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Wintersonett

Which dreamed it?
von

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Konzert XII - ALICE IN WINTERLAND, 2. Satz, Largo Es-Dur [ bleak ]


 

𝄞
 

(Wer bist du? Fragte das Raupentier)

(Wer bist du?)

(Was bist du?)

(Was fühlst du?)

(Was hörst du?)
 

𝄀x

 

„... und tat so, als hätte es die Frage überhört. Wer, meinst du, war es?“

Behutsam schlug Alice sein Lieblingsbuch zu und schaute erwartungsvoll Tsukaimon an. Seine Augen waren zwar geschlossen, aber allein die stark gerunzelte Stirn bewies, dass er wach war.

„Die Geschichte ist...“, begann er, fand aber erst nicht das richtige Wort. „Ist -“ 

„Ja? Etwas eigen? Oder interessant? Fantasievoll? Ulkig?“ 

„Dämlich.“ 

„Was?“, schrie Alice entsetzt und mit entgleisten Gesicht auf. „Aber das ist meine Lieblingsgeschichte.“ 

„Glaube ich dir. Sie passt zu deinem etwas verquerten Denken. Nein, nicht komisch. Eher dumm.“

Alice' Mine fiel weiter in sich zusammen. Momo und Hänsel liefen gerade an ihnen vorbei, um Onkel Remus und und Tante Rhody zu helfen verpackte Sachen von draußen in die noch leere Villa zu schleppen und hilfesuchend wand sich Alice an sie.

„Momo, Hänsel! Tsukaimon sagt, meine Geschichte sei komisch und dumm.“ 

„Und weiter?“, fragte Hänsel. 

„Tsukaimon hat Recht“, fügte Momo hinzu. 

„A-also jetzt mach mal halblang! Graue Typen die den Leuten die Zeit stehlen sind nicht merkwürdig?“ 

„Aber nicht sehr abwegig. Arbeit nimmt Leuten die Zeit. Wir arbeiten auch und haben deswegen auch gerade keine Zeit etwas zu tun, was wir lieber tun würden. Da stimmst du mir doch zu?“

Alice hielt inne, denn das, was er eigentlich einfügen wollte passte nicht mehr zu dem was Momo ihm erklärte. Zudem machte das, was sie sagte erschreckend viel Sinn.

Tsukaimon, weiter mit geschlossenen Augen, kicherte. Sie saßen im Gras, Pusteblumen schaukelten hin und her und verloren ihre Samen, mit den weißen, flauschigen Schirmchen, die Schnee so ähnelten. Die Sonne ging unter, aber es war kühl. Welche Jahreszeit war gerade? 

„Das ist nicht nett von dir“, mahnte Alice beleidigt. „Ich habe mir extra Mühe gegeben, dir das so gut wie möglich vorzulesen, auch wenn ich nicht weiß wie man manche Worte und Sätze richtig spricht.“ 

„Wieso ist dir das so wichtig?“, fragte Tsukaimon und das erste Mal seit langem öffnete er wieder seine Augen. 

„Weil ich Märchen wichtig finde. So wichtig wie Musik.“ 

„Aber warum ist das wichtig?“ 

„Weil -“, Alice überlege kurz, „- das wichtig für das Herz ist. Wenn man vorgelesen bekommt öffnet das die Ohren und den Kopf. Und auch das Herz. Das ist wichtig. Man muss Kunst verstehen. Also Gemälde, Poesie, Lieder, Geschichten, Musik... Wir haben die Gabe es zu verstehen und diesen Künsten eine Bedeutung zu geben. Das ist es, was uns von Tier, Pflanze und Stein unterscheidet. Und von der Digiwelt. Deswegen hat uns der Troubadour ja auch hierher geholt.“ 

„Das klingt - wie sagen Hänsel und Dorumon immer? Sülzig?“ 

„Das habe ich auch gedacht, als der Jabberwock mir das erzählte und weil es vom Jabberwock kam, habe ich nie darüber nachgedacht. Aber nun denke ich darüber nach und ich gebe das nicht gerne zu, aber es stimmt.“

Tsukaimon entschloss sich nun doch die Mühe zu machen die Augen zu öffnen, auch wenn er wusste, dass er nicht in der Vergangenheit war, sondern dies nur eine seiner vielen beschädigten Erinnerungen. Von der Villa sah er nur graue Umrisse. Jene, die einst mit ihnen an diesem Ort waren, waren Schatten. Doch Alice, dieser elfjährigen Jungen, mit seinem hellen Aussehen sah Tsukaimon klar und deutlich. Zwischen den nackten Pusteblumen nickten Mohn und Kornblumen mit den Köpfen. Im gelbgrünen Gras verrotteten Blätter und von irgendwo kam der Geruch von gärenden Obst. Der Tau, obwohl schon Abend war immer noch gefroren. 

Der Junge lächelte, während er seinem Digimon tief in die Augen sah.

„Sieh mich an, Tsukaimon“, befahl er. Tsukaimon rieb sich die verschlafenen Augen etwas, ehe er dem nachkam. Er bemühte sich mürrisch und beleidigt auszusehen, in Wirklichkeit war Tsukaimon warm ums Herz. Das Band zwischen Mensch und Digimon war etwas besonderes. Untrennbar wie ein Familienband, dass dem Gefühl von Verliebtheit stark ähnelte. Vielleicht waren sie programmiert worden so zu fühlen, damit die Digitation, die auf Emotionen aufbaute überhaupt funktionierte. Oder sie fühlten wirklich.

Alice hob Tsukaimon hoch. Sie waren auf Augenhöhe.

„Was ist los?“ 

„Ach, nichts. Du bist ulkig, wenn du so tust, als wäre dir alles egal.“ 

„Mir ist alles egal“, brummte Tsukaimon und drehte eingeschnappt den Kopf weg. „...Außer die Musik, die du spielst. Und wenn dir deine doofe Geschichte so wichtig ist, höre ich sie mir eben nochmal an. Vielleicht verstehe ich es dann.“

„Danke, Tsukaimon.“

Zufrieden drückte Alice Tsukaimon an sich. Er schimpfte, aber er ließ es schließlich über sich ergehen. Es war ihm peinlich, aber es war für Alice.

Nein. Sein Partner hieß nicht Alice. Der Name Alice war ein Lückenfüller. Er hatte den wirklichen Namen vergessen. Nein, das konnte er nicht. Er hatte den Namen nie vergessen, egal wie oft Apokalymon seine Daten umschrieb. Er verwahrte diese Information nur gut, wie ein kostbarer Schatz. Ein Schatz aus Kindertagen, eine so simple, fröhliche, einfach Zeit und Musik, Musik in der Luft, Malstifte, Puppen, Teetassen, Gebäck, Blumengestecke und Instrumente in den Händen, ehe man das alles durch Waffen austauschte.

Sein Partner... Er hieß...

Er hieß...

Das Wetter schlug um. Binnen weniger Momente verlor die letzte Kornblume ihre Farbpracht. Vor Tsukaimons Augen wurde sie weiß und fiel in Stücke. Die blasse Welt seiner Erinnerungen war verschwunden. Nur ein Feld aus Weiß offenbarte sich ihm.

„Alice...?“

Man hörte nichts. Man sah nichts. Man spürte nichts. Es war eine Welt der absoluten Nichtigkeit und der Finsternis. Eine Welt, die er sonst anstrebte und bevorzugte. Eine Welt, in der es nichts zu fürchten und nichts zu rechtfertigen gab. Nichts zu gewinnen und nichts zu verlieren. Hier war alles gleich. Und doch glaubte er etwas zu hören.

„Alice...“

Er.

„Alice?“

Hörte.

„Alice?!“

Irgendetwas.

„Alice!“

(S I E H)

(M I C H)

(A N)

„Ali-!“

Tsukaimon erfror regelrecht zu Eis. Er hatte es kommen hören, was immer es war, begleitet von Schlägen, wenn er es nicht wüsste hätte er gedacht es wären Glockenschläge. Doch dafür klang es zu sehr nach Klaviertasten.

Es war groß. Nicht riesig, aber beachtlich. Es war kein Digimon, aber eine digitale Lebensform, das konnte er spüren. Es hatte aschfarbene Haut, sein knochiger Torso war viel zu groß für sein ebenso mageres Becken und die dünnen Beine, die kürzer waren wie seine Arme. Nur um seinen Kragen besaß es dunkelgraues Fell. Lange, scharfe Krallen blitzen an seinen Pranken auf.

Sieh... mich... an...!“, fauchte es. Sein Kopf war nur ein Schädel mit langer Schnauze und Hörnern, aber groß und verworren, dass sie mehr wie ein Geweih aussahen. Sein Maul war praktisch nur eine Reihe verschiedener Zähne. Spitzen, scharfen Zähnen. Tsukaimon ging vorsichtig zurück, doch es folgte ihm, mit seinem glühenden, blauen Augen auf ihn gerichtet.

„Jabberwock...“, haspelte Tsukaimon über die zittrigen Lippen. Das Ungetüm warf den Kopf zurück und brüllte in die endlose Leere. Es schlug mit seinen Schwingen, wie die Flügel von Fledermäusen und wirbelte dabei einen Wind auf, der Tsukaimon davon wehte und in einen Schneehaufen warf.

Sieh... mich... an! Eins, zwo! Eins, zwo! Schnacke-schnick!“, fauchte es weiter und setzte einen Schritt nach vorn. Die Erde bebte unter seinen Schritten. „Schnick-schnacke!“

Schwarz Strahl!“

Der Angriff verfiel das Monstrum, aber es schreckte zurück. Aus dem Schneehaufen, in dem Tsukaimon versenkt wurde sprang Dobermon heraus. Er ging in die Knie um seinen Halt nicht zu verlieren, als das Ungetüm noch einen Schritt auf ihn zuging und wieder ein Erdbeben damit auslöste.

„Dann eben Zahn um Zahn. Ich habe es schon mit größeren Bestien wie dir aufgenommen“, sagte Dobermon selbstbewusst, wenn er sich auch immer noch nicht erklären konnte, was dieses Ding war. „Schwarz Strahl!“

Dobermons Angriff wurde mit einem Eisstrahl aus dem Maul des Monsters nicht nur gekontert, er durchbrach ihn sogar und flog auf Dobermon zu. Er sprang zu Seite. Wo er zuvor stand war nur noch ein spitzer Eisberg. Dobermon versuchte es mit einem zweiten Angriff, doch das Monster schlug nur einmal mit seinen Schwingen und der Schwarz Strahl verwandelte sich vor Dobermons Augen in einen Eiszapfen, eher er in den Schnee fiel.

Das Monstrum war jedoch langsam. Es war für Dobermon kein Problem jedem Eisstrahl und jedem Hagelschauer, dem dieses Ungetüm nach ihm feuerte auszuweichen, obwohl der Boden glatt war und Dobermon ein paar Male ausrutschte.

„Noch einmal! Schwarz Strahl!

Der Angriff Dobermons traf sein Geweih. Ein Stück fiel ab, wirbelte in der Luft herum und zerbrach.

Sieh... mich... aaaaahhaaaan...!“, brüllte das Monstrum, seinen Kopf hin und her werfend.

„Sieh das als Warnung. Was immer du bist – verschwinde!“, drohte Dobermon der wild gewordenen Kreatur. Dann stoppten seine Bewegungen urplötzlich. Auf seinem Schädel und der Wunde an seinem Kopf sammelte sich Eis. Es sammelte sich. Es wuchs. Wie Pflanzen stieg dieses Eis hoch, bedeckte die Wunde und baute sich abstrakt nach oben, bis es die Form der Hörner besaß, die Dobermon eben noch abgeschossen hatte. Dann verfärbte sich das weißblaue Eis grau und das Ungetüm stand wieder da, als sei nichts gewesen.

Dobermon knurrte verbittert und legte bei dem zunehmenden Wind die Ohren an.

Sieh... mich... an...“

„Kannst du auch etwas anderes sagen?“, schimpfte Dobermon zurück. Das Monstrum sprang plötzlich hoch, bereite seine Schwingen aus, flog aber nicht. Es fiel, direkt auf Dobermon hinab. Er sprang zur Seite, doch der aufgewirbelte Schnee und der Luftdruck schleuderten Dobermon davon. Während er aber über den Boden schilderte, raffte Dobermon sich auf und schüttelte sich, als er endlich still stand. Das Monstrum kniete im Schnee und schüttelte sich ebenso den Schnee aus dem Gesicht. Es war abgelenkt.

„Perfekt. Jetzt, Schwarz -“, rief Dobermon, sicher es zu treffen, direkt, so dass es keinen Möglichkeit haben würde sich zu regenerieren, zumindest nicht rechtzeitig, vorher würde Dobermon es zerfetzen. Das Monster sah zu dem Digimon, mit seinen blauen Augen.

Ich... liebe... dich...“ , krächzte es und Dobermon brach seinen Angriff, wenn auch ungewollt ab. Sein Stromschlag jagte durch seine Glieder. Wenn er es nicht wüsste, würde er glauben, er zitterte. Vermutlich tat er das wirklich.

Ich … liebe dich...“, wiederholte es, während es sich langsam auf allen vieren Dobermon näherte. Nun fiel auch Dobermon auf, wie komisch seine Stimme klang. Sie war sehr tief, aber er glaubte stets, dass sie ein Echo von sich gab. Nun aber stellte Dobermon fest, dass das kein Echo war. Aus dem Rachen des Monsters kamen mehrere Stimmen. Stimmen von Kindern. Stimmen von Erwachsenen. Männliche Stimmen. Weibliche Stimmen.

Egal wer du bist... Egal was du wirst... Ich liebe dich...“

Dobermons Stimme versagte wie auch sein gesamter Körper. Das Monstrum holte aus und schlug seine Pranken gegen Dobermon. Im hohen Bogen knallte er wieder auf den kalten Boden.

Ich... laaa lalalaaa la lala laa... liebe dich...“

„Hör auf das zu sagen! Du bestehst wie ich nur aus Daten!“, brüllte Dobermon zurück. Es hörte auf, um jedoch mit einem Eisstrahl Dobermon zu attackieren. Es traf und Dobermon und alles um ihn herum verwandelten sich in einen Eisberg. Stumm und ohne jede Regung betrachtete das Monstrum sein Werk, bis es seinen Kopf sacht hin und her bewegte und weiter lallte.

La lala laaa... Sieh mich an... la lala laaa... Alle... verstoßen mich... Ich bin.. la la... anders... Ich wurde so geboren... Ich wollte nicht... ich wollte das nicht. Ich kann nichts dafür... Aber du bist ehrlich... Du bist... anders... wie sie... La laa laaa laaa... Ich komme bald wieder... laaa la la... Ich habe gehofft, dich wiederzusehen.... laa laaa... laaa laaa...“

Der Eisberg bekam Risse. Das Monster hörte auf zu trällern und sah zu wie das eisige Bauwerk immer mehr zu bröckeln begann. Ein Geräusch, dass wie Hämmern klang kam aus seinem Inneren. Dann zersprang es explosionsartig, doch das Monstrum wich den umherfliegenden Eissplittern nicht aus oder schütze sich. Seine glühenden Augen schauten in Myotismons, der aus den Resten des Eisbergs heraus sprang. Er sagte nichts, sah nur diesem Jabberwock-gleichen Ungetüm ins Gesicht und ihm war, als grinste es ihn an.

Ich... Laaa lala la lala la lala laaa... liebe dich... lala laaa... bei dir bleiben... für immer...“, krächzte es erneut mit seiner undefinierbaren Stimme. Der Schneesturm nahm zu und verschleierte Myotismons Sicht. Er sah den Eisstrahl erst nicht, kreuzte seine Arme aber vor sich, eher er getroffen wurde. Er wurde weggeschleudert, fand aber im Flug seinen Halt und landete unbeschadet auf den Knien. Seine Hände und Unterarme waren eingefroren, doch er ballte sie einmal kräftig und sie waren anschließend wieder frei, wenn sie auch noch brannten.

Laa lala la... Ding... Lala laa.... Dong... lalaaa... Ding, Dong, Ding, Dong, Ding, Dong, Dong Dong Dong...“

Die Kreatur sang trotz seiner vielen verschiedenen Stimme monoton, ohne Hoch und ohne Tief. Aber Myotismon hörte sie dennoch. Die Klaviertasten zwischen den Dings und Dongs. Die Töne. Die Melodie. Glocken. Es klang wie Glocken.

Ding, Dong, Ding, Dong, Ding, Dong, Ding, Ding Ding Ding...“

Das Monstrum schaukelte hin und her. Myotismon konnte schwören, er hätte es lachen hören, während er weiter Glocken hörte.

„Du machst dich über mich lustig...“, zischte er wutentbrannt und doch musste Myotismon lachen, während ein manischen Grinsen auf seinen Lippen erschien. „Dir macht das Spaß. Du magst Musik? Schön, dann spielen wir! Albtraumkralle!

Die Kreatur drehte sich und sein langer wie knochiger Schweif schlug gegen Myotismons Albtraumkralle. Der Gegendruck warf Myotismon zurück, dann holte er erneut aus, diesmal aber wickelte sich der Schweif um die Albtraumkralle und zog dran. Zwar stemmte sich Myotismon dagegen, wurde aber über den Boden zu dem Monster geschleift. Es drehte sich um, riss sein Maul auf und schnappte nach Myotismon, der ließ aber rechtzeitig von seiner Albtraumkralle ab, die sich dann auflöste und sprang zur Seite. Er versuchte sich in die Lüfte zu erheben, doch der Wind war zu stark. Er konnte so nicht fliegen.

Laaa laaa la... Dong, Ding, Dong, Ding, DongDong...“

Es feuerte einen Eisstrahl ab, als dieser nicht traf, flogen zwei hinterher. Auch sie trafen Myotismon nicht.

Gruselflügel!“

Ding, Ding... Schnacke-schnick.... DingDingDing...“, trällerte es unbeeindruckt weiter, hob die Flügel und schlug einmal zu. Die Fledermäuse erfroren sofort. Und wieder war, als würde dieses Ungetüm zwischen seinen trällern, lallen und läuten über ihn lachen.

Dong, Ding, Dong, Ding, Dong, Ding Ding... Ding, DongDongDing,...“

„Hör endlich auf damit...“

Ding, DongDongDing... Zählen... König... Musiker... Musik... Schlüssel zur Seele... Kunst... Musik. Geschichten. Gesang. Ich kann nicht vergessen. Darf nicht vergessen... Ein Ort... für uns... Ding, DongDongDong...“

„Wenn du schon Gespräche aus meinen Erinnerungen nachplapperst, dann such dir wenigstens welche aus, die auch etwas nützen. Du nervst mich nur.“

DongDingDongDingDongDingDongDingDing...“

„Schweig endlich! Todesschrei!

Auch dieser Angriff brachte nichts. Der Schatten kroch über den weißen Boden, aber bei nicht einmal der Hälfte der Strecke brüllte das Monstrum einmal und mit dem Brüllen wurde der Wind stärker. Der Schatten verschwand, als wäre er unter Schnee begraben worden.

Entsetzt und mit offenem Mund stand Myotismon da. Dann jedoch grinste er.

„Einen Trumpf habe ich noch...“

Myotismon unterdrückte sein Lachen bei der Idee. Er brauchte dazu nicht viel, er war ja bereits mehrmals auf das Mega-Level digitiert. Er brauchte nur einen Moment um seine Kräfte zu sammeln, wie zuvor auch schon und vielleicht überlegte er sich noch welche der beiden Formen er annahm. In dieser Form es ewigen, untoten Digimon-Königs war dieses Monstrum keine Bedrohung. Ihn konnte niemand stoppen. Nicht einmal der jämmerliche Jabberwock. Niemals.

Das Ungeheuer bäumte sich auf. Es ging auf Myotismon zu und schaukelte dabei zu seinem Gesang, der in Myotismons Ohren immer mehr wie Glocken klang und ihn an jenen Ort, in jener Zeit, an jenen Kampf erinnerte und das Gelächter um ihn herum.

Doch kurz wurde der Gesang von Worten, richtigen Worten unterbrochen. Es hörte sich nicht anders an wie das ganze Geschwätz zuvor. Doch das Wort war neu. Myotismon hatte es wegen dem Heulen des Windes und seinen eigenen lauten Gedanken kaum gehört. Es klang als hätten wieder mehrere Stimmen gleichzeitig gesprochen.

Hatte es Onkelchen oder Papa gesagt?

Du sagst... du bist so nicht... Ich hab dich lieb... Du bist kein Jabberwock... Du bist so nicht... Das bist du nicht...“, wiederholte das Ungeheuer. Immer und immer wieder und das Glockenspiel schien plötzlich unwichtig.

Die Worte klangen vertraut. Alles was dieses Ding von sich gab, war vertraut aber Myotismon wusste nicht mehr, wer dies mal zu ihm gesagt hatte. Er hatte all diese Worte sehr oft und von verschiedenen Stimmen gehört. Doch zu keiner fiel ihm ein Gesicht ein, nur die Kettenreaktion an Gedanken, die sie bei ihm einst auslösten nur um sich zu sagen, dass er es nicht wusste. Er bestand aus Daten. Sie lösten nichts aus außer die Frage, was Verrücktsein war, im Wissen, was es hieß, ein Jabberwock zu sein. Und dass er dies eigentlich nie wollte. Ein Jabberwock zu werden hieße, ein Versprechen zu brechen.

Er hatte ein Versprechen gebrochen. Ein sehr wichtiges Versprechen. Doch jemand anders, jemande - sie hatten die Versprechen die sie ihm einst gaben gehalten. Er jedoch nicht.

Er war unehrlich. Ein Jabberwock.  

„Nein. Das bin ich nicht...“, flüsterte er geistesabwesend. Auch dass hatte er sich sehr oft gesagt. Er war vieles, vieles davon schlecht, aber er hatte damit leben können. Aber ein Jabberwock wollte er nie sein. Er wollte... Was wollte er...?

Er hatte jemanden gehört, der nach ihm rief. Verzweifelt. Aber wer? Es war ein Kind. Er vermutete ein Mädchen. Wer war das vorhin gewesen? Was war vorhin gewesen?

(Was bist du? fragte das Raupentier)

Sieh... mich... an...!“, fauchte das Ungeheuer wieder. Es kam näher. Sein Schatten wurde größer und schien Myotismon zu verschlingen. Doch er blieb stehen, entschlossen, Angesicht zu Angesicht mit diesem Monster mit seinen stechenden, hellblauen Augen. Augen. Seine Augen. Hellblau. Alice' Blau.

Es trällerte weiter und hauchte seinen eiskalten Atem aus. Myotismon blieb an Ort und Stelle stehen und kreuzte die Arme vor seinem Gesicht, um dieses vor dem Eis zu schützen. Sein Anzug wurde Weiß vom Frost. Nach wenigen Sekunden spürte er, wie seine Finger steif wurde und konnte seine geballten Fäuste wieder öffnen. Selbst die Luft die er einatmete war so kalt, dass er zu glauben schien seine digitalen Organe verwandelten sich in Eisklumpen und er würde von Innen erfrieren.

Der Jabberwock kam noch näher. Sehr nah. Aber noch nicht nah genug. Nur noch ein wenig. Ein klein wenig.

Das Monstrum beugte sich hinab. Dampf stieg zwischen seinen schiefen Zähnen hervor. Sie waren sich entsetzlich nah. Die Schnauze des Monsters berührte ihn fast und Myotismon sah nichts mehr, wie diese großen, hellblauen, strahlenden Augen.

Sieh... mich... aaaaaaaaan!“

„Wie du willst! Gruselflügel!

Unter dem eisigen Schmerz holte Myotismon mit seinem fast tauben Arm aus und schlug damit, begleitete von dunkler Energie und fauchenden Fledermäusen direkt zwischen die Augen des Ungetüms. Das linke Auge zersprang und das, was übrig blieb wurde von den Fledermäusen gefressen und zerstört. Das rechte Auge riss Myotismon ihm heraus und hielt es in seiner Hand fest, während es zurücktaumelte. Das Monstrum wich von ihm, es brüllte vor Schmerz und hielt sich mit seiner Pranke die nun leeren Augenhöhlen verdeckt, während es versuchte sich mit seinen Flügeln vor den Fledermäusen zu schützen. Nach und nach wurden die Fledermäuse zwar von dem Monster oder dem Schneesturm zerstört, doch auch das Ungeheuer, seiner Augen und damit dem Quell seiner Energie beraubt wurde immer schwächer. Sein Gebrüll wurde leiser. Irgendwann konnte es nicht mehr auf seinen Beinen stehen und ging in die Knie. Sein Körper schmolz unter den Schmerzensschreien, seine ganze Gestalt fiel in sich zusammen und zerfloss wie eine Wachsfigur. Nur sein Schädel blieb für einen Moment erhalten, mitten in dieser Pfütze, die mal sein Körper war, dann wurde das knochige Gebilde zu Eis und zersprang.

Vorsichtig ging Myotismon darauf zu, rechnete damit, dass es sich noch einmal erheben würde, doch es tat sich nichts. Was immer es war, es war tot. Vom Jabberwock blieb nichts mehr wie ein matschiger, grauer Schneehaufen.

Erleichtert, aber ungläubig seufzte Myotismon einmal schwer. Seine Lunge tat weh. Dann öffnete er seine Hand, in dem das Auge des Jabberwock liegen sollte. Doch stattdessen hielt er von Eis bedeckte weiße Seerose in ihr, von der sich bereits einzelne Blüten lösten und vom Wind davongetragen wurden. Eine Blume vergangener Tage, die ihn an jemand - jemande - erinnerte. Jemande, die ihm mal wichtig waren.

Ihm wurde kalt. Und schwindlig.

„Ich... liebe dich auch...“

Erst fiel ihm die Eisblume aus der Hand. Dann ging Myotismon auf die Knie und fiel. Ehe sich seine Augen schlossen, sah er noch wie die letzten Reste der Blume im Schneesturm davonfliegen.

 
 

𝄒

 

(Hey...)

(Hm?)

(Wegen vorhin Entschuldige ja?)

(Was? Du meinst wegen vorhin?)

(Ja. Ich hätte das so nicht sagen sollen. Du gibst dir ja schließlich Mühe.)

(Schon gut Ich weiß, du hast eine etwas direkte Art und das du etwas dumm findest was aus meinem Mund kommt ist ja nichts neues)

(Du bist nicht wütend?)

(Warum sollte ich?)

(... Du bist unverbesserlich)

(Möchtest du sagen ich bin gar nicht so verrückt?)

(Das überlege ich mir noch... Aber... Wenn du wieder so etwas von dir gibst werde ich nur zuhören)

(Was heißt nur? Ich freue mich wenn du mir zuhörst)

(... Es freut mich zu hören... Ich...)

(Ja?)

(... Nicht so wichtig... Schlaf gut)

(...Danke)

 
 

𝅘𝅥𝅮

 

Es schneite. Natürlich, es war ja Winter. Seine Lieblingsjahreszeit.

„Ein Teil von ihm war wirklich noch in deinem Herzen. Natürlich der Teil, der immer pennt. Aber so ist er mir am liebsten. Du musst wissen, er ist seinem Pendant sehr gerecht... Nein, weck ihn besser nicht. Er hatte einen stressigen Abend. Und wenn er schläft meckert er weniger.“

Welch freundliche Umschreibung, aber nicht unwahr. Wer war das nur? Eine männliche Stimme, die er aber nicht zuordnen konnte. Aber doch klang sie vertraut.

„Er hat dir viel Ärger gemacht. Das tut mir Leid. Ich weiß, das macht es nicht wieder gut... Was? So böse bist du ihm gar nicht? Er hat dir Gesellschaft geleistet? Er hat dich in die Digiwelt gebracht? Mann, du warst echt einsam, wie? Schade, dass ich dich erst jetzt kennenlerne, Yukio. Wir wären vielleicht Freunde geworden. Und wir wären uns beide nicht wie Irre vorgekommen.“

Eine warme Hand strich ihm über den Kopf. Das sanfte Gefühl von Nostalgie weckte seine Sinne. Ein angenehmes, wohltuendes Gefühl. Er wurde getragen. Zwei Personen hatten je einen seinen Arme um ihre Schultern legt und schleiften ihn durch die Schneewüste.

„Gefällt dir das Wunderland eigentlich, Yukio? Also, mir schon irgendwie. Sie ist etwas kahler und simpler wie damals, aber es gibt ausreichenden Fläche und Potenzial, dass von kommenden Generationen genutzt werden kann. Auch dank dir, wohlgemerkt. Ich hoffe, du fühlst dich hier wohl. Ich bin nicht hier gestorben, also bekomme ich nicht so viel mit. Mein Datenumfang ist zu gering. Aber das ist okay.“

Wunderland... Wer benutzte schon so ein Synonym für die Digiwelt? Nur jemand, der nicht mehr alle Tassen beisammen hatte.

Einer von beiden verlor den Halt und ging in die Knie, zusammen mit dem bewusstlosen Digimon. Der andere ließ ab und wollte seinen Kameraden aufhelfen, doch dieser verneinte.

„Schon gut. Mir ist ja nichts passiert. Aber ich glaube, unsere Hoheit wacht auf“, meinte er zynisch. „Du kannst ruhig vorgehen. Für dich gibt es hier eine Menge zu sehen. Die anderen zeigen dir gern alles, sie kennen sich ja aus. Bestimmt warten die schon ungeduldig und freuen sich darauf dich kennenzulernen... Ich? Ich komm nach. Ich und der Schwarze König haben noch etwas zu bereden, ehe wir weitergehen... Ob ich böse bin? Das weiß ich noch nicht. Aber er ist mein Digimon. Er ist mein Partner. Es wird kein angenehmes Gespräch, aber ich muss es tun. Ich möchte für ihn doch auch nur das Beste. Auch wenn ich schon lange nicht mehr bin, ich darf ihn nicht hängen lassen.“

Schritte im Schnee. Sie entfernten sich von ihm. Aber die Schultern, an die er sich lehnte war noch da. Eine Hand streichelte ihm über den Kopf. Die Hand selbst wirkte fremd, aber wie sie ihn streichelte war vertraut.

„Wach auf, Schlafmütze. Du verpasst das schöne Winterwetter.“

Myotismon versuchte die Augen zu öffnen und es gelang ihm auch. Sicher war er sich erst nur nicht, ob seine Augen wirklich auf waren, geschweige denn dass er wach war, denn alles um ihn war weiß. Dann sah er aber seine Beine, dann seine Hände und Myotismon brauchte nur einen Moment, bis er realisierte, was das für Extremitäten waren.

Myotismon. Ja, er war Myotismon. Er war auf dem Ultra-Level. Er war vorhin digitiert... Vorhin. Was war vorhin?

Und ihm wurde erst dann klar wie befremdlich diese Gestalt war, schließlich legte er sie vor drei Jahren ab, im Wissen, dass er nie mehr zurück könnte. Sein Körper war fähig zu fühlen, aber sein Geist hinkte hinterher. Er fühlte etwas, aber Myotismons Verstand brauchte einen Augenblick, um die Empfindungen einer Erinnerung zuordnen zu können. Kalt. Weich. Weiß. Unter ihm lag Schnee. Was war das aber neben ihm? Es war warm. Er erinnerte sich, es hatten sich ja zwei Personen in seiner Anwesenheit unterhalten. Eine war gegangen, eine war noch bei ihm. Er spürte es. Aber wer war das?

Wer immer es war und von Myotismon als Stütze benutzt wurde, er, der nicht wusste ob lebendig, tot, untot oder etwas anderes fing an die Umgebung klarer und bewusster wahrzunehmen, wenn es auch außer einer verschneiten Wiese und der ewigen Schwärze nichts zu sehen gab.

Myotismon sah nach links. Nichts zu sehen. Nur schwarz. Dann nach rechts. Dort kniete jemand neben ihm, der, der ihn auch festhielt. Es war definitiv ein Mensch. Obgleich sechzehn Jahre Menschendasein seine Gestalt veränderten und es in der Realen Welt duzende gab, die blond, blauäugig und hellhäutig waren, würde Myotismon diesen Menschen unter ihnen allen jederzeit wiedererkennen.

„Hisaki...“

Zaghaft wehte eine kühle Brise an ihnen vorbei und wirbelte dabei Schneeflocken auf. Myotismon dunkler Umhang und ein paar einzelne Haarsträhnen flatterten im Wind auf, aber ansonsten war alles an ihm wie betäubt. Er sah es und wollte es nicht glauben und wenn er nicht genau wüsste, dass dies wirklich Hisaki war, würde er es leugnen. Doch er sah aus und lächelte wie in den Erinnerungen seiner Tochter.

Yukino. Das war das Mädchen, an das er vorhin dachte. Vorhin, bei diesem... Monstrum. Er hatte bereits ihren Ruf gehört, als er noch MaloMyotismon war. Für eine Millisekunde, ehe seine noch sehr fragile, neue Gestalt, nicht mehr wie ein Setzling der dunklen Blume, nicht stabil und nicht weiterentwickelt genug, dass sie zu irgendwas fähig wäre außer zu zerstören, in sich zusammenfiel, glaubte er sie gehört zu haben. Doch MaloMyotismon kannte nur Rache und Zerstörungswut und mit dem Myotismon von vor drei Jahren hatte er so gut wie nichts zu tun. Die Stimme dieses Mädchens hörte er kaum und empfand auch nichts dabei.

War sie der Grund, warum er hier war, statt das sein Restbewusstsein in der Dunklen Zone umherirrte? Dieses Monster, was war das gewesen? Und nun Hisaki. War Hisaki überhaupt wirklich da?

„Ich träume immer noch? Oder?“, fragte Myotismon vorsichtig. „Wie kann das sein?“

„Hm, gute Frage“, seufzte Hisaki lächelnd und veränderte seine Sitzposition unter Myotismons skeptischen Blicken etwas, um ihn weiter stützen zu können. Er musste sich eingestehen, dass das wirklich Hisaki war. Aber so anders.

„Vielleicht bin ich ein Geist. Vielleicht bin ich eine Art Back-Up Datei? Vielleicht waren meine Daten in meinem Digivice gespeichert. Vielleicht hast du endgültig den Verstand verloren. Oder ich bin immer noch nur ein Traum, Herr Schwarzer König. Wer vermag das schon zu sagen?“

„Aber... Du. Und... Dieses Monster! Was bei aller Dunkelheit war das?“, fragte Myotismon aufgebracht und versuchte aufzustehen, doch die Kraft in den Beinen verließ ihn, aber Hisaki fing ihn wieder auf.

Nachdenklich sah Hisaki in den Himmel.

„Etwas, von dem ich glaubte, es losgeworden zu sein, so kurz vor meinem Tod. Es hat mich echt lange belästigt. Ich konnte deswegen manchmal nicht einmal aus dem Bett steigen“, sagte er für Myotismons Geschmack zu gelassen. „Erschreckend was für Formen so was annehmen kann. Und ich dachte, Apokalymon und all die negative Gedanken, die er in sich speicherte sei unheimlich... Ich wollte aber nicht, dass du das ausbaden musst. Das die Digiwelt aber auch immer alles speichern muss. Bist du schwer verletzt worden?“

Sprachlos bewegte Myotismon seinen Kopf schlicht hin und her.

„Dann bin froh.“

Hisaki grinste. Er war so groß geworden. Seine Gesichtszüge waren markanter und spitzer. Für jemanden der Halbasiate war, waren seine Augen recht rund. Aber irgendetwas war noch anders in seinem Gesicht. War es die Frisur? War es die nicht mehr so starke Blässe? Hisaki trug ein Rollkragenhemd in seiner Lieblingsfarbe unter seinem schwarzen Wintermantel. Er wirkte wie ein Erwachsener eben, jedoch nicht so blass und steif, wie Myotismon seinen Partner eigentlich kannte.

„Was ist denn?“, fragte Hisaki weiter gänzlich unbeschwert. „Du schaust so.“ 

„Ja... Deine Haare sind ordentlich“, bemerkte Myotismon leicht perplex. „Das steht dir nicht.“ 

„Naja, als Lehrer, Ehemann und Papa kann man nicht rumlaufen wie ein Yankee, der sich ständig nachts auf Fahrradparkplätzen mit anderen prügelt“, erzählte er lachend, trotz der sehr ernsten Thematik. So ganz anders.

„Du kannst dir wohl kaum vorstellen, dass ich mal so drauf war“, bemerkte Hisaki und wieder schüttelte Myotismon nur den Kopf. 

„Ich hörte davon. Yukino hat es mir erzählt.“ 

„Ja, hat sie? Was noch? Du glaubst nicht wie mich das freut, dass du sie getroffen hast. Ist mein Häschen nicht süß?“ 

„Du hast sie grässlich erzogen!“, schimpfte Myotismon laut. „Sie tut zwar lieb, aber ist dir bewusst, wie frech sie ist? Absolut ungehorsam und starrsinnig dazu! Und statt etwas achtsamer zu sein, weil sie blind ist, lebt sie in dem Irrglauben doch alles schaffen zu können!“ 

„Ja, Yuki ist sehr selbstbewusst und beharrlich.“ 

„Sie ist größenwahnsinnig!“, schimpfte Myotismon weiter. „Das war das erste und letzte Mal, dass ich für sie meinen Kopf riskiere. Nächstes Mal kann sie alleine zusehen, wie sie klar kommt!“ 

„Lustig, wie du von einem nächsten Mal ausgehst. Dir ist klar, dass du es ihr zu verdanken hast, dass wir uns hier treffen? Sie hat das Digivice zum strahlen gebracht. Und du weißt auch, dass du diesmal nicht träumst?“

Myotismon sagte nichts. Ohne sich großartig zu bewegen schaute er sich seine Umgebung genauer an. Sie saßen in der Dunkelheit, aber es war nicht die Dunkelheit, die Myotismon kannte. Er war Tiefen gewohnt, steile Wände und eisige Winde. Aber die Fläche hier war ebben. Er war nicht im Abgrund. Aber wo war er?

„Du weißt nicht mehr, was passiert ist?“, fragte Hisaki gekünstelt nett.

Myotismon musste überlegen, doch seine Gedanken wurde noch immer von dem Gesang dieses Monstrums dominiert. Er wusste nicht was die letzten Stunden, Tage, geschweige denn Jahre geschehen war. Es war so verschwommen und die Ereignisse, die von August 1999 bis zu diesem Tag geschehen waren wirkten für Myotismon mehr wie die Erinnerung an einen Film, anstatt etwas, was er selbst durchlebte. Aber einen Film hatte er auch gesehen. ALICE IM WUNDERLAND, auf einem fremden Fernseher, in einer fremden Wohnung, durch fremde Augen und das waren die wenigen Momente innerhalb dieser drei Jahre, in denen sein Verstand, die Minderheit seiner Restexistenz sich regte. Die Mehrheit von dem, was von ihm noch übrig war war reine Zerstörungswut.

Als er das erste Mal starb gingen viele Daten verloren, das Meiste davon Persönlichkeitsdateien, die er ohnehin nicht brauchte. Als er als VenomMyotismon starb ging noch mehr verloren, aber ein Rest von dem, was man Vernunft hätte nennen können blieb erhalten und so sehr er es sich wünschte, würde er diesen Teil nie los. Egal, am wichtigsten war, dass seine Macht und sein Bestreben seine Ziele zu erreichen erhalten blieben, zu einer neuen Form verschmolzen und wenn sie eine gewisse Kapazität erreichten, hätte er neugeboren werden können.

Sein Wirt – Oikawa. War er gestorben? Vermutlich. Hatte Hisaki sich mit ihm unterhalten?

Warum war er hier, statt mit dem Rest, dass mal MaloMyotismon war im Fegefeuer der Digiwelt zu versauern?

„Darf ich dir auf die Sprünge helfen? Du hast meine und deine Welt fast zerstört“, sagte Hisaki, zwar grinsend, aber finsterer. 

„Ich weiß.“ 

„Und ich stelle jetzt einmal die vage These in den Raum, dass du es nicht einen Moment bereust?“ 

„Warum sollte ich?“

Statt sich weiter umzusehen und sich zu fragen wo er war, starrte er Hisaki wieder ins Gesicht. Ihm war das Grinsen vergangen und die beiden sahen sich beinah schon – Myotismon wollte es kaum glauben, schließlich war dieser Mensch sein Partner und Freund – feindselig an.

„Sag. Warum sollte ich es bereuen?“ 

„Hm, da gibt es viele Gründe", fing Hisaki an. „Der Offensichtlichste wäre, dass es moralisch verwerflich ist komplette Welten auszulöschen.“ 

„Ich wollte etwas ändern, genauso wie wir es früher gemacht haben.“ 

„Ändern ist ja okay. Aber fandest du deine Methoden nicht etwas... drastisch?“ 

„Hast du überhaupt eine Ahnung was hier die letzten Jahrhunderte in der Digiwelt passiert ist? Nichts! Alles ist genauso wie damals! Homeostasis hat versagt! Selbst wir haben damals versagt! Es hat sich nichts geändert! Nichts!“

Während er schrie, schlug Myotismon erst auf den Boden, sprang auf uns starrte zu Hisaki hinunter. Dieser aber blieb ruhig, zu ruhig wie Myotismon fand. Fast schon gelassen, mit einem Blick, der die Galle hochkommen ließ. Blaue Augen die glaubten, die hofften und – noch schlimmer – die träumten. Hisaki besaß die Blick schon immer, doch damals war es einfach anders. Man sah dem Jungen an, dass er etwas barg und dass hinter dem nächsten Schneehügel Abgründe lagen, tiefer wie jedes Kaninchenloch.

Aber das war versiegt. Myotismon hasste es. Er hasste den Blick dieser unbelehrbaren, naiven Irren. Und dann noch dieses kleine, vorsichtige Aufflackern von Mitgefühl.

„Findest du, dass sich nichts geändert hat? Also ich zumindest empfinde die Digiwelt als nicht mehr so beladen und so komplex und starr strukturiert wie damals. Gut, es ist ist durchaus gewöhnungsbedürftig, aber bietet viel Fläche und Möglichkeiten.“ 

„Die Digiwelt hatte Möglichkeiten, aber sie hat sie nicht genutzt. Generationen sind vorbeigezogen und es hat sich nichts geändert. Die Digiwelt und die Digimon kennen nur den Kampf und Krieg unter den Typen. So ein System soll ich unterstützen?“ 

„Wer hätte es ihr denn lehren sollen? Wenn es den Digimon niemand beibringt, wie soll sie sich verändern?“ 

„Die Digiwelt kann nicht lernen! Sie lernt von Außenseitern nicht, sondern radiert sie aus! Du weißt das genauso gut wie ich!“ 

„Wollte Sanzomon dich auch ausradieren?“ 

„Erwähne sie nicht!“

Myotismon fragte nicht einmal wie die Reste eines Toten, geschweige denn eine Kopie das wissen konnte, er ging nur einen Schritt zurück um Abstand zu gewinnen. Hisaki selbst rührte sich kaum, trotz Myotismons zunehmender Feindseligkeit, obwohl er im ersten Moment nicht einmal wusste, wer Sanzomon war. Er erinnerte sich nicht an dieses Digimon, aber dass Hisaki sie erwähnte machte ihn wütend.

Seufzen.

„Du warst glücklich, oder? Du wolltest schon jeher dich lieber im Kampf und in der Politik arrangieren, als in der Musik. Passt auch wirklich besser zu dir. Als Partner musst du auch sehr glücklich gewesen sein, wenn sie es schaffst, dich ans Klavier zu drängen und dass du auch mal fünf Minuten über andere Dingen nachdenkst.“ 

„Was tut das zur Sache?!“, knirschte Myotismon wütend. 

„Eine Menge. Glaubst du, ich war stets zufrieden mit der Welt? Ich habe sie gehasst. Und dieser Hass hat mich krank gemacht. Aber als Ehemann und Vater war ich glücklich. Mein Leben mag schlicht gewesen sein, aber es war erfüllend für mich. Es mag egoistisch sein, aber für nichts auf der Welt, nicht einmal für eine bessere hätte ich Asami oder Yuki eingetauscht. Und du wolltest sogar dich selbst wegwerfen. Sind dir unser Sieg über die Apartheid und die vielen Opfer so wenig wert?“

Hisaki konnte nicht schnell genug reagieren, zu schnell packte ihn Myotismon am Kragen und hob ihn hoch. Aber Hisaki schien auch nicht den Eindruck zu machen, als wollte er dem entgehen, hätte er es gekonnt. Sein Gesicht strahlte Entschlossenheit und Gelassenheit aus, ganz anders wie das seines Digimon. Das und diese Augen kurbelten Myotismons Wut immer weiter an. Sein Herz pochte – auch wenn er sich gleichzeitig sagte, er hätte keines –, aber es klang nicht wie Pochen, sondern wie dumpfe Glockenschläge.

„Ich glaube nicht, was ich hier hören muss. Und so jemand will mein Kapellmeister sein?!“, knurrte Myotismon weiter, fest auf die Zähne beißend, um nicht doch noch zu brüllen. „Hast du bereits alles vergessen, was uns widerfahren ist? Wie wir behandelt wurden, für das, was wir waren? Du hast selbst gesagt, dass die Digiwelt sich nicht ändert! Ich war es, der dich davon überzeugt hat, dass es anders geht und wir durchaus in der Lage sind, die Digiwelt zum perfekten Ort zu machen! Nur deswegen haben wir Apokalymon aufgehalten, aus keinem anderen Grund!“

Myotismon schubste Hisaki zu Boden. Er fiel hin, landete auch mit einem schmerzhaften Ächzen, aber er wehrte sich nicht. Er blieb ruhig, sein Blick änderte sich nicht und verärgert darüber zog ihn Myotismon ihn wider hoch.

„Und jetzt wo du Familie hast, die dich akzeptiert stellst du es so hin, als wäre unsere Arbeit nichts wert! Und dann begrüßt du es auch noch, dass verblendete Gören mir Steine in den Weg legen?!“

„Was wir damals taten war notwendig und wichtig. Aber die Welt ist nicht mehr die früher, dass musst du endlich einsehen. Alles ändert sich“, erklärte Hisaki ruhig und bekümmert und legte dabei seine Hand auf die seines Digimon. „Und es ist letztlich unser Recht und irgendwo auch unsere Pflicht aus dem, was sie hergibt unsere Chancen zu nutzen, ohne uns dabei komplett zu verbiegen.“

„Das klang früher aber anders!“

„Ich sehe die Dinge einfach nicht mehr so verbissen wie früher. Ich habe meinen Frieden gefunden. Nicht unbedingt wegen mir, aber um Asamis und Yukis Willen. Meine Depressionen bin ich nie los geworden, aber ich habe irgendwann gelernt dieses graue Ungetüm in meinem Kopf zu bändigen. Und hätte ich die Zeit gehabt, hätte ich vielleicht auch mit meinem Vater Frieden geschlossen. Ich habe damals nie verstanden, wie Kouta seiner Mutter vergeben konnte. Mittlerweile begreife ich es.“

Kurz verlor sich der Blickkontakt. Hisakis Augen schauten zur Seite hinunter und Myotismon glaubte eine Träne im Augenwinkel zu sehen. Er sah in die blauen Augen, die gleiche Farbe wie die dieses Monstrums. Myotismon dämmerte allmählich, was dieses Monster war.

„Ich hätte Vater nie lieben können, aber ich wollte, dass dieser Hass endet. Ich wollte Frieden in meinem Inneren. Warum du so daran festhältst verstehe ich nicht, wo du doch vergessen wolltest. Und was brachte es? Du hast unnötigen Schaden angerichtet, für einen Albtraum, der dem Himmel sei Dank nie wahr wurde.“

Energisch zog Myotismon noch einmal an Hisakis Kragen und hob ihn so ein Stück hoch. Die sahen sich in die Augen, ihre Gesichter dicht aneinander. Doch obwohl man in Myotismon Gesicht etwas wie Verachtung erkannte, sich vor Wut auf die Zähne biss und der Geruch des Todes Hisaki ins Gesicht wehte behielt dieser seine Gelassenheit.

„Du machst es mir wirklich schwer, wütend auf dich zu sein“, sagte Hisaki weiter paradox ruhig und legte seine Hand auf die von Myotismons, die sich fest um seinen Kragen spannte. „Vielleicht hätte ich nicht so viel über etwas wie Gerechtigkeit philosophieren sollen, in einem Alter, wo man ohnehin die Welt noch nicht versteht. Gerechtigkeit ist doch recht subjektiv. Ich hätte damals schon merken müssen, dass der Krieg und mein Frust dir nicht gut taten. Und der Abgrund, der schon immer da war nur größer und größer wurde. Ich hätte es merken müssen. Es tut mir Leid, dass ich dir so ein schlechter Partner war.“

Da Myotismon sich nicht rührte, nutzte Hisaki die Gelegenheit wieder auf seinen eigenen Beinen zum stehen zu kommen. Seine rechte Hand nahm er weg und streckte sie nach seinem Digimon aus, doch eher er Myotismon berühren konnte, packte dieser Hisaki am Handgelenk, um es zu verhindern. Und plötzlich brach er den Blickkontakt ab. Myotismon sah nur den Schnee zu seinen Füßen. Der Wind ließ nach.

„Ich ahnte, dass du nur dummes Zeug von dir geben wirst. Wie früher“, murmelte Myotismon. Von seinem Zorn hörte man nichts mehr. Seine Stimme war frei von jeder Emotion.

„Hattest du deswegen Angst, mir in der Realen Welt zu begegnen? Du hast gewusst, dass ich mich gegen dich entscheiden würde, weil wir beide mittlerweile andere Vorstellungen von Gerechtigkeit haben.“

„Ich hätte dich dennoch mitgenommen. Egal wie. Auch wenn ich für dich nur noch ein Jabberwock gewesen wäre. Ich hätte versucht mein Versprechen zu halten. Ich hätte dich von den Toten zurückgeholten, nur um dich mit in die ewige Finsternis zu ziehen, egal wie sehr du mich danach verachtet hättest.“

„Du bist kein Jabberwock. Genauso wenig wie du irgendein Virus oder irgendein Myotismon bist. Du bist du. Dich hätte ich niemals verachten können. Ich bin sauer und beschämt, dass ausgerechnet mein Digimon und bester Freund so eine Katastrophe heraufbeschwört, die alles in Dunkelheit verwandelt hätte. Aber ich kann dich nicht hassen. Niemals. Nicht einmal wenn ich ein Jabberwock wäre.“

Kein Augenkontakt weiterhin. Es fiel auch kein Wort mehr. Die Hand seines Digimon ließ Hisaki nicht los, jedoch verschwand der stramme Zug an seinem Kragen, denn er sich sofort wieder richtete.

„Oh, eine kleine Sache wäre da allerdings noch“, sagte Hisaki plötzlich. Überrascht hob Myotismon den Kopf, nur im nächsten Augenblick Hisakis Hand ins Gesicht zu bekommen. Der Schlag brachte ein Echo mit sich, der durch die gesamte Düsternis ging. Sich die Wange haltend starrte Myotismon erst nur, dann sah er Hisaki an, als sich auch schließlich sein Gesicht wütend verzog.

„Spinnst du?!“

„Das ist dafür, dass du meine Frau gebissen und meiner Tochter Angst gemacht hast.“

„Deswegen verpasst du mir eine Ohrfeige? Ich hatte heute schon genug Kämpfe hinter mir und nun das?!“

„Sei froh, dass es nicht die Faust war! Dein Dickschädel erträgt das. Und nachdem was du verbrochen hast, ist das wirklich noch harmlos“, erklärte Hisaki, gewohnt ruhig, jedoch mit einer Kälte in den Augen, die sonst immer bei Myotismon zu finden war. „Was du getan hast waren keine Kavaliersdelikte und du hast dich bewusst für diese entschieden, egal wie viele Leichen auf dem Weg lagen. Apokalymon mag eure Daten umgeschrieben haben, aber ihr hattet die Wahl. Niemand verlangte von dir, dass du dies tust und dennoch hast du es getan. Also erwarte kein Verständnis oder Mitgefühl. Aber wie ich dich kenne, wolltest du das ohnehin nicht.“

„Ich habe getan, was ich für das Beste hielt. Die Mehrheit ist blind und einfältig. Auf Mitleid zu hoffen bedeutet, meine Taten einzubüßen oder als falsch anzusehen.“

„Stolz wie immer. Wie ich dich in Erinnerung habe, Schwarzer König.“

Als Hisaki schließlich breit zu lächeln begann, verunsicherte es Myotismon und er merkte erst nicht, dass Hisaki einen Schritt auf ihn zuging. Erst bei einen weiteren wurde es Myotismon bewusst, genauso dass die Hand, die er erst abwehrte nun doch auf seinen Schulter ruhte. Zwar lächelte Hisaki, aber es sah wieder so traurig wie zuvor schon aus.

„Du bist mein Digimon und mein Freund. Aber ich kann nicht vergessen, was du getan hast. Ich werde es nicht vergessen, aber ich will dir guten Gewissens vergeben können. Gerade weil du mein Digimon bist. Und weil ich dich liebe.“

Der Schnee war mittlerweile kniehoch. Von den Worten in Schreck versetzt, wich Myotismon zurück, verlor durch den hohen Schnee sein Gleichgewicht und fiel. Bis er sich von dem kurzen Schreck erholte, kniete Hisaki bereits vor ihn und ehe Myotismon etwas machen oder sagen konnte, nahm sein Partner ihn in den Arm.

„Lass mich in Ruhe! Hör auf damit!“, schimpfte Myotismon dabei und versuchte Hisaki von sich zu schieben. Doch er hielt sein Digimon so krampfhaft fest, dass es ihm nicht möglich war sich zu befreien.

„Lass los! Auf der Stelle! Zwing mich nicht dich anzugreifen und lass los!“

Hisaki hörte nicht.

„Das ist sinnlos! Ich bin ein Digimon! Alles besteht nur aus Daten! Was wir fühlen ist nicht echt und daran zu glauben töricht! Wer an so etwas glaubt verliert in dieser Welt! Also hör auf damit!“

Er drückte fester zu.

„Hörst du nicht?! Lass los oder du bekommst meine Albtraumkralle zu spüren!“

Er ließ nicht los.

„Das ist die letzte Warnung! Lass los oder ich greife dich an!“

Myotismon griff ihn nicht an. Seine erhobene Hand blieb wie seine Worte nur eine leere Drohung. Er konnte seinen Partner nicht angreifen, selbst wenn er gewollt hätte. Stattdessen begann Myotismons Körper zu zittern.

„Ich hab's gehört... Was du gesagt hast. Vorhin“, sagte Hisaki. „Du weißt, was ich meine?“

„Ich fürchte ja... Erzähle das bitte niemanden.“

„Du brauchst dich doch nicht immer zu schämen. Du hast etwas gelernt, wenn auch sehr, sehr spät. Ich bin stolz auf dich... Und sie wäre es sicher auch, wenn sie dies hören würde.“

Zaghaft schloss Hisaki die Umarmung etwas enger, seine Finger fuhren durch die dunkelblonden Haare seines Digimon.

„Ich kann dass, was du angerichtet hast nicht schönreden“, murmelte Hisakis in Myotismons Kragen. „Du warst schon immer eigenwillig. Ich weiß, du bist nicht tugendhaft und tief in deinen Inneren auch nicht gütig oder empathisch. Doch es ist okay. Das Wichtigste ist, dass du anders bist, egal in welcher Gestalt. Dein Anderssein, dass du mit stolz gezeigt hast ist es, dass mir Mut gemacht hat, als ich keinen hatte und in meine Träume flüchtete. Ich bitte dich, wirf dein Anderssein nicht wieder weg. Und gib unserem Wunderland noch eine Chance, so wie ich dir noch eine geben möchte.“

Myotismons Kopf war leer. Er dachte nach, aber sein Verstand kam zu keinem klaren Gedanken oder einem logischen Schluss. Er verstand nicht, wieso sein Partner ihm das sagte. Er verstand nicht einmal, warum sie sich hier sahen. Er verstand ebenso wenig, warum er aufhörte sich gegen Hisakis Umarmung zu wehren. Aber er wusste, wo er war.

Die Form der Schneeberge, die Bäume, die in der Ferne zu sehen waren, deren Holz schon vereist war und bläulich erstrahlte. Selbst die Dichte des Schnees, auf dem sie saßen war vertraut. Es war jener Ort, den Myotismon in der Vergangenheit einst suchte und in seltenen Fällen sogar vermisste, statt es als lästig oder belastend zu empfinden in Erinnerungen zu schwelgen. Jedoch war von diesen kaum mehr etwas übrig. Natürlich sah er die Berge und die Eisblumen in den Winkeln, aber es war dunkel und je weiter es in die Dunkelheit ging, umso verschwommener wurde es. Seine Erinnerungen waren ziemlich verblasst und verkümmert. Bedauerlich, wo Myotismon sie einst fast besser bewahrte wie jeden Schatz, nur um sie letzten Endes doch aufzugeben. Wie so vieles.

Die Glocken verstummte. Er glaubte ein Klavier zu hören. 

Myotismon Arme, die die ganze Zeit schlaff da hingen erhoben sich langsam. Hisaki hielt ihn weiter fest und sein Körper bebte ebenfalls.

„Warum zitterst du?“, murmelte Myotismon kaum hörbar. „Hast du Angst vor mir?“

„Quatsch mit Soße. Niemals. Du bist doch mein Freund.“

„Trotz allem was geschehen ist?“

„Gerade deswegen. Was wäre ich für ein Freund, wenn ich dich einfach jetzt in Stich lasse? Es reicht doch, dass ich das einmal bereits getan habe. Ich verstehe, wenn du wegen damals noch immer sauer auf mich bist. Und du mich deswegen hasst.“

„Was redest du wieder, Hisaki? Ich kann dich nicht hassen! Du hast es doch gehört! Ich... Ich -“

Die Arme, die erst schwer waren und nicht hörig sein wollten erfassten den Körper vor ihnen endlich. Wenn auch tot, empfand Hisaki doch die surreale, widersprüchliche Wärme seines Digimon. Seit langer, langer Zeit hielt der Schwarze König seine Alice wieder im Arm. In der Haltung verharrten sie nur kurz, dann verlor Hisaki den Halt und sie fielen um.

„Über die Blumen, die du mir an mein Grab gebracht hast habe ich mich übrigens sehr gefreut.“

„Halt einfach die Klappe!“

Lachend schaute Hisaki auf das Digimon, dass er in den Arm hielt. Tsukaimons Augen glänzten vor Nässe und er schaute grummelnd drein. Als er merkte, dass wieder ein Rookie war und dass er anfing zu weinen presste er sein Gesicht gegen den Körper seines Partners.

„Du redest wie immer so viel Unsinn, dass ich Kopfschmerzen davon bekomme. Und vergiss die Ohrfeige nicht, das tat weh! Siehst du, wie es schmerzt?“

„Du wirst es verkraften“, lachte Hisaki und strich Tsukaimon über den Kopf. Die Hand seines Partners war größer und rauer geworden, aber das Gefühl, was sie vermittelten war wie einst.

Ein Hund bellte und rief nach Hisaki. Es war ziemlich weit weg, dass Tsukaimon sich nicht einmal sicher war es wirklich gehört zu haben. Es klang wie Labramon.

Hisaki stand auf, ohne auch nur für einen Moment einen Arm von Tsukaimon zu nehmen, dann hob er sein Digimon hoch. Tsukaimon sah über Hisakis Schultern zurück und schaute sich um. Vielleicht täuschte er sich, doch schien ihm, als wirkte der Raum, wo immer dieser auch war heller geworden zu sein. Er wurde fortgetragen. Wohin wusste er nicht. Solange aber Hisaki bei ihm war, war das Ziel und der Weg eigentlich Nebensächlichkeit.

„Und diese Kids haben dich wirklich dreimal töten müssen?“, fragte Hisaki mit einem leisen Kichern. Tsukaimon brummte nur beschämt.

„Aber gleich zweimal von den Toten auferstehen, Hut ab, mein Freund. Das bekommt nicht jedes Digimon hin.“

„Lach nicht... Ich war Soldat, Hauptmann und König und wurde von Kindern und ihren Kuscheltieren vernichtet.“

„Du bist auch ein sogenanntes Kuscheltier. Du hättest es voraussehen müssen.“

Wieder lachte Hisaki und nun von noch mehr Scham erfüllt presste Tsukaimon die Augen noch fester zusammen und die Flügelohren noch enger an den Körper. Sein gekränkter Stolz ließ nicht einmal zu, dass er Hisakis Umarmung wirklich genießen konnte. Dabei war das hier einst sein größter Wunsch.

„Oh, du hast ihn gefunden?“, rief die Stimme eines Jungen. Tsukaimon kannte sie.

„Ja. Hat leider etwas länger gedauert. Wie üblich“, lachte Hisaki. Tsukaimon traute sich nach geringer Zeit nachzuschauen, mit wem Hisaki sprach und seine Vermutung bestätigte sich.

„Hallo, Tsukaimon. Freut mich dich wiederzusehen. Geht es meinem Neffen gut?“, sagte Kouta freundlich, seine Frage jedoch war ohne jede Naivität. Er wusste Bescheid.

Vorsichtig nickte Tsukaimon und starrte dann auf das Digimon, dass in Koutas Armen lag. Dracmon schlief tief und fest.

„Er wollte dich eigentlich als Erstes empfangen, aber es dauerte ihm dann doch zu lange. Ungeduldig wie immer“, erklärte Kouta weiter freundlich.

„Ich denke, ihr werdet noch zum reden kommen. Ihr alle scheint großen Redebedarf zu haben.“

Soichiro erschien hinter Kouta. Doch im Gegensatz zu Kouta, der noch immer aussah wie an seinem Todestag, war Soichiro in die Höhe geschossen. So alt wie Hisaki war er aber nicht. Bei ihm war Dorumon, aber wie Dracmon schlief dieser auf Soichiros Schultern, er selbst hielt sein Digimon dabei an Arm und Bein fest.

Kana war bei ihm. Auch sie sah älter aus, älter wie ihr Zwilling. Floramon ruhte wie eine Strohpuppe in ihren Armen. Touko kniete auf dem Boden, mit Betamon auf dem Schoß. Sie saß dabei zwischen Renta und Natsu, auch sie mit ihren Digimon an der Seite. Die Digimon schliefen alle und auch Tsukaimon überkam Müdigkeit.

Die Kapellmeister von einst, mit den Namen von Märchenfiguren waren also wirklich erwachsen geworden. Einige mehr, andere weniger. Wie befremdlich, empfand Tsukaimon und fragte sich, wie seine Kameraden wohl darauf reagiert hatten, als sie ihre Partner so sahen. Hatten sie auch ihr ihrer Jahreszeit gesessen und bekamen eine Predigt zu hören? Oder hatten sie sich auch erst mit solch grotesken Gestalten messen müssen?

„Was geschieht nun?“, fragte Tsukaimon schwach. Hisaki schaute erst in die Runde, eher er antwortete.

„Das hängt von euch ab, was geschieht. Wir sind nur hier um euch eine Starthilfe zu geben.“

„Wir haben ziemlich lange mit Labramon diskutiert“, erzählte Natsu. „Und natürlich hat Labramon erst alles abgelehnt.“

„Seit es zu Anubimon geworden ist, ist Labramon echt starrköpfig“, murmelte Kana. „Und nachtragend.“

„Vielleicht war es der Schock uns zu sehen, nun da die Dunkelheit hier verschwunden ist“, meinte Renta.

„Dann... seid ihr hier gewesen? Die ganze Zeit?“

„Das habe ich dir doch gesagt. Nach dem Tod gibt es eben noch mehr, wie nur die Dunkle Zone.“, sagte Hisaki zu Tsukaimon. Er lachte dabei wieder, wenn Tsukaimon auch verstand warum und auch Touko ließ zu einem Lächeln hinreißen.

„Wir haben nur noch auf dich gewartet. Aber klar, dass Tsukaimon wie immer der Letzte ist, genau wie Hisaki.“

„Wieso musst du mich selbst im Nachleben weiter triezen, Touko?“

„Weil es stimmt.“

Hisaki kräuselte leicht beleidigt die Lippen. Touko kicherte und weil sie dies so ausgelassen tat, ließ sich Kana anstecken. Kouta schüttelte den Kopf, trotz freundlicher Miene. Wie früher. Genau wie früher...

Aber doch wirkten sie alle so anders, was nicht zwingend daran lag, dass sie älter wurden, manche von ihnen sogar über zwanzig. Sie waren Träumer, dass verrieten ihre Augen, aber sie waren wach und schauten geradeaus, nicht so wie einst. War dies Dracmon und den anderen auch aufgefallen? Er würde sie so gern fragen, aber sie schliefen und Tsukaimon wurde immer müder, wie länger er den Schneeflocken zusah.

Renta warf den Kopf zurück und sah gen Himmel. Er war klar. Man sah buntes Licht.

„Ah. Oikawa möchte wohl auch weiter.“

„Heeeeeey, Yukio! Warte noch 'nen Moment“, rief Soichiro hoch. „Nimm 'n bisschen Rücksicht, unsere Datenkapazität ist nicht so hoch.“

„Unsere Daten sind wohl doch schon zu alt“, seufzte Natsu. „Und ob wir hiernach noch genug haben ist fraglich.“

„Es ist für unsere Digimon“, sagte Kana entschlossen und drückte Floramon an sich. „Glauben wir einfach daran. Ich glaube dran. Los, seit euren Wappen treu! Komm Touko, sag etwas weises!“

„Ähm... also selbst wenn, ist doch die Hauptsache, dass es bei unseren Digimon funktioniert.“

„Das kannst du besser“, schmollte Kana. „Komm Natsu, sag du was.“

„Ich kann das nicht so spontan!“, nörgelte er los. Kopfschüttelnd wandte Kana sich an Kouta.

„Kouta...“

„Ich halte mich nur an das von Touko. Was mit uns ist bleibt abzuwarten. Aber die Digiwelt hat uns schon oft genug überrascht. Außerdem möchte ich nur, dass es Dracmon gut geht... Und das ihr bei mir seid, nach all der Zeit...“

„Wir haben dich auch vermisst“, murmelte Hisaki. Man sah, dass ihm kurz die Tränen kamen. Mit ihm rückte auch das einstige Orchester zusammen, dicht beieinander stehend, mit den Digimon im Arm, als hätte es die letzten Jahre der Einsamkeit und der Dunkelheit nie gegeben.

„Was wollt ihr machen?“, fragte Tsukaimon schwach.

„Das siehst du schon. Ist eine Überraschung. Wenn ich dir das jetzt erkläre, schimpfst du mich nur wieder aus. Sieh mal.“

Hisaki hob Tsukaimon an und deute mit dem Finger in die Ferne. Ziemlich weit weg und kaum zu erkennen stand Anubimon da und starrte zu der Truppe.

„Labramon wartet auch schon ungeduldig. Es bringt euch dorthin, wo ihr hinmüsst. Es ist kein Reboot, keine Angst. Für eine kleine Wiederherstellung reicht unsere Menge an Daten noch locker aus. Was dann kommt ist abzuwarten. Aber wie ich sagte, das ist nur eine Starthilfe. Den Rest und damit das meiste müsst ihr selber machen“, erklärte Hisaki weiter, Tsukaimon hörte zu, konnte aber mit den Worten erst nicht viel anfangen. Seine Gedanken ließen sich schwer ordnen. Er war todmüde. Als Hisaki ihn aber hochheben und ins Gesicht schauen wollte, hielt sich Tsukaimon mit seinen kleinen, schwarzen Händen an ihm fest.

„Was hast du? Genierst du dich immer noch?“

„Ich will bei dir bleiben...“

Tsukaimon drehte seinen Kopf zu Hisaki. Er versucht grimmig zu schauen und presste die Lippe zusammen und würde Hisaki sein Digimon nicht so gut kennen, könnte man schlicht denken er sei einfach nur wütend und beleidigt. Um zu verhindern, dass ihm doch eine Träne übers Gesicht lief biss Tsukaimon die Zähne mit aller Gewalt zusammen.

„Ich will nicht, dass du gehst. Lass mich nicht wieder alleine.“

„Ich lass dich nicht alleine. Ich bin jetzt bei dir. Wir haben uns wiedergefunden, wie ich es dir versprochen habe. Und jetzt geht es eben weiter.“

Soichiro nickte Hisaki zu, ehe er mit Touko zu Renta ging, ihm aufhalfen und beim Gehen stützten. Er lief sehr schlecht und humpelte, aber er schaffte es den Halt zu bewahren, ohne dabei Koemon aus der Hand zu geben. Kouta ging erst los, als auch Hisaki anfing den anderen nachzugehen, wohin auch immer sie durch den Schnee schritten. Der Schatten von Anubimons Silhouette war bereits in der Finsternis verschwunden.

„Du bist der Schwarze König. Und solange er träumen kann, wird seine Alice immer bei ihm sein. Wir haben ein Auge auf euch. Und ich habe ein Auge auf dich, genau wie auf Asami und Yuki“, sprach Hisaki ruhig weiter. Mit etwas Kraft, schaffte er es Tsukaimon von seinem Mantel zu bekommen und ihn auf Augenhöhe zu heben. Zwar lächelte Hisaki, aber auch ihm kamen die Tränen, sich bewusst, dass dies hier ein Abschied war. Vermutlich für immer.

„Wir hatten die Gelegenheit unser Leben umzukrempeln. Es war wenig Zeit, aber wir sind im Frieden gegangen. Ihr habt diese Arbeit noch vor euch. Wenn alles vorbei ist werden wir ein Orchester und ziehen durch die Digiwelt, weißt du noch? Aber ihr braucht keine Kapellmeister mehr. Ihr bekommt das auch ohne uns hin.“

Als Hisaki bemerkte, dass die anderen stehen geblieben waren und sahen, dass er fast weinte zog er Luft ein, um sich so zu beherrschen. Kouta, direkt neben ihm, schloss die Augen und hielt Dracmon fest im Arm und er schien froh zu sein, dass sein Digimon schlief und den Abschied bereits hinter sich zu haben, ähnlich wie die anderen. Sie hatten es ihren Digimon bereits erklärt, aber sie wurden, obwohl die tot und nur ein Abbild ihrer Daten waren konnten sie es kaum verkraften.

„Egal zu was du wirst und was du tust, ich werde dich unter allen Digimon wiedererkennen. Und ich möchte, dass du ein erfülltes Leben findest. Und es gibt andere, die dich auch glücklich wissen möchten. Versuch es auch ihnen zu liebe.“

„Andere... liebe...“

Tsukaimon versuchte seine Arme nach Hisaki auszustrecken, obwohl er immer schwächer und immer müder wurde. Doch er hatte nichts, womit er hätte greifen können. Seine Arme waren nur noch weiße Stummel. Er war wieder Tokomon.

Die Düsternis verschwand. Der Himmel war erfüllt von bunten Licht. Es war kalt, aber warm zugleich. Die sieben Menschen nahmen ihre Digimon noch ein letztes Mal fest in den Arm. Hier ein Seufzen. Da ein Schluchzen, da wurde versucht eine Tränen wegzuwischen.

„Kouta...“, murmelte Dracmon. Er digitierte zu Tsunomon zurück, murmelnd, aber weiter schlafend. Wie viel er oder die anderen mitbekamen war schwer zu sagen.

„Schlaf ruhig. Du hast lang genug auf mich und die anderen Acht gegeben. Apokalymon ist nicht mehr hier. Und Morgen wird ein guter Tag. Mach dir keinen Vorwurf“, sagte Kouta zu ihm. Touko schaukelte Pukamon hin und her.

„Und sei du schön brav zu allen, auch zu meinem Jungen. Ihr sollt euch vertragen“, sagte sie bemüht dabei zu lachen, aber scheiterte daran. Kana hielt Yokomon nur und summte ein Lied, dass sie zu Lebzeiten ihrem Kind schon zum Schlafen gehen summte. Soichiro legte Dorumon ab, nun da er wieder Koromon war. Die Haltung war ohnehin unbequem, also setzte Soichiro sich mit ihm auf den Boden und für ihn untypisch sagte er nichts mehr. Er hätte die richtigen Worte nicht gefunden oder gewusst sie nicht zu emotional auszudrücken. Natsu zog seine Jacke aus und legte sie um Motimon. Sein Digimon hasste die Kälte und den Winter und auch wenn er zitterte, bekam er mit, wo er war. Erst als Motimon den warmen Stoff mit einer ebenso herzlichen Umarmung spürte ließ das Zittern nach. Renta redete auf Tanemon ein, versuchte dem Digimon noch klar zu machen, dass er nichts anstellen sollte, nur um den Abschiedsworten noch etwas entgehen zu können.

„Sei bitte nicht so voreilig und überstürzt. Achte auf die anderen. Teil was du hast, dass ist sogar am wichtigsten. Und sei vorsichtig und überlege lieber zweimal, ehe du etwas unternimmst...“

Ein Bellen in der Ferne. Ein Mann, gerade erst gestorben tauchte zwischen ihnen auf, reichte Hand und versuchte Trost zu geben. Ein Digimon-Ehepaar kam daher, ebenfalls gerührt, ebenfalls weinend, obwohl sie doch eigentlich trösten wollten.

Hisakis Gesicht war nass, als er seinem Digimon in die Augen sah. Hilfesuchend sah er zu seinen Freunden, aber sie wussten auch keinen Rat. Er musste durch. Ein nächstens Mal würde er nicht bekommen.

Stirn berührte Stirn. Er holte tief Luft, während er mit zitternden Lippen weinte. Tokomons Kopf schwamm. Die Stirn seines Partners berührte seine.

„Ich wünsch dir ein schönes Erwachen, mein Freund. Stell nichts Dummes an und gib dem Wunderland ein bisschen Zeit, ja? Und pass bitte für mich auf meine Familie auf. Ich... ich vergesse dich niemals.“

Der Schneesturm verstumme.

 
 

𝅝

 

„Ihr bringt sie wirklich zurück? Ich dachte, Ihr seid dagegen.“

Das Goldene Reich und die Dunkle Zone, das digitale Pendant zu Himmel und Hölle trennte buchstäblich ein schmaler Pfad, schmaler wie jeder andere Pfad zwischen den Welten. Nicht viele Digimon konnten auf diesen wandern, aber Anubimon, einst Labramon konnte dies. Zu seiner Überraschung musste der Herrscher der Unterwelt feststellen dass Azulongmon, einer der vier Souveränen dies auch konnte. Azulongmon machte sich nicht die Mühe Anubimon aufzuhalten, dennoch blieb er stehen. Rechts von Anubimon strahlte weißgoldenens Licht, links von ihm lappte sich die Dunkelheit. In seinen Armen hielt Anubimon sieben Digieier und war bedacht darauf bloß keines fallen zu lassen.

„Ja.“, antwortete er knapp. Das Gespräch schien somit beendet, obwohl es nicht einmal angefangen hatte.

„Das ich dagegen sei, war nicht mein Ernst. Ich wollte nur wissen, wie ernst ihnen das war. Und es war ihnen sehr ernst. Ist dies schlimm?“, fragte Anubimon schließlich weiter, im Glauben Azulongmon lag noch mehr auf der Seele, was sich dadurch bestätigte, dass er nicht wirklich Anubimon, sondern die Digieier ansah. Der Wächter des Osten wusste sofort, welche Digimon darin waren.

„Du bist ein Richter. Hast du nicht Neutralität geschworen?“, meinte Azulongmon. Obwohl er ein strahlendes Digimon war, wich die Dunkelheit nicht aus der einen Seite des Pfades nicht, noch verlor das Licht auf der anderen ihren Glanz. Da sah man, das Digimon eben auch nur Digimon waren, egal ob dämonisch oder heilig. Sie waren alle gleich.

„Ich bin neutral“, sagte Anubimon überzeugt. „Was ist mit Euch? Es sind auf eine entfernte Weise eure älteren Geschwister. Seid Ihr hier um es zu verhindern oder um zu hoffen?“

„Nur weil die selben Zieheltern hatten, sind wir nicht verwandt. Ich konnte bisher nie mehr in ihnen sehen, wie Kriegsveteranen, die vom System enttäuscht wurden und den rechten Pfad aus den Augen verloren.“

„Sehr kaltschnäuzig“, kommentierte Anubimon.

„Und dies von Euch?“

Keine Antwort. Anubimon wusste, welchen Ruf er genoss und wem man sich ständig mit dem Tod und der Verdammnis umgab entwickelte man entweder eine sehr zynisch oder eine sehr unterkühlte Art. Er hatte sich für die Unterkühlung entschieden, nicht zuletzt weil er ja nie, selbst als Labramon sonderlich bissig war.

„Ich möchte nach all den Jahren endlich einmal etwas positives erleben. Ich hoffe inständig, dass das, was ihre Partner einst als Wappen trugen noch immer in ihren Digimon existiert. Auf eine fremde, abstrakte Art. Es sind meine Freunde. In dem Punkt bin ich vielleicht wirklich nicht so neutral, wie ich sein sollte. Was denkt Ihr?“

„Ich weiß nicht, was ich denken soll. Sie haben viel Leid gebracht. Apokalymon mochte der Drahtzieher gewesen sein, doch ist er nur ein Programm. All das was sie taten, taten sie von sich aus. Sie sind keine Opfer... aber doch habe ich Mitleid. Warum gibt Ihr ihnen die Chance?“

„Zwei Gründe. Einst waren wir befreundet. Sie retteten mein Leben als Labramon, sie retteten mich vom Wahnsinn, als ich Anubimon wurde. Ihre Partner wieder in die Reale Welt zu schicken war ein Fehler. Ich möchte meine Schuld begleichen.“

„Und der andere Grund?“, harkte Azulongmon nach und Anubimon stockte.

„Sie...“, hauchte er und seine Gedanken drifteten zu seiner Schülerin ab, wenn man das so nennen durfte. Sie kam und bat um Hilfe, wie sie auf ihre Art Stärke erlangte. Sie wollte nicht kämpfen, trotz allem was ihr widerfahren war. Und weil sie keinen Zorn oder Rache in ihrem Herzen trug brachte Anubimon ihr und ihren drei Schülern das wenige Wissen bei, dass er besaß. Er wusste wo sie war. Er sah manchmal nach ihr, ohne dass sie es merkte (oder sie tat so, als merkte sie es nicht).

„Sie hat erzählt was sie in den Abgründen der Digimon sah. Dass die Digiwelt lernen konnte was Trauer ist war wichtig für alle Digimon, die nach der Apartheid kamen. Trauer. Verzweiflung. Und das daraus auch Hoffnung geboren werden kann. Aber wir haben dies auf ihrem zerrütteten Geist aufgebaut, ohne ihnen etwas dafür zu geben, geschweige denn sie in dieses neue System aufzunehmen. Wir haben sie aus dem System geworfen und fallen lassen, damit spätere Generationen funktionieren konnten. Findet Ihr das nicht auch pervers?“

Azulongmon sagte dazu nichts, spürte aber Reue und hatte Verständnis, was er gern zugeben würde, wenn nicht dieses Hintergrund wissen wäre, was für Digimon das waren und die vielen, schrecklichen Erinnerungen, die er mit ihnen verbannt. Wie sollte er das nur den anderen dreien erklären?

„Hat sie Euch um eine Chance für sie gebeten?“

„Nein. Das hätte sie auch nie gewagt. Es war allein meine Idee und sie weiß hiervon nichts. Niemand weiß etwas davon... Außer Ihr natürlich“, vergewisserte Anubimon, Azulongmon beruhigte das jedoch wenig. Wenn niemand es wusste machte dies die ganze Sache leichter und man würde sie nicht stetig mit ihren Taten konfrontieren.

Aber das heilige Digimon zweifelte, ob das alles wirklich so glatt laufen würde. Immerhin trugen sie ein sehr altes System in sich. Ein System, dass mit Daten über die Apartheid, Hass und Misstrauen groß wurde. Aber die Digiwelt sollte lernen. Das hieß aus Alten etwas Neues zu kreieren, nicht zu löschen.

„Was ist nun mit ihren Daten? Können sie in diesem System überleben?“

„Das wird sich zeigen“, schnaufte Anubimon und für ihn eher untypisch klang er ratlos. „Apokalymon hat viel gelöscht und ungeschrieben. Ich hoffe die Daten ihrer Partner, die über die Jahre erhalten blieben, haben sie füllen können.“

Mit einem letzten Blick auf die sieben Digieier auf die Seite des hellen Lichtes und verschwanden schließlich darin.

„Der Rest liegt bei ihnen. Ich hoffe nur, ich begehe keinen Fehler. Ansonsten bin ich meinen Job los.“

„Wir... Wir alle werden auch ein Auge auf unsere Geschwister haben. Macht Euch keine Sorgen.“

„Das beruhigt mich etwas. Wie wollt Ihr das aber Euren Kameraden erklären?“

„Ich habe die Hoffnung, dass sie es bereits wissen. Ich fürchte jedoch, sie werden es nicht begrüßen.“

„Sagt ihnen, sie sollen es versuchen. Und sei es ihrer Mutter Gans zuliebe. Sie hätte sicher gewollt, dass ihre Kinderchen sich vertragen.“

„Ist sie zufrieden?“

Anubimon hatte sich eigentlich schon aufgemacht in der Dunklen Zone zu verschwinden und wieder seinen geheimen Dingen nachzugehen. Er war nicht weit gegangen und doch hatte die Dunkelheit das Digimon fast komplett verschlungen. Wären die goldenen Flügel nicht, würde Azulongmon Anubimon gar nicht mehr erkennen.

„Sie singen jede Nacht Schlaflieder für euch alle“, antwortete Anubimon, ohne Azulongmon anzuschauen und machte sich zum Gehen auf.

„Eine Frage noch", rief Azulongmon hinterher und genervt blieb Anubimon noch. 

„Wieso habt Ihr Deemon damals geholfen?"

„Weil ich Dämonenkönige nicht mag. Aber wenn ich Digimon, die ich mag eine Chance gebe, muss ich das auch bei denen, die ich nicht mag... Und wenn auch Dämonenkönig, einst war auch er Opfer eines grausamen Systems. Ich bin eben neutral. Außerdem wäre es Selbstmord einen Dämonenkönig zum Feind zu haben. Als Beschützer der Unterwelt kann ich mir das nicht leisten. Und lebensmüde bin ich auch noch nicht."

„Er könnte Schwierigkeiten mit sich bringen."

„Dann ist dies eure Chance etwas dagegen zu machen. Ich dachte, die Digiwelt hätte gelernt. Dies ist ihre Chance. Sie soll zeigen, dass sie nicht wieder in eine Apartheid verfällt", erklärte Anubimon trocken, und schaute hinab. „Komm, Bruder. Wir müssen wieder unseren Pflichten nach."

Anubimon verschwand. Das Drachen-Digimon spürte eine Präsenz, die ihm in die Dunkelheit folgte. Anubimon war weg und Azulongmon betrachtete das Licht.

Seine Intuition sagte ihm, dass es gut gehen könnte. Doch das würde nicht von ihm abhängen.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Das ganze Singsang ist nicht zufällig.

Das Gelalle lehnt sich an Vivaldis Winter, 2. Satz an.

Beim Glockenläuten hab ich mich an den letzten Song von Drakengard 1 etwas orientiert, weil... weil ich nichts random haben wollte und ich nicht gut darin bin mir Melodien auszudenken, da ich unkreativ bin.

Der Kampf mit dem Monstrum entstand übrigen spontan so einen Tag vor dem Upload hier und ich weiß immer noch nicht, was mich geritten hat...

#drakengardvibes Komplett anzeigen

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