffnete.

Als wüsste Yuki, was für ein Gesicht Myotismon zog war ihr die Situation mehr wie unangenehm. Ihr war nicht bewusst was Myotismon mit ihr gemacht oder vor hatte, aber dass er seine Vampirkräfte a la Graf Dracula benutzte um irgendwas mit ihr zu machen ahnte sie. Unangenehmer war ihr nur, dass sie Onkelchen auf die Hand geschlagen hatte.

„Ent... Entschuldigung. E-es war nett gemeint von dir. Aber ich möchte es selbst versuchen“, erklärte Yuki nervös. Unter Myotismons fassungslosen Blicken ging Yuki auf ihre Knie und tastete den Boden nach ihrer Haarspange ab. Sie zitterte etwas dabei, als sie sich vorstellte, dass Myotismon vermutlich wutentbrannt war. Schließlich fand sie die Haarspange mit dem blauen Schmetterling und mit zittrigen Händen klemmte Yuki diese wieder ins Haar, wenn auch etwas schief.

„Bitte. Sein nicht böse auf mich, Onkelchen“, bettelte Yuki reumütig. „Ich verstehe, dass du es vielleicht gut gemeint hast aber, ich... Ich kann das alleine.“

Was kannst du alleine?“, knurrte Myotismon und stand wieder auf. Nun stand Yuki in seinem Schatten und das spürte sie auch.

„Ich kann auch ohne Hilfe klar kommen. Es ist echt lieb von dir, dass du dir Sorgen machst. Aber ich will alleine entscheiden. Wenn ich Hilfe brauche, dann komme ich gerne zu dir, aber ich muss es erst alleine versuchen.“

„Glaubst du, nach einem Abend wie diesem würde ich dir eine gesunde Selbsteinschätzung zumuten? Das du nicht gegrillt wurdest verdankst du mir.“

„Und wem hast du es zu verdanken, dass Herr Deemon dich nicht aufgespießt hat?“, baffte Yuki zurück. Unklug wie sie gestand, aber auch wenn sie Angst hatte und die Beine zitterten versuchte sie stramm zu stehen.

„Ich mag es nicht blind zu sein, aber so bin ich halt. Damit muss ich leben. Papa hat gesagt, dass ich auch wenn ich blind bin werden kann, was ich will.“

„Du redest dummes Zeug, so wie immer. Du wirst immer eingeschränkt sein und immer anders. Außenseiter nennt man so etwas wie dich.“

„Na und? Ich will auch gar nicht so sein wie jeder andere! Du bist doch auch nicht wie jeder andere Vampir und ich mag dich trotzdem, auch wenn du das nicht verstehen kannst oder willst!“

Yukis Zittern erstarb. Sie glaubte Myotismon würde wütend auf sie herabblicken und genauso wütend und entschlossen starrte sie zurück. Jedoch war Myotismon nicht wütend. Vielmehr etwas verwirrt über dieses Deja-Vu. Weil er eben lange schwieg, sich nicht einmal bewegte lösten sich Yukis verkrampfte Gesichtszüge wieder.

„Onkelchen... Was meinte Herr Deemon mit Gleichheit? Was willst du mit meiner Welt machen?“

Eigentlich wusste Yuki die Antwort und das wusste Myotismon auch. Ob sie verstand was er mit Gleichheit meinte, da war sich Myotismon nicht sicher. Aber er würde es durchsetzen. Mit allen erdenklichen Mitteln und wenn es sein müsste auch mit Opfern, so viele wie eben nötig waren. Und das ahnte sie. Yuki wusste, Onkelchen hatte nichts Nettes im Sinn. Er war ein Vampir, ein dunkles Wesen, natürlich was das, was er dachte für jemanden wie sie nicht nett. Doch wie groß der Unterschied zwischen nicht nett und geradezu furchterregend war wurde Yuki nun erst bewusst.

Dracula, der ja auch etwas mehr wie nur nicht nett war kam nach London um die Menschen dort zu Kreaturen der Nacht zu machen, so wie er eines war und mit ihm als König die Stadt unter seine Kontrolle zu bringen, wenn nicht gar ganz England. Wenn Onkelchen...

„Das kannst du nicht verstehen“, antwortete ihr Myotismon fast tadelnd. „Dein Vater würde es. Aber du bist noch zu jung. Um wirklich zu verstehen, müsstest du das wissen und erleben, dass dein Vater und ich haben. Es zu erzählen reicht da nicht.“

„Also Papa würde es verstehen? Heißt das, Papa würde es in Ordnung finden, was du hier machst? Oder... -“, Yuki legte ihre Hand auf ihren Hals, „- was du eben machen wolltest? Würde er?“

Alle Stimmen des Wunderlandes ertönten gleichzeitig in Myotismons Kopf und sie alle riefen Nein!

Und das war die Wahrheit, die er sich eingestehen musste.

Piedmon und Sanzomon taten ihn einst einen Gefallen, als er von Hisakis Tod erfuhr. Der einzige moralische Widerstand den er besaß war damit nichtig. Zuvor hatte sich Myotismon gefragt, was sein Partner zu diesem Plan gesagt hätte. Ob er es gut heißen hätte, wenn Myotismon die Reale Welt und die Digiwelt den Erdboden gleich machte. Die Reale Welt wäre Hisaki sicher egal gewesen – zumindest damals –, aber die Digiwelt liebte er ja so sehr, wie sie war oder hätte werden können nach der Apartheid. Aber man hätte darüber diskutieren können. Doch hätte Alice zugestimmt, dass der Schwarze König zum Jabberwock werden musste? Wäre Hisaki wirklich zufrieden damit gewesen, wenn sie alle absolut gleich wären? Denn wenn Myotismon für einen Moment absolut ehrlich zu sich war wusste er, dass Hisaki das nicht gut gefunden hätte. Hisaki wünschte sich Akzeptanz, keine Gleichmacherei. Mit seinem Tod waren Myotismons Sorgen aber passé und das allgegenwärtige Ende der Zeit hätte sie vielleicht wieder vereint.

Doch Yuki nun vor sich zu sehen bestätigte nur mehr, dass er und Hisaki sich nicht so ähnlich waren, wie er immer dachte. Hisaki liebte die verdrehte Fantasiewelt mit ihrer Diversität. Er hätte keine Gleichheit gewollt. Myotismon Sicht war aber, dass es sonst keine andere Möglichkeit mehr für diese Welten gab. Es musste enden, ein für alle Mal. Wenn er Yuki mitnahm, was soll's? Früher oder später würde sie ohnehin in den Abgrund der Nichtigkeit gezogen werden. Was machte es für einen Unterschied, ob er sie nun mitnahm oder erst später?

Aber das dachte er sich ja schon bei Sanzomon. Und sie konnte er nicht mitnehmen. Er konnte nicht. Und Yuki und damit indirekt auch Hisaki konnte er auch nichtmit sich in den ewigen Abgrund der Trostlosigkeit ziehen.

Myotismon ging einen Schritt zurück. Dann noch einen und entfernte sich immer weiter von Yuki.

„Onkelchen? Onkelchen, was ist los?“, rief Yuki, als sie hörte wie der Kies unter Myotismon Stiefeln knirschte, sich aber das Geräusch von ihr entfernte. „Onkelch-“

Vor Yuki peitschte etwas auf den Boden. Das selbe Geräusch und die selbe Vibration hatte sie schon einmal wahrgenommen. Das Geräusch elektrischer Energie. Myotismons Albtraumkralle. Sie blieb wie erstarrt stehen.

„Geh nach Hause“, rief Myotismon ihr zu und ging noch einen Schritt zurück.

„Aber...“

„Geh! Du hast im Wunderland nichts verloren. Das Wunderland ist ein Kriegsgebiet und dein Vater wusste das. Wenn das Wunderland so wunderbar ist, wieso wacht Alice am Ende immer wieder auf? Selbst sie wollte nicht dort bleiben, weil es jeden in den Wahnsinn treibt! Das ist die Quintessenz dieses Nonsens-Märchens. Träume haben in der Realität nichts verloren.“

„Nein! Das stimmt nicht!“, antwortete Yuki patzig, was Myotismon nur noch wütender machte.

„Kannst du auch etwas anderes, wie mir ständig zu widersprechen?!“

„Es stimmt aber nicht, was du sagst und Papa wäre meiner Meinung. Man kann träumen wann und was man will – aber man muss auch aufwachen. Ständig wach zu sein ist genauso schlecht wie ständig zu träumen. Das macht einen verrückt! Alice hat das gewusst und Papa wusste das auch und wenn du ehrlich wärst, wüsstest du das auch! Papa war wach, hat aber trotzdem nicht aufgehört an Träume zu glauben!“

Wieder peitschte die Albtraumkralle die Luft, diesmal direkt neben Yuki. Die Spitze hatte ihr Haar gestreift. Und verängstigt sank sie auf ihre Knie.

„Das ist die letzte Warnung. Ich hab es gut mit dir gemeint, weil du Hisakis Tochter bist. Ich wollte es dir ersparen, aus einem Traum aufzuwachen. Aber wenn du nicht hörst...“

Wie als hätte Yuki gesehen, dass Myotismon ausholte hob sie die Schultern an, senkte den Kopf und kniff die Augen zu. Er würde nicht direkt zuschlagen. Nur streifen, das reichte. Hauptsache sie blieb fort. Oder dass sie anfing ihn zu hassen. Das war viel, viel besser. Irgendwann muss sie lernen, dass die Welt nicht wunderbar war. Hisaki schien das in seiner Erziehung versäumt zu haben. Dann war das wohl nun seine Aufgabe, ihr das klar zu machen. Myotismon hätte ihr diese Erfahrung ja wirklich gerne erspart. Aber anders schien sie sonst nicht zu lernen, dass es sinnlos war an Träume festzuhalten. Oder an Hoffnungen, unterstützt durch das vage Ich-Gefühl. Einem Herz. Diese Dinge hatten in Welt der Starken und Irren keinen Wert.

„Yuki! Yukiiii!“

Myotismon schreckte auf und dachte sich, dass er diesen Rotschopf der da angerannt kam doch kannte, bis die Person wieder schrie:

„Geh weg von meiner Tochter!“

Asami holte weit aus und warf dem, der vor ihrer zitternden Tochter stand die Packung mit den Knoblauch-Crackern entgegen. Die Packung flog an Myotismon vorbei, ohne dass er sich die Mühe machen musste auszuweichen. Der Knoblauchgeruch aber, der das mit sich brachte war stark und löst in ihm Übelkeit aus. Ekel verzog sein Gesicht und er ging noch ein paar Schritte zurück, während Asami zu Yuki lief und sie in den Arm nahm.

„Yuki! Dem Himmel sei Dank, du bist hier!“, sagte Asami aufgebracht und den Tränen nah, nahm ihr Kind in den Arm. „Yuki, was ist dir zugestoßen?! Du hast Kratzer im Gesicht und deine Kleider sind ja feucht!“

„Es ist nicht so schlimm, Mama...“

„Wieso bist du alleine weg? Ich hab dir doch gesagt, du sollst nicht mit Fremden mit! Ich hatte Angst dir ist etwas passiert!“

„Mama, das ist kein Fremder! Onkelchen hat mir nichts gemacht.“

Aber Asami hörte Yuki nicht zu, aber bei dem Wort Onkelchen sah sie doch noch einmal zu Myotismon hinüber und erkannte in ihn den Angreifer vom Friedhof wieder. Ihr Puls wurde schneller und mit dem verbundenen Pochen schmerzte ihr Hals, genau dort wo die Löcher waren. Von seinen Zähnen. Die unnatürlich langen Zähne.

Sie hatte es sich nicht eingebildet, sie wusste es. Er war wirklich ein Vampir. Und er strahlte immer noch diese kühle Aura aus, die gepaart mit seinem ausländischen Aussehen Hisaki ähnlich war.

„Hör auf damit...“, knurrte Asami ihn an, Myotismon war unbeeindruckt.

„Ich habe ihr kein Leid zugefügt. Im Gegenteil, ich wollte sie sicher nach Hause bringen, wie es meine Ehre von mir erwartet.“

„Sei still! Ich weiß, was du bist, also verkauf mich nicht für dumm! Und hör endlich damit auf so zu stehen und zu reden wie mein Mann! Ich falle bestimmt nicht zweimal auf den selben Trick rein!“

„Mama...“

Yukis Protest wurde im Keim erstickt, als ihre Mutter sie enger an ihre Brust drückte. Myotismon hingegen sagte nichts mehr. Er stand nur da und sah sich die beiden Menschen vor ihm an, mit dem Wissen, dass das vor ihm die Familie seines Kapellmeisters war.

Und da Myotismon keine Anstalten machte zu verschwinden packte Asami nun auch ihr Kruzifix aus, dass nicht mehr war wie zwei zusammengebundene Stifte. Es war ein kläglicher Anblick und Myotismon musste fast darüber lachen, besonders weil Asami ihm das Ding voller Überzeugung entgegenhielt.

„Was soll das werden?“

„Ich hab dich gewarnt! Bleib uns vom Leib! Ich habe vor dir keine Angst!“

„Mama!“

„Ist gut, Yuki. Er wird dir nichts mehr tun.“

„Mama, jetzt hör doch mal zu! Onkelchen hat nichts gemacht! Er ist Papas Freund!“, schrie Yuki weiter und zerrte an den Kleidern ihrer Mutter. Verwirrt starrte Asami Yuki an und wechselte zwischen ihr und Myotismon hin und her.

„Er ist Papas Freund aus dem Wunderland! Er wusste nicht, wer wir sind. Und ich wusste es erst auch nicht. Aber er hat mir nicht weh getan. Er hat mich vom Jabberwock beschützt. Bitte tu ihm nichts, Mama!“

„Das... Er...“, stotterte Asami. Nun blieb ihr Blick wie erstarrt auf Myotismon. Ihr selbstgemachtes Kruzifix fiel ihr aus der Hand, als sie sich an jede einzelne Wunderland-Geschichte erinnerte, die Hisaki ihr erzählte. Obwohl sie ihm glaubte, hielt sie vieles davon, was Hisaki über Digimon, das Dunkle Meer, Apartheid und Krieg erzählte für Metaphern und Allegorien. Sie hätte nie geglaubt, dass das was Hisaki erzählte wirklich genauso geschehen war. Sie begann nun Myotismon genau zu beobachten und ihr wurde klar, warum sich Myotismon und Hisaki so ähnelten.

„Asami! Asami!“, rief Masato hinter ihr. Seine Schwiegertochter hatte er erst aus den Augen verloren, nachdem sie einfach aus dem Auto sprang, ehe er überhaupt nach einem Parkplatz suchen konnte. Er irrte etwas durch die dunklen Ecken, aber nun sah er Asamis rote Haare im dunklen, dann mit Yuki im Arm auf den Boden kniend und rannte hin. Myotismon sah er aufgrund der dunklen Kleidung gar nicht, erst als er fast neben Asami und Yuki stehen blieb.

„Asami, Yukino, ist alles in Ordnung bei euch?“, fragte er und atmete schnell. Er wartete allerdings keine Antwort ab, sondern bemerkte nun die dunkle Gestalt vor ihm. Auch Masato glaubte dieser große, schlanke und blonde Kerl mit der dunklen Kleidung war der Hisaki, einst noch mit Straßengangs durch die Bezirke zog und randalierte. Aber für einen von einer Bosozoku-Gang wirkte er zu adrett. Genauso verwirrt auch wie Masato es war, war auch Myotismon. Er wusste nicht, wo er diesen älteren Mann mit Vollbart einordnen sollte und auch Yuki erkannte die Stimme nicht sofort. Sie überlegte und erst als ihre Mutter sagte, „Uns geht es gut, Masato...“, erinnerte sie sich.

„Großvater?“, fragte Yuki vorsichtig und leise. „Du bist auch hier?“

„Yukino, wer ist dieser Mann?“, fragte Masato und stellte sich vor Asami und Yuki.

„Mach ihn bitte nichts, Großvater. Das ist Papas Freund! Das ist der Schwarze König, von dem er immer erzähl hat. Papa hat die Wahrheit gesagt.“

Noch ein letztes Mal blickte er verwirrt zu Yuki, bis er sich voll und ganz auf Myotismon konzentrierte, der immer noch nicht ganz verstand, was dieser alte Mann von ihm wollte und ihn so komisch von Kopf bis Fuß musterte. Asami klammerte ihre Tochter noch mehr in ihre Arme.

„Der Schwarze König... Stimmt. Hisakis Lieblingsbuch war Alice im Wunderland“, murmelte Masato grüblerisch und seine dunklen Augen blitzten auf. Yuki nannte das Schlüsselwort bereits – Freund.

„Du... du bist Tsukaimon. Von dir hat Hisaki immer gesprochen. Du bist Tsukaimon, richtig?“, fragte Masato dieses Wesen, dass nicht nur äußerlich, sondern in seiner Gesamtheit Hisaki schrecklich ähnelte und ihn genauso wie seinen Sohn ansah, wenn der Hass in seinem Herz loderte. Langsam begriff Myotismon auch, warum dieser Mensch ihn so ins Visier nahm und auch wusste, was er früher einmal war. Und Yuki nannte ihn Großvater.

Dieser Mann war Hisakis Vater. Dieser Mann war Hisakis Jabberwock.

Masato entging trotz der Dunkelheit nicht, wie sich Myotismons Augenbrauen hinter der Maske tief senkten, er sich hinter geschlossenen Lippen auf die Zähne biss und eine Hand, leicht hinter sich versteckt zur Faust ballte. Genau wie Hisaki, wenn er mit aller Macht versuchte seinen Zorn zu unterdrücken, wenn er und sein Vater sich wieder stritten.

„Du weißt also, wer ich bin?“, rief Masato dem wütenden Vampir zu. „Hat Hisaki es dir erzählt? Nein, ich glaube nicht. Ich denke, er wird versucht haben nicht daran zu denken, aber etwas an ihn hat alles verraten. Er hat in Fabeln gesprochen? Bestimmt hat er es hinter Metaphern versteckt und du warst schlau genug zu begreifen, was er eigentlich sagen wollte? Vier Jahre waren es in deiner Welt? War er dir sehr wichtig? Immerhin war er ein Kind und du warst... etwas anderes.“

„Was weiß ein Jabberwock schon...?“, knurrte Myotismon. Er war zwar leise, aber Masato hörte es trotzdem. Er begann zu schmunzeln und drückte beide Hände in die Hüften.

„Jabberwock? Das war ich also? Die schlimmste, unbeherrschbarste Kreatur im Wunderland... Aber die nur im Baum sitzt und mit sich selbst redet. Ich weiß nicht, ob es mich schockieren oder amüsieren soll. Oh, Hisaki, ich hätte dir andere Geschichten vorlesen sollen, dann wäre ich vielleicht schlau aus dir geworden.“

Masato lachte kurz auf, Asami und Yuki verstanden nicht weshalb. Für Myotismon kam es so vor, als machte sich dieser Mann über seinen Partner lustig. Eine widerliche Kreatur. Eine, die er nicht leben lassen konnte, für das, was er tat, selbst wenn es nicht bewusst war. Allein dass er existierte und Hisaki verurteilte, für etwas auf dass er keinen Einfluss besaß, genauso wie die Hohen Serums es mit den Virus-Typen taten.

Die Hohen Serums wurden für ihre Arroganz gerichtet. Das musste dieser Mensch auch. Und es war nötig. Mehr wie nötig. Er sollte nicht zu nah an Hisakis Familie heran.

(Er nahm's vorpale Schwert zur Hand nach dem kattmanen Feind er spürt -)

Dann hätte Hisaki Frieden, wenn der Jabberwock endlich starb wie in Alice hinter den Spiegeln.

(Eins zwo! Eins zwo! Und so und so die Klinge führt er schnacke-schnick schlug ab den Kopf! -)

„Du hasst mich“, fragte Masato weiter und sein Lächeln verschwand. „Ich erkenne es in deinen Augen. Sie sind Hisakis ähnlich. Er sah mich genauso an. Ein Teil von ihm lebt in dir weiter. Wohl auch sein Hass auf die Welt, den ich genährt habe. Bestimmt wollte er nie mehr nach Hause. Er wollte in deiner Welt bleiben. Mit seinen Freunden. Bei dir. Habe ich Recht?“

Myotismon rührte sich nicht, aber Masato wusste dennoch, dass es so war. Auch wenn er schwieg, Myotismons nonverbale Signale verrieten ihm alles. Auch was er dachte. Masato glaubte, sein Gegenüber würde ihn am liebsten erwürgen, aber dass verwarf Myotismon schon. Er würde seine Fledermäuse einfach auf ihn hetzen. Das war schmerzlich, aber schnell.

Er hob seine Hand, als Masato ein, zwei Schritte auf ihn zuging. Yuki rief wieder nach ihm, nannte ihn dabei wieder Großvater, obwohl sie doch gar nicht verwandt waren und sie das auch wusste. Sie wusste sogar, wie dieser Mann ihren Vater behandelte. Um so besser, wenn Myotismon ihn ausradierte. Dann würde sein erster Triumph in dieser Welt eben der über den Jabberwock sein. So konnte er Hisaki sie letzte Ehre erweisen und gleichzeitig dafür Sorgen, dass nicht Yuki auch in diese Fänge geriet. Nicht mal in Myotismons, wenn sie endlich genug Angst hätte.

Myotismon kreuzte die Arme. Ein Gruselflügel, das reichte.

Doch dann schloss Masato Amano die Augen und mit den Armen eng an seinem Körper verbeugte er sich vor Myotismon.

„Ich danke dir, dass du dich um meinen Sohn und nun auch um meine Enkelin gekümmert hast“, sprach Masato ruhig und höflich, beinah sogar ehrfürchtig, ohne sich zu erheben. Myotismons Mund fiel auf, da er erst nicht glaubte, was er da hörte, genauso wie Asami und Yuki.

„Hisaki und ich hatten stets ein schwieriges Verhältnis. Hisaki war eigen und tat sich schwer mit der Welt. Meine Art und unsere Gesellschaft machten ihn krank, doch bis mir dies klar wurde, wurde ich bereits mit Einsamkeit gestraft. Wir leben in einer Welt, in der allein Abstammung und Status zählen und ich habe mich diesem Druck zu meinem eigenem Wohl ergeben. Dass Hisaki sich in eine Wunderwelt flüchtete kann ich ihn nicht verübeln. Ich weiß nicht, was er in deiner Welt erlebte, aber es muss ihn glücklich gemacht haben. Du bist ihm ein sehr guter Freund gewesen. Dafür danke ich dir.“

Voller Fassungslosigkeit starrte Myotismon weiter auf den Mensch, der sich immer noch nicht erhob. Auch Asami konnte nicht glauben, was sie von ihrem Schwiegervater hörte, aber es bestätigte ihre Vermutung, dass Masato schrecklich einsam war, dass aber erst einsah, nachdem er nichts mehr hatte. Sie ließ von ihrer Tochter ab, was Yuki nutzte um mit ausgestreckten Armen und langsamen Schritten zu ihrem Großvater zu laufen. Sie bekam einen Teil seines Blazers zu fassen und tastete sich von dort näher zu ihm, bis sie seine Hand berührte, dann erst erhob sich Masato auch.

„Du tust Onkelchen nichts, Großvater?“, fragte sie ängstlich.

„Nein, Yukino. Ich werde Hisakis Freund nichts tun.“

„Hast du gehört, Onkelchen? Alles ist gut!“, rief sie Myotismon zu und schien bereits vergessen zu haben, wie er vor ein paar Minuten noch mit ihr umgesprungen war. Sie lächelte genau in seine Richtung, was vermutlich eher Zufall war und gleichzeitig doch, als wollte sie ihn damit bitten herzukommen. Und er verstand nicht wieso. Wieso wollte sie immer noch, dass er bei ihr blieb?

(So wie bei dir Sanzomon)

Und so wie bei Sanzomon konnte er es immer noch nicht nachvollziehen.

„Onkelchen?! Sag was! Bitte, komm doch her. Du hast doch gehört, dass Großvater nicht böse ist. Es tut ihm doch Leid. Gib Großvater auch eine Chance. Für Papa! Er hätte das bestimmt gewollt“, sagte Yuki überzeugt von dem was sie sagte, aber Myotismon war sich nicht sicher. Er war sich überhaupt nicht mehr in irgendeinem Punkt sicher. Der Jabberwock war nicht mehr der Jabberwock, den er kannte und Alice war auch nicht mehr Alice von einst. Zwanzig Jahre hatten ihre Spuren hinterlassen. Hisaki und die Menschen um ihn herum hatten sich verändert. Sie hatten gelernt.

Myotismon musste auf eine schmerzliche Weise feststellen, dass Hisakis Welt nicht mehr seine war. Und ob er in diese Welt überhaupt hineinpasste, so wie er war.

„Onkelchen, komm bitte. Mama ist auch nicht mehr böse auf dich. Bitte, Onkelchen. Ich bin auch nicht böse, dass du mit mir geschimpft hast!“, rief sie weiter, es klang schon fast nach betteln und schreckte ihre Hand aus. Eine blasse Hand mit langen, angewinkelten Fingern, genauso wie Hisakis es waren.

Hisaki streckte die Hand nach ihm aus. Aber es ging nicht. Er war zu weit gekommen und er war so kurz davor endlich die Macht zu erhalten, die er benötigte um etwas in den Welten zu verändern. Wenn Hisaki sich mit sozialen Verbindungen zufrieden gab, gönnte Myotismon ihm das. Aber ihm selbst reichte das nicht.

Er machte Hisaki keinen Vorwurf. Dafür musste er aber weiter machen. Die Welt brauchte wahre Gerechtigkeit. Das war das Beste für alle. Gleichheit. Dann waren auch sie beide wieder gleich.

Gruselflügel!“

Asami stürmte auf ihre Tochter, als schwarze Fledermäuse aus Myotismons Umhang auf die drei zuflog. Masato beugte sich noch über die beiden. Die Fledermäuse kratzten und bissen ihn, aber nicht besonders schwer oder auch tief und ließen auch schnell wieder von ihnen ab. Sie flogen in alle Richtungen verstreut und ließen ihre Opfer mit ein paar Kratzern und leicht zerrissenen Kleidern zurück.

„Yuki, geht es dir gut?“, fragte Asami aufgeregt. Yuki hatte nichts abbekommen, außer dass ein paar Fledermäuse sie an den Haaren gezogen hatten. Aber das kümmerte sie weniger.

„Onkelchen? Onkelchen, warum hast du das gemacht?“, rief Yuki ohne zu wissen, dass Myotismon verschwunden war. „Onkelchen! Sag was, Onkelchen.“

„Er ist weg, Yuki“, erklärte ihre Mutter, da riss sich Yuki aber von ihr los.

„Nein! Er ist bestimmt hier!“, schimpfte sie und lief mit ausgestreckten Armen los, dabei wedelte sie mit ihnen hin und her. „Onkelchen kann nicht einfach gehen! Onkelchen, du bist noch da! Ich weiß es! Er steht bestimmt irgendwo hier und macht sich darüber lustig, dass ich ihn nicht finde! Onkelchen!“

„Yukino...“

Ihr Großvater ergriff schließlich ihre Hand, die verloren nach Myotismon suchte, aber ihn nicht zu fassen bekam. Masato, mit Yukis Hand in seiner ging vor seiner Enkelin in die Hocke und sah in ihre nassen, blinden Augen.

„Yukino, er ist weg.“

„Nein, er ist hier! Vampire können sich gut verstecken! Er ist hier... Er ist ganz bestimmt hier. Er macht das nur als Strafe, weil ich ihn genervt habe. Richtig, Onkelchen? Du bist hier! Du hörst mich! Komm bitte wieder raus! Bitte!

Aus Yukis Rufen wurde Weinen. Sie ließ ihre Arme hängen, je länger es still um sie blieb. Sie hörte weder Myotismon Lachen, noch sein genervtes Brummen, weil sie ihn immer nach mit Onkelchen ansprach. Sie hörte seinen Umhang nicht, der im Wind flatterte, noch hörte sie seine Fledermäuse. Der kalte Wind seiner Anwesenheit hatte sich verzogen.

Er war weg. Einfach weg.

Onkelchen!“, schrie Yuki heraus, ehe sie weinend zusammenbrach. Doch Onkelchen kam nicht zurück.

 
 

 

Noch bevor die Sonne hinter dem Meer verschwand und Myotismon sich Deemon stellte hatte Gatomon wieder zu den Reihenhäusern gefunden, wo auch diese Kari wohnte. Mit einem geklauten Fernrohr stand sie auf dem Dach des gegenüberliegenden Gebäudes und beobachtete das Mädchen, dass sich von Aussehen und ihrem Verhalten kaum von den anderen Kindern unterschied, die Gatomon an dem Tag bereits begegnet war (abgesehen von dem blinden Blondchen vielleicht). Ja, der Unterschied war im Grunde minimal und doch wurde Gatomon dieses sehr komische Gefühl im Magen nicht los.

Die Fakten sprachen für sich – sie kannte Digimon, weil ihr Bruder ein Digiritter war (dieser und Agumon waren wieder zu Hause, wie Gatomon feststellen musste). Das gefälschte Wappen reagierte nicht. Sie hatte kein eigenes Digimon. Alles sprach dagegen. Und doch war hier... Irgendetwas.

Durch die Vorhänge hindurch sah Gatomon Kari in ihr Zimmer laufen, ein Buch herausholen und ging damit wieder ins Wohnzimmer. Wo ihr Bruder war sah Gatomon nicht, aber Kari holte Agumon zu sich, schlug das Buch auf und schien ihm etwas darin zu zeigen. Das Buch lag von Gatomons Sicht aus auf dem Kopf und die Schrift konnte sie trotz scharfen Fernrohr nicht lesen, außer dem Titel, bei dem sie sich nicht sicher war, ob das wirklich darauf stand: MOTHER GOOSE.

Während Kari Agumon erklärte, dass dies ein Buch aus der Schule war, damit die Kinder spielerisch etwas Englisch lernen konnten und er selbst überlegte, ob er selbst welche kannte kräuselten sich Gatomons Schnurrhaare (metaphorisch gesehen). Wieder dachte sie an die Vilemon. Diese gemeinen Sprüche, die die kleinen Digimon während der Apartheid von Viren beigebracht bekamen und damit auch Serums als eitel, kaltherzig und hassenswert zu sehen. Oder eben auch umgekehrt. Was mochten Menschen nur an diesen Kram? Musik, Fabeln, Reime – war das normal bei humanoiden Kreaturen? Das würde aus Gatomons Sicht zumindest erklären, warum Myotismon zwischen all der Chemie-, Politik-, Mathematik- und Psychologie-Lektüre ALICE IM WUNDERLAND stehen hatte, wenn es auch nur als Staubfänger Nutzen fand.

Meister Myotismon lehrte sie, dass Märchen und Reime der Spiegel der Gesellschaft seien, die Gedankengut weitertrugen und unseren Verstand auf subtile Weise formen. Hass wird in hübsche Musik und alberne Worte verpackt und manipuliert das Rechtsempfinden. Gerechtigkeit – Moral und Regeln sind rein subjektiv, überbewertet und durch Mangel an wirklicher Objektivität nutzlos.

Jedoch besaß Myotismon wenige Bücher, die ihm widersprachen. Die mit den Seerosen darauf konnte Gatomon nur heimlich lesen, aber es stand drin, dass Musik und Reime zwar ein Spiegel der Gesellschaft sein, doch seine Gestalt formen die Digimon selbst. Nicht Reime oder Moralpredigten, das Verhalten jener mit denen man zusammenlebte erziehe Digimon. Wer friedlich in einer gemischten Gruppe Digimon lebte, der lernt von selbst, dass all diese Vorurteile dummes Gerede waren. Ein Kinderreim reichte nicht, um diese Erfahrung zu Nichte zu machen.

Gatomon konnte nicht sagen, was davon zutraf. Wenn man die Rasse betrachtete war Myotismons Armee sehr gemischt, zog man aber den Typus mit ein stellte man fest, dass bestimmt über neunzig Prozent Virus-Typen waren, selbst wenn Gatomon Myotismons Außenposten außerhalb seines Reiches und die neu aufgenommenen Rekruten miteinrechnete. Sie selbst war das einzige Serum. Und zuvor hatte Gatomon in keiner Gruppe gelebt. Sie war immer alleine so weit sie zurückdenken konnte. Sie kam als SnowBotamon zwischen grünen Blättern auf die Welt, doch niemand anders war bei ihr. Sie erinnerte sich vage an Stimmen und etwas Gesang, aber es war nichts und niemand da, der das hätte verursachen können. Sie wusste nur, dass sie auf jemanden wartete. Vielleicht auf den, der mit ihr gesprochen und für sie gesungen hatte, während sie noch in ihrem Digiei war.

Irgendwann wurde sie Nyaromon. Aber Anschluss fand sie keinen. Die Nahrungsknappheit und die ständige Angst vor feindlichen Digimon machte die Digimon nicht nur misstrauisch, sondern auch verrückt. Für ein Ausbildungs-Digimon, dass allgemein schon als schwierig galt war kein Platz. Sie kam ja nicht einmal mit anderen Nyaromon klar. Sie sagten, sie sei irgendwie anders.

(Anders wie dieses Mädchen?)

Vielleicht. Denn dass, was dieses andere Mädchen zu ihr sagte ging ihr irgendwie nicht aus den Kopf. Nach Hause sollte sie. Nach Hause. Aber da war sie doch schon. An Myotismons Seite. Oder nicht?

(Hast du denn auf ihn gewartet?)

Nein, hatte sie nicht. Sie war dankbar, dass Myotismon sie vor dem Hungertod bewahrte – doch die Schläge und sein ansteckender Hass konnte nicht mit ein klein wenig Lob, einem warmen Schlafplatz und manipulativen Kopf tätscheln beglichen werden. Sein Hass war vielleicht sogar das Schlimmste an ihm. Myotismons kaltes Herz war wie ein Abgrund, der alles und jeden mit sich ins Verderben zog. Da gehörte sie nicht hin.

(Und wo dann?)

Die Hauskatze kehrte in die Wohnung zurück und fiel gleich über das Essen im Napf her. Das Tier schien zufrieden, so sehr dass es aussah als grinste sie, als sie zu Kari auf die Couch sprang. Eine Grinsekatze. Die gab es doch in ALICE IM WUNDERLAND auch. Diese Katze mochte Gatomon irgendwie. Sie war klug, ging wohin es sie trieb und schaffte es ein halbes Königreich in den Wahnsinn zu treiben. Gatomon dachte immer, die Grinsekatze wäre ein Streuner und Außenseiter wie sie, aber wenn man richtig hinsah wusste man, dass die Grinsekatze der Herzogin gehörte. Selbst die Grinsekatze hatte eine Herrin und damit ein zu Hause. Aber sie war frei und die Herzogin nahm es ihr nicht übel, sondern empfing sie immer.

Die Grinsekatze wusste wohin also. Sie musste nicht warten.

(Alice fiel nichts weiter dazu ein als zu sagen: Sie gehört der Herzogin!)

Gatomon schüttelte den Kopf leicht. Dieses blöde Kindermärchen ging ihr nicht mehr aus den Kopf (aber besser das, als dieser Vampirfilm). Die Göre von vorhin, was musste sie auch wie Alice aussehen? Die war auch blond und blass. Sie bemühte sich, aber Gatomon konnte es nicht verdrängen.

Ob es Zufall war, dass diese Schein-Alice diese Kari kannte? War Kari auch so anders wie Gatomon selbst? Was hätte sie gesagt, wenn Gatomon ihr das mit den Mutter-Gans-Reimen erzählt hätte?

(Alles hat eine Moral man muss sie nur finden! Sprach die Herzogin)

Gatomon spürte etwas auf ihrem Kopf. Wieder diese leichte streicheln von humanoiden Händen, die aber viel zu zart und zu nett für Myotismons waren. Da wurde Gatomon auch klar, dass die Stimme, die sie schon die ganze Zeit in ihrem Kopf hörte nicht ihre eigene war. Sie drehte sich hastig um, doch da war niemand.

„Das kann doch nicht...“, murmelte Gatomon in sich hinein, dann starrte sie weiter zu Kari hinüber im Glauben, es war nur der Wind.

Gokuwmon, auf einem höheren Gebäude sitzend, neben dem auf dem Gatomon stand wusste, dass es nicht der Wind war. Er hatte seinen Meister hinter dem Digimon stehen sehen.

„Mit diesem Digimon ist etwas“, quietschte es aus einer von Gokuwmons Hosentaschen und dann sprang SnowBotamon heraus. Die vierundzwanzig Mündel von einst hatten alle ihre Flügel bekommen und waren eigene Wege gegangen, außer SnowBotamon. Es konnte mittlerweile sprachen, was ein Zeichen war, dass es bald sicher auf das Ausbildungslevel digitieren würde, doch sein eher langsamer Entwicklungsprozess hatte am wenigsten damit zu tun, dass es noch da war. Es hing sehr an Sanzomon und schaute sich immer mehr von ihr ab. Es bekam eine Panflöte, dafür dass es seine alte Blockflöte nicht mehr hatte, doch SnowBotamon, nun der richtigen Atmung mächtig trällerte, summte und pfiff fast lieber. Sanzomon erkannte etwas wie Potenzial in diesem Digimon und Gokuwmon stellte sich bereits darauf ein, dass dieses Digimon in ein paar Jahren sein Mitschüler werden könnte.

„Gokuwmon, was ist mit diesem Gatomon?“

„Weiß ich nicht. Aber dass es da lauert macht mich stutzig.“

„Es gehört zu Boogymon, richtig?“, fragte SnowBotamon traurig und Gokuwmon nickte.

„Darum müssen wir auf der Hut sein. Meister Sanzomon wird ahnen, dass dieses Digimon eine Spur hat. Hoffentlich weiß sein Meister noch nichts davon.“

„Ist Sanzomon deswegen gegangen, ohne etwas zu sagen?“

„Ich weiß es nicht.“

SnowBotamon sprang auf Gokuwmons Schulter, wo es Gatomon besser sehen konnte und fragte sich wie Gokuwmon, wo Sanzomon verschwunden war, nachdem sie kurz hinter Gatomon erschienen war. Seit Anubimons extra Lehrstunde verschwand sie immer öfter. Es war zwar von Vorteil sich teleportieren zu können und auf der Flucht nicht mehr nur auf seine Beine angewiesen zu sein, aber seit bekannt wurde, dass Myotismon nun in der Realen Welt war, war sie nicht zu bremsen. Und Gokuwmon war sich nicht so sicher ob dieser Eifer darauf beruhte, dass sein Meister das achte Kind und das achte Digimon so lange wie möglich schützen wollte oder ob sie noch die Hoffnung hatte, dass Myotismon zur Besinnung kam.

Zu seinem Glück waren Sanzomons Fähigkeiten von ihren Sutras abhängig. Auch wenn sie ohne eine Spur durch den Raum wanderte, ihre Sutras hörte man. Für ein normales Gehör blieb es unbemerkbar, darum hatte er SnowBotamon dabei. Sein Gehör war mittlerweile so empfindlich, dass es Sanzomons Anwesenheit, wenn auch nur auf geringer Distanz hörte.

„Mit diesem Gatomon ist etwas“, sagte SnowBotamon weiter. „Sanzomon spürt etwas. Dieses Gatomon ist kein normales Gatomon.“

„Vielleicht tat ja Boogymons Anwesenheit ihr nicht gut.“

„Nein. Da ist was anderes“, sagte SnowBotamon und schien sogar etwas beleidigt darüber, dass Gokuwmon das Boogymon so herablassend aussprach. Gokuwmon hob verwundert die Augenbrauen und stierte Gatomon weiter an.

Wer das achte Kind war wusste niemand. Gennais Daten waren hinüber und die Schriften mit den Daten der Digiritter waren im Schloss geblieben, jedoch für den Feind, selbst für Myotismon nicht zu entziffern. Gennai hatte es nur geschafft die Karten für das Tor zu retten (wer hätte aber ahnen können, dass Myotismon es schaffte neue zu erschaffen?).

Sanzomon sagte, dass ein Digiritter sich erst mit seinem Digimon offenbarte, also war es wichtiger, erst das Digimon zu finden. Aber Sanzomon wusste nicht, wo es war und was für ein Digimon das sein sollte. Was aber, wenn sie es nun wusste? Ihre Gänslein würde sie doch sofort erkennen...

„Sistermon Noir kommt“, rief SnowBotamon auf. Über die Feuertreppe kam eine schwarze Katze angelaufen. Kaum, dass sie vor den beiden Digimon stand, verwandelte sich die Katze wieder in Sistermon Noir zurück und sie kniete dabei auf dem Boden.

„Ich hab's nicht gefunden“, stöhnte sie erschöpft und richtete sich wieder auf. „Diese blöde Katze! Dabei hatte ich das Digivice des achten Kindes schon.“

„Macht dir nichts draus. Das ist bestimmt dieses Karma, von dem Meister Sanzomon sprach. Das Digivice findet seinen Weg allein. Wir sind nur Schachfiguren auf dem Brett des Schicksal – würde sie zumindest sagen.“

„Da! Sagomon!“, rief SnowBotamon und schaute zum Himmel. Ein Rabe flog zu ihnen hinunter und noch im Flug nahm Sagomon wieder seine alte Gestalt an. Er war aus der Puste und wollte was sagen, aber Sistermon Noir unterbrach ihn.

„Du hast es auch vermasselt, richtig?“

„Ich... ja, hab ich“, gab er notgedrungen zu, aber froh wieder auf seinen Beinen zu stehen. Das war das letzte Mal, dass er sich von Sanzomon in irgendein Tier verwandeln lassen würde. Zumindest in ein Flugfähiges.

„Ich hatte das Digivice und habe es zu dem vereinbarten Ort gebracht, aber dann hat es mir eine echte Krähe weggenommen. Diebisches Tier.“

„Siehst du, SnowBotamon, das ist Karma“, sagte Gokuwmon zu dem Baby-Digimon. „Als hätte der Meister es geahnt.“

„Dann versteh ich nicht, warum sie uns darum bat es zu holen“, wunderte sich Sistermon Noir.

„Vielleicht um Zeit zu schinden, bis wir das achte Digimon gefunden haben. Sanzomon sagte, Digimon, Digivice und das Herz des Kindes bilden eine Dreifaltigkeit. Sie können sich nur zu dritt offenbaren. Aber das achte Digimon muss von selbst darauf kommen.“

Gokuwmon lugte noch einmal zu Gatomon hinunter. Wenn dieses Digimon das war, was er dachte würde es vielleicht bald soweit sein. Der Mann im Mond verbat es Sanzomon und ihren Schülern sich einzumischen, da es eventuell nicht erwünschte Folgen haben könnte, würde Mensch und Digimon von außen gezwungen werden sich zu finden, anstatt dass ihre Herzen es täten. Von einem kleinen Schubs in die richtige Richtung war jedoch nie die Rede.

Und dann gab es da noch jene Prophezeiung, die seinem Meister Bauchschmerzen bereitete.

„Sagomon, wo solltest du denn das Digivice hinbringen?“, fragte Gokuwmon nachdenklich.

„Sie sagte, ich solle es auf einen ganz bestimmten Friedhof bringen und in einen Baum verstecken, unter dem ein Grabstein liegt mit der Aufschrift AMANO.“

„Hat sie gesagt warum?“

„Nein. Aber wie wir unseren Meister kennen, musste es einen Sinn haben“, meinte Sagomon und Gokuwmon hatte eine Ahnung.

 
 

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Es war ruhig auf dem Aoyama Friedhof. Der letzte Besucher ging vor Stunden und der Schleier der Nacht bettete diesen Ort in eine Ruhe, wie sie sterblichen Überresten gebührte. Es war nicht einmal wirklich unheimlich, wie man es aus Horrorfilmen kannte. Sondern einfach nur ruhig. Wer würde seine Angehörigen hier nicht gerne liegen wissen?

Myotismon wäre gerne so jemand. Vor einigen Stunden hatte er hier noch versucht die Frau seines Partners auszusaugen. Nun war er wieder hier, aber diesmal trieb ihn nicht der Hunger an, sondern Sehnsucht. Unglaublich wie nah er seinem Kapellmeister gewesen war, nur um ihn dann doch nicht zu bemerken. Hisakis Grab war auch unscheinbar. Es war ein Steinklotz wie es genügend auf diesen Friedhof gab. Einzig erkennbar machte ihn nur der Schriftzug AMANO. Myotismon war an einigen Gräbern vorbeigegangen auf denen der gleiche Name stand – Deemon hatte Recht, diesen Namen gab es wie Sand am Meer -, bis er in etwa wieder die Stelle fand, wo er Yuki traf und bei allen wusste er, dass es nicht die richtigen waren. Aber bei dem hier, das zwischen zwei genauso unscheinbaren Gräbern stand, direkt unter einem Baum – das war er. Er spürte es.

„Hisaki. Hisaki, ich bin es.“

Myotismon kam sich ein wenig unbeholfen vor, so wie er vor diesem Grab stand, ganz alleine, nur mit einem Bund Blumen in der Hand. Seine Fledermäuse hatten den üppigen Strauß vor den Augen des Verkäufers mitgehen lassen. Zugegebenermaßen waren Vergissmeinnicht doch recht schlicht, aber Myotismons einziges Kriterium – nämlich die Farbe – erfüllten sie. Eisblumen wären ihm lieber gewesen (wenn ihm auch nicht klar war, wie man daraus einen Strauß binden wollte), wie die aus seiner Erinnerung. Oder die Seerosen, damit Hisaki sah, was aus ihnen geworden war (er hätte vor seiner Abreise welche mitnehmen sollen).

„Entschuldige, dass ich erst jetzt komme. Ich...“, begann er, aber fand die richtigen Worte nicht, sondern verzog griesgrämig das Gesicht und sah den hellblauen, fast weißen Blumenstrauß an. „Ich verstehe nicht, was ihr Menschen an Blumen so liebt! Sie nützen nichts und verderben schnell. Dann wachsen sie auch noch überall und trotzdem gibt ihr so viel Geld für einen Strauß an einen Toten aus, der ohnehin nichts davon hat! Ihr Menschen seid absolut bescheuert, dass du es weißt!“

Nicht gerade sacht warf Myotismon den Bund vor das Grab, bereute es aber, als er sah wie unordentlich er da lag und dass bei dem Fall kleine, hellblaue Blüten abfielen. Also nahm Myotismon den Strauß noch einmal in die Hand und legte sie angemessen und vorsichtig darauf. Er ging dabei in die Hocke, um sich dadurch das Empfinden vorzugaukeln, er wäre mit Hisaki auf einer Augenhöhe. Myotismon sah die Kanji auf dem Stein, sah in seinem Geiste das Bild seines Freundes von einst – aber er empfand keine Verbundenheit zu dieser Erscheinungen. Weder der Stein, noch seine Erinnerungen spiegelten Hisaki wirklich wieder. Hisaki war ein anderer Mensch geworden. Sein Kind war der Beweis.

„Ich habe Yukino getroffen, Hisaki. Wir hatten... einen sehr ereignisreichen Nachmittag“, erzählte Myotismon dem Grabstein und kam sich albern vor, aber es fühlte sich befreiend an. „Die Kleine hat mich Kopf und Kragen gekostet! Du hast sie schrecklich erzogen! Sie ist vorlaut, rechthaberisch, stur und ungehorsam! Sie ist... anders wie du.“

Myotismons Umhang flatterte im Wind. Die Bäume raschelten. Zwischen dem Geäst saßen die Fledermäuse und zum ersten Mal fragte Myotismon sich, ob diese primitiven Lebensformen verstanden, was er tat und was in seinem Kopf vorging. Er hoffte es nicht, er wusste es schließlich nicht einmal selbst.

„Es tut mir Leid, dass ich sie schlagen wollte. Aber mir blieb keine Wahl. Ich wäre sie sonst nicht los geworden. Ich möchte sie solange wie es möglich ist aus dem allem hier raushalten. Auch will ich mich bei dir entschuldigen, dass ich deine Frau gebissen habe. Hätte ich es gewusst, hätte ich einen Bogen um sie gemacht“, sprach Myotismon weiter, machte eine Pause und wartete, wenn er auch nicht wusste auf was. Myotismon starrte so lange auf die Kanji im Stein, dass er begann Farbblitze zu sehen. Er redete mit einem Stein. Einem Stein und vielleicht ein Meter darunter lagen Asche und Knochenreste. Mehr nicht. So weit war es also schon um ihn geschehen.

„Nur weißt du, was ich nicht begreife? Wieso du deine Meinung geändert hast. Sei ehrlich, du warst nie jemand, der Familie wollte. Du warst genauso ein Eigenbrödler wie ich. Was hat sich geändert? Hieltest du den gesellschaftlichen Druck nicht mehr stand? Warst du so einsam? Oder war es wirklich Liebe?“

Der Wind drehte sich. Die abgefallenen, blauen Blütenblätter der Vergissmeinnicht schwebten über den Boden, wie einzelne Schneeflocken.

„Du wirst es nicht glauben, aber Letzteres würde ich sogar verstehen, wenn es so wäre. Die Umarmung von jemanden, der uns so ähnlich und doch gänzlich anders ist kann wie eine Droge sein. Aber sie macht weich und sentimental. Keine Droge ist ohne Tücken, so schön es sich auch anfühlt.“

Myotismon schaute zum Himmel hinauf. Hinter den Wolkenkratzern der Stadt konnte man den fast vollständigen Halbmond sehen. Leichte Ansätze eines Grinsens erkannte man, zumindest wenn man Fantasie besaß. Oder es wie Myotismon, als Kreatur des Wunderlandes gewohnt war.

„Ich hätte sie dir ja gerne vorgestellt. Aber es wird dich nicht sonderlich wundern, wenn ich dir erzähle, dass es nicht hielt...“

Myotismon hielt inne, als der Blumengeruch in seine Nase stieg und er sich sagte, dass käme von dem Strauß, wobei er eigentlich wusste, dass Vergissmeinnicht so gut wie geruchlos waren. Die Vorstellung überkam ihn, dass Sanzomon vielleicht hinter ihm stand. Dass sie ihn vorhin wirklich geschubst hatte, weil er sturer wie ein Goatmon war und mal wieder blind für das Offensichtlichste. Dass sie irgendwo in seiner Nähe war, nicht nur um ein Auge auf ihre Schützlinge zu werfen, doch von den Souveränen untersagt, sich einzumischen, weil es Dinge gab, die geschehen mussten, seien sie noch so tragisch. Sondern auch um ihr Versprechen, Alice für ihn zu finden um jeden Preis halten zu wollen.

Und nicht wissend, dass diese diebische Krähe Sanzomon zu verantworten hatte um Zeit zu schinden, bis das achte Digimon sich wieder an ihr inneres Licht erinnerte und sie automatisch zu dem achten Kind führte, glaubte Myotismon einfach, dass er sich das Gefühl, dass sie hinter ihm stand und hoffte, er käme in ihre Arme zurück, ehe es zu spät war bloß einbildete.

„Manchmal glaube ich, sie verfolgt mich. Sie hasst mich, musst du wissen. Vielleicht ist es gut so. Wir hatten eine schöne Zeit. Es war ruhig und sie machte mich manchmal irre. Aber die Abende und Nächte mit ihr waren... warm... und erfüllend. Doch es hätte nicht ewig gewährt. Nicht solange die Digiwelt und auch deine Welt noch weiter in diesem Wahnsinn vergeht.“

Die Ahnung, dass eine zierliche Hand seine Schulter berühren wollte, sich aber nun umentschied verschwand und mit ihr der Duft eines Straußes Blumen.

„Unser Wunderland ist nicht mehr, Hisaki. Wenn man es nüchtern betrachtet, ist die Digiwelt genauso wie zur Zeit der Apartheid. Nichts hat sich geändert. Nichts.“

Myotismons Fäuste ballten sich, als das Feuer des Zorns zu lodern begann und nicht mal der kälteste Schnee konnte es löschen. Eine Glut im Scheit, die nie erlosch und erst ruhen würde, hätte sie alles in Asche verwandelt. Ausnahmslos alles.

„Aber ich habe es fast geschafft, Hisaki. Ganz alleine. Ich kann den anderen nicht mehr helfen. In unserem eigenen Orchester bin ich ein Außenseiter. Dieses Digimon, zudem ich gezwungen werde es mit Maestro anzusprechen hat sie zu Marionetten gemacht und sie merken es nicht. Der Tod wäre eine Erlösung für sie. Und ich bin so kurz davor die gesamten Welten von ihrem krankhaften Geisteszustand zu erlösen. Die Welt unserer Träume ist nur noch ein Kaninchenloch von uns entfernt.“

Wind pfiff Myotismon ins Ohr. Er war laut und durch den Wahn verzerrt, klang diese simple Böe wie ein Sturm, der alles mit sich riss. Nur ohne Schnee. Schade. Ob es noch schneien würde, hätte Myotismon die Welten zu einem verschmolzen? Vermutlich nicht. Aber weiße Asche und Graberde tat es auch. Die waren zu jeder Jahreszeit gleich.

„Eine Sache würde ich gerne noch wissen...“, hauchte Myotismon und die vorher verkrampften Hände berührten den Grabstein vor ihm. Und selbst dieser Stein war wärmer wie er. Dafür gaukelte diese Empfinden ihm vor, er würde Hisakis Hände berühren.

„Könntest du mir vergeben, wenn ich noch einmal zu einem Jabberwock werden müsste? Um des Wunderlandes Willen? Dann haben wir endlich die Welt, von der wir stets geträumt haben. Da macht es keinen Unterschied mehr zu was ich werde oder du geboren wurdest. Sogar dein kleines Mädchen muss nicht mehr mit ihrer Blindheit grämen. Es macht alles keinen Unterschied mehr. Das war doch stets das Ziel. Gleichheit... Die einzig wahre Gerechtigkeit...“

Natürlich hatte Myotismon keine Antwort erwartet. Doch er spitze die Ohren und lauschte der Stille dieses Ortes. Wenn auch nicht so effektiv wie in der Digiwelt, hörte er doch das Flüstern der Toten. Reste der Menschen, die es bedauerten, so früh gegangen zu sein oder die es nicht akzeptieren wollten. Doch das Grab vor ihm blieb stumm. Myotismon hörte nichts.

„Du warst wirklich glücklich...“, stellte Myotismon für sich fest und nahm die Hände wieder weg. Die Erkenntnis schmerzte einerseits, aber es war gleichzeitig erleichternd. Hisaki war es gut gegangen und er hatte ihn nicht vergessen. Er war nicht alleine und obwohl sein Unsinn ihn oft in Schwierigkeiten gebracht hatte, gab er es an seine Tochter weiter. Hisaki war glücklich gestorben. Mehr musste Myotismon nicht wissen. Und in einer toten Welt die von den Untoten regiert wurde – vielleicht sah er Hisaki ja dann wieder. Mit seiner Familie. Mit dem Rest des Orchesters. Mit Sanzomon. Mit allen, wenn der Wahnsinn endlich vorbei wäre.

„Ich bin aufgewacht, Alice. Dein Schwarzer König ist endlich aufgewacht und hat begriffen, dass das Wunderland unserer Träume nicht existiert. Nicht solange die Welten so sind, wie sie sind. Aber es ist fast vollendet. Wir müssen nicht mehr lange warten. Bald schon, wenn Dunkelheit diese Welt überrennt, wird er erscheinen und im Augenblick, wenn sein großer Opus zum Höhepunkt kommt, werde ich es sein, der ihn beendet. Ich werde es schnell machen. Du weißt, mir widerstrebt sinnlose Gewalt genauso wie dir. Dann wird diese Welt nur noch die Musik spielen, die ich ihr vorgeben werde.“

Ohne Hisakis Grab aus den Augen zu lassen stand Myotismon wieder auf und auch als er sich auf den Weg machte zu gehen, sah er diesem Denkmal an seinen Partner lange nach. Und dann, als er sich umdrehte

(Tsukaimon...)

warf er den Kopf auch gleich wieder zurück. Aber hinter Myotismon war nichts. Absolut gar nichts.

„Tse. Halluzinationen. Wie immer. Der Tag war zu lange...“

Myotismon verschwand in den Schatten dieser Ruhestätte und würde versuchen, so viel Abstand wie möglich von diesem Ort zu gewinnen, auf der Suche nach etwas Essbaren. Sein Hunger meldete sich wieder, wie zu oft, seit er in dieser Welt war. Er brauchte schließlich jede Menge Energie. Hunger...

Sein Weg führte Myotismon nach Shibuya, wo nicht nur zwei seiner Handlanger, sondern auch zwei Digiritter ihr Unwesen trieben.

 
 

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Nun, da der Rausch verflogen war wurde es Deemon allmählich bewusst – ihm tat alles weh.

Er saß versteckt zwischen Bäumen. Vor ihm erstreckte sich Odaiba Beach, mit einer fast schon malerischen Aussicht auf die Rainbow Brigde. Hinter ihm wurde eine Replica der Freiheitsstatue erleuchtet, während er selbst im Schatten der Bäume saß. Er konnte Myotismons Versteck von hier aus sehen und er vermutete, dass diese schwebenden, weißen Punkte im Nebel Bakemon waren, die Wache schoben. Sicher konnte man sich nicht sein. Dieser Nebel, den Myotismon um sein Versteck errichtet hatte war so dick wie Brockenbrühe.

Deemon konnte seinen rechten Flügel nicht richtig ausstrecken, auch kaum gerade stehen. Myotismon hatte ganze Arbeit geleistet. Er hatte für ein Ultra-Digimon doch einen ordentlichen Schlag drauf. Unter der Kutte brannten die Kratzer und Bisse der Fledermäuse. Hoffentlich hatten sie ihn nicht vergiftet, so geschwächt wie Deemon aktuell war könnte es für ihn sogar bedrohlich werden.

Im Augenwinkel sah Deemon ein Digimon zu den Bird Islands fliegen. Sah wie Wizardmon aus. Gatomon war auch dabei. Vermutlich zum Schichtwechsel. Ob Deemon denen da drüben mal einen Besuch abstatten sollte, solange Myotismon noch fort war?

Er entschied sich dagegen. Ihm war nicht danach sich nochmal mit Myotismon anzulegen, solange er sich nicht vollständig erholt hatte. Am Ende hatte Myotismon noch immer diese kleine Rotznase am Rockzipfel hängen. Wie er wohl der Kleinen erklären wollte, dass er die Welten doch eigentlich ins Chaos stürzen wollte und dass sie am Ende des jüngsten Tages genauso eine hirnlose, untote Marionette sein würde wie der Rest der Menschheit? Vielleicht biss er sie ja sofort. Vielleicht hielt er ja auch bis zum Schluss die Klappe. Vielleicht kam er auch nie so weit. Warum sollte gerade er mehr Erfolg haben wie Devimon oder Etemon? Deemon glaubte ja nicht einmal, dass der Rest irgendwas reißen würde. Jedoch waren sie irre. Myotismon hingegen war von Hass zerfressen und irre. Der kleinen Alice zu versprechen ihm nicht den Hals umzudrehen war bescheuert. Wirklich bescheuert.

(Bruder)

Die Welle schlugen laut gegen die Küste. Wie seltsam, dachte Deemon sich. Er glaubte, dass Meer riefe ihn. Neu war dies zwar nicht, aber es klang nicht wie er es gewohnt war. Irgendwie anders.

(Bruder hier her)

Das waren doch Stimmen. Deemon sah sich um, sah aber niemanden, der in Frage käme der Ursprung dieser Stimme zu sein. Sie nannte ihn Bruder. Aber wie konnte das sein? Es kam aus dem Meer.

Deemon tat sich etwas schwer damit wieder auf die Beine zu kommen und torkelte dabei zum Ufer, über Sand und Steinen vorbei. Er blieb erst stehen, bis er mit den Füßen komplett im Wasser stand und sah sich um.

(Bruder hier wir sind hier)

Deemon sah nochmal nach links uns rechts und dann erst kam er auf die Idee ins Wasser zu starren. Sein Spiegelbild war von den Wellen verzerrt worden. Um so länger er hinein starrte um so mehr verschwamm er und Deemon sah Dinge im Wasser, die eigentlich nicht sein konnten. Er sah IceDevimon vor sich und glaubte, dass es sein Spiegelbild sei. Die Wellen, natürlich, immer wenn er sie hörte, bewegte sich sein Verstand in der Zeit zurück. Deemon versuchte nach seinem Ebenbild zu greifen, um es zu zerstören und damit es zumindest auf einer metaphorischen Ebene vergessen zu können. Dass jedoch dieses Spiegelbild seiner Bewegung nicht folgte, merkte Deemon erst im nachhinein.

„Bruder. Du bist es wirklich“, sagte Deemons Spiegelbild, dass eigentlich nur ein anderes IceDevimon war. Deemon selbst hielt das erst für eine Sinnestäuschung, bis mehr und mehr Gesichter von artverwandten Digimon erschienen. Die roten Augen eines LadyDevimon funkelten durchs Wasser hindurch, erfüllt von Verzückung den Dämonenkönig zu sehen. Das breite Grinsen eines SkullSatamon erschien.

„Wir wussten es. Es war also kein Fehler, dir zur Flucht zu verhelfen, Bruder“, lachte SkullSatamon, doch man hörte ihn nur schwer. Ddie Wellen waren zu laut.

„Ich bin auch erfreut euch zu sehen, Brüder und Schwestern. Wie habt ihr mich gefunden?“

„Eure dunkle Präsenz war nicht zu übersehen. Die Digiwelt und die Reale Welt kommen sich immer näher und die Lücken zwischen den Welten werden immer größer. Groß genug, dass auch wir sie endlich nutzen können.“

„Weiß Dragomon davon?“

„Das wissen wir nicht“, antwortete IceDevimon. „Wir sind geflohen.“

„Geflohen? Also hat Dragomon herausgefunden, dass sich ein Widerstand gebildet hat?“

„Schlimmer“, sagte nun LadyDevimon. „Die Verschiebung der Welten reißt Dragomon aus seinem Schlaf. Seine negative Aura hat die Welt der Dunkelheit in ein Reich verwandelt, wo nichts mehr wachsen oder leben kann.“

„Unsere Brüder sind vor unseren Augen zu abstrakten Monstern mutiert, die am Land nicht einmal mehr überleben können“, berichtete SkullSatamon mit Entsetzen und Ekel. „Wir flohen also, ehe uns das gleiche Schicksal ereilte.“

„Wo seid ihr nun?“

„In einem weit, weit entfernten Winkel der Dunklen Zone. Aber in die Digiwelt schaffen wir es nicht. Etwas behindert uns.“

Apokalymon. Natürlich. Er möchte vermeiden, dass sein Orchester Konkurrenz bekommt.

„Wir haben so ein komisches Anubimon dort angetroffen“, erzählte LadyDevimon weiter. „Er erzählte etwas von den Meister der Dunkelheit und dass sie aktuell die Digiwelt kontrollieren.“

„Kontrollieren trifft es nicht ganz“, ächzte Deemon und knickte ein, als ihn kurz wieder die Kraft verließ, aber er konnte sich halten.

„Bruder, bist du verletzt?“

„Was ist passiert?“

„Wer hat dir das angetan?“, fragten die drei Dämonen-Digimon aufgebracht durcheinander.

„Es ist nichts. Einer der Meister der Dunkelheit ist hier. Ich habe ihn etwas unterschätzt. Sein Glück blieb jedoch, dass ich noch nicht mein volles Potenzial ausschöpfen konnte.“

„Einer von denen ist hier?“, wiederholte IceDevimon. „Wie? Und was ist das für ein Digimon?“

„Dieses Digimon ist ein Myotismon.“

Kurz herrschte Schweigen. Die Wellen verzerrten das Spiegelbild und es schien, als verschwinden die drei Digimon vor Deemons Augen, dann sah er wieder ihre entsetzten Gesichter.

„E-Ein Myotismon?“, harkte SkullSatamon ungläubig nach. „Bruder, du weißt, was das bedeutet! Du musst ihn ausschalten, ehe er -“

„Leider ist dieses Myotismon kein gewöhnliches. Er ist mehr wie nur gefährlich. Er könnte wirklich der sein, von dem die alten Gruselgeschichten berichtet haben. Solange ich meine Kräfte noch nicht vollst kontrollieren kann, sind wir gleichauf.“

„Machst du dir keine Sorgen, Bruder?“, fragte LadyDevimon weiter.

„Zu meinem Glück sind die neusten Digiritter auch hier. Und der Feind meines Feindes ist mein Freund. Sollen sie sich die Köpfe einschlagen. Entweder die Digiritter vernichten ihn oder er frisst sie. Und der, der übrig bleibt knöpfe ich mir früher oder später vor.“

Deemon war sich nicht sicher, ob das überzeugend oder nachvollziehbar klang. Hauptsache aber war er konnte einen Bogen um Myotismon und um die kleine Alice machen. Warum hatte er auch nur so ein dummes Versprechen gegeben? Nun verlangte seine Ehre, dass er das hielt.

„Was für neue Digiritter? Wo sind diese Kinder, denen wir unsere Misere zu verdanken haben?“, fragte nun IceDevimon irritiert und Deemon zögerte nicht zu antworten. Yuki hätte gehört, wie er dabei leicht geschnalzt hätte, amüsiert über die Tatsache, dass er seinen Leidensgenossen nur die halbe Wahrheit sagte um zu vermeiden, dass diese einem kleinen Mädchen den Kopf abrissen.

„Sie sind nicht mehr. Sie sind schon lange tot.“

„Und ihre Digimon?“

„Die Digimon von einst sind auch nicht mehr.“

„Verdammt!“, schimpfte IceDevimon.

„Ich hätte sie zu gerne leiden sehen“, fluchte SkullSatamon und knurrte. Doch dieses Knurren, so stellte Deemon fest stammte nicht von seinem Bruder, sondern von etwas weiter tief in der Dunkelheit.

„Was war das?“

„Unsere Trumpfkarte“, antwortete LadyDevimon Deemon schelmisch grinsend. „In der ewigen Finsternis sind unzählige Daten todgeweihter Digimon mutiert und verschmolzen. Noch ist es nicht stark genug und keiner unter uns vermag es zu kontrollieren. Aber wir sind ja auch keine Dämonenkönige.“

„Ihr müsst uns hier rausholen!“, bat IceDevimon, doch Deemon schüttelte den Kopf langsam.

„Ich fürchte, das kann ich nicht. Dafür reicht meine Macht nicht aus. Es tut mir Leid, dass ihr all eure Hoffnung in mich gelegt habt und ich euch nicht helfen kann, Brüder und Schwester.“

„A-Aber Meister Deemon!“

„Ihr müsst doch nicht uns um Vergebung bitten!“, riefen LadyDevimon und IceDevimon entsetzt. Deemon verschwand aus ihrem eh schon viel zu kleinen Sichtfeld, als er sich auf einen Stein setzte. Seine Kraft ließ nach. Er musste sich erholen und dann stärker werden. Solange würde er wohl hier festsitzen.

(aber das willst du nicht richtig? Du willst zurück)

„Ich...“

„Ja, Bruder?“, rief SkullSatamon erneut. Noch einmal versuchte Deemon aufzustehen und ging tiefer ins Wasser.

„Ich muss Kräfte sammeln. Ich muss nach Hause... Ich will nach Hause...“

(Bist du dir sicher? Ich kann die Pforten für dich öffnen doch wer weiß ob du zurück kannst? Oder ob die Welten sich noch einmal so nahe stehen wie jetzt?)

„Und wenn schon. Die richtige Zeit ist noch nicht gekommen. Solange warte ich zu Hause, Anubimon.“

(Dann so sei es kehr nun Heim)

Deemons Hand, die erst nur über der Wasseroberfläche schwebte senkte sich und durchbrach die nasse Barriere. Seine Hand aber schwebte nicht im Wasser, sondern im Rauch der Dunkelheit. Seine Genossen hielten die Hand ihres Meisters fest und voller Begehren und Sehnsucht zogen sie bereits an ihm. Doch Deemon behielt vorerst noch seine festen Stand und er schaute über die Schultern.

„Ich weiß, dass du hier bist, Mönch. Ich vermute, dass sie mich fanden hast du zu verantworten. Ich weiß nur nicht wieso du dies für mich tust. Ist es Mitleid? Oder ein Danke, weil ich Myotismon nicht getötet habe? Was auch immer es ist – mach dir keine Hoffnung, dass sich an meiner Rache etwas ändert. So sind wir Viren. Wir lernen nicht. Und Myotismon wird sich auch nie ändern. Aber du weißt denke ich bereits, dass es sinnlos ist? Als Ausgleich für die Rettung, lass mich dir einen Rat geben – irgendwann muss man Träume und Hoffnung über Bord werfen und den Tatsachen ins Auge sehen. Und dein Wann ist wohl jetzt. Aber der Tag wird für dich kommen, wie auch für Alice, an den es erträglich wird.“

Deemon stieß sich ab und ließ sich in die Schwärze ziehen, um vereint mit seinen Artgenossen zu sein. Es war nicht herzlich, nicht geborgen, nichts, was man mit dem Begriff zu Hause assoziieren würde. Aber es machte rührselig unter den Digimon zu sein, die einen akzeptierten, selbst wenn man noch zu unerfahren und zu schwach war um sich Dämonenkönig nennen zu dürfen. Aber Deemon hatte ja noch Zeit. Die neumodische, progressive Welt war nicht die seine. Und irgendwann würde sich sein Weg wieder mit den von Alice und dem Schwarzen König kreuzen. Dann würde sich ja zeigen, wie viel ihnen ein Schwur und Gerechtigkeit wert war. Solange würde Deemon noch ruhen. Er war ja daheim.

Fledermäuse flogen durch den aufkommenden Nebel. Ein Blitz schlug auf den Bird Islands ein.

Die Forte zum Reich der Verdammnis schloss sich. Einstweilen.

 
 

𝅝

 

 

Yuki saß schlapp auf der Couch ihres Großvaters in Minato. Man hatte ihre halbnassen Kleider gegen ein weißes, viel zu großes Hemd ausgetauscht und sie schaute gedankenverloren und traurig zugleich, während sie dasaß wie ein Häufchen Elend. Sie hatte nichts gesagt, seit sie hier angekommen waren und ihr Schluchzen verstummte, wenn man ihrem Gesicht dennoch noch ansah, dass sie lange geheult hatte. Die Augen waren noch glasig, die Wangen, sonst zartrosa waren rot. Wenn man Yuki auf die Geschehnisse ansprechen wollte - denn keiner von ihnen hatte verstanden, was denn nun genau vorgefallen war - begann sie fast wieder zu weinen, also ließ man dieses Thema vorerst ruhen.

Ihren Magen hatte man ein-, zweimal knurren hören, aber Yuki sagte immer nur (weiter mit dem Weinen in der Stimme), dass sie keinen Appetit hätte. Beim dritten Mal schaffte es Yukis Opa schließlich ihr zumindest einen Mochi anzudrehen und schluchzend kaute sie darauf herum.

Und wenn Asami es nicht besser wüsste käme ihr fast den Gedanke auf, ihre achtjährige Tochter hätte Liebeskummer.

„Schatz, was ist vorgefallen?“, fragte Saeko ihre Tochter erneut. Asamis Eltern waren noch nicht lange da und bisher kamen sie auch zu nichts anderem, als nach Yuki zu schauen und sie mit Fragen zu überhäufen, aber selbstverständlich schaffte sie es nicht etwas zu erklären, ohne wieder zu weinen. Onkelchen war alles, was sie über die Lippen bekam.

„Wenn ich dir das nur erklären könnte, Mama. Aber du wirst es mir vermutlich nicht glauben“, seufzte Asami nur, die Arme auf dem Tresen abgestützt, der den Wohnraum von der Küche trennte. An ihren Eltern vorbei, die beide vor ihr auf Barhockern saßen konnte Asami weiter Yuki beobachten. Im selbiger Blickrichtung war das Fenster, Richtung Meer zugewandt und neben der Türe zum Balkon hing das Bild der Garten der Lüste, was Hisaki nie leiden konnte, da es ihn stets an den Krieg und seinen Freund erinnerte. Der Gedanke, dass dieser Vampir Hisakis Freund sein sollte ließ sie nicht los. Sagte er nicht, sein Freund sähe einer Mischung aus Kaninchen und Fledermaus ähnlich? Aber sein Freund könnte sich verwandeln. Und Vampire verwandelten sich in Fledermäuse (und in zig anderes Getier).

Es passte irgendwie und Asami wurde klar, warum sie diesen Vampir anfangs für ihren Mann hielt. Beide blond, beide blauäugig, beide groß und schlank, jedoch war dieser Vampir mehr grau als blass. Aber wie er da stand, seine gesamte Körpersprache glich Hisakis. Ob das alles Zufall war? Oder Schicksal, dass sie und auch Yuki auf ihn trafen? Ob er nett zu ihr war? Vermutlich, sonst würde ihr Kind nicht so trauern.

Masato reichte stumm und auf etwas steif seiner Schwiegertochter einen Tee.

„Hier. Du hast viel Blut verloren. Du musst zusehen, dass du wieder zu Kräften kommst“, fügte er monoton hinzu und Asami nahm ihn auch an.

„Danke, sehr nett. Auch dass du mich und Yuki hierher gebracht hast.“

„Ich hatte nur keine Lust wieder fast eine Stunde im Stau zu stehen.“

Masato reichte auch zwei Teebecher an Saeko und Katsuya weiter, wenn sie auch etwas skeptisch blieben, woher diese Freundlichkeit herkam. Da aber Masato weiter eine Aura umgab, die Argwohn auslöste, machten sie sich keinen Sorgen, dass etwas mit ihm nicht stimmen könnte.

Mehrere Leute meldeten Feuer und Stromausfälle am und um den Mizuno Hiroba Park, mancher sogar glaubte über den Meer zwei dieser Monster gesehen zu haben, aber ganz sicher war man sich nicht, da einer von ihnen überaus menschlich aussah. Polizei und Feuerwehr, die gerade erst Minato nach dem Vorfall am Tokio Tower abgesichert hatte rückte nun nach Odaiba und sperrte Straßen, die alle Asami und Yuki nach Hause gebracht hätten. Masato stellten sich allein bei dem Wort UMLEITUNG oder SPERRUNG die Barthaare auf und er fuhr wieder zur Brücke, die mittlerweile frei war und fuhr sie zu sich nach Hause.

„Und was nun? Gehst du zur Polizei und meldest das?“, fragte Asamis Vater.

„Was soll ich sagen? Das ein Vampir mein Kind mitgenommen hat?“

„Liebling, diese Vampire-Geschichte -“

„Siehst du! Nicht mal ihr glaubt mir! Sag es ihnen, Masato, du hast ihn doch auch gesehen!“, sagte Asami zu ihrem Schwiegervater, der realisierte jedoch erst nicht um was es ging. Er konzentrierte sich auf Yuki. Sie hatte sich immer noch nicht bewegt, aber ihr Weinen hatte aufgehört. Nun schluchzte sie nur noch und einzelnen Tränen hingen in ihren schwarzen Wimpern fest, statt über das rosa Gesicht zu laufen. So wie sie dasaß, erinnerte sie ihn noch stärker an Hisaki und er kam nicht drum herum darüber nachzudenken, was sein vermeidlicher Sohn sagen würde, wüsste er, dass sein Schneehäschen hier war.

Und dann war da noch dieser Typ, den Asami als Vampir bezeichnete. Dieser Mann - War das wirklich Tsukaimon?

Katsuya Konoka bemerkte bereits, dass Masato nur Yuki anstarrte und bemerkte so auch als erster, dass er zu ihr hin ging, während sich seine Frau und seine Tochter noch wunderten, was Masato nun vor hatte. Neben Yuki blieb er erst stehen. Sie nahm ihn nicht wahr. Natürlich, sie war ja blind. Aber müsste sie ihn nicht gehört haben? Was nahm sie überhaupt war?

(wieso kommst du nicht einmal mit dann kannst du selbst sehen wie Yukino ist)

„Yukino?“, rief Masato vorsichtig. Yuki sagte nichts, noch gab sie überhaupt etwas von sich, nur ihr Kopf bewegte sich wenige Millimeter, also vermutete er, sie hatte ihn bemerkt.

„Ist es in Ordnung, wenn ich mich zu dir setze?“

„...Ja. Ist okay“, antwortete sie, aber ohne jeden Hauch von Euphemismus, geschweige denn überhaupt einer Emotion. Vorsichtig setzte er sich neben sie, bewahrte aber einen handbreiten Abstand zu ihr. Dann wusste er nicht mehr, was er tun oder sagen sollte. Masato sah Yuki an, dann in dem großen Raum, wo in einer Ecke auf das schwarze Klavier stand, in Regalen und Vitrinen verteilt Auszeichnungen und sämtliche Habseligkeiten, die er Mio von seinen Auslandsreisen mitbrachte (das meiste sagte Masato nicht einmal zu, aber er schaffte es nicht, sie wegzuwerfen). Ehe er wieder Yuki ansah und sich fragte, was er denn nun sagen sollte, fing er an die Sukkulenten auf dem Fensterbrett zu zählen.

Saeko Konoka wollte sich schon einmischen, da Masato mehr wie nur offensichtliche Probleme hatte einen Schritt nach vorne zu wagen, doch Asami hielt sie zurück und mit einer leichten Handgestik signalisierte sie ihrer Mutter, dass sie die beiden einfach lassen sollte und schaute weiter zu.

„Du... du bist traurig, richtig?“, fragte Masato und noch im selben Moment wollte er sich am liebsten ins Gesicht hauen für diese plumpe Frage. Zu seinem Glück war Yuki zu sehr in Gedanken vertieft und ihre einzige Aktion bestand darin das Hemd wieder etwas hochzuziehen, dass an ihr eher wie ein Nachthemd aussah. Dann, nach einiger Zeit sagte sie doch:

„Ja. Bin ich.“

„Wegen diesem Typen?“, fragte Masato vorsichtig weiter und Yuki nickte, dann wieder herrschte ein etwas längeres Schweigen. „Und... das war wirklich ein Freund von deinem Vater?“

„Hat Papa dir von ihm erzählt?“, fragte nun Yuki. Ihre Haltung veränderte sich. Sie saß nun aufrechter.

„Nun, indirekt. Ich habe mitbekommen, dass Hisaki jemanden vermisst. Ich glaubte erst, er dachte an seinen vermissten Schulfreund. Dann erwähnte er aber sehr komische Namen.“

„Und sie endeten alle mit -mon, richtig? So wie Onkelchen auch?“, harkte Yuki nach und Masato nickte, bis ihm wieder einfiel, dass Yuki dass ja nicht sehen konnte.

„Ähm, ja. So wie... Tsukaimon.“

Wieder Schweigen. Masatos Hände lagen erst ruhig auf seinen Knien, nun tippte er nervös mit den Fingern auf diesen herum und fragte sich gleichzeitig, was er nun sagen konnte und ob Yuki hörte, was er da machte. Sie hörte es, wie die Finger auf den dicken Stoff der grauen Hose klopften, aber sie war weiter damit beschäftigt an Myotismon zu denken, als daran weshalb ihr Großvater, der als emotionsarm und autoritär galt so nervös war.

„War dieser Mann nett zu dir, Yukino?“

„Onkelchen ist kein Mann, er ist ein Digimon“, sagte Yuki überraschend bestimmend.

„Okay. Aber war er nett zu dir?“

„Ja. War er. Er hat ständig an mir rumgenörgelt und sich beschwert. Aber er hat zugehört. Ich glaube, für jemanden der so ist wie er, ist das sehr viel wert.“

„Wusste er, wer du bist?“

„... Nein. Ich glaube, er wusste es nicht. Vielleicht doch, aber er wollte es nicht sehen. Onkelchen vermisst Papa ganz schrecklich. Ich glaube, er hat sich all die Jahre nur abgelenkt und es klein geredet, damit er nicht zugeben muss, wie traurig er darüber ist. Vielleicht dürfen Könige nicht traurig sein. Dann würde es mich nicht wundern, dass er so ist.“

„Verstehe“, murmelte Masato,dabei verstand er nicht wirklich viel und scheiterte bereits daran, die Yukis Beschreibung dem Wesen zuzuordnen, dass vor ihm stand. Aber Yuki war blind und vielleicht sah sie aufgrund dessen mit ihrem kindlichen Verstand etwas in ihm, was jemanden wie Masato verborgen blieb. Das oder in Yuki steckte mehr von Hisaki, wie man vermuten ließ. Dieser hatte schließlich auch einen Hang zu merkwürdigen Leuten zu tendieren.

„Großvater. Darf ich dich fragen, woher du wusstest, dass Onkelchen Papas Freund ist?“

„Weißt du, ich -“, fing er an, aber Masato verlor schnell den Faden, also versuchte er auszuweichen. „Wie hast du denn bemerkt, dass das dieser Freund war?“

„Ich habe es irgendwie gespürt“, antwortete Yuki unsicher. Sicher, der wirkliche stichhaltige Beweis war Papas Spieluhr, die bei Myotismon immer losging und dass ihre Halskette nur dann etwas von ihrer Kraft zeigte, wenn Yuki ihrem Onkelchen helfen wollte. Nichtsdestotrotz sagte eine Stimme in ihrem Herzen - den Zeitpunkt nur, wann das geschah konnte sie nicht bestimmen – dass das vor ihr der Schwarze König war. Stark und furchteinflössend, aber charmant und intelligent. Und übellaunig. Und rechthaberisch. Und starrköpfig.

Aber sie hatte ihn gemocht.

„Wenn er so traurig war wie du sagst, vielleicht kommt er dich ja bald wieder besuchen.“

„Nein...“, sagte Yuki und ihre Stimme begann wieder weinerlich zu klingen. „Onkelchen kommt nicht mehr. Onkelchen hat... Er hat böse Dinge im Kopf.“

„Böse Dinge?“

„Ja. Nicht so wie die grauen Gedanken von Papa. Onkelchen ist nicht so nett, a-aber ich hab Angst dass er – dass er -“

Yuki schluchzte wieder. Masato seufzte, genauso wie Asami, die sich noch freute dass es zwischen den beiden doch ganz gut lief. Asamis Eltern schüttelten den Kopf und sahen mitleidig auf ihre Enkeltochter, da sie auch nicht wussten, was sie tun sollten um der Kleinen zu helfen. Selbiges fragte sich auch Masato und ihm fiel nur das Einzige ein, was er wirklich gut konnte.

„Yukino. Soll ich dir etwas vorspielen? Am Klavier, meine ich“, schlug er vor und Yuki, wenn auch mit Tränen nickte zustimmend. Sie streckte die Arme nach ihrem Großvater aus. Er zögerte, dann nahm er sie aber doch hoch und stellte im ersten Moment fest, dass Yuki zwar ein klein wenig größer war wie das durchschnittliche japanische Kind, aber dafür ein Fliegengewicht. Der zweite Gedanke war, wie komisch es war, dass Yuki, die für ihn so fremd war wie er für sie es so problemlos hinnahm getragen zu werden. Ihr Kopf stützte sich auf seine Schulter, das Gesicht zu dem ihres Großvaters und seinem Geruch zugewandt, ein Mix aus Männerparfüm und Schwarzen Tee (von dem er zu viel trank seit er Witwer war). Masato war erst unwohl. Hisaki trug er zwar als kleines Kind auch auf dem Arm, doch der Junge schaute stets von ihm weg.

Mit Yuki auf dem Arm und unter den gebannten Blicken der Konokas und Asami – was Masato noch unangenehmer war – ging er mit ihr zum Klavier, setzte sie auf dem Hocker ab und quetschte sich daneben.

„Was soll ich spielen? Such dir etwas aus.“

„Funkel, funkel, Fledermaus...“, nuschelte Yuki vor sich hin. Masato überlegte erst, aber dann erinnerte er sich an etwas.

„Ah. Alice im Wunderland. Verstehe.“

„Kennst du es, Großvater?“

„Ja. Ich habe die Geschichte deinem Vater schon vorgelesen bevor er überhaupt ein Wort sagen konnte“, erzählte Masato und Yukis Augen begangen zu leuchten, statt von der Feuchtigkeit zu glänzen.

„Echt? Hast du?“

„Dein Vater hat als Baby oft geweint, besonders wenn seine Mutter nicht da war. Musik mochte er, aber beruhigt hat es ihn selten. Wenn ich ihm aber etwas vorlas, schlief er schnell ein“, erzählte Masato weiter, erinnerte sich, dass dies die einzigen Momente waren, wo Hisaki zu ihm sah, wenn sie sonst kaum Augenkontakt hatten – und Masato verstand, warum Hisaki diese Geschichte so liebte.

Gedankenverloren spielte Masato die Melodie von Funkel, funkel kleiner Stern, während Yuki im Kopf die Hutmacher-Version mitsang. Asami lächelte und zufrieden grinste sie ihre Eltern an und versuchte sich dabei Hisaki vorzustellen, was er bei diesem Anblick sagen würde. Vermutlich nichts, vermutlich wäre ihm die Kinnlade runter gefallen. Vermutlich wäre er auch froh darüber gewesen, und wenn es nur für Yuki war.

„Darf ich eigentlich auch spielen, Großvater?“, fragte Yuki nach einigen Momenten und Masato hörte auf zu spielen.

„Warst du denn schon einmal vor einem Klavier gesessen?“

„Nein.“

„Kennst du die Tonleitern?“

„Ich kenne die Reihenfolge.“

„Weißt du, wo die Oktaven sind?“

Yuki schwieg. Sie wusste es nicht, wenn ihr auch klar war, was ungefähr eine Oktave war. Da sie nicht antwortete, nahm er Yukis Hand.

„Du bist Rechtshänder, ja? Hier, diese Tasten in der Mitte -“, Masato nahm Yukis Finger und legte ihren Daumen auf das c, die anderen Finger je auf die Tasten daneben, „ - gehören zur einstrichigen Oktave. Auf einem Klavier mit Brailleschrift steht c1. Versuch mal langsam die Tasten zu drücken, erst die Tonleiter auf und dann abwärts.“

„Okay“, sagte Yuki konzentriert und sie begann erst mit jeden Finger nacheinander auf die Taste zu drücken, die sie damit berührte. Ein wirkliches Spiel war es nicht, dafür drückte sie zu langsam, auch als sie die Tonleiter abwärts spielte. Das tat sie, zwei-, dreimal, dann wagte sie es das Tempo etwas zu erhöhen und allmählich fügten sie aus den einzelnen Töne eine Melodie zusammen.

„Gut. Nicht so schnell, du sollst langsam lernen deine Finger einzeln zu kontrollieren. Jetzt nehmen wir mal die linke, die rechte macht jetzt erst einmal nichts mehr.“

Masato nahm Yukis linke Hand und legte sie auf die Taste der kleinen Oktave, aber auf die gleichen Töne. Mit der linken Hand fiel es Yuki schwerer die Kontrolle zu behalten oder die Kraft aufzubringen richtig auf die Tasten zudrücken und ihr Unmut zeigte sich in einem Stirnrunzeln. Masato holte Luft um sie zu ermahnen, nicht zu energisch zu sein, sonst würde das nichts werden. Doch ein flüchtiger Blick zu ihrer Mutter, wieder zu Yuki und dabei wieder Hisaki vor sich zu sehen drosselte ihn etwas.

„Mach langsam“, sagte er und Yuki hörte überrascht auf zu spielen. „Das braucht Zeit und Übung. Du brauchst Kontrolle“, erklärte ihr Großvater weiter und Yuki kam zum Schluss, dass dieser Satz genauso von Myotismon hätte kommen können. Was Onkelchen wohl sagen würde, wenn er das wüsste?

„Vielleicht bist du auch zu erschöpft, Yuki?“, meinte Asami und ging zu ihrer Tochter und ihrem Schwiegervater. „Wenn du dich zu Hause ausgeschlafen hast, klappt es vielleicht besser.“

„Ihr werdet nur heute wohl kaum mehr nach Hause kommen“, stellte Katsuya Konoka fest. Er stand auf dem Balkon und schaute mit einem strengen Blick hinaus in die Nacht.

„Da braut sich ein ziemlicher Nebel zusammen.“

„Man sieht kaum mehr die Straße...“, seufzte Saeko. Asami quetschte sich hindurch um diesen Nebel selbst zu sehen. Tatsächlich sah es aus, als würde sich ein dichter, weißer Schleier über Odaiba legen. Man erkannte auf der Brücke nur grob noch die Lichter der Autos und der Bahn, die im Stau standen und sich nicht rührten, mehr aber nicht.

„Großartig“, schnaubte Asami und sah bereits das Gesicht von Frau Takenouchi vor sich, wenn sie es am nächsten Tag nicht pünktlich in den Laden schaffen würde um bei den Vorbereitungen für die nächsten Ikebana-Kurse mitzuhelfen (die Aufträge nicht zu vergessen). Ihre Mutter tippte sie am Arm an.

„Dann kommst du eben über Nacht mit Yuki zu uns.“

„Ihr könnt bei mir bleiben“, rief Masato dazwischen. Saeko, die seiner Tochter den Vorschlag gemacht hatte zweifelte kurz an ihrem Hörsinn und auch ihr Mann glaubte sich einfach verhört zu haben. Nur Asami glaubte an die volle Funktionsfähigkeit ihrer Ohren, nur fragte sie sich, woher diese Sinneswandel kam und ob er wirklich so überraschend war. Schon auf der Fahrt nach Odaiba beschlich Asami das Gefühl, dass Masato unglaublich einsam sein musste und es ihm erst in diesem Moment schleichend bewusst wurde, aber nicht sagte, weil er nun mal kaltschnäuzig war.

Masato schämte sich offenkundig, diesen Vorschlag geäußert zu haben und sich sagen zu wollen, dass er sich raus halten sollte. Es war Hisakis, nicht seine Familie. In der Gesellschaft, aus der er kam war man nicht so offenherzig. Kuckuckskinder und deren untreue Mütter gehörten auf die Straße und wer als Mann sein Recht nicht durchsetzte war ein Schwächling. Doch zu gerne würde er diese konservative Sicht mal für einen Moment vergessen, wie auch Asami gerne ihrer Tochter, wenn sie ihr schon Vater und Onkel nicht wiederbringen konnte, ihr zumindest einen Großvater zu geben, etwas von ihrer väterlichen Herkunft, wenn die Gene auch andere waren.

„Das ist sehr nett, Masato. Yuki, möchtest du auch, dass wir bei Großvater übernachten?“, fragte Asami und Yuki nickte kurz zustimmend, befasste sich aber nicht mehr weiter mit dem was die Erwachsenen diskutierten. Ihre Finger tasteten sich weiter durch die kleine Oktave. Ihre Hand nahm die Vibration auf, ihre Ohren den Klang.

„Macht des dir Spaß, Yukino?“

„Ja“, sagte sie kaum mehr nachdenklich oder traurig, sondern klang relativ neutral, dabei wechselte ihr Finger schnell zwischen d, e und f her und Yuki versuchte den einzelnen Ton und den Unterschied zu ihnen zu bestimmen.

„Dann kannst du auch noch etwas üben.“

„Kann ich es denn auch lernen, selbst wenn ich nichts sehe?“

„Natürlich geht das, wenn man sich anstrengt.“

„Kann ich denn noch? Bin ich nicht zu alt? Papa hat gesagt, er hat mit vier schon Klavierspielen gelernt.“

„Man ist nie zu alt um die Schönheit der Musik zu verstehen“, entgegnete Masato nüchtern, doch Yuki konnte der Aussage nicht folgen. „Oder, um es wie mein Vater zu sagen – man muss mit dem Herz bei der Sache sein. Ohne Herz klingt selbst die schönste Musik hohl und hässlich.“

„Hat Papa auch mit Herz gespielt?“

Masato schwieg. Er war sich erst nicht so sicher. Hisaki fing eines Tages aus freien Stücken an zu spielen. Masato glaubte, Hisaki tat es nur, da er langsam zu verstehen schien, dass er nicht sein leiblicher Vater war und um seinen strengen Vater zu besänftigen, widmete er sich dem, was Masato an wichtigsten schien. Aber hätte dieses Spiel wirklich so schön geklungen, wäre Hisaki nicht mit Herz an die Sache herangegangen? Ob sein Freund auch spielen konnte?

„Ja, hat er. Er und seine Freunde haben das. Sie müssen eine schöne Zeit als Orchester gehabt haben.“

„Darf ich dann auch zur Musikschule?“

„Wenn du ein Stück spielen kannst, reden wir darüber.“

„Ich will Vivaldi spielen, so wie Papa!“, jauchzte Yuki wieder und nun merkte man gar nichts mehr von ihrer Traurigkeit an.

„Na, na, jetzt übertreib nicht. Fang erst einmal klein und simpel an“, ermahnte ihr Großvater sie und augenblicklich fing Masato an selbst wieder an zu spielen. „Das hier ist ganz einfach. Stand by me war auch das erste Stück, dass ich deinem Vater beibrachte. Wenn du das kannst reden wir über die Musikschule.“

Dass Yuki eigentlich traurig war und immer noch immer im Liebeskummer steckte hatte sie nun vergessen und sie hörte aufmerksam ihrem Großvater zu, dann versuchte sie es selbst. Doch der Tag war lang genug, sie war müde und bekam es an dem Tag auch nicht mehr hin zu spielen. Als Masato wieder übernahm, war Yuki schon fast im sitzen eingeschlafen und sie bekam nur zum Teil mit, wie ihr Großvater sie in sein Schlafzimmer trug und sie in sein Bett legte.

„Du kannst Yuki ruhig öfter sehen, Masato“, sagte Asami zu ihm im Türrahmen stehend, ihre Eltern waren auf ihre Bitte hin (und weil die Bandscheiben ihrem Vater wieder zu schaffen machten) bereits gegangen. „Yuki interessiert die Genetik nicht. Du bist in ihren Augen ihr Großvater. Und Yuki braucht auch etwas von der väterlichen Seite ihrer Familie. Und jemand, der etwas von Musik versteht.“

„Ich bin zu alt um jetzt noch Großvater zu spielen.“

„Du sagtest deiner Enkelin, dass man für Musik auch nie zu alt ist. Warum sollte man das für eine Familie nicht? Denk darüber nach, Masato.“

Masato wechselte gedankenversunken zwischen Asami und Yuki hin und her. Neben Asami stand eine Kommode mit einem der wenigen Familienbilder, die er nicht irgendwo verstaut hatte, wo er sie nicht sehen musste. Er sagte nichts, deckte Yuki mit der Bettdecke zu und ließ sie schlafen. Als Masato das Zimmer mit Asami verließ, lächelte sie ihn an. Er tat sich schwer, aber er versuchte zurück zulächeln.

Yuki, noch irgendwo zwischen Einschlafen und Tiefschlaf freute sich, dass ihr Großvater ihr helfen wollte Klavierspielen zu lernen, war aber traurig, weil sie ihrem Onkelchen dass nicht zeigen konnte und sie fragte sich, wo er war und ob sie ihn wiedersah. Wenn, dann hoffte sie dass sie bis dahin Fortschritte gemacht hatte und auch wirklich spielen konnte. Doch sie vermisste ihn.

Kurz vorm Tiefschlaf spürte Yuki, dass sich jemand neben sie setzte und sie sagte sich, dass es vielleicht ja Onkelchen war. Aber Nein, war er nicht. Da war eine Frau. Vielleicht Mama. Der Raum roch nach Blumen.

„Danke, dass du es versucht hast, Alice...“

Yuki schlief ein.

Der Nebel um Odaiba wurde dichter. Monster krochen aus den Ecken. Jemand thronte auf dem höchsten Punkt des Viertels und lachte. Der Schwarze König, der Verstand von Hass und Wahnsinn überwuchert war seinem Ziel einen großen Schritt näher gekommen.

 
 

#

 

03.08.1999

 

Kinder. Zu viele Kinder. Sie jammerten, sie weinten und riefen nach ihren Eltern. Dieser Krach ging ihm auf die Nerven.

Myotismons und Gatomons Blicke trafen sich kurz, dann blickte sie schnell auf das weinende Kind vor sich und schüttelte erst etwas verzögert den Kopf. Myotismons schlechte Laune hatte sie erstarren lassen.

„Das ist es auch nicht“, sagte sie und eines der Bakemon schickte das Mädchen weg, dafür winkte es einen Jungen her. Das ging seit Stunden und Myotismons Geduldsfaden war langsam am Ende und wurde durch Gatomons Anblick nur weiter strapaziert. Verräterin. Er hätte es wissen müssen, dass dieses Digimon nur Ärger bringen würde. Wenn sie nun aus ihrer Erziehung nichts gelernt hatte, musste sie nun die Konsequenz dafür tragen. Das achte Kind würde vor ihren Augen sterben. Was er mit Gatomon selbst tat überlegte er sich noch (ohne Digiritter wäre sie schließlich keine Gefahr mehr).

Myotismon konnte es spüren. Dies war der große Tag. Er würde den achten Digiritter finden und seiner Bestimmung endlich folgen. Die jahrelange Arbeit würde sich endlich auszahlen.

Auch der Junge war es nicht und wurde fortgeschickt. Er zitterte, als er Myotismon nochmal ansah und lief davon. Die Kinder hatten alle Angst vor ihm. Myotismon ließ seinen Blick wieder über die Menge streifen. Das Kind der Aufrichtigkeit war unter ihnen, allerdings ohne ihr Digimon. Und wenn schon. Das achte Kind musste er finden. Eines davon musste es doch sein und wenn es so war musste er es sofort -

Myotismon sah im Augenwinkel ein Lichtspiel aus weiß und blau und heller Haut. Sein Blick blieb an einem Mädchen hängen und für einen Moment dachte er, seine Truppen hatten tatsächlich Yuki hierher gebracht. Das Mädchen trug zwar ähnliche Kleidung wie Yuki an dem Tag, als sie sich trafen und sie hatte in etwa auch das gleiche Alter und die Größe, aber die Haut besaß, wenn auch blass, eine andere Farbnuance. Ganz zu schweigen davon war das Kind dunkelhaarig und als dieses Mädchen bemerkte, dass Myotismon sie anstarrte, wimmerte sie und ließ einen kurzen Schrei fahren, ehe sie sich an ein älteres Mädchen klammerte (vermutlich ein Geschwisterchen). Nochmal sah Myotismon über die Schar Kinder hinweg. Keines davon hellblond. Keines sah wie Alice aus. Yuki war nicht hier und Myotismon war erleichtert. Das hätte alles nur komplizierter gemacht. Sie hätten ihn noch auffliegen lassen. Vielleicht hätte sie eine Szene gemacht. Oder sie wäre noch enttäuschter gewesen. Es war gut, dass sie nicht hier war, so musste Yuki nicht erfahren, was Myotismon tat.

Es war sogar sehr gut, dass sie nicht hier war. Denn wenn es etwas gab, auf was Myotismon noch mehr wartete wie auf den Tod des achten Digiritter, dann dass er endlich in Ruhe essen konnte. An einigen der Eltern hatte er sich schon zu schaffen gemacht. Er würde sogar behaupten, er hätte in den letzten Stunden mehr Blut getrunken, als die letzten paar Monate zusammen. Aber er hatte immer noch Hunger. Er konnte regelrecht hören, wie das warme Blut durch die kleinen Körper gepumpt wurde.

Er brauchte mehr Blut. Mehr Kraft. Sein Triumph war so nah. Es fehlte nicht mehr viel, aber um die Welt zu sein zu machen – geschweige denn den Herr Dirigent loszuwerden brauchte er mehr. Viel mehr, wenn er als finalen Schritt diese Gestalt ablegen musste. Das wäre ein bitteres Opfer und Myotismon war sich nicht sicher, ob er wieder zu früheren Stufen zurückdigitieren könne oder ob der Schwarze König für immer ein Jabberwock bleiben müsste.

Egal. Es musste sein. Es musste... Sein Plan... Er musste es zu Ende bringen. Wenn Politik und Obrigkeit es nicht schafften, endlich Struktur in dieses Chaos zu bringen, musste er es. Eine Welt der Finsternis, erbaut aus den Trümmern der Digiwelt und der Schatten der Realen Welt... Ohne Pflicht. Ohne Regel. Ohne Moral. Ohne Ideale. Ohne Träume.

(Hisaki unser Wunderland gibt es nicht also erschaffe ich eines ist das nicht wunderbar?)

Tief in Gedanken versunken bekam er nicht mit, dass Gatomon merkte dass in Myotismon irgendwas vorging und auch DemiDevimon beachtete er erst gar nicht, bis dieser ihn rief:

„Meister! Erhabener Meister!“

„Was gibt es?“

„Meister, wir haben den achten Digiritter gefunden!“

 
 

 

 

„Mein Plan war es Dunkelheit über diese Welt zu bringen, so wäre es ein leichtes gewesen beide Welten zu kontrollieren! Ich habe nur getan, was ich für das Beste hielt!“

 

Himmelspfeil!“

 
 

X

 

Er hatte immer noch Hunger. Hunger und Wut hielten seinen Verstand noch wach. Was war passiert? Ach ja, er war ja vernichtet worden. Da war ja etwas. Warum konnte er dann noch seine Gedanken hören?

Wo kamen das Geklapper von Geschirr her? Wo kamen die Stimmen her?

„- auf das Wohl von Königin Alice!“

Jubel. Gläser. Natürlich, Alice hinter den Spiegeln. Natürlich saß er in einem Albtraum fest. Aber nett, dass man den Schwarzen König diesmal einlud. Der Geruchssinn schaltete sich wieder ein. Es roch nach Essen und Tee, aber es brachte seinen Magen zu drehen.

Myotismon hatte erhebliche Probleme damit sich wieder daran zu erinnern, wie man seine Augen öffnete und schaffte es nur mit viel Mühe. Er war tief in seinem Thron versunken am Ende der Tafel. Es war schrecklich dunkel hier und die Kerzen, höher wie jeder Binsenstrauch brachten kaum Helligkeit. Die Gäste zu seiner rechten und linken erkannte Myotismon kaum. Ihren Umrissen nach hätte er auf die typischen Wunderland-Kreaturen geschätzt. Löwe. Einhorn. Schaf. Raupe. Rose. Schildkrötensupperich. Hirschkalb. Herzogin. Und wusste doch der Teufel, wer da noch saß. Flaschen und Besteck waren lebendig, griffen nach Teller und flogen umher. Mit genug Fantasie sahen sie seinen Fledermäusen ähnlich.

„Eure Majestät, wacht auf, wacht auf! Es ist unhöflich bei der Krönung zu schlafen! Schaut doch nur wie spät es schon ist!“, schrie das Weiße Kaninchen ihm ins Ohr und hielt Myotismon die große Taschenuhr vor die Nase, aber ließ ihm keine Zeit die Zeiger überhaupt erkennen zu können. Das Weiße Kaninchen rannte davon, dass jedoch nicht weiß sondern schwarz war und warum zur Hölle auch immer es wie DemiDevimon klang. Und am anderen Ende der langen Tafel, die vielleicht nur drei, vielleicht auch nur dreihundert Meter lang war saß ganz rechts die Rote Königin mit dem Weißen König, die in der nächsten Sekunde zu Dideldum und Dideldei wurden und wieder zurück. Wie stark sich Rosemon und Wisemon doch verändert hatten. Kein Wunder, dass er sie damals nicht erkannte.

Ganz links saß die Weiße Königin, so hübsch und sanft, wie er sie in Erinnerung hatte. Sie unterhielt sich mit dem, der genau gegenüber von Myotismon saß. Alice, es war Alice. Doch war es Hisaki? War es Yuki?

Während die Rote Königin tadelte, die Weiße Königin sang und die Gäste lachten, schien Alice nicht glücklich, sondern eingeschüchtert. Überfordert. Des Wahnsinns leid. Wie gut er das verstehen konnte.

„Majestät, wacht doch nun endlich auf!“,

(Erhabener Meister, wacht auf!)

rief das weiß-schwarze Kaninchen wieder und Myotismon wollte es von sich stoßen, aber es ging nicht. Er war wie gelähmt. Er schaffte es nicht einmal sich anders hinzusetzen oder den Kopf zu heben. Das Kaninchen rüttelte ihn weiter, dabei waren seine Augen längst auf. Und selbst das kostete Mühe. Er hatte Hunger. Hunger. Hunger...

(Mehr ich brauche mehr)

Somnolent sah Myotismon den Fledermäusen aus Flaschen und Tellern zu, wie sie in die Höhe stiegen und je näher sie dem Licht am Ende der Kerzen kamen, so dunkler wurden sie und sie wurden mehr, mehr mehr mehr

(Am Anfang -)

(Ich brauche mehr)

(- war der Himmel mit Fledermäusen bedeckt)

Er wusste aufstehen. Er musste, er musste zu Alice hinüber. Aber es ging nicht.

(Ich brauche mehr Energie)

„Eure Majestät, nun steht doch auf!“, rief das Kaninchen wieder, aber seine Stimme hallte. Ein Echo? Nein, ein Kanon. Da waren noch mehr Stimmen, denn auf seiner Seite des Tisches sammelten sich um Myotismon herum alle erdenklichen grotesken Gestalten, Hutmacher und Märzhasen, Karten und Schachfiguren, vom größten Hummer bis hin zur kleinsten Butterbrotfliege und riefen nach ihm, sie riefen, sie riefen -

„Eure Majestät!“

„Steht auf! Steht auf!“

„Aufstehen!“

„Erhebt Euch endlich!“

„Eure Majestät!“

Er versuchte es, doch Myotismons Glieder waren schwer wie Blei.

(Erhabener Meister Myotismon)

(Und die Menschen riefen nach ihrer erhabenen Majestät dem König der Digimon)

Die Weiße Königin sah zu ihm hinüber, das Gesicht verzog sich vor Angst. Sie ahnte was geschah. Sie drückte Alice an sich und die Gäste um sie herum, an denen etwas so gar nicht koscher war. Bei Alice saß die Herzogin und lachte, die Herzogin, die Herzogin die das verdammte Tifaret-Symbol um den Hals trug und ihre verdammte, räudige Grinsekatze, die waren schuld, diese elenden -

Und nicht nur sie. Diese Gäste... Diese Kinder... Die Digiritter saßen hier.

Wieso saßen sie hier und lachten und umringten Alice? Was zur Hölle hatten sie hier in seinem Wunderland zu suchen?! Sie sollten verschwinden! Wenn sie glaubten, dass sie ihn so leicht los wurden, hatten sie sich geirrt. Oh Nein, so nicht. Das Finale des Konzertes kam schließlich noch. Alles lief wie geplant. Er musste nur einen kleinen Umweg gehen. Alle Wege des Wunderlands führten zum achten Feld. Die Krone war ihm sicher. Dann waren sie dran. Er würde sie töten. Diese Kinder und ihre Haustiere. Marionetten. Unwürdige. Töten. Volksverräter. Töten. Töten. Hunger. Töten. Essen.

„Erwacht doch, Eure Majestät!“

Es war schmerzlich. Seine Arme waren nun nicht nur mehr schwer, es brannte. Doch Myotismon hörte nicht auf, wie unerträglich der Schmerz auch wurde.

„Ihr müsst etwas sagen, Eure Hoheit!“

(Meister Myotismon)

Wie Weiße Königin zerrte die Kinder fort, die immer noch lachten, ahnungslos und naiv und dumm, so unendlich dumm wie sie waren. Außer ihr schaute nur Alice noch genauso entsetzt.

„Sprecht doch, Eure Majestät!“

Er

(Erhabener Meister!)

„Eure Majestät!“

hörte -

(Meister)

„Ich ertrage das nicht länger!“, schrie Myotismon wie Alice in Lewis Carrolls Märchen und wie im Buch auch niedergeschrieben, ergriff Myotismon das Tischtuch mit beiden Händen, kaum dass er aufstand und zog einmal kräftig daran. Alles fiel um, die Kerzen, das Geschirr, das Essen, dass im Fall in sekundenschnelle verrottete, die Gäste, die ihren Mund nicht halten konnten. Die Weiße Königin brach in Tränen aus und Alice wurde von ihr zurückgehalten und schrie, ebenso den Tränen nahe.

Myotismon

( Du bist so nicht Tsukaimon! )

hörte

( Du hast gesagt du bist kein Jabberwock Onkelchen! )

Glockenschläge.

Der Stundenzeiger stand auf 6 Uhr. Der Minutenzeiger sprang gerade auf die sechste Minute. Der Sekundenzeiger bewegte sich beinahe in Zeitlupe von der fünf zur sechs.

 
 

𝅘𝅥.

 

… und dann geschah ein Wunder.

 
 

 

 

„Habt ihr so etwas schon einmal gesehen?“, fragte Katsuya Konoka seine Familie, die die mit ihm auf dem Balkon stand. Alle, seine Frau, seine Tochter und der Vater seines Schwiegersohnes schüttelten den Kopf. Bei seiner Enkelin erübrigte sich die Frage, da sie nicht mal wusste um was es ging.

„Was denn? Was ist da?“, fragte Yuki aufgeregt.

„Wenn wir das wüssten, Liebes“, seufzte ihre Oma. Doch diese Antwort reichte Yuki nicht, also streckte sie ihren linken Arm aus, um ihren Großvater an der Kleidung zu zupfen.

„Was ist da, Großvater?“

„Nun... Es sieht ein wenig wie Polarlicht aus.“

„Was, wirklich? Wie cool!“, jauchzte Yuki, die Erwachsenen waren weniger euphorisch.

„Aber das ist doch kein Polarlicht, Masato“, entgegnete Asami. „Vor allem, hier?“

„Nachdem was in letzter Zeit war, wundert mich nichts mehr. Schau dir Odaiba da drüben an.“

Die vier Erwachsenen sahen weiter die graue Maße an, die sich um Odaiba schloss wie eine Kuppel. Unglaublich, dass das Nebel sein sollte. Alles war lahmgelegt und die Verbindung tot. Niemand wusste, was dort vor sich ging. Asami war aber in erster Linie erleichtert der Bitte ihrer Eltern nachgekommen zu sein und über Nacht bei ihrem Schwiegervater zu bleiben, statt wieder zurückzufahren. Sie hätten auch dort feststecken können. Asami machte sich um ihre Kolleginnen und ihre Chefin Gedanken. Yuki fragte sich, was ihre Freunde aus der Schule nun taten. Und was Kari machte, Yuki wollte sie doch anrufen.

Dieses Polarlicht, wie Masato es bezeichnete war seit etwa kurz nach sechs am Himmel zu sehen und was erst ein verschwommenes Farbspiel schien, wirkte immer mehr wie eine Aquarellmalerei von Wäldern, Seen und Bergen. Sehr dubios. Erklären konnte es sich niemand.

Yuki hingegen machte sich um andere Dinge Sorgen. Etwa zur selben Zeit, als dieses Polarlicht über Tokio erschien – wie sie später in den Nachrichten erfuhren sogar über der ganzen Welt –, hörte Yuki etwas. Einen Schrei. Ein Brüllen. Es kam von Odaiba. Die Schallwellen besaß nicht die Kraft, dass man dieses Brüllen bis zu ihren Großvater gehört hätte, aber Yuki hörte es. Oder vielmehr spürte sie es. Es war wie der Schrei vom Jabberwock. Aber das konnte nicht Herr Deemon sein. Und dann dieses Beben, das spürte Yuki auch mit ihren sensiblen Sinnen, anders wie der Rest.

Dieser Nebel war schon mehr wie seltsam. Sie dachte an ihr Onkelchen. Erst hatte sie sich Sorgen gemacht, bis Yuki langsam etwas dämmerte.

(Dein Onkelchen ist kein Netter)

(Was denkst du wird er machen wenn er denjenigen gefunden hat?)

Ob er für den Nebel verantwortlich war? Er war ein Vampir und stark, bestimmt könnte er das. Hatte er denjenigen etwa gefunden, den er -

Aber das Beben. Der markerschütternde Schrei? Es klang wie der Schrei eines großen Ungetüms. Das konnte nicht Onkelchen gewesen sein. Onkelchen war kein Jabberwock.

Wieder hörte Yuki dieses Brüllen und wieder war da diese schwache Vibration. Das musste ja ein gigantischer Jabberwock sein, wenn dass eine Erschütterung auslösen konnte, die man bis an die Küste Minatos spürte.

Wieder ein Brüllen. Der Lauteste an diesem Abend und entsetzlich lang gezogen. Er hörte genauso plötzlich wieder auf und doch, kurz von Angst überkommen zog Yuki noch einmal kräftig an der Hose ihres Großvaters.

„Was ist los, Yukino? Du bist den ganzen Abend so ängstlich“, fragte ihr Großvater sie.

„Ja, Schatz. Machst du dir Sorgen um deine Freundinnen?“, fragte ihre Mutter.

„Ich habe was gehört. Es kommt von drüben. Da war etwas... großes.“

„Etwas großes?“, wiederholte ihre Oma fragend, ihr Opa hingegen schaute nur weiter geradeaus und sah auch als erstes, dass der Nebel um Odaiba sich lichtete.

„Seht nur! Der Nebel löst sich auf“, rief er und die Erwachsenen schauten nun auch wieder hinüber. Der Nebel löste sich für die Menge überraschend schnell auf und offenbarte nach und nach ein Bild der Zerstörung. Sie hätten nicht sagen können wo genau das war, aber sie sahen, dass Gebäude entlang der Straße an der Küste komplett zerstört waren und die Verwüstung zog sich bis in die Innenstadt. Rauch stieg gen Himmel.

„Du lieber Himmel, was ist da passiert?“, rief Yukis Oma erschrocken auf.

„Sieht aus, als wäre etwas explodiert.“

„Meinst du wirklich?“, fragte Masato Katsuya skeptisch. Für ihn sah das eher aus wie ein Angriff Godzillas.

„Vielleicht ist was eingestürzt und hat einen Brand oder so ausgelöst. Vielleicht war dieser dichte Nebel eigentlich Qualm“, versuchte Yukis Opa möglichst logisch zu erklären. Es war eine Aussage, die die Presse später auch so wiedergeben würde, da sie sonst keine andere Erklärung fand, die die Bevölkerung im Land nicht in Aufruhr versetzt hätte. Doch wer Zeuge des Ganzen war wusste, dass es hinsichtlich dem zu viele Ungereimtheiten gab – und dass diese Monster einen Teil dazu beigetragen haben. Asami ahnte sogar welches davon.

Yuki hörte etwas. Es war kein Schrei, kein Brüllen und kein Beben. Sie hörte es nicht einmal mit dem Ohren, nur ganz allein in ihrem Kopf, während sie versuchte sich das verwüstete Odaiba vorzustellen.

Yuki hörte einen Klang.

In ihrer Hosentasche spürte sie das kurze Aufflackern von Wärme, da wo auch Papas Digivice drin war. Als sie es herausholte war es immer noch warm und sie hörte das Winterlied, aber langsam, breit gezogen und schwach. Dann wurde es leiser. Und leiser. Dann war es weg und das Digivice kalt.

Yuki hörte einen Klang. Dann spürte sie diesen Klang, erst in ihrem Kopf, dann in ihrer Brust, letztlich in ihren Fingern, wo nun das kalte Digivice lag. Ganz kalt, so wie Eis. Wie Onkelchens Haut.

Der Gedanke, den sie erst verdrängte kehrte zurück und ja, sie ahnte es, sie glaubte sogar zu wissen, dass Onkelchen an diesem Chaos in Odaiba schuld war. Er war ein Vampir. Er war nicht nett. Er wollte etwas böses. Er hatte etwas böses getan, da war sie sich sicher.

Doch diese Erkenntnis trieb ihr nicht die Tränen ins Gesicht. Es war das Gefühl, dass das Böse, dass um Odaiba lag verschwunden sei. Das Brüllen und das Beben war mit dem Nebel fort. Alles, was man mit Onkelchens Anwesenheit hätte in Verbindung bringen können war weg.

Yuki bemühte sich die Trauer runterzuschlucken, darum merkte es von ihrer Familie auch erst niemand. Dann schnappte sie nach Luft und daraus wurde schließlich ein unterdrücktes Wimmern. Als Asami zu ihrer Tochter hinuntersah, liefen kugelrunde und dicken Tränen über das Gesicht ihrer Tochter.

„Yuki! Yuki, was hast du?“, sagte Asami aufgeregt und ging neben ihr in die Hocke.

„Onkelchen... Onkelchen hat... was Schlimmes gemacht.“

Während weder Saeko noch Katsuya Konoka verstanden um was es ging, geschweige denn wer Onkelchen war, schaute Asami kurz hinüber nach Odaiba, dann zu ihrer Tochter. Yuki weinte nun lauter.

„Onkelchen hat gelogen! Er hat gesagt, er wäre kein Jabberwock! Er hat's gesagt! Er hat gelogen! Und jetzt – jetzt ist Onkelchen...“

Yuki konnte es nicht aussprechen, stattdessen wurde ihr unterdrücktes Weinen zu einem unkontrollierten Flennen. Asami versuchte ihre Tochter in den Arm zu nehmen, zeitgleich mit ihrem Schwiegervater, der sie kurz zu schämen schien, dass er den selben Gedanken hatte. Asami aber ließ ihm den Vortritt. Erst verwundert, dann scheinbar dankbar nahm Masato Amano seine Enkelin in den Arm und hob sie hoch, wo sie ihr Gesicht an ihn drückte und weiter heulte.

Das ging den ganzen Abend. Yuki gab kein Wort mehr von sich. Irgendwann war sie so erschöpft vom weinen, dass sie einschlief. Im Bett ihres Großvaters liegend und dem Digivice in der Hand träumte sie vor sich hin. Sie träumte von ihrem Onkelchen, der nun fort war. Onkelchen war weg. Natürlich, er war ja auch der Böse. Die Bösen mussten immer irgendwann weg. Und auch wenn Onkelchen wirklich böse war und sie auch noch wütend auf ihn – sie hatte Onkelchen trotz allem gern. Yuki hoffte, dass Onkelchen nun bei Papa war.

Yuki hörte etwas.

Yuki hörte Myotismons Stimme in ihrem Kopf.

 
 

𝅗𝅥

 

Das Klavier spielte. Es zwar nur ein einziger Ton, den es von sich gab und es hätte alle möglichen Ursachen haben können wieso es das tat. Es war nicht einmal unwahrscheinlich, dass das Klavier wirklich keinen Laut von sich gab, sondern dass sich die Meister der Dunkelheit das schlicht und ergreifend nur einbildeten. Das Phänomen war nicht neu. Als Devimon starb glaubten sie die Trompete gehört zu haben und schoben es auf den Wind. Als Etemon vernichtet wurde, glaubten sie das Cello zu hören (wenn der Ton auch sehr abgehakt klang, als wollte ihn jemand unterbinden). Nun hatte das Klavier sich gemeldet und alle vier wussten, was dies bedeutete.

„Unser Pianist ist verstummt“, brummte MetalSeadramon und es war nicht gänzlich ersichtlich, ob er (wenn auch nur aus Höflichkeit und alter Freundschaft Willen) wirklich Trauer zeigte oder es ihm kalt ließ.

„Wie bedauerlich“, schnaufte Machinedramon. „Dabei hätte ich ihm zugetraut, dass er die Digiritter spielend platt macht, so verbissen wie er immer war.“

„Soll uns doch Recht sein, dass die Digiritter ihn erledigt haben“, kicherte Puppetmon, vielmehr aber über Machinedramons ungewollten Witz über Verbissenheit, in Verbindung mit Myotismon als Vampir. „Er hat uns mehr Ärger gemacht wie die Digiritter.“

„Vermutlich wollte er uns sogar vernichten. Verräter“, hörte man MetalSeadramon knurren, doch man sah ihn in der Dunkelheit nicht. „Dann sparen wir uns die Mühen, unsere Regeln zu umgehen und ihn zu beseitigen. Was denkst du, Piedmon?“

Gar nichts, wollte er sagen, aber auch das war nicht die Wahrheit. Piedmon wusste nicht was er denken sollte. Irgendwo war er ja wirklich froh Myotismon los zu sein. Als Piedmon ihn durch sein Teleskop sah - oder eher, zu was er geworden war bekam er Sorge. Durch die Entfernung und den Nebel sah Piedmon nicht viel von dem Kampf, aber verflucht, dass was er sah reichte. Myotismon war mehr wie gefährlich. Um so besser, wenn er tot war.

Aber dennoch hat er zugesehen, wie die Digiritter einen Mitmusiker und seinen einst engsten Freund vernichtet haben, dem er gerne dicht an seiner Seite gewusst hätte. Eine Schmach. Welch eine Schmach.

„Soll es uns Recht sein. Er hatte seine Chance und hat es vermasselt. Aber ich muss ihn für eines loben – während er sich in der Realen Welt vergnügt hat, hatten wir Zeit und Spielraum um für unsren großen Auftritt zu proben.“

„Dann war seine Aktion wenigstens nicht umsonst“, kommentierte MetalSeadramon, aber auch hier war nicht klar zu deuten, ob dass nun abwertend gemeint war oder nicht. „Wir sind ein großes Stück weiter gekommen.“

„Letztlich kann es uns gleich sein“, brummte Machinedramon. „Am Ende sind wir doch wieder vereint in der ewigen Dunkelheit. So wie einst.“

„Richtig...“, murmelte Piedmon. Bei Devimon und Etemon hatte Piedmon wohlwollend zugestimmt. Nun aber, da sein bester Freund gefallen war, musste er an dessen Worte zurückdenken und feststellen, dass er selbst über den Tod hinaus Recht behielt. Das Orchester war ein Witz und jeder sich am nächsten. Alles andere war ihnen egal und Piedmon begann sich Sorgen zu machen, was geschieht, wenn der Herr Dirigent nun endlich frei wäre. War Myotismon wirklich der Einzige, der an Verrat dachte? Devimon hatte ja schon eigene Pläne. Aber er wurde von Machinedramon unterstützt. Machten sie gemeinsame Sache? War Puppetmon nur so kindisch oder war dies auch nur eine Fasre? Und MetalSeadramon interessierte sich nur für die Meeres-Digimon und würde weiß der Teufel alles tun, damit es seinen Truppen am besten ging.

Piedmon traute keinem von ihnen. Nicht einem. Das musste er Myotismon lassen – ihm konnte man auch nicht trauen und er spielte nicht mit offenen Karten, aber er war sich nicht zu schade seine Pläne und Ziele mit einem Überdosis Arroganz zur Schau zu stellen.

Ob Piedmon bewusst oder nicht zur Gitarre griff war ihm selbst nicht klar, aber dass er an den Saiten zog realisierte er. Puppetmon zog ein fragendes Gesicht.

„Was machst du?“

„Ehre wem Ehre gebührt“, antwortete Piedmon, was Puppetmon erst nicht verstand. „Ein gefallener Freund, ob Verräter oder nicht hat dennoch ein Recht auf eine angemessene Trauerfeier.“

„Verräter haben ihr Anrecht auf Ehre verloren“, knurrte MetalSeadramon.

„Trotz allem – Orchester bleibt Orchester. Wir haben unserem Trompeter und dem Cellisten auch die letzte Ehre erwiesen. Wenn unser Pianist auch lieber sein Solo spielte war er Teil des Opus. Gleiche Rechte für alle, dass ist doch unser Motto. Wir sind doch gleich, oder?“

Widerspruch in den Gesichtern. Aber niemand würde es wagen zu widersprechen, denn jede Form des Gegenwillens könnte andeuten, wie sie wirklich dachten. Hier war nichts gleich, hier dachte nur jeder für sich. Jeder hatte eigene Interessen und so mancher hatte etwas Eigenes, etwas Geliebtes möchte man fast behaupten, für das sich es eher lohnte weiterzumachen als diese wehleidigen und lästigen Erinnerungen an frühere Zeiten. Myotismon konnte man lassen, dass er offen damit umging und so viel Rückgrat besaß und lieber ein Außenseiter blieb, anstatt sich einer falschen Solidarität zu verschreiben. Vielleicht kam er deswegen ja so weit. Aber nicht weit genug.

Während die Digiritter auf der Erde sich langsam wieder darauf vorbereiteten in die Digiwelt zurückzukehren, packten die vier Meister der Dunkelheit ihre Instrumente noch einmal aus, Piedmon wartete nur noch. Seine Saiten waren gestimmt. Er musste die Tage unbedingt nochmal nach Leafmon schauen. Er musste es irgendwo hinbringen, wo er nichts von den Feld- und Streitzügen der Meister der Dunkelheit mitbekam. Solange wie möglich, sollte es spielen und glauben, sein Freund Pency wäre ein Netter. Hatte er nicht irgendwo das Kasperletheater, dass Humpty Dumpty einst so mochte? Wenn nicht, Musik tat es immer, auch wenn Piedmon schon lange nicht mehr wirklich spielte, sondern seine Finger nur eine Reihenfolge wiederholten. Er hatte es versucht, etwas anderes, etwas neues zu spielen, aber es klang nicht gut. Leafmon verzieh es ihm aber. Er probierte es, aber es gelang ihm nicht etwas anderes zu spielen, wie das, was er schon von früher kannte. Hier und da, wenn er Leafmon aber ansah gelang ihm ein guter Takt, doch der Hass auf die Digiwelt tilgte jede noch so positive Emotion und der Rest seines Spiels blieb hohl wie sein Innerstes .

Auch als Piedmon Vivaldis Winter für seinen toten Freund spielte fühlte er nichts.

 
 

X

 

„Er träumt, er träumt jetzt.“

„Du darfst ihn nicht wecken, sonst existierst du nicht mehr, Alice.“

„Nicht wecken, bloß nicht!“

„Onkelchen?“

Sein erster Gedanken war, wer zur Hölle ihn so rief. Sein nächster, wie es sein konnte, dass ihn jemand so rief. Myotismon erinnerte sich kaum mehr an etwas, seit er die Digitation auf Mega-Level schaffte. Der Hunger war versiegt. Aber auch alles andere.

„Er träumt jetzt und von was denkst du träumt er, liebe Alice?“

„Tse. Das ist doch einfach.“

Komisch, ging das nicht anders? Alice wusste nie, von was der Schwarze König alles träumte. Wenn Alice es gewusste hätte, hätte Alice das hier längst verhindert.

„Er träumt vom Schnee. Stimmt's?“

Ja, es stimmt. Er träumte vom Schnee. Er träumte oft vom Tag seiner Geburt. Nur erinnerte sich Myotismon nicht so Recht, wann der Schnee zu Asche wurde.

„Kannst du die Augen auf machen? Ich verspreche, ich verschwinde nicht.“

Myotismon brauchte einen Moment, aber wunderte sich schließlich doch, dass es so leicht ging. Um ihn herum war Finsternis. Aber es schneite, dass machte es erträglich. Sah so der Tod aus? War er überhaupt tot? Wirklich tot? War das die Dunkle Zone? Aber wie sollte er dorthin gelangen, wenn er doch nicht in der Digiwelt starb?

Wo war er? War er im Wunderland? Was war er?

„Onkelchen? Huhu, sag was“, rief eine zaghafte, hohe Mädchenstimme. Ein Blondschopf stand neben Myotismon, aber es war nicht Hisaki.

„Yukino...“, stöhnte er kraftlos.

„Du hast was Schlimmes gemacht, oder?“, fragte sie ernst. „Warum?“

„Das verstehst du nicht... Ich musste es tun.“

„Aber du hast verloren, richtig?“

Myotismon nickte, erfüllt von Bitterkeit und Wut.

„Ja. Habe ich.“

„Also hörst du auf schlimme Dinge zu tun?“, fragte sie weiter voller Erwartung. Myotismon aber konnte sich mit dem Gedanken nicht abfinden. Sein Bewusstsein hing in einem präfinalen Stadium fest und würde bald gänzlich erlöschen. Das konnte er nicht akzeptieren. Aber er konnte nichts tun. Wie bei einem Todgeweihten Füße und Hände bläulich und blass wurden, wurden Myotismons Glieder taub. Er würde also nun tatsächlich sterben.

„Onkelchen?“

„Lass mich in Ruhe. Du bist auch nur ein Traum. Alice war immer nur ein Traum.“

Aber Yuki, wie zu erwarten ging nicht. Myotismon war es auch nicht klar, warum ausgerechnet sie hier war. Könnte daran liegen, dass etwas von seiner Macht noch mit ihr verbunden war, nachdem er sie zuvor versucht hatte zu hypnotisieren. Es könnte auch etwas anderes sein. Was immer es war, es war ihm egal.

Yuki ließ sich erst auf die Knie sinken und tastete sich zu Myotismon vor. Sie setzte sich vorsichtig neben ihn und legte die Arme um ihn.

„Was wird das wenn es fertig ist?“

„Ich träume mit dir zusammen.“

„Warum?“, brummte er leise. „Du hast gesagt, ich mache schlimme Dinge. Ich habe dich angebrüllt und versucht anzugreifen.“

„Das weiß ich doch.“

„Also warum bist du immer noch da?“

„Weil ich dich trotzdem gern habe. Ich kann dir nicht böse sein. Was du gemacht hast war schrecklich. Aber ich will dir vergeben, Onkelchen. Papa hätte das auch. Und vielleicht triffst du ihn nun. Und wenn ich mit dir träume, geht es vielleicht schneller.“

Sie schloss die Augen und obwohl die Taubheit seinen Arm schon einnahm, spürte er wie Yukis Körper erschlaffte und sich ihr Gewicht auf ihn legte, aber ihre Arme Myotismon weiter festhielten. Myotismon lehnte sich zurück. Es schneite, doch hier unter dem Baum bekam er nichts ab. Der Himmel war schwarz, aber klar. Es war friedlich.

Sein Körper wurde kalt. Er wurde müde. Er sollte die Augen zu machen. Und träumen klang nicht falsch. Mehr konnte er in diesem Moment auch nicht machen.

Die Kraft verließ ihn und alles vom Hals abwärts war taub. Der einzige Trost war, dass Hisaki auf einer mentalen, abstrakten und entfernten Ebene bei ihm war. Irgendwie erleichternd. Das vereinfachte das Träumen. Das Schlafen... schla... fen...

( -ki!)

Dieser eigentlich vollkommen normale Schrei erschütterte Myotismons gesamten Körper, oder zumindest das, was er davon noch spüren konnte. Er sah sich um, sah aber nicht, was die Quelle dieses Schreis hätte sein können. Yuki war es sicherlich nicht. Die Stimme war männlich. Wen rief sie? -ki? Etwa Hisaki?

(… Hi -ki! Die Digiwelt!)

Die Stimme war Myotismon nicht vertraut. Wer war das? Wer wagte es nach Hisaki zu rufen? Was wollte derjenige von ihm und der Digiwelt?

(Oh Hiroki!)

Myotismon stutzte. Hiroki? Nicht Hisaki?

Er hatte sich also nur verhört... Er kannte keinen Hiroki. Warum hörte er dann dieses Klagen?

(Wie konntest du nur so früh sterben und mich hier alleine zurück lassen? Das ist gemein warum hast du das getan?)

Er hörte zu und verstand langsam. Wer immer diese traurige Seele war, dieser Hiroki war ihm wohl wichtig. Ein Bruder? Nein, Myotismon tippte eher auf einen Freund, der auch schon verschieden war. Sie standen sich nah. So nahe, dass dieser Mann nicht wusste, was er nun ohne seinen Freund und mit nichts als einem schweren Herz anfangen sollte, außer weiter vergangenen Emotionen und Träumen hinterherzurennen, um nicht zu sehen, wie einsam er war.

Wie jämmerlich...

(Bitte nehmt mich mit Geht nicht ohne mich Ich möchte mit!)

Myotismon empfand zwar nur Abscheu für diese gequälte Gestalt, doch wenn er schon wach war und er so schnell wohl doch nicht einschlafen würde, wagte er einen Blick zur Seite.

Der Mann war etwa dreißig. Er war fahl, die Augen und Haare waren dunkel und unscheinbar. Nur unter den Augen war er leicht rot, gefärbt von seinem Klagelied, während er nur von weit weg den Regenbogen sah, der zu Myotismons Verwunderung aber kein Bogen, sondern eine Straße war, Richtung des Polarlichts, dass sich als Digiwelt herausstellte.

Und diese Menschen. Das waren die Digiritter. Diese vermaledeiten Kinder mit ihren Digimon, die seine Pläne zunichte gemacht haben. Sie gingen also in die Digiwelt zurück. Nun waren sie Piedmons Problem. Und er hoffte, sein alter Freund würde sie lange quälen (insbesondere Gatomon wünschte er einen langsamen Tod). Wie gerne würde er hintergehen. In der Digiwelt hätte er zumindest die Chance wiederaufzuerstehen. Aber hier...

Yuki rührte sich im Schlaf und erinnerte Myotismon wieder an seine Lage und dass sein Körper wieder tauber und müder wurde. Lange würde er sich nicht mehr wehren können.

„Onkelchen... Ist alles gut?“

„Ja...“, antwortete Myotismon, aber er ließ dabei den Mann nicht aus den Augen. „Mach dir keine Sorgen. Alles ist gut, kleine Alice.“

Über Myotismon Gesicht huschte ein Grinsen. Und Yukio Oikawa fiel der Nebel, der sich um ihn sammelte nicht auf. Er war seinem Traum nahe und gleichzeitig ferner denn je. Und zu sehen, dass diese Kinder die Digiwelt betreten konnten war ein Schlag ins Gesicht für ihn. Im hintersten Winkel seines Herzens verwandelte sich ein Teil seiner Trauer zu Hass. Ein Abgrund tat sich auf.

„Du willst also in die Digiwelt?“, rief Myotismon Oikawa zu. Sie trennte zwar viele Metaebenen, aber doch hörte Oikawa Myotismon so laut und deutlich, als stünde dieser hinter ihm. Verwirrt sah er sich um, glaubte es sich eingebildet zu haben, glaubte kurz sogar, dass Hiroki aus dem Jenseits zu ihm sprach. Aber Hiroki war es nicht. Die Stimme klang seiner eigenen ähnlich.

(Ja und ob ich will unbedingt in die Digiwelt!)

„Wenn du bereit bist dein Gewissen aus deinem Herzen zu verbannen, dann bringe ich dich dorthin. Was hältst du davon?“

„Onkelchen? Mit wem redest du?“, fragte Yuki verschlafen. Unter Schmerzen nahm Myotismon seine Kraft zusammen und legte seine Hand auf ihren Kopf.

„Schon gut. Ich rede nur mit jemanden, der das Wunderland auch gerne einmal sehen möchte. Er hat auch seinen Freund verloren. Er scheint auch viele, wie sagst du immer? - graue Gedanken zu haben.“

„Der Arme...“, seufzte Yuki schlaftrunken. „Sei bitte nett zu ihm, ja, Onkelchen?“

„Aber natürlich. Du weißt doch, ich hege große Sympathie für Außenseiter...“

Myotismons Lächeln wurde düsterer, während er erfreut feststellte, dass Oikawa nicht lange über dieses Angebot nachdenken musste, sondern es regelrecht mit offenen Armen empfing.

(Ich tue alles Ich tue alles um in die Digiwelt zu kommen!)

„So sei es...“

Der Nebel, der kein Nebel war sondern Datenreste bäumte sich wie ein Tier auf und nahm Besitz von seinem neuen Wirt. Oikawa merkte davon nicht viel, nur ein kaltes Stechen in seinem Herz, dann verlor er für kurze Zeit das Bewusstsein.

Für Myotismon hingegen änderte sich in der Welt eines Delirs nichts. Es blieb dunkel. Sein Körper taub. Nur glaubte er nicht mehr unter einem Baum, sondern in einem Abgrund zu liegen. Kam ihm bekannt vor, nur dass der Herr Dirigent nicht hier war. Hier waren nur er und Alice, umzingelt vom Winter und von Finsternis. Wie in seinen Träumen.

„Was ist geschehen...?“, fragte die Kinderstimme bei ihm. Myotismon wusste nicht mehr, ob es Hisaki oder Yuki war.

„Was hast du getan?“

„Nur ein alternativer Weg, Alice. Umständlich, aber vielleicht ergibt sich so eine Chance für unser Wunderland...“

Er wollte Alice über den Kopf streicheln, aber er spürte seine Hand nicht mehr. Er hatte zwar nun etwas, was seinen Tod verhinderte, aber das meiste von ihm würde sich dennoch auflösen.

Aber wie so vieles war Myotismon dass nun auch egal. Er hatte noch eine Chance und die musste er nutzen, auch wenn er für eine Weile ein Schmarotzer sein müsste. Und nach und nach würden sich die Daten, die er nicht mehr brauchte auflösen. Für was Persönlichkeit? Für was ein Ich-Bewusstsein? Das war im Krieg nicht notwendig. In einer Welt der Gleichheit genauso wenig. Solange aber sein Hass weiterlebte, würde ein Teil seiner Daten in diesem Wirt weiterleben. Sein Hass und sein Wunsch nach Zerstörung hatte ihn schon einmal wieder von den Toten auferstehen lassen. Warum nicht noch einmal?

Alice lag neben ihm. Schnee begrub sie, während Myotismons Daten in sich zusammenfiel, sein Hass hingegen wie ein Schneesturm wütete. Er war müde. Es war ein langer, langer Tag und er wurde an einem Tag gleich zweimal fast getötet.

Um Alice musste er sich keine Sorgen machen. Früher oder später würde Alice in seinen Traum zurückfinden. Solange musste er nur Kräfte sparen.

Und etwas schlafen.

Das war nicht das schlechteste.

Er musste schlafen. Schlafen.

Schla Fen.                    Sch laFen.     Und

  S c h l  a f e n u n d

                             01110100

                                                                                                                                                                                       01110010

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Nachwort zu diesem Kapitel:
Die Szene am großen Bankett ist direkt aus dem Buch übernommen. Myotismon hat hierbei eher Alice Platz eingenommen, da der Schwarze König im Original als einziger nicht bei der Zeremonie dabei ist. Vermutlich pennt er immer noch unterm Baum. Oder auch diese Feier war nur ein Traum. Wer weiß das schon?

Funfakt - Myotismon/MaloMyotismon hat in Staffel 2 den gleichen japanischen Sprecher wie Oikawa. Nach ~ 15 Jahren habe ich somit auch endlich Oikawas Aussage "Mir ist als ob ich meine Stimme höre" verstanden. Mir ist auch nicht ganz klar wie alt Oikawa ist. Ich hab bei meiner Recherche etwas gelesen, er sei in Staffel 2 32, also in Staffel 1 ca. 29... Bin ich die einzige, die das ein wenig jung findet? Also ich hätte ihm schon noch drei oder vier Jahre mehr angerechnet...

Hier war eigentlich Ende Gelände gewesen und die Fanficition sollte somit mit einem Bad End enden. Aber weil ich persönlich nun mal kein Freund davon bin und weil es mir für einige Charaktere Leid tat - Myotismon jetzt nicht unbedingt - kommt halt doch noch ein Konzert. Komplett anzeigen

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