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Wintersonett

Which dreamed it?
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Vorne weg, bevor ihr hier liest: Das Kapitel sollte mit einer anderen Szenen beginnen, allerdings wirkte die an er Stelle so total falsch, dass ich sie stattdessen ins 11te Konzert (Satz 2) gesteckt habe. Dort im Vorwort ist auch vermerkt wo. Lest das vielleicht vorher noch und kommt dann wieder hierher. Komplett anzeigen

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Konzert XII - ALICE IN WINTERLAND, Grande Finale [ fairly ]


 

𝄢

 

Mitte Januar zog ein ziemlicher Schneesturm über Tokio hinweg, nicht stark genug dass man von einer Katastrophe reden konnte, aber er legte den Verkehr stellenweise lahm und Leute versanken regelrecht im in der weißen, kalten Decke. Dies hielt Hisaki jedoch nicht davon ab den Abend im Freien zu verbringen. Jeder Tag mit Schnee war ein guter Tag und jeder gute Tag, den er damit verbringen konnte Yuki beim spielen zu beobachten und dass sie trotz ihrer Blindheit lachen konnte war ein noch viel besserer Tag. Ein dunkelblauer Skianzug schützte sie vor der Kälte, während sie im Schnee herumtollte und wälzte, doch Yuki war mittlerweile so voller Schnee, dass man weder die Farbe des Anzugs, noch die weißen und rosa Schneeflocken mehr zu erkennen waren. Asami war hineingegangen um für die Familie warme Getränke zu bringen, damit sie es noch etwas länger draußen vor der Haustüre aushielten. Zwar hatten sie keinen großen Garten wie andere Nachbarn, aber der kleine Vorgarten, der von einem hohen Zaun vor neugierigen Blicken schütze, mit einem kleinen und schmalen Baum reichte um sich wohl zu fühlen. Überall im Vorgarten ragten Schneemänner hervor, die meisten davon hatte Yuki gebaut, oder eher versucht. Sie waren nicht kugelrund oder groß und ihre Augen waren entweder zu dicht oder zu nah beieinander und die Nase ganz wo anders, aber Yuki hatte sich Mühe gegeben. Hisaki saß auf einer Stufe vor der Haustüre. Schnee schmolz in seinem Haar und er fuhr sich einmal über die Strähnen. Yuki fiel hin, aber nicht weit oder tief, nun hatte sie aber nicht nur noch mehr Schnee an sich hängen, sondern auch Erde im Gesicht und obwohl sie versuchte sich den Dreck wegzuwischen, machte sie es nur schlimmer.

„Yuki, komm mal her. Ich mach dich wieder sauber“, rief Hisaki ihr zu. Yuki stand zwar auf, schien aber erst nicht zu wissen, was sie machen sollte oder wohin sie und gehen sollte. Ihren Blindenstab hatte sie irgendwo im Schnee verloren. Unbeholfen machte sie einen Schritt vor, blieb aber wieder stehen. Sie hatte keine Orientierung und nicht drauf geachtet, wo die Stimme ihres Vaters herkam.

„Yuki, du musst dich nach links drehen. Gib mir deine Hand“, rief Hisaki ihr zu, erhob sich etwas und streckte seinen Arm aus, um ihr so entgegen zu kommen. Yuki, die nun in etwa wusste wo ihr Vater war drehte sich nach links, streckte ihre Hand ebenfalls aus und nach wenigen Schritten bekam sie Hisaki zu fassen. Er zog sie zu sich und setzte sich dabei wieder. Aus seinem schwarzen Mantel zog er Taschentücher heraus und entfernte damit die Reste von Erde und Gras aus Yukis Gesicht, die Wange und Nasenrücken verschmutzten.

„Entschuldigung, Papa.“

„Du musst dich doch nicht entschuldigen. Das passiert, wenn man spielt. So, jetzt ist alles wieder sauber“, sagte er zufrieden und steckte das Taschentuch wieder in seine Manteltasche. „Pass trotzdem ein bisschen auf, okay? Ich bin auch nicht immer da. Ich weiß, es ist schwierig. Aber dass kannst du. Das weiß ich. Und leg deinen Stab nicht irgendwo hin. Den hier im Schnee zu finden wird lustig.“

Hisaki fing an den Schnee vom Yukis Anzug zu klopfen und steckte seine Hände auch in die Taschen, um zu sehen ob auch dort Schnee oder Erde war. Zu seiner Überraschung aber zog er etwas heraus und plötzlich hielt Hisaki ein Digivice in der Hand. Er befürchtete für einen Moment sogar, dass dies Yuki gehörte, doch hauchdünne Kratzer auf dem kleinen Bildschirm und Dellen an den Ecken vergewisserten ihm, Zeichen des Gebrauchs über so viele Jahre, dass es nur sein eigenes war. Er stutzte.

„Yuki, wieso hast du meine Spieluhr?“

„I-ich habe sie auf dem Tisch gefunden, als ich mit Kitty und Snowball gespielt habe“, stotterte sie, als hätte sie etwas Schlimmes angestellt, dabei hatte Hisaki nicht einmal wütend geklungen, einzig verwundert.

„Und was wolltest du damit? Du darfst nicht einfach ungefragt Sachen von anderen nehmen.“

„Ich wollte nur noch einmal die schöne Musik hören. Aber es geht nicht. Ist sie kaputt, Papa?“

„Nein, ist sie nicht. Das ist kompliziert zu erklären.“

„Warum macht sie Musik bei dir und bei mir nicht?“, fragte Yuki weiter und nun klang sie etwas beleidigt und schmollte deutlich.

„Weil es meine Spieluhr ist. Und die von meinem Freund und nur wir wissen was man damit machen kann.“

„Und was kann man damit machen?“

„Das ist auch schwer zu erklären. Vielleicht erfährst du es eines Tages mal. Vielleicht kannst du mit ihr mal ins Wunderland. Und mit meiner Kette findest du auch meinen Freund, der kann dir das dann alles erklären.“

„Ja! Ja, ich geh Papas Freund besuchen! Ich geh zu Papas Freu-heund“, fing Yuki an zu jubeln und sie singen. Hisaki war sich nicht sicher ob Tsukaimon so begeistert davon sein würde auf ein kleines Kind aufpassen zu müssen, aber wenn er wüsste, wessen kleines Mädchen es war würde er sicher darüber hinwegsehen. Dann plötzlich wurde Yuki wieder still.

„Ich... geh ins Wunderland? Und du und Mama nicht?“

„Ich glaube nicht, dass Mama ins Wunderland möchte. Oder zumindest nicht sofort.“

„Und du? Gehst du nicht mit?“, fragte Yuki enttäuscht nach und noch enttäuschter ließ sie ihre Mundwinkel hängen, als ihr Vater erst mit einem verneinten Ton antwortete. Sie stöhnte und der weiße Rauch ihres Atems verdeckte ihr Gesicht fast vollständig.

„Warum nicht? Du warst doch schon da. Willst du nicht nochmal hin?“

„Ich weiß nicht ob ich noch einmal ins Wunderland kann. Das Wunderland ist für Träumer. Aber ich bin kein Träumer.“

„Träumst du nicht, wenn du schläfst?“

„Doch. Aber nicht mehr das, was ich einmal geträumt habe. Ich träume Erwachsenensachen. Und die sind oft grau. Ich will nicht, dass sie wie ein Jabberwock über das Wunderland herfallen“, erklärte Hisaki und überlegte, ob diese Formulierung nicht zu harsch für eine Vierjährige war. Hisaki zog seiner Tochter die Wollmütze ab und tätschelte ihren Kopf.

„Du musst nicht so traurig gucken. Ich finde das nicht mehr so schlimm. Ich muss nicht wieder dahin. Und außerdem ist Tsukaimon dort. Er passt sicher mindestens genauso gut auf dich auf.“

„Aber willst du deinen Freund nicht wiedersehen, Papa?“, fragte Yuki mit einem Ton, als müsste sie fast weinen. „Vermisst du ihn nicht mehr?“

„Doch. Sehr sogar. Ich würde das gerne. Aber es ist mir nicht mehr so wichtig. Es würde mir reichen, wenn ich einfach nur weiß, dass es ihm gut geht.“

Hisaki zwang sich zu einem Lächeln, im Glauben Yuki könnte spüren ob er dies tat oder nicht und sie somit beruhigen, aber es war nicht so effektiv wie erhofft. Daraufhin setzte Hisaki ihr die rosa Mütze wieder auf.

„Aber du kannst ruhig ohne mich gehen. Der Krieg im Wunderland ist ja vorbei, also kannst du dir alles ansehen.“

„Auch wenn ich nichts sehe?“

„Zugegeben, das macht es schwierig. Aber Tsukaimon passt schon auf dich auf. Er wird zwar meckern wie ich ihn kenne, aber man kann sich auf ihn verlassen. Dann bist du nämlich die neue Alice und der Schwarze König passt immer auf Alice auf.“

Lachend griff er Yuki unter die Arme, zog sie zu sich und rieb seine kalte Nase an ihre. Sie kicherte, bis ihr Gesicht wieder eine gesunde rote Farbe bekam. Sie und Hisaki lachten sogar so laut, dass sie Asami gar nicht hörten, die wieder nach draußen kam und insgesamt drei Tassen (eine aus dicken Plastik, zwei aus Keramik) wieder hinauskam.

„Immer wenn ich euch alleine lasse und zurückkomme, albert ihr herum“, sagte Asami gekünstelt beleidigt, aber Hisaki durchschaute ihr Schauspiel, allein durch ihr viel zu großes Grinsen. „Redest du Yuki wieder Dinge ein?“

„Nicht doch. Ich habe nur gesagt, dass sie alles machen kann, was sie will. Richtig, Yuki?“

„Richtig, Papa!“, stimmte Yuki lauthals zu und nickte zusätzlich eifrig.

„Alles halte ich für übertrieben. Aber du weißt ja, Schatz, dein Papa redet auch sehr viel Unfug.“

„Ich dachte, du magst meinen sogenannten Unfug.“

„In Maßen. Jetzt schmoll aber nicht und nimm deinen Milchshake. Du auch, Yuki.“

„Ja, Mamas Milchshake!“, jubelte Yuki los. Als sie zwischen ihren Eltern Platz nahm zog Asami ihr die Fäustlinge aus, damit sie den Becher am Griff halten konnte. Der Milchshake war warm, schmeckte aber so genauso gut. Yuki pustete mit ihrer Mutter gegen die Schaumkrone, der geschmückt war von einem goldenen Wirbel aus Karamell- und Kürbissirup, erst dann nahm sie einen Schluck. Yukis anschließendes breites Grinsen und Jauchzen über den süßen wie leicht würzigen Geschmack verriet ihrer Mutter, dass es ihr schmeckte, dann gab Asami ebenfalls Hisaki eine Tasse und fing auch an fast gierig aus ihrer eigenen zu trinken (wenn es jemanden außer Yuki gab, der noch so verrückt nach dem Zeug war, dann sie).

„Ich habe das schon so lang nicht mehr getrunken! Köstlich!“, schwärmte Asami und ihre Gesichtsfarbe ähnelte die ihrer Tochter, während Hisaki darüber kicherte.

„Dabei kannst du doch so viel davon trinken wie du willst, du kennst doch das Rezept.“

„Ja, aber alleine schmeckt das nicht. Hier an so einem schönen Abend zu sitzen und dem Schnee zuzuschauen verleiht dem seine ganz besondere Note. Oder findest du nicht, Hisaki?“

„Doch. Auch wenn es unheimlich ist, wenn du so kitschiges Zeug von dir gibst.“

„Du wolltest mich heiraten, jetzt musst du damit leben“, neckte Asami ihn, aber wieder ihrer Erwartung fing Hisaki an zu lachen und sie lachte mit, ehe Asami ihren Kopf in den Nacken warf um in den Himmel zu schauen. Ihr rotes Haar stand so im extremen Kontrast zu der im Blaustich gefärbten Umgebung und dem weißen Schnee, dass Hisaki für einen Augenblick hin und weg war, aber dann wieder zu sich kam, als etwas von der goldbraunen verfärbten Milch über seine Finger lief. Asami bekam das mit und kicherte kurz, ohne aber ihnen Blick vom Himmel abzuwenden. Schließlich sah auch Hisaki hoch zum bewölkten Himmel, der dennoch blau war. Die Schneeflocken waren riesig. Nur gab es keine Sterne und kein Polarlicht. Dieser Himmel über ihm war nicht so atemberaubend wie der damals – aber die Tatsache, dass er hier mit Frau und Kind saß vertrieb die Sehnsucht nach vergangenen Ereignissen. Dieser Himmel – dieser Moment war genauso schön und er würde ihn nie missen wollen. Er hoffte dort in der Digiwelt würde Tsukaimon von irgendwo, mit den anderen Digimon, vielleicht mit Rosemon und Wisemon, vielleicht mit Koutas Geist, vielleicht auch mit jemand ganz anderem auch so einen Himmel sehen und einfach nur zufrieden sein.

„Asami. Soll ich später etwas auf dem Klavier spielen? Für dich?“, fragte Hisaki, sehr zurückhaltend und sogar fast unsicher, was Asami erst irrtierte, aber als sie über das nachdachte was er vorschlug, strahlte sie wie das vom Schnee reflektierte Licht.

„Du willst wirklich... Einfach so? Du spielst doch sonst nicht so gerne.“

„Ja, aber weißt du, ein Musiklehrer, der sich sonst sträubt selbst zu spielen – klingt echt albern, oder? Du darfst dir aussuchen was. Ich spiel was du willst.“

Asami seufzte vor Verzückung, was Hisaki aber nur durch den sichtbaren Atem erkannte, anschließend umarmte sie ihn, wenn auch kurz, da sie beinah ihr Getränk über seinen Schultern ausgeleert hätte. Dann sah sie wie ihr Ehemann, der tatsächlich aus vollsten Herzen behaupten konnte zufrieden mit seinem Dasein zu sein, wieder zum Himmel.

Hisaki betete, dass Tsukaimon nach der Apartheid und allen, was sie mit sich brachte einen Neuanfang machen konnte. Eventuell mit anderen Freunden. Oder mit etwas, was Digimon als Familie bezeichnen würden. Irgendwas, solange er zufrieden war. Er hoffte es so sehr, dass der Schwarze König auch ohne seine Alice glücklich wurde.

 
 

𝅝#

 

SnowBotamon war nicht nur das jüngste Digimon, sondern auch eine Heulsuse. Wenn es an die Zeit kurz nach seinem Schlüpfen dachte, erinnerte es sich nur an Einsamkeit und allein daran zu denken brachte es schon wieder zum weinen. Sicher fühlte es sich lange einzig und allein bei dem Mönch-Digimon, dass es einst fand, mitnahm und das Baby-Digimon in seinen Armen hin und her schaukelte und etwas vorsang, bis es einschlief und die heilenden Kräfte, die Stimme und Sutras bargen, ihren Zweck erfüllten. Dabei musste auch etwas von dieser ominösen Neugierde auf SnowBotamon übergangen sein, die einem schnell mal Kopf und Kragen kosten konnte. Eigentlich interessierte sich SnowBotamon für vieles, aber weil es ängstlich war, traute es nicht einmal einen Stein umzudrehen und aufgrund dieser Ängstlichkeit machten sich die anderen Digimon darüber lustig, bis es wieder weinte. Eines der Digimon, dass auf sie alle Acht gab nahm sich seiner an, bis es sich beruhigt hatte, doch dass es ständig weinte löste Unmut aus. Nur ihr Meister meinte, weil SnowBotamon eben noch sehr jung war bräuchte es eben einfach noch Zeit und der Augenblick käme schon von selbst.

Dieser Augenblick war schließlich jener, als dieses überaus gruslige und gefährliche Digimon mit einem schwarzen Umhang vor ihm stand und SnowBotamon war sicher, wenn seine Ziehmutter nicht daneben gestand hätte, wäre es sofort gefressen worden.

Was an dem Tag passierte begriff SnowBotamon nicht wirklich, aber eins wurde ihm klar – es mochte Töne. Noch mehr aber mochte es Töne zu erzeugen. Die Flöte gab es kaum mehr her, aber weil SnowBotamon mehr schlecht als recht spielte, nahmen seine Spielkameraden ihm diese irgendwann weg und versteckten sie. Auch jedes andere Instrument, was es zu fassen bekam wurde ihm entrissen. Zwar bekamen die anderen Digimon Schimpfe, weil sie SnowBotamon damit nicht nur sehr verletzten, sondern weil es so sicherlich auch nie besser werden würde, wenn sie es so behandelten. Die Instrumente versteckten sie trotzdem, aber subtiler.

SnowBotamon fand sich irgendwann damit ab, denn es hatte ja noch ein Instrument, dass ihm keiner wegnehmen konnte, und dass war sein eigener Mund. Bereits mit dem Wissen, wie man Atmung, Mund und Zunge nutzen musste lernte es recht schnell Pfeifen und war sehr lange damit zufrieden, so unabhängig von einem Instrument Töne zu erzeugen.

Das reichte SnowBotamon jedoch irgendwann nicht. Es wollte mehr Töne hören und auch mehr Töne machen. Es begann zu lallen und keiner wusste, was das eigentlich sein sollte, was es da von sich gab. Seine Spielkameraden fanden es nervig. Doch seit dieses unheimliche, grimmige Digimon von ihm stand, dass dafür aber so schön Musik machen konnte, statt es zu zerfetzen war irgendetwas mit SnowBotamon geschehen und dass sich seine Spielkameraden darüber beschwerten war ihm egal. Nicht gänzlich natürlich, aber es machte weiter, weil es davon überzeugt war, es tun zu müssen und vor allem zu wollen.

Es zeigte sich etwas wie Eigensinnigkeit im dem, wenn auch noch etwa scheuen Baby-Digimon. Als es irgendwann zu Nyaromon digitierte, wunderte man sich nicht wirklich darüber. Nyaromon waren der Inbegriff von Eigensinnigkeit. Doch Nyraomon war immer noch ein wenig schüchtern und verzog sich an die Seite des Mönch-Digimon, um gestreichelt oder in den Arm genommen zu werden. Das gab ihm den Mut weniger schüchtern zu sein und nicht mehr jeden Streich gleich zu Herzen zu nehmen und zu weinen, sondern auch mal zu lachen.

Das Mönch-Digimon und ihre Schüler spekulierten schon ausgiebig, zu was Nyaromon denn werden würde. Auch wenn die meisten zu Salamon wurden, schlossen sie das aus. Vielleicht ein Elecmon oder zu Gabumon oder Labramon. Vielleicht ein Renamon. Irgendwann kam der Tag, an dem Nyaromon digitierte, an einem Tag, wo es viel nachdachte und sich langsam eine Vorstellung entwickelte, was es tun und wo es hingehen möchte. Das machte jedes Ausbildungs-Digimon durch, um anschließend ein Rookie zu werden.

Sanzomon und ihre Schüler waren dabei, als es passierte. Und sie waren sichtlich überrascht, ganz besonders Sanzomon, als ein Tinkermon vor ihr stand.

Ein Tinkermon, dass sich bemühte entschlossen zu wirken, wenn sie doch, wie als Baby-Digimon schon noch immer eine kleine, etwas ängstliche Heulsuse war.

„Darf ich euer Schüler werden, Sanzomon?“, fragte sie nach ihrer Digitation, aufgeregt und mit roten Gesicht. Anschließend geriet Sanzomon ins Grübeln und es kam die These in ihr auf, dass es sicherlich einen Grund gab, warum dieses Digimon ausgerechnet zu Tinkermon wurde. Vielleicht lag das selbe Karma dahinter, dass sie als Tinkermon schon zu Babamon führte, die ja auch einst ein Tinkermon war. Sanzomon stimmte zu.

Trotz ihrer Art war dieses Tinkermon – wie vertraut – anders. Anders wie andere Tinkermon, anders aber auch wie Sanzomon früher. Während man sie einst zu Recht als eine Art Mauerblümchen abstempelte, war Tinkermon eher ein Wildfang, obwohl sie immer noch ängstlich war. Vielleicht kompensierte sie ihre Angst mit ihrer Neugierde und schaffte es so immer in Schwierigkeiten zu geraten.

Mit ihren Mitschülern und Spielkameraden unternahm sie täglich Ausflüge in den Wald nach ihrem Unterricht. Der Wald war groß, aber Sanzomon ermahnte sie stets, nicht zu tief hinein zu gehen, sonst gingen sie verloren. Ihr zu Hause lag verwinkelt und verschoben in der Digiwelt, so dass Feinde sie nicht fanden (und Sanzomon hatte davon einige, wenn sich Tinkermon recht erinnerte). Nur sie als Königin und jenen, denen sie es ausdrücklich gestattete können kommen und gehen wie sie wollten, der Rest müsste erst – wie sagte sie? - auf's richtige Feld ziehen.

„Wie im Schach“, erklärte Sanzomon. Die Königin kann leicht zum achten Feld, die kann schließlich in alle Richtungen gehen, soweit sie will, anders wie die anderen Figuren. Eine Anspielung auf Alice im Wunderland, das Lieblingsbuch von Tinkermons Meister. Auch ihr selbst gefiel die Geschichte und war damit eine Minderheit. Den anderen war sie zu wirr, zu komisch und zu nichtssagend und auch wenn Tinkermon nicht weniger anders darüber dachte, war sie gefesselt von dieser Welt des Nonsens und dem, was er barg, wie ein dunkler Wald oder ein stiller, aber tiefer See.

Momentan war sie nicht nur das einzige Rookie-Digimon, sondern auch das einzige, was als Schüler in Frage kam. Der Rest war noch zu jung und Tinkermon war somit nicht nur die Älteste sondern auch die Anführerin der Rasselbande, die sie immer mal wieder in Schwierigkeiten brachte, was ein außerordentliches Talent war, weil man hier normalerweise gar nicht so schnell in Schwierigkeiten geraten konnte. Die Vergessenen Wälder (so nannte Meister Sanzomon die Gegend) waren in der Digiwelt verworren, vernebelt und mancher sprach davon, dass es dort spukte. Das hatte allerdings den Hintergrund das Digimon, die magisch begabt waren, so wie Sanzomon es war die Verzerrungen wahrzunehmen und durch diese die Ebenen wechselten um andere Welten zu betreten. So wie das mysteriöse Witchely. Oder das dunkle Meer, der beliebteste Schauplatz sämtlicher Horrorsagen. Vielen Digimon wanderten versehentlich zwischen den Ebenen und wunderten sich, dass sie von anderen Digimon nie bemerkt wurden, oder andere sie zwar hörten, aber nie sahen.

Auf einer dieser Zwischenebenen hatte Sanzomon ihr neues zu Hause aufgebaut, wo sie und ihre Gefolgschaft zurückgezogen lebten, aber es keinem ihrer Schützlinge übel nahm, wenn sie sich nach der Außenwelt sehnten, schließlich riefe nur ihre Bestimmung nach ihnen. Auch Tinkermon zog es aus dem sicheren Nest, nur wagte sie den Schritt aus diesen Wäldern nicht hinaus. Etwas hielt sie fest. Sie wusste nicht, was sie da draußen machen sollte. Es fehlte etwas und sie kam sich manchmal unvollkommen vor, wusste aber nicht, was das sein sollte oder warum sie so fühlte. Also blieb sie hier und beschränkte ihre Ausflüge auf das Gehölz dieser Wälder und ignorierte dabei zu gerne die Zeit.

„Tinkermon, komm jetzt!“

„Wenn wir zum Mittagessen nicht da sind schimpfen Gokuwmon und Sagomon mit uns!“, riefen ein Wanyamon und ein Tanemon durch die Büsche. Ihre Spielkameradin sahen sie bereits nicht mehr und sie sie auch nicht, aber hören konnte Tinkermon sie gut.

„Sanzomon kommt heute wieder! Wir sollen alle da sein!“

„Ich weiß! Ich brauche aber noch. Ich brauche doch das perfekte Willkommens-Geschenk für Sanzomon!“, rief Tinkermon wieder zurück. „Sie war so lange weg, ich brauche etwas Besonderes!“

„Ich glaube, wenn du mal pünktlich wärst, würde dass Sanzomon schon freuen. Also komm jetzt!“

„Nur noch eine Minute.“

„Das hast du vor einer Minute auch gesagt!“ moserte Tanemon weiter. Grimmig sahen die beiden Ausbildungs-Digimon sich an. Ihre Geduld war am Ende.

„Wir gehen jetzt! Wir möchten keinen Ärger bekommen.“

„Wir decken dich diesmal nicht, so wie die letzten paar Male!“

„Ich komme ja gleich“, rief Tinkermon zurück und beide wussten, dass sie das nicht tun würde. Wenn auch Tanemon harsch klang wollte es eigentlich nur drohen, in der Hoffnung das würde Tinkermon dazu bringen die Beine in die Hand zu nehmen, aber nichts dergleichen geschah. Verpetzen würden es und Wanyamon sie nicht, aber sie würden dennoch gehen. Gokuwmon vor allem sah es überhaupt nicht gern wenn sie Regeln missachten. Sanzomon war zwar nicht so streng und war der Meinung, Regeln mal zu verletzen sei nicht falsch, richtig aber auch nicht und wer zu spät zum Essen oder zum Unterricht kam erhielt nun mal eine Strafe, die keiner von beiden wollte. Tinkermon bekam oft genug schimpfe, weil sie sehr oft mal die Regeln ignorierte, aber sie lernte irgendwie nichts daraus und jeder Versuch nächstes Mal darauf zu achten scheiterte, weil sie sich jedes Mal wieder von etwas ablenken ließ, dass ihre gesamte Aufmerksamkeit beanspruchte. Dieses Mal waren es die Seerosen, die zu einer komplett falschen Zeit blühten.

Der Wald des Vergessenes mochte in der eigentlichen Digiwelt schlicht und immer grün bleiben, jedoch auf der Zwischenebene, in der Sanzomon sich versteckte folgten die vier Jahreszeiten einem geregelten Zyklus. Der Winter kam in diesem Jahr ziemlich früh, obwohl der Herbst mild und warm war, was einige Blumen nochmal dazu motivierte ihre Blüte zu zeigen. Nun waren diese vom Frost überrascht worden und zu Eis erstarrt. Prunkwinden und die Blüten an den Bäumen hingen wie Girlanden an ihren Ästen. Blumen die denen in der Menschenwelt ähnelten, wie Tulpen, Rittersporn, Lilien und Rosen waren von einem weißen Schleier verdeckt worden. An den Seerosen im Wasser hing Frost und genau diesen sah sich Tinkermon ganz genau an, da sie ein potenzielles Geschenk für ihren Meister sein könnte. Die Blume war bereits weiß, doch die Muster, die der Frost auf den Blütenblättern hinterließ waren erkennbar. Im Sonnenlicht schimmerten sie und Tinkermon war auf sie fixiert wie eine Elster auf glänzenden Schmuck. So fasziniert hörte Tinkermon nicht einmal das Trailmon in der Ferne. Es gab eine einzige Haltestelle, die in diesen verzerrten Raum führte und war somit so ziemlich der einzige, offizielle Weg wie man hier als Außenstehender hierher kam. Das Trailmon schnaufte, als es über die Schienen raste. Offenbar hatte es sich über etwas geärgert. Das Digimon war vom Wald aus nicht zu sehen, dafür zog der Qualm, dass es hinterließ über Tinkermon vorbei und ihr wurde klar, dass Seerosen nicht nur ein sehr schwaches Geschenk waren, denn schließlich brachten Sanzomons Mündel ihr immer wieder welche mit, sondern auch dass die Mittagsstunde bereits lange vorbei sein musste, wenn das Trailmon schon hier vorbeifuhr.

„Oh-oh“, stöhnte Tinkermon und stieß sich dabei von dem Seerosenblatt ab, auf dem sie die ganze Zeit saß und flog zurück zum Ufer. Jedoch sah das Ufer nicht mehr so aus wie das, wo sie ihre Spielkameraden zurückgelassen hatte. Sie muss abgetrieben sein. Jedoch wie weit. Nervös schaute sie in alle Richtung.

„Das fehlte noch. Ich krieg bestimmt wieder Ärger...“

Noch ein Stöhnen. Tinkermon schaute sich um und brauchte nicht lange um zu wissen, wo sie war. Sie kannte den Wald wie ihre Hosentasche. Die Anordnung der Bäume und ihre markanten Zeichnungen an den Stämmen halfen ihr sich zu orientieren. Ausschlaggebenden für ihre Einschätzung war nicht zuletzt ein ganz besonderer Baum, der beim Wachsen einen Abhang hochkletterte, ehe er durch einen Blitzschlag seine Wurzel verlor. Doch er hatte bereits eine beachtliche Höhe wie Breite und einige Wurzeln schienen sogar in den Stein hineingewachsen zu sein. Der Stamm war hohl und daher wurde dieser Baum von Tinkermon und ihren Spielkameraden als Rutsche benutzt. Und wenn sie bei der Baumrutsche war, war sie nicht so weit abgetrieben. Aber bis zum Mittagessen würde sie es garantiert nicht mehr schaffen. Was soll's.

Ein Schrei erschrak Tinkermon so sehr, dass sie fast vergaß zu fliegen und zu Boden gefallen wäre. Der Schrei kam vom Baum.

Tinkermon, neugierig wie sie war flog näher zum Stamm, da sie aber auch Angst hatte wagte sie nur vorsichtig in den Stamm hineinzusehen. Es war dunkel darin und sie hörte, wie etwas klibbernd und klackend runterkam, doch es schien nicht sehr groß oder schwer zu sein. Sie tippte auf Steine, die sich von etwas weiter oben lösten bis dieses Ding immer näher kam und schließlich an Tinkermon vorbei fiel. Es schlug auf dem Boden auf und blieb schließlich regungslos im Gras liegen. Was es war konnte Tinkermon nicht sagen, denn sie hatte nie etwas vergleichbares zu Gesicht bekommen. Es war jedenfalls kein Stein und keine Pflanze. Lebendig war es auch nicht. Eine Maschine vielleicht?

Tinkermon landete im Gras neben diesem kleinem Gerät und nahm es schließlich in die Hände, um es so besser betrachten zu können. Sie erkannte Digimojis, bis sie aber begann das zu entziffern leuchtete der kleine, quadratische Bildschirm. Tinkermon erschrak, bis sie die Musik hörte. Es klang ein wenig nach Klaviertasten und es waren auch keine zufälligen Töne, sondern es spielte eine bestimmte Folge.

„Woah. So eine hübsche Melodie. Darüber freut sich Meister Sanzomon bestimmt“, murmelte Tinkermon vor Begeisterung. Sie summte mit und überlegte, ob sie die Melodie kannte. Schließlich stellte sie fest, dass sie das wirklich tat. Nur konnte Tinkermon in ihrem Gedächtnis nichts finden, was erklären könnte, woher sie es kannte. Sie tat es. Sie hatte ganz sicher einmal die Musik eines Klavier gehört. Doch es war zu lange her.

Wieder ein Schrei, wieder aus dem Baum. Die Musik endete abrupt, stattdessen hörte man ein Rumpeln und Poltern aus dem Baumstamm. Dann wieder ein Schrei und er kam näher. Direkt unter dem Stamm war ein leicht verschneiter Laubhaufen und in diesen fiel jemand schließlich rein. Sofort flüchtete Tinkermon sich mit dem kleinen Gerät hinter ein paar Binsen am Flussufer. Von dort schaute sie wieder zurück zum Baum und um zu sehen, wer da nun war.

Es war definitiv kein Digimon, auch wenn dieser jemand von seiner Anatomie Meister Sanzomon ähnelte. Über die Digimon wie ihren Meister sagte man, sie sehen menschenähnlich aus. Also schlussfolgerte Tinkermon, dass dieser jemand, der da aus dem Loch gefallen kam ein Mensch sein musste.

„Aua... So ein Mist. Wo bin ich denn jetzt?“, stöhnte der Mensch. Es war ein Mädchen, dass im Laubhaufen saß und den Kopf schüttelte. Reste der vertrockneten Blätter fielen aus ihrem hellblonden Haar. Ihre ebenso hellen, blauen Augen wirkten verwirrt, während sie versuchte die restlichen Blätter aus ihrer Kleidung zu klopfen. Das brachte nur bedingt etwas, das Meiste blieb an ihrem blauen Rock hängen oder verhedderte sich an ihrem weißen T-Shirt (oder eher an den bisschen Spitze). Und während Tinkermon noch zusah, wie das Mädchen ihre Kniestrümpfe wieder über ihre Knie zog und ihre Haarklammern ordentlich zwischen die Strähnen schob, wurde sie von der Faszination des Geschehens eingefangen. Ein Mädchen, dass aus einem Loch in einen Blätterhaufen fiel, welch ein Zufall. Nichtsdestotrotz, dass dieses Mädchen nur schulterlange Haare besaß war Tinkermon sicher, dass Mädchen sei diese Alice, die wie in dem Märchenbuch ihres Meisters ins Kaninchenloch gefallen war. Oder eher in das Loch des Baumes.

„Onkelchen wird ausflippen“, stöhnte sie und rieb sich den Kopf. Sie klopfte weiter Dreck ab, erst an ihrem Shirt, dann am ihrem Rock. Da hielt sie erschrocken inne, tastete sich um ihre Hüfte und griff in eine Tasche ihres Rocks. Dann wurde ihr Gesicht steif.

„Nein. Nein, nein, nein, das – Wo ist es denn?“, rief sie fast panisch auf. Wieder tastete sie ihre Hüfte ab, dann begann sie mit ihren Händen unter den Laubhaufen zu greifen. Sie suchte etwas und unter dem Laubhaufen war es auch nicht. Tinkermon sah ihr zu, wie sie auf die Knie ging und langsam mit ihren Händen das Gras absuchte, Zentimeter für Zentimeter, während sie weiter fluchte.

Im ersten Moment kam Tinkermon nicht darauf, dass dieser Mensch eventuell das Gerät suchte, was vor ihr aus dem Baum gefallen kam. Doch als sie darüber nachdachte schien es nur logisch zu sein. Es machte Tinkermon schon traurig, da ihr die Musik gefiel und sie es gerne Sanzomon schenken würde. Aber ihr tat das Mädchen Leid, die immer verzweifelter wurde und eine Diebin wollte sie nicht sein.

„E-Entschuldigung?“, rief sie aus ihrem Versteck. Das Mädchen hörte sie und richtete ihren Oberkörper auf, blieb aber auf ihren Knien sitzen. Zudem schaute sie in die völlig falsche Richtung. Tinkermon dachte sich, dass sie sie einfach nicht sah, also nahm sie ihren Mut zusammen und flog aus dem Binsenstrauch heraus. Das Mädchen schaute sie immer noch nicht an, dabei war sie nah genug, dass sie sie bemerken müsste. Wie unhöflich. Aber gut, vielleicht hatte sie auch einen Schock vom Sturz.

„Das gehört dir, oder?“, fragte Tinkermon und streckte die Arme von sich, in denen sie das Gerät hielt. Das Mädchen bewegte ihren Kopf leicht zu Tinkermon, sah sie aber immer noch nicht an. Irgendetwas war komisch an ihren Augen.

„Hast du mein Digivice gefunden?“, fragte das Mädchen mit ihrer hellen Stimme.

„Ähm, was ist ein Digivice? Kann es Musik machen?“

„Also meines kann es.“

Tinkermon musterte das Gerät nochmal. Der Bildschirm flackerte immer noch so golden wie ihre Flügel. Die Musik war verstummt und sie ließ die Mundwinkel hängen.

„Dann ist das wohl deines. Das wusste ich nicht. Mir hat die Musik so gut gefallen.“

„Magst du Musik?“

Tinkermon ging auf die Frage erst nicht ein. Sie starrte gespannt auf das Digivice, denn als sie es dem Mädchen in die Hand legte, leuchtete es wieder intensiver und es hörte erst auf, als Tinkermon ihre Hände davon nahm. Das Mädchen hatte es auch gespürt, sagte dazu aber nichts, um nicht nur abzuwarten, was das bedeuten sollte, sondern auch um dieses Digimon nicht zu überfordern. Auch wenn Tinkermon versuchte sich nicht anzumerken zu lassen, dass sie ein wenig Angst vor dieser Fremden hatte, sie hörte es dennoch heraus.

„Äh, ja. Mag ich“, sagte Tinkermon schließlich eifrig und sehr laut, als sie aus ihrer Starre wieder erwachte.

„Spielst du ein Instrument?“

„Ich habe mal eine Flöte bekommen und habe darauf gespielt.“

„Das klingt toll.“

„Nein. Die anderen haben immer geschimpft“, erzählte Tinkermon grummelnd. „Dann hab ich sie verloren und eine Panflöte bekommen, aber die zu spielen war ohne Arme und Hände echt schwer. Dann hab ich angefangen zu pfeifen, zu trällern und zu lallen.“

„Also singst du lieber?“, fragte das Mädchen weiter. Lächelnd klatschte sie einmal zaghaft in die Hände.

„Wie süß. Sing mal was.“

„Singen? Ei-einfach so?“

„Ja, sing doch etwas. Ich möchte es hören.“

„Aber ich weiß gerade gar nicht was.“

„Kennst du Funkel Funkel, Fledermaus? Kannst du das singen?“

Das ein Mädchen, dass aussah wie die Alice Liddle aus dem Buch auch noch das Lied des Hutmachers kannte überraschte Tinkermon irgendwo so sehr und gleichzeitig wunderte es sie doch nicht. Sie dachte nach, da ihr der Text nicht gleich in den Sinn kam, brauchte aber dafür nicht lange.

Funkel, funkel, Fledermaus, wonach fliegst du heut' wohl aus? Segelst hoch über der Welt, Wie 'n Teeblatt am Himmelszelt.

Tinkermon hörte sie kichern. Doch sie lachte sie nicht aus, sondern sie freute sich herzhaft. 

„Wie süß. Ich mag deine Stimme“, sagte das Mädchen begeistert und sie klatschte mehrmals in die Hände. Tinkermon wurde vor Verlegenheit rot bis über die Ohren.

„Sag mal, wie heißt du denn?“, fragte Tinkermon verlegen und schämte sich nur noch mehr, dass sie so rot im Gesicht wurde. Ein Lob von jemand außer ihrem Meister und ihren drei ältesten Schülern bisher nie erhalten. Neugierig flog sie einmal um das Menschenmädchen herum.

„Und bist du wirklich ein Mensch?“

„Ja, ich bin ein Mensch. Du hast wohl noch nie einen Menschen getroffen, stimmt's?“, fragte sie und Tinkermon schüttelte mit einem leisen „Uh-uhmm“ den Kopf. „Ich heiße Yukino. Aber sag nur Yuki zu mir. Das machen alle.“

„Yuki...“

Plötzlich kam Tinkermon ins Grübeln. Diesen Namen zu hören löste etwas in ihren Inneren aus, auch wenn sie keinerlei Erinnerung oder Wissen besaß, dass so ein Empfinden auslösen könnte. Nicht einmal, dass der Name dieses Mädchens Schnee bedeutete und Tinkermon als Schnee-Digimon sozusagen das Licht der Welt erblickte. Noch etwas, was sie gemeinsam hatten. Irgendwie kam ihr dieses Mädchen wie ein Seelenverwandter vor, der sie ohne jeden Zweifel verstehen und akzeptieren würde. Die Überzeugung, trotz dass sie sich gerade einmal ein paar Minuten kannten war merkwürdig. Doch das, was Tinkermon schon seit sie auf dem Ausbildungs-Level war zu vermissen schien, erschien ihr auf einmal zum greifen nahe und den Schlüssel zur Lösung trug dieses Mädchen in sich. Wenn nicht sogar war sie selbst dieser Schlüssel.

Auf jeden Fall wirkte sie nett.

„Ich bin Tinkermon“, sagte sie ganz aufgeregt und streckte ihre Hände aus, mit denen sie gerade einmal Yukis Finger hätte umfassen können. Nachdenklich legte Yuki den Kopf zu Seite, statt Tinkermons Geste anzunehmen und dass Feen-Digimon dachte bereits etwas falsch gemacht zu haben, dann klarte sich ihre Mimik auf.

„Ah, von Tinkerbell. Dann bist du ein Feen-Digimon? Noch ein Fabelwesen aus einem Buch. Was ein Zufall“, kicherte Yuki. Tinkermon verstand den Witz nicht. Yuki hatte ihre Geste immer noch nicht angenommen. Sie schien sie nicht einmal bemerkt zu haben. Vorsichtig näherte Tinkermon sich dem Mädchen, die darauf aber auch nicht zu reagieren schien. Dann streckte Tinkermon erst einen Arm aus, dann den anderen und wedelte etwas damit vor Yukis Gesicht herum. Doch immer noch schien Yuki sie nicht einmal zu erfassen und erst dann wurde Tinkermon klar, wie starr ihre Augen eigentlich wirkten. Nicht leb-, aber glanzlos.

„Siehst du mich nicht?“

„Nein. Ich kann nicht sehen“, antwortete Yuki und schüttelte sachten den Kopf.

„Aber du hast doch Augen. Mit Augen kann man doch sehen.“

„Nun, wie erkläre ich dir das? Ich wurde mal sehr krank und meine Augen sind eben nie gesund geworden.“

„Dann siehst du wirklich gar nichts, seit du mal so krank warst?“

Wieder schüttelte Yuki den Kopf und ihre blonden Strähnen bewegten sich mit ihr. Tinkermon entwich ein mitleidiges, kaum hörbares „Oh“. Zwar kannte sie das Phänomen der Blindheit, da es Digimon gab die durch Attacken diese Effekt temporär herbeiführten, doch dauerhafte Blindheit oder andere Behinderungen gab es in dieser Form in der Digiwelt nicht und entsprechen konnte sich Tinkermon nicht vorstellen, wie das sein musste so zu leben.

„Du Arme...“

„So arm bin ich nicht. Ich kann viel machen, auch wenn ich nicht sehe. Ich mache auch Musik am Klavier.“

„Aber wie, wenn du nicht sehen kannst?“

„Für ein Klavier braucht man nur gute Ohren, die richtigen Hände und Platz im Herzen, dann geht das. Und ein paar Tricks in der Hinterhand“, erklärte Yuki grinsend.

„Tricks? Was für Tricks? Zaubertricks?“

„Vielleicht. Vielleicht kann ich zaubern oder hellsehen.“

„Das glaube ich nicht.“

„Hm, okay, wenn du mir nicht glaubst, dann beweise ich es dir. Schlag etwas vor.“

Tinkermon dachte angestrengt nach, dabei zog sie sehr tiefe Falten in ihr Gesicht und ihre Augen wurden dabei zu Schlitzen.

„Okay, ich weiß etwas“, sagte sie schließlich. „Da im Fluss leben Otamamon. Weil es ihnen zu kalt ist leben sie ganz tief am Boden und schlafen. Aber manchmal singen sie im Schlaf. Weißt du was sie singen?“

Yuki schaute erst fragend drein. Ihr Kopf neigte sich leicht auf ihre linke Seite, dort wo auch der Fluss lag. Vereinzelt hörte man schwaches Plätschern. Dem Fluss, der durch den ganzen Wald ging, sogar bis Tinkermons zu Hause sah man nicht an, dass er sehr tief war. Die Otamamon und andere Wasser-Digimon verdankten es den Strömungen, dass sie hier landeten und da Winter war wurden sie natürlich müde und träge. Das so was geschah hatten sie nur zufällig herausgefunden, da Tinkermon, als sie noch SnowBotamon und Nyaromon war die Digimon hörte. So sensible wie ihre Ohren waren hörte sie so einiges, sogar fast besser wie Gokuwmon, der doch ein sehr guter und aufmerksamer Krieger war. Von ihren Spielkameraden hörte es auch kaum jemand und Tinkermon war überzeugt, ein Mensch könne das nicht.

Doch Yukis erst gerunzelte Stirn entspannte sich und ihr Kopf drehte sich weiter in Richtung Fluss. Sie fuhr mit zwei Finger hinter ihr linkes Ohr und legte es an.

„Ich höre sie“, murmelte sie leise. Tinkermon stand überrascht der Mund auf. Yuki begann erst vorsichtig zu summen, bis sie sich an die Reime erinnerte.

„Frühling ist windig, blumig und laubig... Sommer ist kratzig, strohig und krautig... Herbst ist niesend, keuchend, frierend... Winter ist rutschend, nässend und schneiend...“

Lächelnd nahm sie ihre Hand wieder runter. Immer noch stand Tinkermons Mund auf und auch wenn Yuki es nicht sah, ahnte sie es irgendwie, stellte sich das Gesicht der kleinen Fee vor und schmunzelte, während sie auf einem Ohr noch die Otamamon hörte.

„Mutter Gans' vier Jahreszeiten. Cool. Ich wusste gar nicht, dass man in der Digiwelt alte Kinderreime kennt. Sie ist echt faszinierend“, stellte Yuki weiter lächelnd fest.

„Ähm, j-ja. D-Die Otamamon hören uns oft singen. Wir singen und reimen beim rumtollen, so müssen die Otamamon sich das beigebracht haben. Du hast sie echt gehört“, erzählte Tinkermon. Ihr Gesicht glühte vor entflammter Begeisterung, ähnlich wie für eine tiefe Schwärmerei. Und dazu hatten sie so viel Gemeinsamkeiten. Bestimmt war dies dieses Karma, von dem Gokuwmon so oft sprach. Oder das, was Meister Sanzomon Bestimmung nannte.

Plötzlich befreit von jedem Zweifel hielt Tinkermon Yuki am Finger fest und zog sie damit an ihrere Hand. Yuki wehrte sich zwar nicht, aber sie stand auch nicht sofort auf.

„Komm, ich zeig dir noch mehr. Hier im unseren Wald gibt es ganz viel solcher Dinge“, jauchzte Tinkermon euphorisch, doch Yuki schüttelte den Kopf.

„Tut mir Leid, ich muss erst etwas erledigen. Eigentlich bin ich nämlich hierhergekommen um jemanden zu suchen. Das ist ganz wichtig. Und ich glaube, ich finde ihn hier“, erklärte Yuki und stand schließlich doch auf. Sie klopfte Laub von ihren Kniestrümpfen.

„Wen suchst du denn?“

„Ich suche ein ganz bestimmtes Digimon. Nicht wegen mir, aber für jemand anderen wäre es sehr wichtig. Es sieht weiblich aus, müsste auf einem hohen Level sein und muss vor langer Zeit mal das Synonym Weiße Königin getragen haben.“

Tinkermons erster Gedanke war bei ihrem Meister Sanzomon. Ehe sie aber voreilige Schlüsse zog überlegte sie, auf welche Digimon das noch zutreffen könnte, doch die Auswahl war mau. Die meisten Digimon wurden erst ab dem Ultra-Level deutlich männlich oder weiblich (Digimon wie Tinkermon waren eine Ausnahme der Regel). Und Sanzomon war auf dem Ultra-Level. Gut, es gab zwar noch mehr Digimon auf die das zutraf, jedoch würde es kaum Digimon geben, die sich Weiße Königin nannten. Vor langer, langer Zeit galt ihr Meister noch als heimliche politische Aktivistin und Widerstandsbefürworterin. Damals, als es noch viel Krieg und Hunger gab, der Himmel irgendwann Löcher bekam und die Digiwelt sich in Spiralen drehte, nur um dann in sich zusammenzufallen, was den Digigöttern sei Dank nie geschah. Und die Feinde nannten sie sehr abfällig bei diesem Namen. Die Geschehnisse von einst auf Grey Mountain konnte Tinkermon nicht vergessen wie auch diesen Namen, nicht zuletzt, da Meister Sanzomon genauso wie ihre Buchvetterin manchmal etwas merkwürdig war. Liebenswert und weise, aber merkwürdig.

„Weißt du, dass klingt nach meinem Meister.“

„Du hast einen Meister?“, wiederholte Yuki und Tinkermon nickte eifrig, bis ihr wieder einfiel, dass Yuki das ja gar nicht sah.

„Mein Meister hat mich großgezogen und lehrt mich ganz viele Dinge. Sie muss früher viele geheime Dinge gemacht haben. Und Weiße Königin... Ja, das kann nur Meister Sanzomon sein.“

„Ja, genau, so hieß das Digimon. Aber ist dein Meister auch wirklich die Weiße Königin?“

„Ja, sie muss das sein. Ich weiß noch, Meister Sanzomon hatte früher viel Ärger mit ziemlich üblen Digimon. Und sie sagt auch immer, dass sie die Königin ist und deswegen auch ganz leicht auf das achte Feld laufen kann. Meister Sanzomon liebt Metaphern“, erklärte Tinkermon, dann ging ihr noch ein Licht auf, während Yuki begeistert in ihre Hände klatschte. „Aber Moment, wie bist du denn hierher gekommen?“

„Na, mit der Spiegelbahn. Mit dem Trailmon. Zumindest bis man uns rausgeworfen hat.“

„Uns?“

Tinkermon zog eine Augenbraue hoch, dann entgleiste ihr Gesicht, als man zwischen den Bäumen ein Donnern hörte. Verängstigt flog Tinkermon Yuki um den Hals. Denn das, was sie für ein Donnern hielt war keines, auch keine Sturmböe. Es war ein Fauchen. Hier war etwas, dass die sanftmütige Aura dieses Waldes verschlang und ihn verlassen, düster und zwielichtig erscheinen ließ, obwohl sie nichts an den Pflanzen, Bäumen oder an den Steinen änderte.

„Was ist das?“, fragte Tinkermon bibbernd und schaute zum Himmel hoch. Kleine, schwarze Schatten flogen über ihre Köpfe hinweg.

„Das ist nur mein Onkel. Klingt, als wäre er echt sauer“, seufzte Yuki etwas und für Tinkermons Geschmack viel zu entspannt.

„Dein Onkel?“

„Na ja, mein richtiger Onkel ist er natürlich ist. Er ist ein Digimon. Er ist etwas eigen und launisch, aber er ist sonst in Ordnung.“

Ganz so beruhigend klang das für Tinkermon nicht. Das Fauchen der Fledermäuse verstummte. Dafür hörte Tinkermon Schnee knirschen. Es kam näher. Jemand schritt auf sie zu und wer immer es war, brachte eine eisige Aura mit sich.

„Kannst du mir freundlicherweise erklären, wieso man dich keine Sekunde aus den Augen lassen kann?“, bebte eine Stimme aus den Bäumen. Yukis sogenannter Onkel klang für Tinkermon alles andere als freundlich, sondern vielmehr furchteinflößend. Und komischerweise auch vertraut.

„Du bist doch eingenickt. Ich wollte dich nur nicht stören, weil die Sonne immer noch so stark schien“, erklärte Yuki trotzig, ohne eine Spur der Angst. Sie kannte die Gruselshow und hatte ja bereits als Kind bewiesen, dass sie einen etwas extravaganten Faible besaß.

Tinkermon hörte den Schnee nicht mehr knirschen. Das Digimon war direkt hinter ihnen stehen geblieben und sie spürte scharfe Blicke im Rücken, während Yuki weiter einfach ganz gelassen blieb.

„Es war ein Versehen. Ich bin nur ausgerutscht. Ich habe mich auch nicht verletzt. Aber ich habe jemanden getroffen, der uns helfen könnte,“ erklärte sie. Eingeschüchtert wollte Tinkermon gar nicht erst aufsehen, sie spürte auch so bereits, dass dieses Digimon nicht nur ein starkes, sondern auch ein düsteres Digimon war, von dem viel negative Energie (negatives Karma hätte Gokuwmon gesagt) ausging. Und so ein Digimon bezeichnete ein Mädchen – ein Menschen-Mädchen – als ihr Onkel?

Wäre Tinkermons Neugierde nicht gewesen, hätte sie wohl für immer ihre Augen zugekniffen und nie aufgesehen, um festzustellen, wie überrascht das Digimon schien.

Myotismon staunte kurz über dieses Tinkermon und glaubte sogar sie sei es, doch ein genauerer Blick reichte um sich zu vergewissern, dass dieses Tinkermon ein fremdes war. Allerdings nicht so fremd, wie er glaubte, den Tinkermon erkannte Myotismon sofort. Nicht als Art, sondern als genau das Digimon, dass trotz seiner schaurigen Erscheinung Musik spielen konnte, schöner als eine Sternennacht.

„B-Boogymon?!“

 
 

𝅘𝅥𝅮

 

Tinkermon war auf ihrer langen Reise nach einer Heimat einigen Tinkermon begegnet, mit denen sie sich nicht verstand und von denen sie aus reiner Belustigung regelrecht gemobbt wurde. D'arcmon traf auf ihrer Selbstfindungsreise ein paar wenige andere D'arcmon, die noch nicht von den dunklen Truppen eliminierten worden waren und auch mit diesen verstand sie sich nicht. Sie war für ihre Artgenossen, wie auch für die Tinkermon davor zu passiv und zu verträumt. Sie wurde von ihnen nicht gehänselt, aber gemieden und ob ihr ihre Aufgabe als Engel-Digimon nicht bewusst sei und wie konnte sie es wagen nicht zu kämpfen?

Einem anderen Sanzomon jedoch war sie nie begegnet, aber war sich sicher, dass es ähnlich verlaufen würde. Nun, nach all den Jahren änderte sich das. Sie traf eines, ganz zufällig. Dieses Sanzomon war schon lange auf Reisen. Sie hätte sich durch verschiedene Insel-Gruppen geschlagen und kam nun endlich auf das Festland. Wie ihre Artgenossin es schaffte in Sanzomons neues zu Hause einzudringen war ihr nicht klar, aber Digimon wie sie beide besaßen wohl versteckte Potenziale und waren somit immer für Überraschungen zu haben und bekanntermaßen weckten diese Digimon nicht nur Sanzomons Neugierde, sondern waren ihr auch die liebsten. Sie sahen absolut identischen aus, aber Sanzomons Schüler konnten ihren Meister von ihrem Gast ohne weiteres unterscheiden. Ihr Meister legte die Hände anders auf den Schoß, ihre Augen funkelten anders und sie redete auch anders. Hinzukam dieser gewisse Instinkt unter den Digimon, der bestimmte Individuen in einer Gruppe, in der ein Ei dem anderen glich ganz einfach wiederfand.

Dieses Sanzomon erzählte auch, dass es noch andere Sanzomon gab, aber in weit entfernten Winkeln der Digiwelt und wunderte sich, dass sie hier auf Server eine Artgenossin traf. Mit diesen anderen Sanzomon, die im Tempeln Web Continents lebten traf sie sich regelmäßig um Wissen auszutauschen. Und sie hatte ihren Meister eingeladen. Sanzomon aber verneinte erst. Artgenossen zu treffen machte sie nervös. Doch selbst als ihr Gast ging, dachte Sanzomon über diese Einladung nach, die sie weiterhin ablehnte, aber Gokuwmon, Cho-Hakkaimon und Sagomon sahen, dass sie vielleicht doch gern mitgegangen wäre oder sich zumindest vorstellte, wie es wäre mitzugehen.

Cho-Hakkaimon hatte keinen Erfolg dabei auf Sanzomon einzureden es doch zu wagen. Sagomon brachte sie zum Grübeln. Sirenmon ermahnte sie, wenn sie es nicht tue, bereue sie es. Gokuwmon war es schließlich, der zu ihr durchdrang und das obwohl er am wenigsten redete. Sie sahen sich am späten Abend gegenüber und haben sich fast nur angesehen. Dann vergewisserte er, dass er auf alles Acht geben würde. Und immerhin hätte Sanzomon einen Punkt in ihrem Leben erreicht, wo ihr das Gerede egal war und Begrifflichkeiten, wie die anders zu sein keine negative Assoziation mehr in ihr hervorriefen.

Außerdem gab es keinen Grund mehr für sie, sich zu verstecken. Seit der endgültigen Vernichtung Apokalymons, dem Fall der Meister der Dunkelheit und der Wiederauferstehung der Souveränen hat sich ein wenig in der Digiwelt getan. Aus politischer Sicht aber stand noch alles offen. Aber das Bedürfnis nach einer absoluten Politik für die gesamte Digiwelt war nicht sehr groß. Es entstanden monarchistische wie demokratische Kreise die nicht selten Bündnisse schlossen und solange diese mit und untereinander auskamen, würde sich wohl niemand beschweren. Für die Dauer war dies nicht geeignet. Aber es war ein Anfang. Zumindest hatten sie alle öffentlich zugestimmt, dass es keine totalitären Regierungsformen mehr geben soll und darf.  

Ein paar Tage darauf ging sie. Es muss eine lange Reise gewesen sein. Sie war drei Monate weg und kam freudestrahlend wieder und zauberte bei ihrer Gefolgschaft ein Lächeln auf die Gesichter. Sie hatten Sanzomon lange nicht so ausgelassen mehr gesehen. Enge Freundschaften würde sie nur schwer, wenn überhaupt knüpfen, aber sie hatte Digimon, die nicht ihre Gefolgschaft waren getroffen und wurde akzeptiert.

Seither ging sie alle halbe Jahre zu so einer Versammlung. Viel erzählte Sanzomon nicht, es bestand in gewisser Weise eine Schweigepflicht. Aber sie brachte andere Schriften anderer Sanzomon mit. Mit einem, dass von den Folder Islands stammte verstand sie sich besonders gut und dem Sanzomon, dem der Tempel nicht weit weg von einem Vulkan auf Web Continent gehörte. Sie führte Brieffreundschaften. Und sie so zu sehen freute Gokuwmon besonders.

Wenn Sanzomon wiederkehrte herrschte immer ein großes Chaos, denn zur Wiederkehr der Weißen Königin sollte bloß alles tadellos sein und nichts sollte den Verdacht aufkommen lassen, dass Gokuwmon, Cho-Hakkaimon und Sagomon mit ihren Pflichten als Anführer, Lehrer und oberste Babysitter etwas überfordert waren. Sanzomon merkte es jedoch jedes Mal.

Bei diesem Trip hatte sie sogar die Sistermon mitgenommen. Sistermon Blanc wedelte wild mit den Armen und warf sich Cho-Hakkaimon um den Hals, die schon im Garten vor den Türen ins Schloss auf die Ankunft der drei warten.

„Endlich zu Hause“, ächzte Sistermon Noir. Trotz das Winter war, ließ sie sich auf einen Stein fallen und schnaufte, als sei Hochsommer. Sanzomon ließ ihren Blick schweifen. Der doch große, schmale Teich war teilweise gefroren. Ihre Heilpflanzen von Schnee bedeckt zusammen mit ein paar Spielzeugen, die ihre Findlinge haben liegen lassen. Einige Pflanzen wuchsen kreuz und quer über die Steinmauern, da sie nicht richtig oder regelmäßig gestutzt worden waren. Ihre Schüler brauchten noch einmal einen Lehrstunde in Sachen Botanik. 

Cho-Hakkaimon setzte Sistermon Blanc wieder ab und rannte zu Sanzomon, um sie überschwänglich zu begrüßen, gerade als Sirenmon noch aus dem Schloss geflogen kam. Ob Schloss die richtige Bezeichnung war war fraglich, wenn sich Sanzomon und ihr Gefolge beim Aufbau sehr an ihr altes zu Hause auf Grey Mountain orientierten. Gebaut und errichtet hatten sie es am Fuße einer nicht sehr hohen Felswand, entsprechend wirkte es teilweise so, als sei ihre Behausung in diesen Bruch hinein gewachsen. Es war wesentlich kleiner, aber offener, heller, ebender und – was Sanzomon und auch ihre Findlinge sehr freute – bot mehr Platz für Pflanzen. Wald und Wasser hatte sie praktisch vor ihrer Türe, so musste sie auch nicht mehr den halben Berg runter laufen, um ihre Seerosen zu züchten. Dafür fehlte der manchmal fast romantische Ausblick ins Tal, aber für die Ruhe und Sicherheit hier büßte sie das gerne ein.

„Und, wie war eure erste Reise?“, fragte Sirenmon die beiden Sistermon.

„Etwas turbulent“, gab Sistermon Blanc zu. „Wir sind von früh bis spät gelaufen und an manchen Tagen trafen wir kein einziges Digimon, an manchen einige, die uns friedlich wie feindlich gesinnt waren.“

„Musstet ihr kämpfen?“, fragte Sagomon, aber Sistermon Noir schüttelte wie ihre Schwester den Kopf.

„Meister Sanzomon hat es meistens in den Griff bekommen.“

„Und wie war es auf dem Web Continent?“

„Ähm, sehr... anders. Die Digimon dort legen sehr viel Wert auf Autorität und Ordnung.“

„Web Continent ist dafür bekannt etwas konservativ und steif zu sein“, erzählte Gokuwmon und dachte dabei an Geschichten seines ersten Lehrmeisters zurück. „Aber man muss ihnen lassen, sie sind zu Gästen freundlich – wenn sie zumindest vorhaben irgendwann auch wieder ihre Koffer zu packen.“

„Haben wir gemerkt“, seufzten die beiden Sistermon und nun ließ sich auch Sistermon Blanc neben ihre Schwester sinken, auch wenn der Stein auf dem sie saßen kalt war.

„Und Ihr, Meister?“, fragte Sagomon und genauso fragend blickte erst Sanzomon drein. „Wie fühlt Ihr Euch?“

„Es war komisch. Unter Artgenossen zu sein, die keine bestimmten Erwartungen hegen ist überaus ungewohnt. Ich weiß nicht, ob ich mir Freunde machen werde, aber ich mag es mich mit ihnen zu unterhalten.“

Über Sagomon huschte kurz ein Lächeln, ebenso über Gokuwmon. Sein Arm legte sich um die Schultern seines Meisters und als Sanzomon zu ihm aufsah, nickte er freundlich zu. Sanzomons Hand berührte kurz die ihres Schülers.

„Nimmt Ihr uns auch irgendwann mit, Meister?“

„Ja, ich will auch mal nach Web Continent!“

„Cho-Hakkaimon, das ist kein Urlaub dort“, ermahnte Sagomon.

„Beredet das doch alles drinnen. Jetzt kommt erst einmal in die Stube und ruht euch aus. Habt ihr Hunger? Und Ihr, Meister Sanzomon?“, fragte Sirenmon aufgeregt.

„Für mich erst einmal nicht. Ich möchte zuerst wieder zu meinen Kleinen. Wo habt ihr sie versteckt?“

Sirenmons Gesicht entgleiste, auch ihre drei älteren Schüler schwiegen erst und versuchten zu grinsen, was jedoch nicht viel half. Sie wussten es nicht. Obwohl Sanzomon ihren Findlingen stets eintrichterte, dass sie auf Gokuwmon, Cho-Hakkaimon, Sagomon und Sirenmon genauso zu hören hatten wie auf sie, konnten sie es nicht lassen sich doch mal alleine davonzuschleichen und was anzustellen. Vor allem ihre jüngste Schülerin...

„Sanzooooomooooon!“, jauchzte es aus mehreren Richtungen. Aus dem Schloss und aus dem Wald kamen Baby- wie Ausbildungs-Digimon angelaufen. Sie sprangen über die Wiese und über die Holzbrücke, die von dort zum Garten ihres zu Hauses führten. Der Krieg war zu Ende, aber Digimon ohne Freunde und Heimat gab es immer noch und ändern würde sich das nie. So wurde Sanzomon zumindest weder langweilig, noch würde sie je arbeitslos werden.

Pinamon und Petitmon flogen in ihre Arme, Kapurimon, Reremon, Gigimon sprangen auf sie. Pupumon und Puffmon schmiegten sich an sie und jubelten, dass ihre Ziehmutter wieder da war. Auch Wanyamon und Tanemon kamen aus dem Wald gelaufen.

„Sanzomon ist wieder da, Sanzomon ist wieder da.“

„Hast du uns vermisst, Sanzomon?“

„Natürlich habe ich das“, sagte Sanzomon mit warmer Stimme. Tsubomon wurde rot bei den Worten, Chapmon und Reremon, die von Sanzomon gestreichelt wurden, nachdem sie ihr ein Bund Blumen entgegenhielten jauchzten. Jedoch fehlten ein paar Digimon unter ihren Findlingen, dabei ließ sie die Baby-Digimon, die noch sehr jung waren und vermutlich in ihren Zimmern schliefen außen vor. Auch Sirenmon zählte nach und mit denen, die noch im Schloss waren kam auch sie zum Schluss, das eins fehlte und sie wussten alle sofort, wer es war.

„Wo ist Tinkermon wieder?“, seufzte Cho-Hakkaimon und sah zu Wanyamon und Tanemon, schließlich hatte Cho-Hakkaimon gesehen, wie sie mit Tinkermon fortgegangen waren.

„Sie wollte gleich kommen“, antwortete Tanemon. Leichtes Seufzen. Tinkermons Definition von Gleich war bekannt. Kopfschütteln bei Sagomon und auch Sirenmon und Gokuwmon stellte sich mental darauf ein, dem Feen-Digimon wieder eine Predigt zu halten. Nur Sanzomon sah es weniger kritisch, dass Tinkermon ihren eigenen Kopf besaß und sich kaum belehren ließ. Einerseits erinnerte sie Sanzomon an sich selbst, anderseits bewunderte es Sanzomon irgendwo, dass Tinkermon lebte, wie es ihr beliebte und sich keine Gedanken um üble Nachrede oder dergleichen machte.

„Soll ich sie suchen gehen?“, brummte Gokuwmon und streckte sich ausgiebig.

„Bitte, wenn es dir keinen Umstand bereitet.“

„Das ist glaube ich gar nicht nötig, Meister“, sagte Sistermon Noir, die nicht mehr auf dem Stein saß, sondern stand und zum Wald hinunterschaute. „Unser Sorgenkind kommt gerade von alleine.“

„Aber wen hat sie da dabei?“, fragte Sirenmon, die sich in die Lüfte erhob um so Tinkermon erblicken zu können. Doch bei der Nachricht, dass Tinkermon wohl nicht alleine war streckten auch sie ihre Köpfe nach oben und warteten gespannt, dass Tinkermon aus dem Wald raus und auf die Lichtung kam.

„Meister Sanzomon! Meister Sanzomoooon!“, rief das Feen-Digimon aufgebracht, besonders aber vor Freude, dass ihr Meister wieder heimgekehrt war. Allein war sie wirklich nicht und während die jungen Ausbildungs-Digimon spekuliert, wer oder was das sein sollte wussten die älteren Digimon sofort, dass Tinkermon kein anderes Digimon, sondern einen Menschen anschleppte. Das Mädchen, fünfzehn oder sechzehn Jahre alt wurde von Tinkermon an der Hand gehalten und mitgezerrt.

Yuki trottete etwas unbeholfen hinterher, bis Tinkermon zum stehen kam und sie mit.

„Wartest du hier kurz, Yuki?“, fragte Tinkermon und bekam ein Nicken, anschließend ließ sie sie los und wollte zu der Gruppe fliegen. Doch die Baby- und Ausbildungs-Digimon kamen sofort angerannt, hüpften aufgeregt auf der Stelle und ihre Augen wurden riesig. Sie wussten noch nicht was Menschen waren, aber sie spürten, dass dieses Wesen kein Digimon war und noch bevor einer ihrer Aufpasser etwas sagen konnte, stürmten sie auf Yuki los und umzingelten sie staunend.

„Was ist das für ein Digimon?“, „Wo kommt es her?“ und „Wie heißt es?“ riefen sie durcheinander. Tinkermon versuchte ihnen die Umstände zu erklären, aber ihre jüngeren Spielkameraden hörten ihr nicht zu.

„Sie sieht fast aus wie Sanzomon“, stellte Gigimon fest. „Sie hat so helle Haut und Haare.“

„Und ihre Augen sehen aus wie Murmeln“, sagte Petitmon.

„Ja, sie sieht wie ein großes Püppchen aus“, stimmte Puffmon zu und sprang um Yuki umher, die erst ein wenig überfordert dastand. Sie konnte nicht abschätzen, wie viel Digimon um sie herum waren, aber sicherlich einige. Fell und Schuppen der Digimon streiften ihre Beine und Arme und sie hörte quietschende, hohe Stimmen von allen Seiten. Sie ging schließlich in die Hocke und streckte ihre Hand aus, woraufhin die Digimon etwas von ihr weg sprangen. Erst traute sich nur Reremon heran und schnupperte an ihrer Hand, was Yuki fühlen konnte.

„Freut mich. Ihr könnt Yuki zu mir sagen.“

„Yuki?“, wiederholte Wanyamon, während Reremon ohne jedes weitere Kommentar in Yukis Hände sprang. „Yuki? Yukimon? So ein Digimon kenne ich nicht.“

„Ich auch nicht“, quietschte Tsubomon.

„Hey, vielleicht ist es ein Puppen-Digimon, darum sieht sie auch wie ein Püppchen aus“, jauchzte Wanyamon sich selbst.

„Dann ist es vielleicht ein anderes Sistermon und es heißt Sistermon Yuki?“, fragte Tanemon, dann rief Tinkermon dazwischen:

„Quatsch! Yuki ist kein Digimon, sie ist ein Mensch!“

„Ein Mensch?“, wiederholten alle verwirrt. Sirenmon pfiff sie zurück und schimpfte auch ein wenig, weil sie sich einfach so auf den Gast stürzten. Yuki hörte ihre etwas dunkle Frauenstimme und Sirenmons Flügel im Wind. Das war nicht das Digimon, dass sie suchte.

„Jetzt lasst unserem Gast etwas Luft zum verschnaufen.“

„Ja, so benimmt man sich doch nicht“, schimpfte Cho-Hakkaimon (eine etwas hohe, aber kräftige, weibliche Stimme, auch nicht das, was sie suchte) und die Digimon waren still. Gokuwmon lief an den beiden vorbei und Yuki konnte seine schweren Schritte, die auf das Holz der Brücke schlugen regelrecht spüren. Reremon sprang aus ihrer Hand, als sie in Gokuwmons Schatten stand.

„Sie ist freundlich, Gokuwmon. Ich habe sie im Wald gefunden“, erklärte Tinkermon fast reumütig.

„Du kennst die Regeln“, sagte er ruhig, aber erzürnt (Yuki erschrak kurz bei seiner doch sehr rauen und sehr tiefen Tonlage).

„Sie macht aber doch niemanden was. Zeig mal deine Spieluhr, Yuki“, forderte Tinkermon sie auf. Von Gokuwmons drückender Aura noch eingenommen, brauchte Yuki erst einen Moment, aber zog dann ihr Digivice aus der Tasche ihres Rocks und ließ es in der offenen Hand liegen, dass Gokuwmon es auch sehen konnte. Er staunte und zog die Augenbrauen weit nach oben, genauso Cho-Hakkaimon.

„Yuki ist blind, Gokuwmon. Sie macht keinem was“, versicherte Tinkermon erneut und bei längerer Betrachtung kamen die beiden Ultra-Digimon auch zu gleichem Schluss. Und dass sie ein Digiritter war, war vorerst auch ein gutes Zeichen, wenn auch komisch, dass sie augenscheinlich kein Digimon-Partner besaß, dass auf sie Acht gab. Wie dem auch sei blieb Gokuwmon bei seinem Entschluss, nickte erst zustimmend Cho-Hakkaimon zu, und drehte sich auch zu Sagomon und Sanzomon Entwarnung zu geben, nur um aber schließlich festzustellen, dass sie bereits hinter ihm stand. Sagomon forderte die Baby- und Ausbildungs-Digimon noch auch zu Sirenmon und den Sistermon zurückzugehen, was sie dann auch taten.

Gokuwmon machte seinem Meister Platz und stand nun direkt vor Yuki und ihrer Schülerin, die ihre Schultern anhob und verlegen auf den verschneiten Boden starrte.

„Guten Tag, Meister Sanzomon. Ich freu mich, dass Ihr wieder da seid.“

„Das freut mich sehr zu hören, Tinkermon“, sagte Sanzomon ruhig, Tinkermon schämte sich trotzdem zu spät gekommen zu sein. So paradox es war, gerade weil Sanzomon so gut wie nie schimpfte, schämte sich Tinkermon um so mehr, als würe sie die Freundlichkeit ihres Meisters nicht genug würdigen.  

„Entschuldigt die Verspätung, Meister.“

„Ich habe sie aufgehalten. Es ist meine Schuld“, sagte Yuki, trat einen Schritt nach vorn mit dem Blindenstab in der anderen Hand. Sanzomon musterte sie. Das Mädchen kam ihr bekannt vor und sie überlegte, doch erst schaffte sie es nicht diesen Menschen einzuordnen, sondern musste, ohne dass sie es eigentlich wollte an Alice im Wunderland denken. Eine gewisse Ähnlichkeit war da, bis Sanzomon schlagartig klar wurde, warum es so war.

„Oh... du bist es also, Alice?“, sprach Sanzomon freundlich. Eine ruhig Stimme, eine warme Stimme einer Frau, der man gerne zuhörte und schmeichelnd wie eine zarte Hand. So wurde ihr zumindest die Stimme der Weißen Königin beschrieben. Sie hatte sie gefunden.

Yuki schüttelte sachte den Kopf.

„Ich heiße Yukino Amano. Ich bin die Tochter des Digiritters, der sich während der Apartheid als Alice vorstellte“, erklärte Yuki und ihr Herz pochte heftig dabei. Stauen und etwas Skepsis machte sich unter den älteren Digimon breit. Um die Apartheid rankten sich zahlreiche Mythen und Verschwörungstheorien und die, dass bereits zu der Zeit schon Digiritter tätig waren war eine von ihnen. Nur Sanzomon zeigte sich resigniert und ließ Gokuwmon, Cho-Hakkaimon und Sagomon, die dicht bei ihr standen erahnen, dass Sanzomon bereits etwas in der Richtung ahnte oder gar schon wusste, aber es für sich behielt. Vermutlich weil es doch etwas mit ihm zu tun hatte.

„Und du bist die Weiße Königin?“, fragte Yuki weiter und zum ersten Mal wirkte Sanzomon doch überrascht. Ihr Synonym hatte sie seit Jahren nicht mehr gehört.

„Du weißt von mir?“

„Ja. On- ähm, ich meinte, Myotismon hat dich erwähnt und ich habe danach etwas recherchiert. Ich fragte Gennai und die Souveränen, auch das Digimon, dass aktuell über die Dunkle Zone wacht. Sie sagten, der Garten der Weißen Königin sei hier auf Server, jedoch verborgen.“

„Und wie bist du hergekommen?“, fragte Sagomon und blickte dabei in Yukis Augen, die er merkwürdig fand, da er das Prinzip von konstanter körperlicher Behinderung nicht kannte, kam er auch nicht erst drauf, dass das Mädchen blind sein könnte. Dies dämmerte ihm erst im Nachhinein.

„Mit der Spiegelbahn. Nur hat der Schaffner mich rausgeworfen, weil ich keine Fahrkarte hatte. Und dann hab ich mich etwas verirrt“, erklärte Yuki, Sanzomon unterdrückte derweil ein Kichern. Noch mehr Parallelen zu Alice im Wunderland hätte es nicht geben können.

Yuki erweckte auf sie einen lebhaften Eindruck und obgleich ihre Augen wie Glasmurmeln waren, erkannte Sanzomon einen gewissen, gut bekannten Schimmer in ihnen. Das Aufblitzen von Neugierde und einer guten Portion Fantasie. Dinge, die eine gute Alice eben brauchte. Und dem Schimmer ihrer Schülerin Tinkermon nicht so unähnlich. Sanzomon schmunzelte.

„Dann heiße ich dich hier Willkommen. Sag Sanzomon zu mir. Gokuwmon, Cho-Hakkaimon und Sagomon sind meine ältesten Schüler. Sirenmon, Sistermon Blanc und Sistermon Noir gehören zu meiner Gefolgschaft.“

Die erwähnten Digimon verbeugten sich zur Begrüßung, beobachteten das Menschenmädchen aber weiter, die ihnen nicht zu folgen und auch Mimik nicht zu erwidern schien, aber weiter freundlich lächelte und sich ebenfalls verbeugte. Spätestens hier dämmerte es den Digimon, dass sie sie nicht fixierte oder die Gesten erwiderte, weil sie nicht wollte, sondern weil sie nicht konnte.

„Und verzeih meinen Findlingen, dass sie dich überfallen haben. Die Meisten sind noch überaus jung und leicht zu begeistern, wenn etwas zuvor Unbekanntes unser Domizil betritt.“

„Entschuldigung“, sagten die Baby- und Ausbildungs-Digimon schließlich bedauerlich.

„Schon gut. Mir macht das nichts aus.“

„Sanzomon, kann sie mit uns spielen?“, fragte Petitmon und der Rest bettelte gleich mit, worauf Tinkermon genervt die Lippen zusammenpresste. Das Meiste was sie vom Wald nach Hause brachte fanden die anderen immer langweilig (bunte Steine), gruselig (wilde Fledermäuse), oder eklig (Blumen, die Rafflesien nicht unähnlich waren) und mit Ausnahme von Sanzomon auf wenig Begeisterung stoß. Und nun überfielen sie ihre neue Freundin, die Tinkermons Philomathie teilte (mit Ausnahme der Rafflesien vielleicht).

„Ja, bitte, bitte, bitte, Sanzomon!“, bettelten die Digimon weiter.

„Nun seid doch nicht so voreilig und seid etwas respektvoller zu unserem Gast“, schimpfte Sistermon Noir kurz darauf waren die jungen Digimon wieder still.

„Du kannst trotzdem mitkommen. Ich freue mich über Besuch und wir würden dich auch gerne kennenlernen. Oder, Meister Sanzomon?“, fragte Sistermon Blanc. Sanzomon nickte zustimmend und Yuki freute sich über dieses Angebot. Aber so gern sie das Reich der Weißen Königin gerne auf den Kopf stellen würde, zögerte sie. Sie war nun einmal nicht zum Vergnügen hier.

„Das ist sehr freundlich, aber ich bin deswegen nicht hergekommen“, sagte sie leicht bitter und enttäuscht. Sie schnaufte nervös, dabei hatte Yuki eigentlich selbst keinen Grund nervös zu sein. Zumindest nicht deswegen. Tinkermon und sie haben im Stillen beschlossen, dass sie es so handhaben würden, auch mit dem Risiko dass sie am Ende des Tages, egal wie das hier ausgehen würde sie einen Kopf kürzer sein könnten. Yuki ging ein paar große Schritte rückwärts.

„Ich wollte nur sicher gehen, dass er wieder im Wunderland ist. Da wo er hingehört.“

Aufs Stichwort entfernte sich Tinkermon von ihrer Freundin und flog zurück zum Waldrand, jedoch verschwand sie nur kurz hinter einem Baum, wo sich etwas oder jemand verborgen hielt, der eigentlich nicht vor hatte sich zu zeigen. Laute kamen aus dem Dickicht, aber weil es zu weit weg war verstand man kein Wort. Tinkermon schrie schließlich auf und auf die Entfernung sah es für die Digimon aus, als schubste sie jemand.

Sie zog an einem Umhang. Tinkermon war nicht stark, aber von ihrer Sturheit genötigt, trat das Digimon, wenn auch widerwillig aus seinem Versteck.

Im ersten Augenblick konnte Sanzomon es nicht glauben, auch wenn dieses Mädchen Alice' Tochter war. Genauso wenig ihre Schüler, die mit ihren Meister zurück, ebenfalls rückwärts wieder über die Brücke liefen und dabei die Schützlinge mit zurückdrängten. Sie lebte zwar verborgen, gewiss aber nicht gänzlich hinter dem Mond. Natürlich wusste sie, dass MetalSeadramon die Wirtschaft um die Küste verwaltete. Natürlich wusste sie von Etemons Tour. Natürlich wusste sie einiges über die Gerüchte, dass die Meister der Dunkelheit ihr geradezu friedliches Unwesen trieben. Es ging daher das Gerücht um, dass es nur zufällig die gleiche Art Digimon waren. Doch Sanzomon, die ihren Lehrmeister und Freund Anubimon mittlerweile zu gut kannte und sich von seiner reservierten Art nicht mehr beirren ließ ahnte, dass er mehr damit zu tun hatte wie er zugab und dass diese Digimon jene Digimon und damit seine ehemaligen Freunde sein mussten.

An ihn versuchte sie dabei fast zwanghaft nicht zu denken, bis zu diesem Moment. Die Distanz war groß, aber die beiden sahen sich in die Augen und Sanzomon wusste intuitiv, dass dieses Myotismon jenes Myotismon war.

„Was...?“, hauchte Sagomon, aber er bekam keine Antwort. Cho-Hakkaimon schüttelte nur den Kopf, während Gokuwmon nur fassungslos hinter Sanzomon stand. Umringt von ihrer Schülern starrte Sanzomon weiter. Der Blick, die Ausstrahlung – alles war gleich. Genau wie früher. Sie bekam eine Gänsehaut, aber gleichzeitig klopfte ihr Herz laut, aber sachte.

„Meister?“, rief Cho-Hakkaimon nach ihr. Sanzomon erschrak, zu tief war der erste Schock und die Gedanken. Und ihre Schüler spürten diese Unsicherheit. Myotismon, weiter auf einen gewissen Abstand bedacht, stand da und wartete nur, weder fordern, noch ungeduldig, aber auch nicht in großer Erwartung, dass Sanzomon sich seiner annehmen würde.

„Wieso ist er hier?“, hauchte Sanzomon laut und mit trockenem Hals. Ihre Finger fuhren über ihre Mala-Kette, ihre drei Schüler rückten näher an sie heran. Sie zogen nicht sofort die Waffen, aber wie bei ihrem Meister schon krampften ihre Hände, schwitzten und wären bereit, wenn es nötig war ihre Waffen sofort und ohne Warnung gegen ihn zu erheben.

„Ein Wort Meister und wir kümmern uns um ihn“, brummte Cho-Hakkaimon.

„Nein, stopp!“, rief Tinkermon auf und flog näher an die Szenerie heran. „Er hat nichts Böses vor. Und es sind auch nur sie beide hier. Er sagte, er wollte nur Meister Sanzomon sehen, wenn sie das wünscht.“

Während Myotismon Tinkermon kurz böse anfunkelte und ihr damit subtil klarmachte, dass sie sich raushalten sollte, dachte Sanzomon nach. Keine Reaktion, nicht einmal eine Regung. Myotismon hätte sich ja diese Situation gern erspart. Ihr genauso.

„Du dummes Ding, was sollte das?“

„Du wolltest doch zu ihr!“, protestierte Tinkermon verständnislos.

„Ich wollte sie nur kurz hören. Das hier wollte ich nicht!“

„Gut. Und da du ja schon einmal aus deinem Versteck gekrochen bist, kannst du ja auch gleich zu ihr hingehen“, schlug Yuki vor, wenn es mehr aber einem Befehl, als nach einem Vorschlag klang.

„Wir hatten ausgemacht, dass du kontrollierst, ob alles hier in Ordnung ist und das wir dann gehen.“

„Wenn alles in Ordnung ist. Ob alles in Ordnung sein wird kommt darauf an, wie du dich anstellst, Onkel.

Myotismon knurrte wütend. Das, was er dem Mädchen am liebsten ins Gesicht gesagt hätte schluckte er aber hinunter. Er holte einmal tief Luft und atmete diese wieder aus. Verängstigt flog Tinkermon an Yukis Seite, die spürte wie die Luft zwischen ihr und Myotismon dünn wurde. Kurz spähte er zu Sanzomon und ihren Schülern hinüber, dann ging er auf Yuki zu und sie hörte das Knirschen des Schnees unter seinen Schuhen.

„Das wird Konsequenzen für dich haben, merke dir das!“

„Du kannst mir später danken“, zischte Yuki wie Myotismon, wenn dennoch etwas eingeschüchtert von seinem wütenden Ton. Fürs erste beschäftigte er sich aber nicht weiter mit ihr, sondern lief ohne die Spur von Nervosität zu zeigen weiter auf Sanzomon und ihre Schüler zu. In ihr jedoch geschocktes Gesicht zu sehen bereitete ihn Unbehagen. Dann blieben seine Beine fast von selbst stehen und jeder Versuch weiter zu kommen glich dem Versuch zwei gleichgepolte Magnete zu verbinden. Ein kurzer Blick zu beiden Seiten gab schließlich Antwort für dieses Phänomen. Am Ufer, genau vor der Brücke standen zwei Stelen aus Holz. Religiöse Muster und magische Symbole waren eingeritzt. Talismane aus Quarz oder Achat und mit ebenfalls magischen Symbolen wickelten sich um sie. Es war nicht das Wappen des Lichtes, vielmehr war es Sanzomons eigenes kleines Seerosen-Symbol, dass man auch auf ihren Büchern sah und doch hatte es genug Kraft um Myotismon daran zu hindern einen Fuß auf ihr Land zu setzen. Also blieb er vor der Brücke stehen und schaute zu Sanzomon hinüber.

„Sirenmon. Sistermon. Bringt die Kleinen ins Schloss.“

„J-Jawohl, Sanzomon“, nickte Sirenmon ab, ohne irgendetwas zu hinterfragen. Sie wedelte mit ihren Flügeln, um die jungen Digimon dazu zu drängen zurückzugehen. Die beiden Sistermon traten an ihre Seite und mit guten Zureden führten sie die Baby- und Ausbildungs-Digimon ins Innere, nicht aber ohne lange zu ihrem Meister zurückzublicken. Vereinzelt fragten die Digimon was los sei und wer dieses gruselige Digimon war, doch mehr wie ein „Pscht“ bekamen sie nicht.

Sanzomon, Gokuwmon, Cho-Hakkaimon und Sagomon blieben zurück und starrten schweigend zu Myotismon hinüber. Er selbst stand nur vor der Brücke, mit Yuki und Tinkermon weiter hinter ihm, die ebenfalls darauf warteten, was nun geschehen würde. Sein Gesicht war ausdruckslos, doch sein Blick ruhte ganz allein auf Sanzomon, dass zumindest stellten ihre Schüler geschlossen fest.

„Meister, geht zu ihm“, schlug Sagomon vor, doch Sanzomon blickte nur überrascht auf.

„Was?“

„Er ist wegen Euch hier.“

„Ich... Nein. Das geht nicht. Was denkt er sich dabei hier aufzutauchen?“, zischte Sanzomon und nicht gerade leise. Sie wollte, dass er sie hörte. Doch Myotismon machte keine Anstalten zu gehen. Er wartete einfach weiter.

„Wenn das wieder ein Trick ist?“, fragte Cho-Hakkaimon vorsichtig. „Wenn er wieder... Gokuwmon, sag etwas!“

„Ich? Was soll ich denn sagen?“, brummte Gokuwmon, während er Myotismon genau zu analysieren versuchte. Er stand da wie an jenem Tag, steif und erpicht darauf nichts zu offenbaren. Und Gokuwmon, selbst ein Digimon, dass nie wirklich was mit seinen Gefühlen anfangen konnte, sie gar hinderlich fand verstand als Einziger wohl wirklich, was Myotismon in diesem Augenblick durch den Kopf ging.

„Meister... Redet wenigstens mit ihm“, redete Cho-Hakkaimon weiter auf sie ein.

„Ich weiß nicht, ob ich das überhaupt will.“

„Wollt Ihr nicht seine Gründe hören?“, fragte Sagomon.

„Ja, vielleicht will er Vergebung?“

„Nein. Das glaube ich nicht. Er bettelt nicht um Vergebung“, antwortete Sanzomon Cho-Hakkaimon ernst. „Niemals würde er das.“

Gokuwmon und Sagomon konnten nicht anders wie ihrem Meister zuzustimmen. Die Sorge, die sie hegten war schließlich nicht unberechtigt. Der Schreck und der Schauer des Verrates saß tief. Cho-Hakkaimon rang noch mit sich, dabei immer wieder zu Myotismon und Sanzomon schauend. Sie selbst hatte schließlich auch Angst. Allein wenn sie sich an seinen Todesschrei zurückerinnerte lief es ihr eiskalt den Rücken runter.

„Tut er dir Leid, Cho-Hakkaimon?“, brummte Gokuwmon und kurz schreckte sie auf. „Du wirkst mir zu nachdenklich.“

„Ich hab Angst, ja? Wer ahnt denn schon, dass der mal wieder vor unserer Tür steht?“

„Aber fragst du dich auch, ob er einen Grund hat?“, harkte Sagomon nach und widerwillig gab Cho-Hakkaimon zu:

„Ich muss mich das nicht fragen. Ich weiß es. Was sagst du, Gokuwmon?“

„Mich interessiert nur, was Meister Sanzomon dazu zu sagen hat“, erklärte er. Sanzomon reagierte etwas verzögert. Da sie sich nur auf Myotismon konzentrierte und nicht sicher war, was sie fühlen oder wie sie reagieren sollte, nahm sie erst gar nicht wahr, dass sie angesprochen wurde.

„Was willst du hören?“

„Eine Antwort, warum der Lavendelstrauß nach all den Jahren immer noch in Eurem Zimmer steht, obwohl er kaum noch duftet.“

„Gokuwmon -“

Sie hielt inne. Ihr Blick huschte über ihren Arm und die hellen Narben. Man musste genau hinsehen um sie zu erkennen, doch schrieb sie, lag die Sicht auf sie frei und Sanzomon wurde durchaus von ihren Artgenossen darauf angesprochen, was passiert sei. Ob sie angegriffen worden sei verneinte sie. Sie sagte sie hätte einen Partner gehabt und Digimon wie er eines war, besaßen ihre eigene Art zu zeigen, dass man zu ihnen gehörte. Sie ging nie ins Detail, auch wenn sie etwas Missgunst durchaus erntete. Eheähnliche Verhältnisse waren unter Digimon, die wie sie Mönch oder Priester waren nicht gern gesehen. Sie erklärte, dass sich ihre Wege längst trennten, machte aber keinen Hehl daraus, dass sie es bedauerte, dass es so war. Ihn oder ihre Gefühle hatte Sanzomon niemals leugnen können.

„ - du weißt, ich hasse es, wenn du Fragen stellst, deren Antwort du kennst.“

Sie holte noch einmal tief Luft, dann setzte Sanzomon langsam einen Fuß nach den anderen nach vorn. Ohne Myotismon einen Moment aus den Augen zu lassen ging sie auf ihn zu, doch zwischen den beiden Schutzstelen blieb sie stehen. Geschätzt trennte sie nur ein Meter, es fühlte sich aber wie mehr an. Ihre Arme vor der Brust verschränkt, Myotismons hinter dem Rücken versteckt. Sie standen sich gegenüber wie einst. Aber Myotismon stand da und strahlte nichts aus. Keine Arroganz, keine Erhabenheit, kein einziger Versuch einschüchternd oder dominant zu wirken. Er stand nur da.

„Guten Tag“, sagte Sanzomon monoton. Ein kurzes Schweigen.

„Guten Tag.“

Wieder Stillschweigen und Anstarren.

„Wie geht es dir, Sanzomon?“

„Gut. Danke der Nachfrage. Wie...“

Sie beäugte ihn von Kopf bis Fuß.

„Wie hast du diesen Ort gefunden?“

„Ist das dein Ernst?“, fragte er, wie als wäre Sanzomons Frage nicht mehr wie ein böser Scherz gewesen. „Ein Landstrich aufgebaut wie ein Schachbrett und auf dem Gleis der Spiegelbahn befindet sich eine sehr dubiose achte Haltestelle, mit einem Fluss voller riesiger Blumen und einem Wald der keinen Namen trägt, weil ihn jeder vergisst. Du solltest dich in Zukunft von anderen Märchen inspirieren lassen“, sprach er leicht tadelnd, während Sanzomon sich ertappt verkam. So bekannt waren die Menschenmärchen nun einmal nicht, dass jeder diese Verbindungen gleich sehen würde. Schließlich sollte sie auch nur ein Digimon finden, dass sie gut kannte. Und Myotismon kannte sie zu gut.

Sein Gesicht verzog sich grimmig.

„Nicht nur, dass ich mit dem Trailmon fahren musste wie jedes ordinäre Digimon um hierherzukommen, wir wurden sogar bei der Kartenkontrolle erwischt.“

„Es war kein Kartenhaus dort!“, rief Yuki beleidigt hinüber, als würde er ihr allein die Schuld für diese Unannehmlichkeit geben (was er auch tat). Wobei die Tatsache, dass er mit dem Zug fahren musste, um Sanzomon zu finden die größere Schmach war, wie erwischt worden zu sein und anschließend mit Yuki aus dem Fenster zu springen, zirka drei oder vier Kilometer von der Haltestelle entfernt, weil das Deramon, dass sie kontrollierte sie nach einem aus dem Ruder gelaufenen Konflikt angriff. Mit dem Zug fahren. Wie der Pöbel. Das durfte niemals jemand erfahren.

Von Myotismons schlechter Laune ließ sich Sanzomon weniger abschrecken.

„Warum bist du hier?“, fragte sie weiter und hob ihr Kinn an.

„Sie -“, dabei warf Myotismon kurz den Kopf in Yukis Richtung, „ - zwang mich.“

„Und warum wollte sie hierher?“

„Sie wollte dich kennenlernen.“

„Es wundert mich ein wenig, dass sie von mir weiß. Sie kennt sogar mein Synonym.“

„Ich habe mich verplappert“, erklärte Myotismon durch die leicht zusammengepressten Lippen. Instinktiv wusste Sanzomon das dies zwar stimmte, aber dass das sicherlich nicht die ganze Wahrheit war. Es war wieder typisch für ihn.

„Außerdem hat dieses Kind so gute Ohren, dass ich gar befürchte, dass sie meine Gedanken hören kann.“

„Das habe ich übrigens auch gehört“, rief Yuki wieder dazwischen. Obwohl die beiden ein paar Meter trennten und weder Myotismon sie ansah, noch dass Yuki ihn sehen konnte lag in ihren Gesichtern die selbe verstimmte Mimik. Sich fragend, auf was er sich da eingelassen hatte schnaufte er nur, anstatt zu versuchen sie wieder belehren zu wollen. Dass hatte die vergangene Tage schon nicht funktioniert.

„Alleine lassen kann ich sie in der Digiwelt aber auch nicht. Ein blindes Mädchen überlebt hier keinen Tag. Auf sie aufzupassen schulde ich meinem Partner, wie ihr die Digiwelt zu zeigen.“

„Sehr zuvorkommend von dir.“

„Ich bin nun einmal der Einzige, auf den sie hört. Ein wenig zumindest. Außerdem traue ich keinem anderen Digimon zu, dass es diesen Job angemessen erledigt.“

Yuki schüttelte den Kopf. Dass Piedmon sie herbestellt hatte, weil er Trübsal blies erwähnte er selbstverständlich nicht.

„Was tust du nun, jetzt wo du nicht mehr die Welt ins Chaos stürzen kannst?“, fragte Sanzomon gezwungen neutral und ruhig, dabei brodelte es in ihrem Inneren, dass sie jedoch nicht zu deuten vermachte.

„Ich horte die Untoten um mich, wie zuvor auch schon. Auch wenn ich nicht mehr nach meinen einstigen Zielen strebe, hängen die Untoten an mir wie die Motten am Licht. An ihrer Situation und an ihrer Stellung in der Digiwelt hat sich nicht viel verändert. Sie erfahren zwar weniger Diskriminierung, was aber nichts daran ändert, dass sie beschädigte Daten mit erheblichen Einschränkungen sind. Sie brauchen nach wie vor jemanden, der sie führt und der eine schützende Hand über sie hat. Und wenn schon kein anderes Digimon sich um sie schert, wer bleibt dann außer mir?“

Möglichst um Unauffälligkeit bemüht schwang Sanzomons Fokus für einen Moment von Myotismon zu Yuki rüber. Ihr Gesicht verzog sich diesmal nicht. Es schien also nicht nur was dran zu sein, er schwieg diesmal auch nicht wieder die Hälfte. Dennoch war Sanzomons Gesicht weiter fordernd und zeigte ihre liebste Eigenschaft – ihre Neugier. Sie wollte mehr hören. Etwas widerwillig erzählte Myotismon weiter:

„Die anderen und ich treffen uns zur Musikprobe. Wir können alle nicht mehr spielen und klingen wie blutige Anfänger. Ich spüre meine Hände kaum und meine Finger sind steif. Ich muss wieder ganz von vorne anfangen. Aber ich mache Fortschritte.“

„Du kannst nicht mehr spielen? Gar nicht?“, harkte Sanzomon nach und sie klang nicht nur traurig, sondern auch wirklich bestürzt über den Umstand. Myotismon streckte die rechte Hand aus und bewegte sie hin und her, um sie von allen Seiten betrachten zu können. Selbst das tat weh.

„Die Tonleiter treffe ich wieder, ohne das Gesicht vor Schmerz zu verziehen. Aber das, was Musik ausmacht bekomme ich nicht zustande“, erklärte Myotismon weiter, der trotz tiefen Bedauern ein Lächeln aufsetzte. „Und mein Anhängsel meinte, die Auseinandersetzung mit Geistern der Vergangenheit würde helfen.“

„Das habe ich so überhaupt nicht gesagt!“, protestierte Yuki sofort und trat dabei wütend auf der Stelle. „Ich habe gesagt, es könnte dir vielleicht helfen, wenn du dich mit Digimon auseinandersetzt, die dir -“

„Ich kann mich nicht entsinnen, dass du Teil dieser Debatte bist!“

„Hey, ich bin diejenige, die dir beim Üben hilft, also habe ich ein Recht darauf! Und wer hat die Bandagen für deine Handgelenke besorgt, weil du trotz Schmerzen weiterspielst?“

„Du hast sie mir aufgezwungen, obwohl ich nicht wollte!“

„Normalerweise sagt man da Danke!“

Myotismon schluckte seine Widerworte runter und alles was er noch herausbrachte war ein genervtes Zischen. Das wiederholte sich, als er bemerkte, wie Cho-Hakkaimon grinste, ohne sich die Mühe zu machen das zu vertuschen (Sagomon und Gokuwmon versuchten es wenigstens).

„Hattest du damals deine Finger im Spiel? Bist du der Grund, warum ich diese Göre nun am Hals habe?“, fragte er direkt. Sanzomon schwieg lange.

„Ich habe dir versprochen, dass ich mit dir zusammen Alice finde. Und daran hielt ich mich. Ich ahnte nicht, dass ausgerechnet an dem Tag auch sie kommen würde. Ich wollte nur, dass du Alice nochmal siehst, auch wenn es nur sein Grab war, ehe...“

Sanzomon sah immer noch nicht auf. Wenn man gegen die dunklen Ecken des Waldes starrte, sah man vereinzelte weiße Punkte vorbeiziehen.

„Hisaki.“

Es glich einem Windhauch und weil auch der Wind wehte, glaubte Sanzomon erst nicht, dass sie wirklich das gehörte hätte. Ungläubig hob sie ihren Blick.

„Mein Partner hieß Hisaki.“

„Du sagst seinen richtigen Namen?“

„Ich bin wach, Sanzomon.“

Wieder ein schwacher Wind. Wellen waren auf der Wasseroberfläche zu sehen. Sanzomons Haare wehten kurz auf, doch sie war starr. Sie hatte etwas in Myotismons Augen gesehen, als er diesen Namen aussprach. Sie war sich nicht sicher, was es war. Definitiv aber war es kein Schneesturm.

„Bist du nur deswegen hier?“

„Ich wollte nur Gewissheit.“

„Gewissheit?“, wiederholte Sanzomon fragend. Zwar zog Myotismon Luft für eine Antwort ein, sagte aber letztlich doch nichts. Er überlegte sogar, ob er überhaupt noch darauf eingehen oder es lassen sollte. Aber selbst Sanzomons Schüler schauten fordernd zu ihm hinüber. Sanzomon schwieg, aber auch sie wollte Antworten.

„Nicht so wichtig.“

„Wenn es nicht wichtig ist, wieso bist du hier? Du wirst doch nicht wegen nichts hierher gekommen sein?“

Wieder kam nichts von ihm. Myotismon fand tatsächlich die richtigen Worte nicht einmal dafür und langsam verlor sogar Sanzomon ein wenig die Geduld.

„Ich bereue nichts, um das klarzustellen. Das was ich tat, tat ich bewusst und für einen höheren Zweck. Die Welt ist irre und die Wenigsten merken es. Nur weil ihr meine Taten für unmoralisch haltet, bedeutet dies nicht, dass sie falsch waren. Und ich würde es wieder tun“, erklärte Myotismon, gewohnt ernst, gewohnt streng, gewohnt hartherzig.

„Schön zu wissen“, schnaubte Sanzomon nahezu verächtlich.

„Ich bin eben ein bösartiges, rachsüchtiges, skrupelloses und unbelehrbares Virus-Digimon, wie sie alle Virus-Digimon sind.“

Sie würde es nicht auf den Typus schieben, aber dass Myotismon keinerlei Reue verspürte wunderte sie wahrlich nicht. Es überraschte sie nicht und doch war sie enttäuscht. Darum und weil sie für einen Moment geglaubt hatte, es könnte sich an Myotismon etwas ändern. Wie dämlich.

„Einzig, was ich eventuell bereue ist, dass ich dich zu etwas zwang, was du nicht wolltest.“

Die Worte klangen in Sanzomons Ohr geradezu weich. Sie klangen nicht besonders emotional, aber sie trugen auch keine Kaltherzigkeit in sich. Gleiches galt für den Ausdruck in sein Gesicht. Sie würde nicht behaupten, dass sie Reue darin wiederfand, aber Myotismon strahlte etwas aus, was Sanzomon so von ihm nicht kannte.

„Also bereust du es doch?“

„Ich tat es damals, weil ich es für das Beste hielt. Aber es war für dich nicht das Beste. Ich konnte nicht verstehen, wieso du in einer Welt wie dieser glücklich sein konntest und warum du diesen Weg gingst. Aber du bist eben genauso eigen wie ich. Und ich respektiere dies im selben Maß, wie du meine Entscheidungen immer respektiert hast.“

Nervös kaute Yuki auf einem ihrer Fingernägel, ohne dabei aber zu fest zuzubeißen. Sie könnte nicht abschätzen, ob es gut oder schlecht lief. Auf den Weg hierher sprach Yuki Myotismon öfter an, was er denn vor hätte, geschweige denn überhaupt sagen will, wenn er vor Sanzomon stand und noch während sie im Zug saßen, war sich Myotismon nicht einmal sicher, ob er überhaupt mit ihr reden wollen würde. Er wollte sie nur sehen und vor allem hören. Entsprechend hatte er sich wohl auch keine Gedanken gemacht. Was er sagte kam spontan. Yuki wollte sogar fast sagen es kam von Herzen, wobei sie im Falle ihres Onkelchens die Existenz dessen manchmal doch noch in Frage stellte.

„Willst du dich entschuldigen? Bist du deswegen hier?“, fragte Sanzomon vorsichtig, aber leicht aufgewühlt.

„Ich hatte nur den Wunsch mich zu erklären, ehe du mich gänzlich verurteilst, auch wenn es dafür zu spät ist. Und ich wollte wissen, ob es dir nach alledem gut geht. Mehr nicht“, vergewisserte er und es klang sogar so glaubwürdig, dass selbst der sonst so misstrauische Gokuwmon keine Zweifel an der Echtheit dieser Worte hegte. Cho-Hakkaimon und Sagomon noch weniger. Doch sie zügelten ihren Euphorie in Anwesenheit ihres Meisters. Die Umstände ihrer Trennung waren kein schlichtes Beziehungsdrama und Sanzomon hatte lange gebraucht um über Myotismon einigermaßen hinwegzukommen. Obwohl sie die Situation irgendwann akzeptierte, blieb die Hoffnung, er käme wieder, doch der Schmerz und der Liebeskummer hinterließ Wunden bis tief in die digitalen Knochen. Sie konnte nicht vergessen, wie die Meister der Dunkelheit Grey Mountain überfielen. Sie konnte nicht vergessen, wie Piedmons Schwerter wie eine Guillotine über ihren Schülern und Findlingen schwebte und genauso fast tötete. Sie konnte nicht vergessen, wie Piedmon auch sie fast geköpft hätte. Sie konnte vielleicht vergessen, dass Myotismon ihr das Herz brach, aber nicht wie er es tat.

Und nach allem was noch geschah während seines Feldzugs gegen die Digiritter und die Reale Welt wurde die Kluft noch tiefer und selbst ihre Schüler waren sich nicht mehr so sicher, was Sanzomon fühlte, wenn der Geruch des Winters ihre Nase streifte.

„Selbst wenn ich dir vergebe, glaube nicht dass ich einfach vergessen werde.“

Ihr Satz kam fast ohne jeden Tonus daher. Weder energiegeladen, noch an Anzeichen davon, dass sie sich die Mühe machte Emotionen zu unterdrücken. Neutrale Worte, deren Bedeutung nun jeder für sich erkennen musste. Und Myotismon schien sie nicht positiv zu deuten.

„Ich verstehe“, hauchte er und nicht nur Sanzomon, auch Yuki und Tinkermon hörten etwas wie Bedauern dabei. Ehe jemand etwas sagte, ging Myotismon bereits einen Schritt von Sanzomon fort. Der Wind drehte sich und sein Geruch kam ihr entgegen.

„Dann werde ich dich auch nicht mehr weiter belästigen. Ich habe gesehen, dass du dir ein neues zu Hause aufgebaut hast. Schon fast bemerkenswert. Dein Naseweis von Schüler hat einiges erzählt von dem, was ihr hier so macht. Kein Vergleich natürlich zu Grey Mountain, aber du scheinst mit deinesgleichen klarzukommen und zufrieden mit deinem Leben... Du klingst noch genau wie früher. Das ist beruhigend zu wissen.“

Der Wind ließ nach. Der Geruch von kaltem Laub und Graberde versiegte. Schweigend schaute Sanzomon zu Boden und drehte den Kopf zur Seite. Myotismon wartete auch nicht, ob noch etwas von ihr kam. Es gab keinen Grund zu bleiben, also drehte auch er sich langsam um und ging wieder zurück. Er sah im Augenwinkel noch wie entrüstet Sanzomons Schüler waren und schließlich auch Tinkermons Enttäuschung.

„Was ist los, Tinkermon?“, fragte Yuki, der aufgrund ihrer Blindheit nicht gänzlich mitbekam, was geschah. „Was hat er gemacht?“

„Nichts. Er hat aufgegeben“, erklärte Tinkermon traurig und weiter enttäuscht. Yuki öffnete ihren Mund, es kam aber nichts heraus. Sie hörte aber, wie Myotismon nicht nur in ihre Richtung, sondern auch noch an ihr vorbeilief. Um ihn aber daran zu hindern weiterzugehen, hob sie einfach ihren Blindenstab, der Myotismon auf Bauchhöhe berührte. Nicht das Hindernis selbst, aber die Dreistigkeit die Yuki an den Tag legte brachten ihn dazu stehen zu bleiben.

„War das etwa alles? Sind wir jetzt nur hierher gekommen, damit du dir einen Korb holen kannst?“

„Ich habe ihr gesagt, was ich wollte.“

„Ja, aber -“, schimpfte Yuki, doch sie kam nicht dazu ihrer Schimpftirade ihren Lauf zu lassen, denn Myotismon ging einfach weiter und blieb erst wieder stehen, als Yuki ihm am Arm packte. „Das kann nicht dein Ernst sein! Willst du es nicht wenigstens versuchen.“

„Was?“

„Du weißt, was ich meine. Myotismon, komm schon. Du willst doch selbst nicht, dass es so endet! Selbst ein Blinder mit einem Krückstock sieht das – und ich muss es wissen!“

„Halt dich aus meinen Angelegenheiten raus, ansonsten war dies das erste und letzte Mal, dass du einen Fuß in diese Welt setzt!“

„Ich habe doch gar nichts gemacht!“, protestierte Yuki weiter. Sie erschrak, als Myotismon seinen Arm aus ihrem Griff riss und Tinkermon versteckte sich hinter ihr, als er wütend auf beide herabblickte. Yuki spürte seinen Zorn nur, aber das reichte um sie zum schweigen zum bringen.

„Die Sache ist erledigt. Und du gehst nach Hause! Ihr beide geht nach Hause!“, zischte er beide an und war es nun, der sie mit sich zog. Das Mädchen wehrte sich noch, aber hatte gegen Myotismons Stärke nicht den Hauch einer Chance. Sehnsüchtig griff Tinkermon nach ihrer neuen Freundin und selbst Myotismons Versuch sie mit seinen Blicken einzuschüchtern brachte sie nicht dazu zu gehen, auch wenn er ihr Angst machte.

„Hast du nicht gehört? Geh!“, brüllte Myotismon Tinkermon an, doch sie hielt sich weiter an Yuki fest, die nun auch ihre freie Hand schützend über das Feen-Digimon legte. Ehe er auf die Idee kam, wenn sie schon nicht wieder zu ihrem Meister ging, dass eventuell seine Fledermäuse etwas nachhelfen könnten lenkten ihn Ächzen und Gemoser hinter ihm ab. Er musste sehen, wie Sanzomon von ihren drei Schülern unter ihrem lauten Protest erst über die Brücke und weiter über das Feld geschoben und geschubst wurde. Ihre Arme waren verschränkt und sie presste ihr Gewicht dagegen aber gegen drei Digimon, die ihr alle physisch überlegen waren konnte sie nichts ausrichten. 

„Meister! Jetzt kommt schon, Meister!“

„Hört auf damit!“, schimpfte sie weiter, aber es brachte nichts, als das Gokuwmon, Cho-Hakkaimon und Sagomon noch mal an Kraft zunahmen, um sie weiter in Myotismons Richtung zu treiben. „Lasst mich!“

„Oh, nein. Das wird jetzt richtig geklärt!“

„Wir kennen Euch zu gut, Meister!“

„Los, macht schon. Ansonsten bereut Ihr es noch!“

Sanzomon wehrte sich weiter, was ihr nicht half. Während Gokuwmon sie erst festhielt, holten Cho-Hakkaimon und Sagomon aus und gaben ihr einen kräftigen Schubs. Sie stolperte einige Schritte nach vorne und kam fast direkt vor Myotismon zum stehen. Ihr Gesicht war rot, von Peinlichkeit erfüllt, dass er, wie auch Yuki und Tinkermon das mitbekommen mussten. Abrupt stand sie wieder kerzengerade vor ihm und weiter mit verschränkten Armen vor ihrer Brust, aber nicht gewillt, Myotismon in die Augen zu schauen.

Vorsichtig und weiter mit Tinkermon in der Hand ging Yuki etwas zur Seite, ohne dass Myotismon das wirklich wahrnahm. Während sie nun hoffte, dachte Myotismon im ersten Moment sich nichts dabei. Dann wartete er. Mehrere Sekunden vergingen, ohne das irgendetwas passierte. Das Publikum war nervös, während die Protagonisten der Szene steif und unbeweglich blieben, oder es zumindest versuchten zu bleiben.

„Sag bitte etwas.“

Sanzomon jedoch sagte nichts trotz Myotismons Aufforderung. Sie schaute nur weiter zu Boden, den Kopf schüttelnd und die Arme an sich gepresst, nicht so fest aber wie ihre Lippen unter ihrem Halstuch.

„Du kannst mich auch anschreien, ich verüble es dir nicht. Oder auch angreifen. Ich halte mein Wort von einst, ich werde mich nicht wehren oder zurückschlagen.“

„Warum ist Gewalt bei dir immer die Lösung für alles?“, sagte Sanzomon, sie klang dabei sogar etwas gereizt. Doch es erzielte den Effekt, dass ihre Augen in seine sahen und auch nicht mehr davon abließen. Sanzomon musste feststellen, dass sie keinen Schneesturm darin mehr sah.

„Ich will nur eine Sache wissen.“

„Die wäre?“

„Warum... Warum hast du mich damals gehen lassen?“, fragte sie vorsichtig und er antwortete recht schnell:

„Ich wollte nicht neben einer toten Königin liegen, die zwar sprechen und singen, aber keinen Funken Leben in ihrer Stimme hegt. Darum -“

„Schluss!“

Sanzomons Schrei klang nicht nur nach Wut oder als hätte sie keine Geduld mehr. Ihre Augen wurden glasig, aber sie beherrschte sich. Tinkermon verschreckte es ihren Meister schreien zu hören, denn sonst war Sanzomon doch immer ein so ruhiges und absolut friedliches Digimon. Sagomon glaubte plötzlich, dass es ein Fehler war Sanzomon dazu zu drängen, während Cho-Hakkaimon eine Hand in ihre andere legte und ein Stoßgebet in Gedanken sprach. Etwas ähnliches tat Gokuwmon, nur dass er in Gedanken direkt zu seinem Meister sprach und er hoffte, sie hörte vielleicht, was er ihr riet und dass dieser Rat einer war, den sie sonst selber erteilte. Auf sein Innerstes hören und weitermachen.

Und Sanzomon machte weiter.

„Du wolltest mich einsperren. Du wolltest mich in ein Wesen ohne eigenes Denken verwandeln, weil ich sonst in deiner Welt nichts verloren hätte. Du hast meine Freunde angegriffen, meinen Findlingen ihr zu Hause genommen und du bist der Grund, warum ich meine Gänslein nicht großziehen und beistehen konnte, für deine Vorstellung einer gerechten Welt. Warum aber hast du mich dann doch wieder zu ihnen gebracht, wenn doch alles, woran ich glaube so falsch und geisteskrank ist?“, und gerade als Myotismon noch einmal den Mund öffnete, unterbrach sie ihn erneut:

„Keine Abweichungen mehr, keine Metaphern mehr, kein drumherum reden mehr! Sei nur einmal ehrlich und sage mir – Warum?“

Die Welt wartete stumm. Man hörte nicht einmal jemanden atmen. Sirenmon war mit den Sistermon und den Findelkindern in höhere Etagen des Schlosses gerannt, um das Spektakel sehen zu können und auch von ihnen kam kein Laut, obwohl sie nicht einmal hätten sagen können, was ihnen so den Atem verschlug.

Seine Augen wanderten zur Seite, als er begann nachzudenken. Die Lippen kräuselten sich leicht, während Sanzomon sich auf ihre eigenen Biss. Sie wusste, warum es genau dieses Gesicht war, mit genau diesen Zügen und den Bewegung, dass sie so mochte.

„Aus dem gleichen Grund, warum ich deine Schüler und deine Findlinge Piedmon nicht überlassen wollte und warum ich heute hier stehe. Ich… wollte nicht mit dem Gedanken leben, dass du unglücklich sein könntest.“

Sanzomon biss noch fester auf ihre Unterlippen, versuchte aber den Teil ihres Gesichtes, der nicht unter dem Halstuch versteckt war entspannt zu halten. Ihr Herz pochte so heftig, dass sie es sogar in ihrem Hals spürte und je heftiger, um so mehr krallten sich die Finger in ihr Gewand und sie wusste nicht, wo sie hinschauen sollte.

Ihr Blickkontakt brach ab. Ohne etwas weiteres zu sagen machte sich Myotismon wieder zum Gehen auf doch er hatte Sanzomon nicht einmal gänzlich den Rücken gekehrt, da berührte ihre zarte Hand, oder eher die Spitze ihrer schmalen Finger ihn am Arm. Tinkermon gab ein leises, aber erschrockenes Glucksen von sich, dass nur Yuki direkt neben ihr hörte und wie Cho-Hakkaimon betete sie, dass dies ein gutes Zeichen war.

Langsam, ein Finger nach dem anderem klammerten sich an Myotismons Anzug. Sie zog scharf nach Luft. Es klang, als hätte sie beinahe geweint. 

„Kommst du wieder? Irgendwann?“, fragte sie zurückhaltend und schüchtern. Myotismon konnte ihre Wärme durch den Stoff fühlen, hielt sich aber, genau wie Sanzomon zurück.

„Willst du das denn? Hast du keine Angst, dass ich nichts gelernt habe? Hasst du mich nicht? Du hast allen Grund und alles Recht der Welt dazu“, sagte er, tonlos und fast zu ernst. Es geschah für ein paar Sekunden nichts, dann schüttelte Sanzomon ihren Kopf ganz langsam hin und her. Ihre goldblonden Strähnen kritzelten ihre rosa angelaufenen Wangen.

„Ich war wütend auf dich. Sehr lange. Aber ich konnte dich nie hassen. Wenn ich an dich dachte, wollte ich nicht an diesen einen Tag denken, sondern an all die anderen davor. Auch wenn wir uns gestritten und uns viel verschwiegen haben, es waren schöne Tage. Was ich fühlte war absolut ehrlich und ich fühle das immer noch.“

„Kannst du das wirklich noch behaupten. Du weißt, was alles geschehen ist. Ich habe dich schon einmal vor unüberlegten und impulsiven Entscheidungen gewarnt.“

„Glaube mir, hätte ich unüberlegt und impulsiv gehandelt, hätte ich dich im hohen Bogen raus werfen lassen“, sagte Sanzomon streng, aber dabei lachend und Myotismon konnte nicht anders, wie kurz darüber zu grinsen. Diese aufgesetzte Ernsthaftigkeit passte nicht zu ihr, wirkte im zu hohen Maße albern und weil sie das eigentlich wusste, kam er zum Schluss, dass sie es genau darauf angelegte.

Sanzomons Hand fuhr zu seiner Hand hinab, gerade als Myotismons Mundwinkel wieder sanken und ergriff sie. Sie war kalt, so wie früher.

„Sieh mich bitte an...“, hauchte Sanzomon in dem Augenblick, als sich sein Blick abwandte und Myotismon kam der Bitte nach. „Mir ist egal, was du warst und zu was du wirst, solange du immer noch einen Funken von deinem Ich in dir trägst. Solange du dieses Etwas noch in dir hast, bist du immer noch das Digimon, in das ich mich verliebt habe.“

Nun auch legte sich ihre andere Hand um Myotismons und drückte behutsam zu. Fest und lange kniff Sanzomon ihre Augen zusammen, als sie zu brennen anfingen und die Worte ihr erst nicht über Lippen kommen wollten.

„Ich will es versuchen. Auch wenn es am Ende vielleicht scheitert.“

Sanzomons Hände schwitzten und zitterten und sie traute sich nicht ihn anzusehen. Sie kam sich in ihrem eigenen Körper wie erdrückt vor, während sie wartete, das etwas geschah.

Kälte berührte ihr Gesicht. Es war nicht die Luft. Myotismons kalte Finger berührten ihre Wangen, dann die ganze Hand.

„Wenn ich wieder richtig spielen kann, komme ich zurück. Ich muss erst erfahren ob dass, an das mein Freund glaubte in einer Welt wie dieser noch an Wert besitzt. Und ob Digimon wie wir noch in der Lage sind, in solch einer Welt zu leben. Wenn ich das weiß, komme ich wieder. Dann bringe ich dir einen blauen Lavendelstrauß mit grünen Rosmarin. Einen richtigen Strauß, der einer Weißen Königin würdig ist.“

Es war nicht viel Kraft nötig um Sanzomon dazu zu bringen, ihr Gesicht zu heben und ihm in die Augen zu sehen. Sie legte sich noch etwas in die Hand herein, bis sie letztlich dem Druck in ihrem Brustkorb nicht mehr standhielt. Für einen Moment hoffte sie, sie tat das Richtige, während sich gleichzeitig doch so sicher zu sein schien, dass es kein Fehler sein konnte, wurden die Ketten ihrer eigenen Zweifel aufgesprengt. Sie glaubte für einen Moment zu fliegen, als sich ihre Arme fast von selbst ausbreiteten und den schlanken Körper vor ihr umschlangen. Bekannte Gerüche, der kalte Körper, der ihre Umarmung erwiderte, ohne das sie fror und Hände, die Haar und Rücken streichelten riefen Erinnerungen wach. Genauso wie nach den ersten Momenten der Peinlichkeit sich Myotismons körperliche Anspannung löste.

„Hat er...?“, flüsterte Yuki zu Tinkermon, diese antwortete nur kopfnickend mit einem „M-hmm“. Yuki atmete erleichtert und mit einem Lächeln auf, während sie versuchte das Bild, das die beiden abgaben sich in ihren Kopf vorzustellen. Yuki freute sich für ihn. Sie hoffte nur, das dies Myotismon auch für die Zukunft ein wenig half. Und wo immer ihr Vater war, im Himmel oder hier, er hoffte, er sehe dies.

Gerührt schnappte Cho-Hakkaimon nach Luft und weinte fast.

„Was sagst du dazu, Gokuwmon?“, fragte Sagomon seinen Freund, dessen Miene gänzlich steif blieb.

„Was soll ich sagen?“

„Du könntest dich beschweren und ob es nicht ein Trick sein könnte. Nicht dass ich das denke, aber du bist doch sehr vorsichtig.“

„Ich glaube nicht, dass das ein Trick ist. Ganz im Gegenteil.“

Denn für einen Trick sah Gokuwmon, dass Myotismon, der aus ähnlichem gefühlsarmen Holz geschnitzt war wie er es genoss Sanzomon wieder im Arm zu halten und die Blöße ihm eher zweitrangig war. Er trug weder Farbe noch ein Lächeln im Gesicht, aber Myotismon war seit einer ganze Weile wieder entspannt und vergaß für einen Augenblick, dass er eigentlich höllische Schmerzen in den Händen hatte, während Sanzomon sein Gesicht in ihre warmen, zarten Händen nahm, bemüht nicht vor Freude zu weinen.

„Ich brauche keinen Strauß. Komm einfach nur wieder, ja?“

„Ich bringe dir trotzdem einen mit. Von mir aus auch mit deinen Seerosen bestückt, wenn du dieses zwielichtige Kraut so gern hast.“

„Würdest du auch...“, fing Sanzomon an, beendete ihren Satz aber nicht. Wie sie auf die Idee kam, dass sie beide eventuell wieder zusammen unter einen Dach leben könnten erschien ihr mehr wie nur überstürzt. Sie wusste nicht, ob sie seine ständige Anwesenheit ohne Hintergedanken bereits einfach so verkraften konnte. Oder ob sie über gewisse Dinge hinweg sehen konnte. Bis sie wieder Vertrauen in ihn fassen könnte, würde es Zeit brauchen. Viel Zeit.

Vermutlich wird es auch Streit geben und sich einfach neben ihn zu setzen und schlicht über alles zu reden, was einem so durch den Kopf ging und auf dem Herzen lag würde nicht ohne weiteres von statten gehen. Aber sie wollte es versuchen.

„Ich glaube nicht, dass dieses Terrain geeignet für mich und meinesgleichen ist. Es erscheint mir alles doch sehr hell. Und ich denke, du wirst die Nebelwand satt haben.“

„Du weißt gar nicht wie sehr“, lachte sie zurückhaltend, Myotismon erwiderte es nur bedingt. „Ich habe es übrigens gesehen. Das Polarlicht meine ich.“

„Hast du?“

„Ja. Es war wirklich wunderschön“, erzählte sie. Es erzielte jedoch nicht den Effekt, denn sie sich wünschte. Sie hatte auf ein bissiges Kommentar gehofft, statt auf resigniertes Schweigen.

Sanzomon sah das Polarlicht vor ein paar Jahren auf ihrer Suche nach einem neuen Heim für sie alle. Sie war bei ihrer Familie, als sie es im Norden der Digiwelt zu sehen bekam und es war schöner, wie sie es sich je zu träumen gewagt hätte. Auch wenn dies nicht lange nach dem Überfall auf Grey Mountain geschah, wünschte sie sich damals doch Myotismon sei bei ihr gewesen.

Weiter mit einem Lächeln schubste Sanzomon ihn leicht.

„Du schuldest mir übrigens noch ein Rendezvous. Du hast versprochen, du zeigst mir das schönste Polarlicht der Digiwelt. Und ich würde das sehr gerne noch.“

„Obwohl du das Polarlicht schon gesehen hast?“

„Gerade weil.“

Diesmal wurde ihr Lächeln erwidert, mit einen langen und tiefen Blick in ihre Augen. Ein altes Verlangen zog sich vom Bauchraum aus durch ihren Körper und die Sehnsucht nach einem Kuss kehrte nach so vielen Jahren wieder zurück. Ihre Finger berührten Myotismons kühl Wange um im selben Moment, als sie sich auf ihre Zehenspitzen stellte lähmte sie die alten Erinnerungen, was beim letzten Mal geschehen war. Sie sah die Zähne und wusste wieder, was er damit tat und damit bei ihr machen wollte. Die schwere Pranke von Angst lag auf ihrer Brust und raubte ihr fast den Atem. Sie konnte nicht vergessen. Aber dass war ja auch niemals ihre Art gewesen.

Für jedes Übel der Sonne gibt es ein Mittel der Wonne, brachte ihr Babamon als vorbildliche Mutter Gans bei. Was in dem Fall das beste Mittel war, mussten sie noch herausfinden. Zusammen.

Zu einem Kuss konnte sich Sanzomon jedoch weiterhin nicht ermutigen. Aber ihre Finger fuhren nicht nur sanft über die bleiche Haut, sondern auch über Myotismons lange Eckzähne und blieben kurz auf ihnen ruhen.

„Es wird nicht mehr wie früher, das ist mir gänzlich bewusst. Aber ich möchte es versuchen. Wir müssen nicht so zusammenleben wie damals, aber ich würde gern wieder ein Teil deiner Welt sein. Vielleicht überdenkst du dann einige Dinge... und findest deinen Frieden.“

„Du glaubst also immer noch an so etwas?“

„Ich habe eben nie aufgehört zu glauben, das Träume auch Realität werden können.“

„Du bist immer noch so idealistisch, wie ich dich zurück gelassen habe, ehrfürchtige Hohepriesterin.“

„Und bist du immer noch so nihilistisch, wie ich dich kenne?“

„Vielleicht.“

Es war ruhig. Sanzomons Gesicht war so warm, dass der Schnee, der auf ihre Wangen fiel sofort schmolz. Nur war sie sich nicht sicher, ob es darauf beruhte weil es Liebe war oder der Hauch von Scham, eben weil sie Liebe für so ein Digimon empfand.

Myotismon hörte Hisakis Stimme in seinem Langzeitgedächtnis sagen, dass er mehr Glück wie Verstand besaß. Sie hat dich mit offenen Armen empfangen, nach all dem, du kannst echt von Glück reden, sagte Hisakis Stimme wieder. Ja. Er hatte echt mehr wie nur Glück. Doch Glück allein nützte nichts, wenn man Dinge ändern wollte, darum verließ sich Myotismon nie auf so etwas. Dennoch war er skeptisch, dass es zwischen ihnen jemals wieder so sein könnte wie einst. Es würde ihn nicht einmal wundern, würde es scheitern. Nichtsdestotrotz, gerade weil er Sanzomon vor sich stehen sah und seit so langer Zeit wieder ihre Stimme hören konnte, wollte er es versuchen. Er musste es versuchen. Letztlich war er es auch Hisaki schuldig weiterzumachen ohne jemals mehr ein Jabberwock sein zu müssen.

Dass Myotismon sie packte realisierte Sanzomon erst, als sie unter ihren Füße den Boden nicht mehr spürte. Ein schwaches „Huch!“ entwich ihr und sie taumelte auch kurz, aber Myotismon hielt sie fest genug, dass sie nicht runter fiel oder aus seinen Armen glitt. Sanzomons Finger gruben sich tiefer in seinen Anzug.

„Wir werden die Gelegenheit dazu haben, dass alles noch herauszufinden“, flüsterte er Sanzomon zu. „Ich halte mein Versprechen.“

„Darf ich dich dann auch in deinem Schloss besuchen, wenn du wieder spielen kannst?“

„Wenn ich wieder spielen kann...“

Obwohl es eigentlich Zeit war sich voneinander zu lösen, schaffte es keiner von beiden zurecht. Um das süße Gefühl noch etwas zu wahren, lief Myotismon mit Sanzomon in den Armen zu Gokuwmon, Cho-Hakkaimon und Sagomon zurück und setzte ihren Meister genau vor den dreien ab, die, auf unterschiedliche Art und Weise, froh darüber waren, wie diese Situation ausgegangen war.

Sanzomon ließ ungern von ihm ab. Aber das Wissen, dass es ihm gut ging und ihn in näherer Zukunft wiederzusehen erleichterten es loszulassen. Schüchtern lächelte sie und etwas unbeholfen erwiderte er es mit einem kurzen Schmunzeln, bis Myotismon sich mit strenger Miene an ihre Schüler wandte.

„Ihr passt auf sie auf, bis ich wiederkomme?“

„Selbstverständlich. Haben wir doch versprochen“, versicherte Sagomon zuversichtlich und Gokuwmon legte seinen Arm um Sanzomon, während Cho-Hakkaimon sich an sie schmiegte.

„Aber wir machen dass für sie, nicht für dich“, erklärte Gokuwmon, halb ernst aber zum Teil auch aus Spaß.

„Ja, Meister Sanzomon kann man schließlich auch keine Minute aus den Augen lassen“, fügte Cho-Hakkaimon an, aber als Sanzomon etwas dazu sagen wollte, kam ihr Myotismon zuvor:

„Schläft sie immer noch an ihrem Arbeitstisch?“

„Als ob sich das je ändern könnte.“

„Sogar in den Gängen. Im Stehen.“

„Sie ist und bleibt ein Workaholic, der nie weiß, wann Schluss ist“, erzählten Cho-Hakkaimon, Gokuwmon und Sagomon. Etwas beschämt starrte Sanzomon zu Boden.

„Das war nicht anders zu erwarten“, seufzte Myotismon, daraufhin verschränkte Sanzomon die Arme vor sich.

„Du kannst dich ruhig beschweren. Ich weiß, wie du darüber denkst.“

„Du solltest nur lernen, mehr auf dich selbst zu achten. Aber schon gut. Es wäre langweilig und überaus tragisch, wärst du nicht so, wie ich dich kenne, Sanzomon.“

Überrascht hob sie ihren Blick. Sie konnte sich nicht erinnern, dass Myotismon je offen sagte, dass er sie so, wie sie war akzeptierte. Vor ihren Schülern schon gar nicht.

Cho-Hakkaimon nutzt die Gunst der Stunde und rannte davon, dem aber nur Gokuwmon und Sagomon Aufmerksamkeit schenkten und sich fragend ansahen, was dieses Digimon vor hatte. Sanzomon bekam nichts mehr davon mit.

„Du hältst mich nicht für... verrückt?“, fragte sie Myotismon.

„Selbstverständlich tue ich das. Aber nicht so verrückt, dass ich deine Entscheidungen oder Taten anzweifeln würde. Kritisieren durchaus. Und verrückt bist du mir lieber.“

Sanzomons Herz pochte und riss sich mit aller Macht zusammen, um vor Rührseligkeit nicht doch noch zu weinen.

Der Himmel über den Bäumen nahm eine hellere Farbnuance an und der Schnee ließ nach. Die wenigen Sonnenstrahlen, die Myotismons Gesicht für einen Moment streiften brannten wie die Klinge eines frisch geschärften Messers und dieses Brennen blieb selbst noch erhalten, als Wolken das Licht bereits wieder verschlangen.

„Wir werden gehen. Die Sonne kommt allmählich raus“, sagte Myotismon. Sanzomon nickte, dann widmete sie sich Tinkermon, die sich erst noch hinter Yuki versteckte, weil sie dachte ihr Meister wäre immer noch böse aufgrund ihres Ungehorsams. Mit Yuki an der Hand trat sie näher an ihren Meister.

„Tinkermon...“

„Schon gut, Meister Sanzomon. Entschuldigt, dass ich mich widersetzt habe.“

„Nein. Gram dich nicht dafür“, sagte Sanzomon ruhig. Tinkermon blinzelte überrascht, knickte aber dann wieder ein.

„Meister...“, sagte sie. Sie schnaufte tief, aber die Übelkeit in ihrem Bauch blieb. Yuki blickt besorgt drein, sich fragend, was das Digimon hätte und der Anblick ihrer neuen Freundin gab Tinkermon den nötigen Ruck.

„Meister, ich... Yuki sagt, sie möchte noch mehr von der Digiwelt sehen und wir können uns ganz gut leiden. Daher dachte ich -“

„Sprich es aus“, forderte Myotismon sie ungeduldig auf. Sanzomon legte ihre Hand auf seinen Arm und drängte ihn etwas zurück. Ihrer Schülerin schenkte sie ein Lächeln.

„Gehe ruhig mit ihnen, wenn dein Herz sagt, dass du mit ihnen gehen möchtest.“

„W-Wirklich? Ich darf -“, stotterte Tinkermon.

„Darf Tinkermon wirklich mit mir gehen?“, harkte Yuki nach, genauso euphorisch wie das Feen-Digimon.

„Ja, geht ruhig zusammen“, bestätigte Sagomon nochmal.

„Der Piepmatz hat schon lange seine Flügel. Wird Zeit, dass sie aus dem Nest kommt“, fügte Gokuwmon noch an. Tinkermon und Yuki freuten sich, während Sanzomon ihnen zusah und zu verstehen schien, warum Tinkermon mit ihr gehen wollte, nachdem sie angeblich auf etwas wartete. Vielleicht war dieses etwas ein irgendetwas, beziehungsweise ein jemand. Und ob das, was sie vermutete wirklich sein könnte.

Myotismon dachte das Selbe, wie ihr ein Blick in sein Gesicht verriet, ebenso dass er sich nicht sicher war, ob er diese Entwicklung gutheißen sollte.

„Sehe ich aus wie ein Babysitter? Behalte deine Findlinge gefälligst bei dir.“

„Och, jetzt komm schon!“, beschwerte sich Yuki lauthals. „Du hast doch gemeckert, dass du ständig ein Auge auf mich haben muss, weil ich kein Digimon habe. Wenn Tinkermon bei mir ist, passiert sicher nichts.“

„Ja, ich pass auf sie auf“, jauchzte Tinkermon.

„Euch beiden würde ich nicht einmal meine Fledermäuse anvertrauen. Sanzomon, sag etwas.“

„Ich lehre meinen Schülern ihren Weg zu gehen. Risiken und Herausforderungen stärken den Charakter“, meinte sie nur ganz ruhig. Zwar knurrte er wütend, unterdrückte aber seinen Ärger.

„Nun gut. Wehe aber dein Schüler vermasselt es.“

„Wird sie nicht. Da bin ich überzeugt.“

„Wenn doch, trägst du die Verantwortung.“

„Hey. Ich bin kein Ausbildungs-Digimon mehr! Ich weiß, was ich tue!“, schimpfte Tinkermon.

„Und ich bin kein Kleinkind mehr und auch nicht erst seit gestern blind“, motzte Yuki mit. „Also, was nun? Kehren wir zurück zur Musikprobe? Du willst doch so schnell wie möglich wieder spielen können.“

Myotismon nickte des ab blieb aber kurz, nachdem er sich schon wieder in Gang setzte stehen. Sanzomon hielt ihn noch einmal am Ärmel fest.

„Lass dir Zeit, ja? Egal wie lange du brauchst, ich warte hier.“

„So lange lass ich dich nicht warten. Das habe ich in der Vergangenheit zu oft gemacht“, sagte er, als wollte er scherzen, dabei meinte Myotismon es ziemlich ernst. Sanzomons Hand glitt wieder in seine und noch einmal drückte er zu, ohne den Augenkontakt abzubrechen.

„Wartet! Noch nicht abhauen!“, rief Cho-Hakkaimon, die so schnell aus dem Schloss gerannt kam, wie sie hineingestürmt war. Sie hielt beide Hände weit hoch und trug über ihrem Kopf das kleine Piano, dass Gokuwmon einst den Gekomon abkaufte. Vor Myotismon kam sie zum stehen und hielt es ihm entgegen. Der Lack blätterte ab, aber ansonsten schien es an einem Stück.

„Hier, vielleicht hilft das ja beim Üben“, sagte sie, während Myotismon es mit Zögern annahm. Prüfend drehte er es und schaute sich das Piano von allen Seiten an und glaubte erst gar nicht, dass es wirklich jenes Piano war.

„Wie seid ihr daran gekommen? Das Schloss war zerstört.“

„Ja. War eine ganz schöne Schufterei“, maulte Cho-Hakkaimon.

„Wir wollten eigentlich nur ein paar Schriften von Jijimon und Babamon retten, aber das Piano hat den Einsturz irgendwie unbeschadet überstanden“, erzählt Sagomon. „Wenn das kein Karma ist.“

„Und wieso habt ihr das mitgenommen?“

„Wollt Ihr es jetzt, oder nicht?“, baffte Gokuwmon ungeduldig, Myotismon ärgerte sich erst über den Ton, hielt aber dabei das Piano demonstrativ fest in der Hand, damit es ihm niemand nehmen konnte.

„Ich kann es ja mitnehmen. Von euch weiß ja keiner, wie man damit umgehen muss, wie man sieht. Vielleicht kann ich es auch reparieren. Ich erkenne es an, dass ihr es aufgehoben habt, wenn ich auch nicht weiß wieso.“

„Normale Digimon sagen Danke“, brummte Gokuwmon ernst, aber er lachte trotzdem. Myotismon hatte sich kein Stück verändert.

„Dürfen wir Euch eigentlich auch mal besuchen kommen?“

„Träumt weiter“, fauchte Myotismon Cho-Hakkaimon an und vor Schreck sprang sie einen Satz von ihm weg. „Ihr haltet euch vorerst schön von meinem Schloss fern.“

„Hey, hey, hey, Sekunde mal. Babamon hat das Sanzomon vererbt, also gehört ihr das Schloss.“

„Ihr Schloss ist damals zerstört worden und ich habe es wieder aufgebaut, somit ist das mein Schloss.“

„Aber Grey Mountain gehörte doch dazu! Hey, darf der das einfach so bestimmen?“

„Ich glaube selbst wenn nicht, wäre ihm das egal“, meinte Sagomon seufzend, was Cho-Hakkaimon noch mehr verstimmte.

„Könnt Ihr wenigstens Phantomon und den anderen einen Gruß bestellen? Wir vermissen sie nämlich.“

„Ihr könnt Sie ja auch mal mitbringen. Ihr wisst, Außenseiter sind hier immer willkommen“, sagte Gokuwmon. Eigentlich wollte und sollte Myotismon ihnen auch erklären, dass die Geist-Digimon, die bei ihm hausten nicht die selben Bakemon und Soulmon von einst waren. Die hatten bei dem Kampf mit den Digirittern ihr Leben gelassen. Jedoch waren auch einige dabei mit interessanten Erinnerungsfetzen. Eines der drei Phantomon, dass ihm diente erzählte auch von Dingen, die sonst kein anderes Geist-Digimon wissen konnte. Er würde nicht hundertprozentig zustimmen, dass dieses Phantomon sein einstiger bester Hauptmann und rechte Hand neben Gatomon war, gänzlich ausschließen aber, dass die Schwarzen Türme in der Realen Welt dubiose Effekte mit sich brachten würde er auch nicht.

Wer weiß wem man alles noch eine zweite Chance schenkte...

„Ich richtete es aus“, sagte Myotismon ohne sich zu bemühen seine Zweifel zu verstecken, für die drei Schüler aber reichte das vorerst. Ein letztes Mal noch widmete er sich allein Sanzomon.

„Ich werde fleißig lernen. Und dann hole ich dich ab.“

„Ich freue mich.“

Ihre Hände trennten sich voneinander, doch nur schwer, fast melancholisch und Myotismon entfernte sich von ihr. Yuki und Tinkermon liefen mit ihm wieder zurück in den Wald. Doch nach wenigen Schritten blieb er stehen, während er das Mädchen mit dem Feen-Digimon weiterziehen und Pläne schmieden ließ, wohin ihr Weg sie verschlagen würde.

Myotismon schaute zurück. Sanzomon stand noch immer mit Gokuwmon, Cho-Hakkaimon und Sagomon da. Ihre Hände lagen gefaltet auf ihrer Brust. Sirenmon war mit den Sistermon und den Findlingen an den Ort des Geschehens kehrten und sahen ihm genauso hinterher. Sanzomon begann ihm zu zuwinken. Ihre Schüler ahmten ihr nach, dann die Sistermon. Sirenmon flog hoch und rief ihm irgendwas zu, was Myotismon nicht ganz verstand, aber er vermutete irgendwo war sicher eine schroffe Bemerkung dabei. Die Baby- und Ausbildungs-Digimon hüpften auf der Stelle.

Es war kaum zu glauben. Er hatte wirklich viel, viel Glück trotz seiner Zweifel, die er auch immer noch hegte. Aber er hatte zumindest nun auch ein klares Ziel, so bescheiden und schlicht es war.

(Der Schwarze König träumt und von was glaubst du träumt er Alice?)

In Myotismons Brust pochte es. Aber es war angenehm.

 
 

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Dass Myotismon gar nicht mehr hinter ihnen war hatte weder Yuki noch Tinkermon sonderlich wahrgenommen. Die ersten Meter liefen sie schweigend nebeneinander her und da Myotismon mit seinen Gedanken am liebsten alleine war, beschleunigten die beiden ihr Tempo leicht, um ihn den Abstand zu gönnen, den er brauchte. Yuki vermutete sogar er empfand Freude, wenn nicht gar Glück, wo er doch erst so pessimistisch war. Geschweige denn mit Sanzomon reden, dass hatte er nicht einen einzigen Moment in Erwägung gezogen. Er hatte gemeckert und er würde Yuki auch nicht so schnell verzeihen, dass sie ihn dazu drängte doch vorzutreten. Ja, er freute sich und tat alles um genau das nicht auszustrahlen. Das wäre zu viel Blöße für einen Tag.

Yuki jauchzte mit Tinkermon, alberten herum und wenn irgendetwas im Weg war, warnte Tinkermon sie rechtzeitig. Das Feen-Digimon hielt mit ihrer Hand Yukis Finger und führte sie so den Pfad entlang, von dem sie glaubte so käme man hier heraus. Es könnte auch ein anderer sein. Sie würde es schon merken, wäre sie falsch.

„... und das war's. Mehr habe ich von der Digiwelt nicht mitbekommen“, erzählte Yuki. Sie hatte Tinkermon berichtet, wo sie mit Myotismon bisher herumgewandert war, aber mehr wie die Kaktuswüste, ein paar Dörfer und dem großen Bahnhof der Spiegelbahn hatte Yuki nicht mitbekommen. Dabei hätte sie alles gegeben mal Myotismons Schloss zu betreten. Vermutlich spukte es dort. Sie hoffte, es spukte dort. Ihr Onkelchen schien zumindest schon einmal Geist-Digimon als Bedienstete zu haben.

„Das ist nicht viel. Meister Sanzomon erzählt oft von ihren Reisen und du glaubst gar nicht, was sie schon alles gesehen hat. Aber sie hat auch gesagt, viele Gegenden sind sehr gefährlich.“

„Vor Gefahr habe ich keine Angst. Angst behindert einen nur auf seinen Weg. Und sehbehindert bin ich schon, dann kann ich nicht auch noch anfangen mich zu fürchten“, erzählte Yuki überzeugt und Tinkermon nickte das ab, da dies für sie nicht nur schlüssig, sondern auch sehr mutig klang. Hätte Myotismon das gehört, hätte er es eher als dumm bezeichnet.

Da eben besagtes schnippisches Kommentar fehlte merkte Yuki auch erst, dass Myotismon gar nicht nachkam. Doch was sie hörte, außer typischen Waldgeräuschen war ein Summen und gelegentliches Murmeln. Sie kannte diese Melodie, die Worte waren so gedämpft, dass selbst Yuki sie nicht entziffern konnte. Vermutlich waren es Bemerkungen, die noch unfreundlicher und bissiger waren wie das, was Myotismon ihr manchmal an den Kopf warf, wenn dieser wieder realitätsferne und infantile Dinge ausbrütete. Und doch sah man, dass sich ihre Mundwinkel hoben.

„Im Tamtambaum er sitzt und Selbstgespräche führt“, trällerte Yuki ein wenig und ihr Weg neigte sich leicht vom Pfad ab. Im Schatten eines sehr breiten und hohen Baumes blieb sie stehen. Tinkermon flog ihr nach und bemerkte plötzlich den Geruch von kalter Asche. Sie vermutete es hätte hier gebrannt, eventuell die Reste eines Lagerfeuers, aber sie sah nichts, was darauf schließen ließ. Sie erblickte auch keinen Qualm oder Rauch, obwohl der Geruch sehr intensiv war. Diese Wolke wehte ihr nicht entgegen, sondern vielmehr flog sie über ihnen hinweg. Nein, sie sammelte sich über ihnen.

Tinkermon sah hoch und bemerkte erst nur die großen, ledrigen und dunklen Schwingen, dann den blutroten Stoff der Kutte, der sich kaum bemerkbar hin und her bewegte. Sein Träger rührte sich nicht, er schaute nur hinunter, mit bedrohlichen blauen Augen und Tinkermon glaubte im Schatten seiner Kapuze ein Grinsen zu sehen. Ihr blieb die Luft weg. Tinkermon wusste nicht viel über die Geschichten der sieben Dämonenkönige, aber sie wusste auch so, dass diese Digimon nicht nur mächtig, sondern auch gefährlich war.

„Hallo, Herr Jabberwock“, sagte Yuki mit einem gänzlich natürlichen Lächeln, der keinerlei Zweifel aufkommen ließ. Nur Tinkermon zweifelte, ob Yuki bei Sinnen war so ganz gelassen mit so einem Digimon zu reden.

Deemon stieß sich ab und ohne jede große Bewegung schwebte er langsam hinunter. Genau vor Yuki und Tinkermon blieb er stehen. Eingeschüchtert steckte sich Tinkermon hinter Yuki und schaute nervös über die Schultern. Deemon schenkte dem Feen-Digimon nicht sehr viel Beachtung.

„Lang ist's her, kleine Alice. Wie gefällt dir dein Wunderland? Ist es, wie du es dir vorgestellt hast?“

„Anders ein wenig. Doch muss ich sagen, es ist Alice' Wunderland sehr ähnlich. Mir gefällt sie. Wie ist es dir ergangen, Herr Deemon?“, fragte Yuki weiter höflich. Es war ein paradoxer Anblick, wie dieses zierliche Mädchen im Schatten dieses Digimon stand und weder Angst noch Argwohn zeigte.

„Wie wir häretischen Digimon eben sind, wir kochen stets unser eigenes Süppchen. Am liebsten mit Digirittern und ihren Haustieren als Beilage“, scherzte Deemon und Yuki schmunzelte kurz, wenn sie aber nicht ganz klar abwiegen konnte, wie viel davon nur ein Scherz war. Tinkermon zumindest nahm diese Äußerung als Drohung war und kroch aus ihrem Versteck hervor. Kaum dass sie vor Deemon stand bereute sie es auch etwas. Sie stand wirklich vor einem Dämonenkönig. Sie stand genau vor einem und sah ihm ins Gesicht.

„D-D-Du wirst Yuki nichts machen!“, sagte Tinkermon und stemmte die Brust nach vorne um so zu überspielen, dass sie vor Angst fast umkippte. Deemon wusste nicht, ob er das bemitleidenswert oder amüsant finden sollte. Aber er lachte trotzdem.

„Du hast da aber ein nettes Anhängsel. Wer ist das denn, kleine Alice? Dein Haustier Dinah? Oder das Weiße Kaninchen, dem du nachjagst? Oder hat die Königin dich zur Belustigung aufs Schachbrett geschickt?“

„Ich pass auf Yuki auf!“, sagte Tinkermon weiter trotzig, dabei schlug ihr das Herz bis zum Hals.

„Eine große Klappe hat dieses Digimon also auch noch. Und was willst du gegen mich ausrichten?“

Da wusste Tinkermon beim besten Willen nicht, aber sie würde nicht vor Deemon schlapp machen und umfallen, wenn sie das auch gerne getan hätte. Er kam ihr sogar etwas näher. Der Geruch von Schwefel und verbrannter Kohle haute sie beinahe um, aber Tinkermon streckte weiter ihren Rücken durch, hob ihre Brust und das Kinn hoch und hoffte so zumindest überzeugend aufzutreten. Als ihr der Brustkorb gerade anfing zu schmerzen, streckte Yuki ihre Hand aus, um nach Tinkermon vorsichtig zu greifen und zog sie schließlich etwas zurück.

„Lass dich nicht von Herr Deemon provozieren, Tinkermon. Er liebt es andere zur Weißglut zu treiben. Er liebt Wut so sehr wie die Herzkönigin ihre Törtchen. Aber man kann mit ihm reden. Und er kennt auch die Geschichte von Alice im Wunderland, wie du sicher bemerkt hast.“

„Ein Dämonenkönig der Märchen kennt. Das ist mal etwas Neues“, stellte Tinkermon fest. Ihre anfängliche Angst verflog etwas, aber sie traute ihm noch nicht ganz. Sie brüstete sich zwar nicht mehr, schaute aber ernst und drohend, um Deemon zu signalisieren, dass er bloß nichts unüberlegtes machen sollte. Fast hätte er laut darüber gelacht, doch er sah an den beiden vorbei und erspähnte unter einem Schatten eines Baumes Myotismon, der ihm genauso drohend anstierte. Und nach einer Auseinandersetzung mit ihm war Deemon aktuell nicht.

„Ich sehe, ihr passt hervorragend zusammen. Doch was habt ihr vor?“

„Ich will mit Tinkermon durch die Digiwelt.“

„Und ich möchte mit Yuki mit“, sagten beide gänzlich überzeugt.

„Und weiter?“

Sie schwiegen. Tinkermon sah Yuki in die Augen, da sie kurz vergaß dass ihre Begleiterin ja nichts sah.

„Wissen wir noch nicht“, sagten beide nach längerer Pause gleichzeitig.

„Also habt ihr keinen Plan was ihr vor habt und was euch erwartet? Ihr seid ein noch unbeholfeneres Gespann wie die Digiritter.“

„Meister Sanzomon sagt, man muss manchmal auch abwarten, was der Weg bringt. Wichtiger ist es die Wege zu gehen“, sagte Tinkermon selbstbewusst.

„Dein Meister redet viel wenn der Tag lang ist, darum würde ich ihren Theorien nicht so viel Gewicht schenken.“

„Hey! Sag so was nicht über Sanzomon!“, schimpfte Tinkermon und flog dicht an Deemon heran. Der jedoch blies einmal Luft aus und der ungewöhnlich starke Wind mit dem drückenden Schwefelgeruch ließ Tinkermon taumeln. Sie fiel in Yukis Hände und blieb dort auch liegen.

„Was hast du denn vor, Herr Deemon?“

„Na, das was große, böse Jabberwocks gerne machen, wenn er Tag lang ist. Was dachtest du denn? Ich bin ein Virus-Digimon. Wir können nicht anders.“

„Ich hoffte zumindest, du würdest dich bemühen nicht jedes schlechte Klischee zu erfüllen.“

„Dafür macht es mir zu viel Spaß“, lachte er. Yuki verzog die Lippen, aber Deemon war sich nicht sicher, ob sie versuchte zu Lächeln und dabei scheiterte, oder ob sie krampfhaft versuchte es zu unterdrücken.

„Die Digiwelt wird nicht so friedlich bleiben. Wenn ich es nicht tue – und ich hoffe, ich muss nicht erklären, was es bedeutet – wird jemand anders kommen und es versuchen. Immer, und immer und immer wieder.“

„Es wird aber immer welche geben, die es verhindern“, redete Yuki dazwischen. Das Gras raschelte und Schnee fiel von den Bäumen. Sie roch nicht nur Kohle, sondern nach Feuer und Schwefel. Deemon war direkt vor ihr.

„War das eine Drohung, kleine Alice?“

„Ich möchte nur sagen, dass sich Dinge ändern. Ändern ist nicht schlecht. Aber vernichten und komplett von vorne Anfangen wäre nicht im Sinne jener, die Leben möchten. Wenn man ständig von vorne anfängt kann sich nichts ändern. Das wollte die Digiwelt doch. Dass sie nicht ständig von vorne beginnt, sondern sich weiterentwickelt.“

„Und wenn ich auch einfach nur was ändern möchte?“

„Kommt drauf an“, sagte sie nachdenklich. Deemon fiel auf, wie ruhig dieses Mädchen sprach. Sie war immer noch frech und besserwisserisch, aber weniger vorlaut. Jedoch nicht weniger verrückt.

„Würde deine Veränderung anderen schaden und ihnen Wichtiges nehmen? Sei ganz ehrlich.“

„Wohl nicht nur schaden. Aber andere sind mir egal.“

„Dann kann ich das leider nicht gutheißen, Herr Deemon. Und wenn es sein muss, stelle ich mich dann auch gegen dich. Wenn die Mächtigen etwas tun, was den meisten Schwächeren nur schadet, ist das nicht gerecht. Der Zweck heiligt keine Mittel.“

Deemon sagte nichts und runzelte unter seiner Kapuze die Stirn. Myotismon, der alles mit anhörte schlug die Hand ins Gesicht und schüttelte den Kopf und Deemon fragte sich, ob das Mädchen wusste, dass er mithörte und deswegen ganz besonders viel solchen Kram von sich gab, oder ob sie es wirklich so ernst meinte, wie sie es verkaufte. Was es auch war, lachen musste Deemon dennoch.

„Du bist wirklich witzig. Du und dieses kleine Insekt wollt euch gegen mich auflehnen?“

„Nur weil ich klein bin, bin ich nicht schwach!“, moserte Tinkermon weiter mit zunehmenden Mut, auch wenn sie sich nicht traute noch einmal so nah an Deemon heranzugehen. „Und du wirst der Digiwelt nichts tun. So wie sie ist hat jeder alle Möglichkeiten, seine Träume zu verwirklichen. Und wenn du nur versuchst irgendwas daran zu ändern, dann -“

„Dann was?“, fragte Deemon und lachte Tinkermon gleichzeitig dabei aus. Die empfunden Angst vergaß Tinkermon bereits und ihr Körper zitterte vor Aufregung.

„D-D-Dann kämpfe ich eben! Mit Yuki!“

Tinkermon zitterte und hielt die Luft an. Das Rookie-Digimon wirkte auf Deemon weniger mutig, sondern eher als fiele sie gleich in Ohnmacht. Nun hatte Myotismon begonnen sich die Schläfen zu massieren. Unbeeindruckt blies er Tinkermon seinen Schwefelatem entgegen, allerdings mit der Kraft eines aufkommenden Sturmes. Das Feen-Digimon konnte sich nicht halten und sie fiel erneut in Yukis Hände, die sie nach ihr ausstreckte. Dabei lachte Deemon Tinkermon noch aus.

„Einer so verrückt wie der andere“, stellte Deemon amüsiert für sich fest. „Ihr seid das perfekte Duo. Fast bin ich dazu geneigt euch im Falle des Falles zu verschonen. So eine gute Unterhaltung hatte ich lange nicht mehr.“

„Ich möchte dir auch eigentlich nichts machen, Herr Deemon“, sagte Yuki und sie klang, als täte ihr es wirklich Leid. „Aber wir müssen gerecht bleiben, also kann ich da nicht still sitzen.“

„Ich habe dir schon einmal gesagt, dass dein Sinn für Gerechtigkeit wenig wert ist. Du verstehst nichts, kleine Alice.“

„Ich verstehe aber, dass Gerechtigkeit sich aus vielen Dingen zusammensetzt. Freiheit, Ehrlichkeit, Chancengleichheit. Für alle. Wer dem schadet, schadet über kurz oder lang allen. Und dass kann ich nicht zulassen. Verzeih mir das, Herr Jabberwock.“

Das Mädchen klang wirklich außerordentlich bedrückt über den Umstand und weder Deemon, noch Tinkermon konnten dem erst folgen (von Myotismon ganz zu schweigen). Deemon beugte sich vor und stützte seine Hände auf seinen Knien ab, während er sein Spiegelbild in Yukis großen, blinden Augen betrachtete. Sein starker Schwefelatem stieg ihr in die Nase, aber sie zuckte nicht einmal.

Ihre Augen waren groß, blind, aber wie Deemon feststellen musste nicht leer. Sie waren nie leer. Sie waren voller Spannung, voller Erwartungen, voller Träume. Wie ekelerregend.

„Dann sind wir wohl Feinde, wenn wir uns das nächste Mal sehen, kleine Alice.“

„Ich bedauere es auch. Ich würde das lieber vermeiden.“

„Angst vor einem alten Jabberwock?“

„Eigentlich weil ich damals gesagt habe, dass ich dir eine Chance geben möchte, wie Onkelchen auch. Gleichberechtigung, du erinnerst dich? Ich würde dem ungern widersprechen.“

Selbst auf die doch große Entfernung erkannte Deemon, wie Myotismon mit den Augen rollte, aber er schien es aufgegeben zu haben sich über die beiden Idealisten aufzuregen.

„Kinder. Alle gleich“, schnaubte Deemon, schenkte Tinkermon noch einen letzten Blick, denn sie möglichst selbstbewusst entgegnete, wenn sie auch zitterte wie Espenlaub. „Dann viel Spaß noch in deinem Wunderland, kleine Alice. Gilt auch für dein Haustier. Schärf schon einmal dein Vorpal-Schwert. Du wirst es brauchen.“

Einmal schlug Deemon kräftig mit seinen schweren Schwingen. Tinkermon wurde von dem plötzlichen Sturm erfasst und davon geweht, aber sie konnte sich an Yukis Shirt festhalten. So plötzlich aber wie diese Windböe kam, so schnell verschwand sie wieder. Von Deemon keine Spur, nicht einmal der Hauch seiner Präsenz, wie vom Erdboden verschluckt.

„Er ist... weg?“, wunderte sich Tinkermon. Ungläubig sah sie in verschiedene Richtungen, aber sie entdeckte Deemon nirgendwo.

„Der taucht früher oder später wieder auf“, erklärte Myotismon unbeeindruckt und frei von jeder Sorge, als er aus seinem Versteck trat und zu den beiden lief.

„Du hast gelauscht, oder nicht, Onkel?“

„Ich wollte die Unterhaltung nicht unterbrechen. Deemon scheint dich nach wie vor nicht ausstehen zu können.“

„Nun, ihm wird keine andere Wahl bleiben es zu ertragen. Denn so schnell möchte ich die Digiwelt nicht hinter mir lassen“, erklärte Yuki ernst. Ihr Digivice, dass sie die ganze Zeit über in ihrer Rocktasche verstaute hielt sie nun in der Hand und machte es gut sichtbar an einer Schlaufe fest. Ihr Wappen und ihr Amulett blieben unter ihrem Shirt versteckt, aber es war da. Und wie es auf Myotismon wirkte, hatten sie nicht nur ihren neuen Besitzer, sondern auch das neue Digimon an dessen Seite akzeptiert. Myotismon blies Luft aus der Nase.

„Wie befürchtet. Du willst öfter hier aufkreuzen.“

„Na klar doch. Ich kann ja an einem Tag nicht die ganze Digiwelt bereisen. Und Tinkermon will auch mit mir mit. Ich kann sie doch nicht allein lassen.“

„Wir haben uns doch gerade angefreundet“, jammerte Tinkermon und schmiegte sich demonstrativ an Yukis Wange, diese erwiderte sie mit leichten Gegendruck.

„Also gehe ich mit Tinkermon durch die Digiwelt und sie kann ja mit mir nach Hause.“

„Du kannst dieses Digimon doch nicht einfach mitnehmen!“

„Die anderen nehmen ihre Digimon auch nach Hause, warum darf ich dann eine Freundin nicht mitnehmen?“

„Ja, warum nicht?“, protestierten beide. Statt aber es lang und breit zu erklären und sich dabei im Ton zu vergreifen, weil er nun zwei hatte die ihn in den Wahnsinn trieben, schluckte Myotismon dass, was er erst sagen wollte die Kehle runter.

„Wisst ihr was? Macht was ihr wollt.“, sagte er gereizt. Das lag teils aber auch an der Sonne. Nun stand sie im Zenit und die Hitze und die Helligkeit waren für ihn, der noch nicht so lange wieder auf dem Ultra-Level war und erst wieder Herr seines ganzen Potenzials werden musste schwer standzuhalten.

Sie standen am Waldrand und vor ihnen tat sich eine Wiese auf. Man konnte einen Bach hören, doch das Gras, aus dem hier und da noch Wildblumen herausragten, wenn auch vereist, war zu hoch, als dass man ihn hätte sehen können. Nur einzelne silberne Sonnenstrahlen die auf der Wasseroberfläche reflektiert wurden ließen erahnen, wo er verlief. Hatte ihm Yuki ihm nicht sogar vor kurzem noch erzählt, Vampire könnten nicht über fließend Wasser (etwas, worauf Myotismon auch nie geachtet hatte ob das wahr sei). Hinter dieser Wiese waren wieder Bäume. Dort irgendwo ging es wieder nach draußen. Für Yuki und Tinkermon ein kurzer Spaziergang, für Myotismon bei dem Sonnenlicht eher eine Tortur. Das sich ihr Weg nun hier trennen würden war deutlich. Natürlich. Der Schwarze König blieb wo er hingehörte, während Alice ihre Reise fortsetzte. Dinge wiederholten sich eben immer.

„Nur noch den Hügel hinunter, über den Bach und das Gras, dann seid ihr auf der anderen Seite.“

Die Erinnerung an eine Passage aus ALICE HINTER DEN SPIEGELN kam ganz von selbst. Du wirst zwar keine Königin sein, aber vielleicht ein Digiritter, kleine Alice, überlegte er sich und Myotismon war sich nicht wirklich sicher, ob er das begrüßen sollte, allein deswegen weil er zu viel schlechtes mit diesem Titel verband. Er würde seinen Sarg darauf verwetten, dass die beiden sich nur in Schwierigkeiten bringen würden. Aber sie umstimmen zu wollen versuchte Myotismon erst gar nicht, es würde ohnehin nicht fruchten. Aber allein die Vorstellung Yuki ohne vernünftige Aufsicht in der Digiwelt rumspazieren zu lassen verursachte Bauchschmerzen. Besonders noch mit dem Wissen, dass Deemon da draußen war und weiß der Teufel vor hatte.

Myotismon schaute zum Himmel auf. Eine große himmelblaue Lücke tat sich auf. Er dachte an Hisaki und fragte ihn, ob das wirklich eine gute Idee und in seinem Sinne wäre.

„Kommst du -“, fing Tinkermon an zu fragen, aber sie erschrak, als Myotismon für einen Moment die Augen erbost verengte. „Ähm, ich meinte – Kommt Ihr nicht mit uns?“

„Selbst wenn ich wollen würde, ist mir die Weiterreise verwehrt“, und dabei deutete Myotismon zum Himmel. Grelles Sonnenlicht streifte das Gras, brachte den Schnee zu funkeln und schärfte die Grenze zu den Schatten.

„Ich werde warten müssen, bis sich die Sonne neigt.“

„Du willst alleine hierbleiben?“, fragte Yuki verständnislos.

„Eine andere Wahl habe ich nicht. Jemand hat ja meinen Sonnenschirm im Zug gelassen.“

„Schiebst du das jetzt ernsthaft auf mich?“, schrie Yuki empört.

„Ich habe ihn dir gegeben.“

„Es ist dein Sonnenschirm, du hättest daran denken können, du bist immerhin der Vampir von uns!“

„So wie du an die Fahrkarten?“

„Wie oft denn noch, da war kein Kartenhäuschen! Außerdem hat uns dieses Deramon nur rausgeworfen, weil du es beleidigt hast.“

„Es hat wenn mich beleidigt. Man hat einen König zu respektieren.“

„König oder nicht, du musst trotzdem für dein Ticket zahlen wie alle anderen auch!“

„Wolltest du nicht gehen?“, sagte Myotismon zu ihr, ohne ihrem Ärger und ihrem Gezeter länger wie nötig Beachtung zu schenken. Schweigend verharrte sie aber auf der Stelle, bis Myotismon ihren Körper einmal umdrehte, dem Gesicht der Lichtung entgegen und gab ihr einen Schubs, wenn auch einen sachten.

„Wenn du die Digiwelt unbedingt erkunden willst – nur zu. Geh. Komm aber nicht heulend zu mir gerannt, wenn du in Schwierigkeiten geraten solltest. Dafür hast du sie“, rief Myotismon ihr nach. Der vorher ruhige Nebelteppich der knapp über der Wiese schwebte war zum Leben erwacht. Er streifte Yukis Beine, umkreiste den schmalen Körper und verschwand den Pfad hinunter, dort wo irgendwo der Ausgang war, wieder zurück in ihren Teil der Digiwelt.

Wie auch der Nebel, umkreiste Tinkermon das Mädchen auch, nur wesentlich geduldiger. Auch ihr war nicht so wohl Myotismon hier zu lassen, trotz der Abwehrhaltung und dem Eindruck, dass er die beiden fressen würde, wenn sie nicht endlich aus dem Staub machten.

„Ich komme bald wieder, Onkel. Bald.“

Yuki konnte zwar Myotismons Blicke in ihrem Rücken spüren, konnte aber nicht sagen was in ihm vorging. Selbst nach vier Jahren nicht, obwohl sie ihn und seine Freunde mit den anderen Digirittern versorgt hatten, halfen zu digitieren und sich zu überlegen, was sie mit ihrer zweiten Chance anfangen sollten, anstatt in alte Muster zurückzufallen. Es würde wohl immer Dinge an ihm geben, die Yuki niemals begreifen könnte.

„Mach was du willst.“

„Die Sommerferien gehen noch eine Weile. Da komm ich dich besuchen, okay?“

„Ich sagte, mach was du willst. Du bist auf dich allein gestellt und zu nichts verpflichtet“, drängte Myotismon weiter, aber weder Yuki noch Tinkermon machten den Anschein endlich weiterzugehen, also brüllte er noch lauter:

„Geht!“

Die beiden zuckten. Ein starker Wind gab ihnen noch einmal einen Schubs. Dann gingen sie schließlich. Tinkermon flog voraus und Yuki blieb dicht hinter ihr. Sie lief durch hohes, gelbliches Gras, dass trotz das in dieser Ebene eine winterliche Stimmung herrschte trocken war. Der Nebel ging etwas zur Seite und es offenbarte sich ein Pfad, durch Bäume hindurch, der zwar lang schien, aber eigentlich war die Digiwelt nur wenige Schritte entfernt, wo dieser Wald nur ein schnöder Wald mit ein paar Gruselgeschichten war. Doch ehe sie in diesen Tunnel aus Gehölz und Blättern betraten blieb Yuki wieder stehen.

„Bis bald“, rief Yuki zurück, aber mehr wie ein genervtes Seufzen löste es in Myotismon nicht aus.

„Geh jetzt endlich.“

„Ich sagte, bis bald“, sagte sie noch einmal energisch. Sie drehte sich sogar um, um in seine Richtung starren zu können. Momente wie diese ließ Myotismon vergessen, dass sie nichts sah. Die Sonne machte ihr Gesicht pastellfarben, aber sie ließ diese blauen Augen glitzern. Sie besaß die selben Augen wie ihr Vater und den Elan, den er im Laufe des Erwachsenwerdens selbst verlor.

Es war wie ein Deja-Vu. Bald war für Myotismon beinahe gleichbedeutend mit niemals. Er war sogar überzeugt dass es besser sei, wenn er etwas auf Abstand blieb. Er war kein auserwähltes Digimon mehr. Er passte einfach nicht mehr in diese sorglose Welt aus Zukunftswünschen und Träumen. Das war schon sehr, sehr lange nicht mehr Myotismons Welt und er wusste vor Jahren schon, dass er niemals mehr in diese zurückkehren würde, in der am Ende, wenn man sich nur anstrengte alles zum Guten verlief, dabei war gut etwas absolut subjektives. Sollte sie ihre märchengleichen Abenteuer erleben, er würde kein Teil davon sein. Und doch sagte Myotismon, vollkommen sanft und ruhig, sogar fast erfreut:

„Bis bald.“

Seine Worte zauberten Yuki ein Lächeln ins Gesicht. Dann nahm Tinkermon sie an die Hand und führte sie den Pfad hinab. Der Nebel öffnete sich, um sich dann hinter ihnen wie ein Vorhang wieder zu schließen. Er war nicht sehr dicht, also sah Myotismon die beiden noch eine Weile durch den Nebel laufen, bis sie komplett von ihm und dem Wald verschlungen wurden und ihn zurückließen. Allein war Myotismon zu seinem Bedauern aber nicht. Aus seinem eigenen Schatten, der sich mit denen der Bäumen verschmolz trat etwas heraus und stand nun hinter ihm. Es roch nach Feuer und Asche.

„Ist es dir schwer gefallen?“

„Wenn du meinst, sie nicht nicht am Kragen zu packen und persönlich aus diesem Wald zu werfen, dann ja.“

„Das du immer gleich so kratzbürstig sein musst. Aber das mag ich an dir.“

Deemons Schwefelatem streifte Myotismons Gesicht. Er verzog die Lippen, nicht wegen dem Atem, sondern weil Deemon beide Hände auf seine Schultern ablegte und mit einem Ruck zog Myotismon seine Schultern weg.

„Fass mich nicht an. Ich habe bereits Piedmon, der immer noch nicht das Prinzip von persönlicher Distanz begriffen hat.“

„Aber bei Sanzomon hat's dir gefallen?“, hauchte Deemon und es war deutlich zu hören, dass er, während er die Silben lang zog mit seiner Zunge schnalzte. Eine von Myotismons Augenbrauen unter der Maske hob sich schließlich.

„Wie lange verfolgst du uns schon?“

„Lange genug. Erfreulich zu wissen, dass sie dir eine Chance geben will. Du hast sie wirklich gut um den Finger gewickelt.“

„Ich habe sie nicht um den Finger gewickelt. Unterstehe dir, dass noch einmal zu behaupten“, keifte Myotismon und bewegte sich einen Schritt von Deemon fort, um Abstand zu gewinnen. „Ich habe das ernst gemeint.“

Die Sonne verschwand wieder hinter den Wolken. Die Schatten wurden minimal länger, aber bis alles in Dunkelheit getauscht war, würde es noch eine ganze Weile dauern. Er überlegte noch, ob er nicht einfach zurückgehen und Sanzomon darum bitten sollte, solange bei ihr zu bleiben, bis es für ihn dunkel genug war, kam aber schnell zur Erkenntnis, dass die Idee nicht gut wäre. Sie hatte verziehen, aber sie brauchte Zeit. Nach allem was war, konnte er wirklich von Glück reden, dass sie sich dazu bereit erklärte, es nochmal zu versuchen. Er hatte nicht daran geglaubt, dass sie ihn überhaupt sehen wollte. Geschweige denn, das sie ihn umarmen und er feststellen würde, dass das die selben Empfindungen auslösen würde wie damals. Nicht einen Moment.

Doch wenn es für die Zukunft wieder so sein und noch wichtiger so bleiben sollte, würde das viel Arbeit bedeuten, vielleicht sogar mehr, wie sich das Klavier spielen selbst wieder beizubringen. Unversucht wollte es aber Myotismon nicht lassen, um keinen Preis.

„Wird der kaltherzige, untote König von Grey Mountain auf einmal weich?“, kicherte Deemon provokant.

„Wenn du nur hier bist um dein Kommentar abzugeben, kannst du wieder gehen. Mich interessiert es nicht, was du über mich denkst. Also verschwinde.“

„Gemach, gemach. Ich möchte auch keine Sekunde länger wie nötig mit dir verbringen. Ich wollte nur der kleinen Alice und ihrem Haustier Guten Tag sagen. Sie scheinen sich ja prächtig zu verstehen. Fast wie füreinander gemacht.“

Provokant wie sein Kichern brachte auch Deemon seinen Satz rüber. Er stachelte, das war Myotismon klar. Deemon sollte ihn provozieren. Vielleicht aus Spaß, vielleicht hatte er auch nur Hunger nach frischer, saftiger Wut. Deemon konnte den Zorn auf ihn zwar schmecken, aber es war nicht dieser Hass, denn Myotismon all die Jahre mit sich herumtrug. Dieser tiefe Hass, Deemons allerliebste Leibspeise wenn man es so nennen wollte fand er nicht. Das irritierte Deemon, so sehr dass er sogar erst glaubte, dass wäre ein gänzlich anderes Myotismon vor ihm. Seine Unsicherheit überspielte Deemon jedoch, indem er weiter Myotismon anstachelte.

„Was ist los? Du schaust so finster? Hast du Angst um sie?“

„Sie soll machen, was sie will. Sie hat eine kindische Sicht – aber dumm ist sie nicht. Sie wird klar kommen. Außerdem erfahre ich ohnehin alles. Ich muss nicht bei ihr sein, um ein Auge auf sie haben zu können.“

„Hm, mir scheint, aus dir könnte doch noch ein vorbildlicher Onkel werden.“

„Meine oberste Priorität ist es wieder strukturiertes Regime zu führen und das mein Gefolge versorgt ist, nicht weiter Babysitter zu spielen.“

„Und was ist, wenn sie einen Weg einschlägt, der dir missfallen könnte? Wir wissen beide, dass das Wappen nicht mehr für dich leuchtet.“

„Dann soll es so sein. Wenn das ihr Weg ist, werde ich sie nicht aufhalten.“

Im Schatten der Kapuze konnte man Deemons Gesicht wenn nur im richtigen Winkel erkennen und aus diesem hätte man gesehen, dass er dieses fragend, verwirrt, ja fast aus allen Wolken fallend verzog. Deemon glaubte gar Myotismon scherzte. Er lachte sogar ein wenig, auf die offenen Gräser blickend und zu den Bäumen, die die Grenze zur Digiwelt symbolisierten. Der Nebel hatte den Pfad wieder komplett verschlungen.

„Du meinst das ernst, Fledermaus?“

„Nochmal - Ich meine alles was ich sage ernst.“

„Kommt dir aber bei dem Gedanken, dass sie sich dieser Bande Kleinkinder anschließen könnte nicht die Galle hoch?“

„Nicht nur die Galle“, sagte Myotismon, angeekelt nicht nur von dieser Vorstellung, sondern auch weil Deemon ihm immer weiter und vor allem immer noch auf die Pelle rückte. „Es ist in Hisakis Sinne, dass sie tun soll, was ihr beliebt.“

„Und wenn die Digiwelt wieder in alte Muster fällt?“

„Willst du etwas andeuten, Jabberwock?“

Erstmalig ließ Myotismon sich darauf ein in Augenkontakt mit Deemon zu treten. Aber mehr wie ein kurzer, abfälliger Blick sollte es nicht sein, dann schaute Myotismon wieder den Weg entlang, den Yuki mit Tinkermon gegangen war, auch wenn von den beiden nichts mehr zu sehen oder zu hören war.

„Eventuell. Ich sage nicht, dass ich Pläne hätte oder etwas ähnliches. Aber wir wissen, wie es in der Digiwelt läuft und gerät sie aus den Fugen schreit sie regelrecht nach helfenden Kinderherzen. Es grenzt schon an Perversion, wenn du mich fragst. Dass sie leicht in Gefahr gerät ist nicht auszuschließen.“

„Ich habe eher Mitgefühl mit ihren zukünftigen Gegnern“, scherzte Myotismon, aber wie alles andere auch schon meinte er auch das ernst. Er stellte sich vor wie Yuki vor einem Gorillamon oder etwas größerem oder gefährlicherem stand und versuchte dem Digimon ein schlechtes Gewissen einzureden oder mit kruden Fragen zu verwirren und es wäre der Kleinen zuzutrauen, dass sie damit auch noch durchkäme. Das könnten interessante Zeiten in der Digiwelt werden.

Deemon erschien vor Myotismon, aber nicht einmal eine Sekunde verging, da drehte er sich von dem Dämonenkönig wieder weg.

„Du scherzt, aber ich weiß, dass du allein bei dem Gedanken kalte Füße kriegst. Ich kann mir nicht vorstellen, dass du es einfach so hinnehmen würdest, dass sie dein Feind sein könnte.“

„Wer sagt, dass die Digiritter noch meine Feinde sind?“

„Sag nicht, du hast dich mit ihnen verbündet“, ächzte Deemon und war für einen Moment sogar schockiert, doch Myotismon angewidertes Gesicht beruhigte ihn wieder.

„Niemals. Sie sind mir egal, solange sie mir nicht in die Quere kommen. Das war der Deal, dafür dass ich auf das Tor aufpasse, dass keiner wie du daherkommt und es missbraucht.“

„Und wer sagt, das du es nicht missbrauchst?“

„Ich habe es nicht vor und wüsste aktuell nicht warum ich das sollte. Ich brauche es auch nicht. Wenn die Digiwelt wieder im Chaos versinkt, habe ich andere Mittel und Wege dem ein Ende zu setzen. Sicher, dafür sind in dem Fall die Digiritter da. Doch sollten sie scheitern... oder die liebe Alice in Schwierigkeiten geraten, ist ja der Schwarze König da und nur mit einen einzigen Zug -“, Myotismon ließ seine Hand in der Luft kreisen und schnipste einmal mit den Fingern, „- sind wir wieder bei Null. Wie einst geplant und gewollt.“

Die vollen, violetten Lippen wurden zu einem unheimlichen Grinsen, dass die Eckzähne besonders scharf und spitz erscheinen ließ, jede Grinsekatze wäre neidisch. Ein Lächeln ohne jeden Hauch von Humor, Freude oder dergleichen. Ohne überhaupt eine wirkliche Emotion, nur Sinnbild vieler schrecklicher, furchterregender Gedanken. Das war der Myotismon, den Deemon kannte. Ruhiger und entspannter vielleicht, aber nicht weniger arroganter und wahnsinniger.

„Was glaubst du zu sein? Das nächste HCF-Programm?“

„Wer weiß... Vielleicht bin ich das?“

Deemons Lachen, dem er nach seiner eher als Scherz gemeinten Frage seinen Lauf ließ blieb ihm plötzlich im Hals stecken. Dafür lachte Myotismon kurz, aber er machte definitiv keine Scherze.

„Vielleicht sind wir das? Wer weiß was passieren könnte, wenn wir Meister der Dunkelheit uns nochmal zusammenschließen. Es wird einen Grund haben, warum wir wieder auf diese Weise digitiert sind. Die Digiwelt braucht immer einen Plan B. Und ist es nicht irgendwo erleichternd zu wissen, dass man im schlimmsten aller Fälle alles immer noch auf Null setzen kann? Uns selbst ist die Digiwelt ohnehin gleich. Was glaubst du? Müssten wir sieben uns dafür zusammenschließen, oder hat jeder von uns allein ausreichend Potenzial? Die Digiritter kommen mit einem Apokalymon vielleicht klar. Aber mit sieben? Was denkst du?“

In der Ferne hörte man das Heulen eines Schneesturmes. Es war sehr, sehr weit weg, aber es war da.

„Warum startet ihr das Programm dann nicht gleich, wenn es so wäre und rackert euch stattdessen ab? Euch aktuell bei den Proben zuzuhören ist Folter für die Ohren“, fragte Deemon und deutlich angeekelt. Myotismon sparte es sich zu fragen, ob er sie sogar schon bei den Proben stalke (die Antworte wäre ohnehin Ja gewesen), doch schien es eher, als wollte er mit dieser abgewandten Körperhaltung eher der Frage ausweichen. Gespannt, sogar ganz neugierig wartete Deemon auf eine Antwort und es wirkte, als wüsste Myotismon nicht, was er sagen sollte. Als ob er nicht einmal selber wüsste, warum er so handelte – oder eher, als wüsste er es genau, wollte dies aber nicht zugeben.

„Yukino hat noch nicht alles in der Digiwelt gesehen. Sie soll erst alles erkunden, was sie will. Sie wollte schon so lange ins Wunderland, ich kann dass doch der Tochter meines Partners nicht einfach nehmen. Zudem habe ich der ehrfürchtigen Hohepriesterin einen romantischen Abend versprochen, dass kann ich unmöglich absagen“, erklärte Myotismon und machte sich nicht einmal die Mühe, sein gekünsteltes Bedauern auch nur im Ansatz glaubwürdig wirken zu lassen. „Und sobald ich wieder in meinem Schloss bin wartet Arbeit auf mich. Die Untoten organisieren sich nun einmal nicht von selbst. Ich habe Grey Mountain wieder aufgebaut und über die Jahre haben sich Pflanzen- und Pilzarten entwickelt, die es zu untersuchen gilt. Die giftigen besonders. Du siehst, ich bin leider zu beschäftigt. Du kannst gerne die anderen fragen, aber ich fürchte auch sie haben aktuell Wichtigeres, um dass sie sich kümmern möchten.“

„Ich habe verstanden.“

Zu Myotismons Erleichterung entfernte sich Deemon von ihm und gab ihm den Abstand, den er auch brauchte. Zu Myotismons Bedauern hingegen schwebte dieses Digimon nun vor ihm herum und versperrte ihm die Sicht.

„Dann stört es dich hoffentlich nicht, wenn ich mir hin und wieder einen kleinen Spaß mit der Digiwelt erlaube. Mich würde ja interessieren, was die kleine Alice so alles bewegen kann.“

„Hattest du nicht versprochen, du krümmst ihr kein Haar?“

„Natürlich und ich halte mich als ehrenvolles Digimon daran. Ich erlaube mir nur sie zu testen. Und mit dem Digimon, dass sich ihr nun angeschlossen hat könnte das sehr interessant werden.“

Wieder dieses Schnalzen. Und Deemon besaß nicht einmal den Anstand zu verbergen, dass es Absicht war. Was er sich davon erhoffte aber Myotismon vorab Hinweise zu geben oder Dinge anzudeuten verstand er nicht. Dumm war Deemon schließlich nicht und schwach noch weniger.

„Tue ihnen etwas und ich platziere deinen Kopf auf der Spitze des höchstens Punktes meines Schlosses, damit du dein Dasein als Blitzableiter mit vollen Bewusstsein und Schmerzempfinden auch genießen kannst. Selbiges gilt übrigens auch, sollte ich dich auch nur in der Nähe von Sanzomon ausfindig machen. Hast du verstanden, Deemon?“

„Das ist immer noch eine bessere Option wie das, was Piedmon mit mir vorhat, sollte ich auch nur daran denken Ken zu nahe zu kommen. Er hat ziemlich aufbrausend reagiert. Aber bevor er noch zu etwas digitiert, was mir wirklich Angst machen könnte, denke ich lieber zweimal darüber nach.“

Dem Dämonenkönig schüttelte es etwas und unter seiner Kutte bekam er eine Gänsehaut. Gern hätte ja Myotismon gewusst, was Piedmon ihm androhte, aber fragte nicht.

„Aber keine Angst, ich habe der kleinen Alice was versprochen und auch der Weißen Königin schulde ich was. Wenn sie mir allerdings in die Quere kommen sollten – wer weiß? Krieg zwischen Gut und Böse ist in der Digiwelt unvermeidlich.“

„Dann werde ich es sein, der es beendet. Die Frage ist nur das Wie. Zwinge mich also nicht etwas zu tun, was ihnen das Herz brechen könnte. Ansonsten – mein Turm freut sich über etwas Dekoration.“

„Wie immer nur die größten Töne aus deinem Mund. Ich freu mich aber schon sehr auf dieses Schachspiel, Schwarzer König. Wir sehen uns auf dem achten Feld.“

Als Myotismon hinter sich blickte, war Deemon fort und nur ein Baum stand da. Myotismon stand unter dem Schatten seiner Krone. Zum Glück, denn gerade schien die Sonne wieder herab und auch wenn hier in diesem Ort gerade der Winter regierte tat sie ihm nicht gut. Seine volle Kraft von einst war noch nicht wiedergekehrt. Vielleicht würde sie das auch niemals mehr in diesem Ausmaß, nicht zumindest ohne Hilfe. Aber wollte er das?

Die Meister der Dunkelheit lebten als Rookies wieder wie zu Apartheidszeiten unter einem Dach und nach vielen Annährungsschwierigkeiten saß man spätabends vor dem Feuer und da geschah es, dass man Dinge ausplauderte, die einem Sorgen bereiteten. Eine altbekannte Sorge, die Frage nach dem Was jetzt? Als er wieder Dobermon wurde und Candlemon wieder Devimon war, trennten sich die Wege. Dobermons Weg führte nach Grey Mountain, nur noch ein Berg aus in sich zusammengefallenen Felsen, doch der Himmel war klar. Geist-Digimon hausten dort, bewacht von einem Phantomon. Myotismon würde nicht die Hand dafür ins Feuer legen, dass es seine alten Truppen waren, aber ein Gefühl der Vertrautheit kam auf, auch wenn sie dieses Dobermon erst nicht zu erkennen schienen. Und statt mit ihnen etwas neues zu suchen und anzufangen blieb Dobermon und baute mit ihnen das Schloss über Monate hinweg wieder auf. Erst als wieder jeder Stein dort stand wo er hingehörte und das Tor freigelegt vor ihm stand, wissend, dass er es so schnell nicht wieder benutzen würde, digitierte er in einer Neumondnacht wieder auf das Ultra-Level.

Auch seine Kameraden bauten nach und nach ihr Territorium wieder auf, sammelten ihr Gefolge, doch statt wie einst zog man sich nicht zurück, sondern – sehr zu Piedmons Freude – man traf sich. Womöglich eher deswegen, um zu vermeiden dass die Digiritter Misstrauen entwickeln würden, würden sie nicht hin und wieder etwas von ihnen hören. Und doch entschloss man sich nochmal zu versuchen ein richtiges Orchester zu werden.

Tentomon brachte Myotismon Briefe von Yuki, die sich Sorgen um ihn machte. Gatomon brachte mit ihrer Partnerin Yuki einige Mal zu ihm, damit sie wenn auch nur für ein paar Minuten sich nach ihm erkundigen konnte. Gatomon widerstrebte es überhaupt auf dem selben Kontinent wie Myotismon zu leben, geschweige denn ihn am Leben zu lassen. Zu sehen, wie er für seine Verhältnisse friedlich mit diesem Kind umging war ihre einzige Bestätigung, dass er keine allzu große Gefahr war und Myotismon hatte vorerst auch nicht vor, dass zu ändern (ein Pfeil in der Brust reichte). Nicht wegen sich selbst, aber Yuki und Sanzomon schienen mehr wie zufrieden mit dieser Entwicklung zu sein. Und die Chance, die sie ihm anboten wollte er nicht mit Füßen treten. Yuki da draußen mit einem unerfahrenem Digimon zu wissen bereitete ihm Bauchschmerzen, aber andererseits gönnte er ihr den Spaß. Sie würde schon über sich hinauswachsen, wenn die Zeit da war. Und seine Arbeit hin und wieder mal liegen zu lassen, um den Abend mit Sanzomon verbringen zu können klang wesentlich zufriedenstellender als alles andere.

Die Digiwelt würde für Myotismon und auch für die anderen sechs Meister der Dunkelheit eine Märchenwelt des Horrors und kindischen Wahnsinns bleiben, durch Kriege jeder Vernunft beraubt. Und doch stand er hier und war mit der Situation, in der er sich befand zufrieden. Er war zufrieden.

„Hisaki... Ich glaube, ich habe verstanden.“

Die Sonnenstrahlen nahmen zu. Ein Licht, dass verdächtig einem Schmetterling ähnlich sah flog davon, nachdem dieser Myotismon lange beobachtete und zusah, wie der König der Untoten sich unter einem Baum nieder ließ. Den Umhang legte Myotismon um sich, dann die Hände auf seinen Bauch. Für einen Geisterwald, in dem sich angeblich oft viele Digimon verliefen, Gerüchten zufolge auch Kreaturen aus dem Meer der Dunkelheit sich so was zu nutze machten um wieder in die Digiwelt zu kommen – wie kam Sanzomon auf die Idee ausgerechnet an so einem Ort Baby-Digimon aufzuziehen? – war es wirklich ruhig. Es dauerte nur wenige Minuten, da fielen Myotismons Augen zu, dann neigte sich sein Kopf zu Seite. Die Schritte, die er noch hörte, hielt er erst für Einbildung und schenkte ihnen keine Beachtung mehr. Dabei kamen sie näher.

Tinkermon näherte sich dem schlafenden Digimon vorsichtig, traute sich aber nicht so dicht heran, wie sie gern gewollt hätte.

„Er... schläft?“

„Wie der Schwarze König eben. Er verträgt die Mittagssonne nicht, egal zu welcher Jahreszeit.“

„Also warten wir, bis er aufwacht?“

„Natürlich“, meinte Yuki zu Tinkermon.

„Meinst du, er schimpft uns aus, wenn er uns bemerkt?“

„Auf jeden Fall. Aber ich möchte den Schwarzen König ungern hier lassen. Alice beging den Fehler, ihn alleine zu lassen. Vielleicht nicht einmal bewusst, weil sie dazu getriezt wurde ihn ja nicht zu wecken.“

Die stumpfe Spitze des Blindenstabs tastete sich von Yuki nach links durch, bis sie an einen Baum stieß. Der unmittelbare Umkreis dessen war genauso frei von Schnee und Nässe, also setzte Yuki sich ins trockene Gras, lehnte sich an den Baum und zog die Knie an, um ihren Kopf darauf abzulegen. Tinkermon flog zu Yuki zurück und setzte sich auf den Kopf ihrer neuen Freundin.

„Ich fand das immer blöd“, begann Yuki zu schmollen. „Alice hätte warten sollen, bis er wach war.“

„Was sollen wir machen, solange er noch schläft, Yuki?“

„Hm. Am besten wir schlafen auch etwas. Wenn man schläft, kann man nichts anstellen. Also hat Onkelchen, wenn er später aufwacht einen Grund weniger zu meckern.“

„Klingt schlüssig“, stimmte Tinkermon zu. Das Feen-Digimon rutschte von Yukis Kopf und legte sich in ihre Arme, die sie wie Myotismon auf ihren Bauch ablegte. Sie rutschte noch etwas hin und her, bis sie die perfekte Stelle fand, in der sie auch gemütlich sitzen konnte und der Baum hinter ihr nicht zu sehr in den Rücken drückte.

„Würdest du gern was bestimmtes träumen?“

„Ja. Da gibt es ein paar Dinge“, antwortete Yuki und schloss die Augen. Interessiert schaute Tinkermon zu ihr hoch.

„Siehst du denn in deinen Träumen was?“

„In Träumen kann man alles.“

Tinkermon schaute zu Myotismon hinüber. Nicht, dass sie Zweifel an dem hatte was Yuki ihr sagte. Das jemand Blindes dazu fähig war in den seinen Träumen etwas zu sehen und sei es nur ein Wirrwarr aus Farben glaubte sie. Dass ein Digimon wie Myotismon Träume hätte kam ihr bei weitem skurriler vor. Wenn es so war, würde Tinkermon nur zu gerne wissen, was er denn träumte (wenn überhaupt). Unterschieden sie sich von dem, was Digimon wie Tinkermon träumten? War das, was für sie Albträume wären für ihn gute Träume und umgekehrt? Dubios dies alles und darüber nachzudenken ließ Tinkermon nun doch müde werden.

„Dann hoffe ich, ich träume von was, was wir auf unserer Reise vielleicht mal entdecken.“

„Klingt nicht schlecht.“

„M-hmm.“

Die beiden murmelten noch etwas, aber das hörte die jeweils andere schon gar nicht mehr. Fast zeitgleich nickten die beiden im trockenen Gras ein, gebettet im Sonnenlicht. Im Schatten sitzend öffnete Myotismon erst das eine, dann dann das andere Auge. Er hatte alles mitbekommen.

„Anhänglicher als Blutegel“, nuschelte er verstimmt, dabei schüttelte er auch den Kopf. Sie zu wecken, auszuschimpfen und sie wieder wegzuschicken würde sich Myotismon für später aufheben. Solange würde er die Ruhe genießen, davon hatte er in letzter Zeit zu wenig. Das es so ruhig um ihn war wirkte schon fast befremdlich und irreal. Selbst der Wald schien zu schlafen. Eigentlich hatte Sanzomon sich ein gutes Fleckchen ausgesucht.

Mit einem langen Blick nach rechts zu Yuki und Tinkermon dachte Myotismon seine Gedanken von vorhin erneut. Er hatte mehr Arbeit, etwas weniger Einfluss, mehr Digimon die ihm auf die Nerven gingen, einen Digiritter als eine Art Patenkind und nichts davon diente einem höheren Zweck.

Er war zufrieden. Er glaubte es selbst kaum, aber er war es.

Das kleine Piano lag links von ihm. Es sah wirklich verwittert aus und eigentlich hätte er Sanzomons Schüler eine Predigt halten sollen, wie man sich um Instrumente zu kümmern hat. So neben ihm wirkte es selbst, als schliefe es einfach, wartend, dass man ihm ein paar Töne entlockte. Myotismon starrte auf seine rechte Hand und bewegte jeden einzelnen Finger nacheinander. Der Schmerz zog durch seine ganze Hand und den Arm hoch, bis zum Ellenbogen.

Auf den Tasten lag Staub, in diesem sah man die Abdrücke von Fingern. Die waren wohl von Cho-Hakkaimon, als sie das Piano aus dem Lager holte, vielleicht auch von ihm. Wie lange es wohl stumm in einer Ecke stand? Warum hatte Sanzomon es nicht herausgeholt, sonst war sie ja nicht so, dass sie irgendwas verbarg. Weil es ihm gehörte? Hatte sie es für ihn aufbewahrt? Hatte sie tatsächlich gehofft, er käme irgendwann wieder?

Staub hing an seinem Handschuh, statt ihn aber zu entfernen, was Myotismon zuerst tun wollte, fuhr er mit der offenen Hand einmal über die Tasten, um so den meisten Staub zu entfernen. Nachdem er das, was an seinen Handschuhen hängen geblieben war abgeklopft hatte, streckte Myotismon seine Hand wieder nach dem Piano aus. Als Mittel- und Ringfinger gerade die glatte, nicht mehr ganz so weißen Tasten zwischen der zwei- und dreistrichigen Oktave berührten zuckten seine Glieder und erinnerten ihn an den Schmerz. Nicht nur seinen Sonnenschirm verloren, auch seine Bandagen hatte Myotismon nicht dabei, die den Schmerz zumindest etwas im Zaun hielten. Würde er spielen, es würde die Hölle werden, selbst seine Bisse waren nicht so schmerzhaft.

Doch das uralte Verlangen nach den Noten und Takten, die dieser weißen, kalten und beinah toten Jahreszeit einen Hauch von Unbeschwertheit und Leben gaben, während man in Erinnerungen schwelgte – seien sie schön oder sogar peinlich – war zu groß. Er war und blieb trotz Krone und Sarg immer noch ein Musiker, auch ohne Kapellmeister.

Auch seine linke Hand legte Myotismon auf den für ihn zu kleinen Tasten ab, mit angehobenen Fingerspitzen. Schneeflocken legten sich auf seine Hände, was alles andere als lindern für seine Gelenke war. Doch Myotismon spielte. Die erste Note ein f und nach dieser ersten Note fuhr das Stechen von seinen Fingern aus in seinen Arm. Myotismon biss die Zähne zusammen und spielte die nächsten Noten. Dann wieder die nächsten, bis der Klang fließender wurde, trotz des Schmerzes. Gerade wegen des Schmerzes, der ihn daran erinnerte weiter zu machen.

Er war Yuki ein Konzert schuldig. Schließlich hatte er einst noch geprahlt, dass er ja spielen könne. Als Onkel musste er ein Vorbild sein.

Hisaki war er es schuldig. Solange er ihre Musik spielte, war Hisaki noch ein Teil dieser Welt und wenn es auch nur der letzte Rest einer alten Audio-Datei war, irgendwo in seinen eigenen gespeichert, und ein paar Erinnerungen.

Sanzomon hatte er es versprochen und bei der Vorstellung wie sie strahlen würde, wenn er sie bald abholen könnte huschte ihn ein geradezu friedliches Lächeln über die Lippen.

Myotismon spielte vorsichtig die ersten Takte von Vivaldis Winter. Zum ersten Mal seit langer Zeit spürte er keinen Schmerz mehr, nur ein kaltes Stechen, wie Schnee auf nackter Haut, abgelöst von einer bizarren Brennen, aber so angenehm, als würde eine Hand sich behutsam auf seine legen.

Der Schwarze König träumte nicht von Alice. Musste er nicht. Alice war bei ihm und ging niemals mehr fort.

Der Traum war zu Ende. Stattdessen träumte der Schwarze König andere Träume, von anderen Dingen des Wunderlandes, die an einem schönen Wintertag in naher und ferner Zukunft, während irgendwo ein Klaviersonett spielte passieren würden.

 
 

𝅘𝅥.

 

( Leben: ist es nur ein Traum?)

 

 

 

E N D E

 

 


Nachwort zu diesem Kapitel:
- die einzelnen Worte der letzten vier Kapitel waren aus einem Mutter-Gans-reim übernommen, der schlicht Winter heißt. "Fairly" heißt direkt zwar "ziemlich", kann aber auch mit "bald" oder mit "gerecht" übersetzt werden.

- Piedmon, MetalSeadramon, Puppetmon, Machinedramon und Myotismon können alle im canon zu Apokalymon digitieren. Devimon über mehrer Optionen, wobei allerdings nicht über die hier in der FF erwähnte Linie. Etemon kann eigentlich gar nicht (außer er digitiert zu Piedmon *lol*)

- Das Zitat mit dem Endes des Waldes sagte der weiße Ritter/Läufer. Theorien streiten sich drum, ob jetzt dieser oder der schwarze König die indirekte Verkörperung von Lewis Carrol sei.

- der Wald des Vergessens stammte aus Alice hinter den Spiegeln, und wie gesagt vergisst man alles, sobald man diesen betritt, erinnert sich aber wieder an alles, sobald man herausfindet.

- das achte Feld ist das Ziel in Alice hinter den Spiegeln. Auf diesem wird Alice auch zur Königin gekrönt.

So. es ist fertig. Das heißt, nicht so ganz. Es gibt noch einige Stellen, die mir nicht so gefallen, heißt so unschöne Plotholes, die ich gerne noch stopfen würde. Was heißt Plotholes - es soll nur einige Aspekte genauer und besser erzählen, die Geschichte so wie sie ist ist eigentlich stabil und fertig und daran rüttelt sich auch nichts mehr. Es handelt sich dabei auch nur um einzelne Abschnitte, die ich sich leicht in die Kapitel einfügen lassen, ohne das man was umschreiben muss und sind Inhalte, die ich rauswarf, weil alles sonst zu lang geworden wäre... Ja, ich lache auch grad darüber.
Wie ich das aber mache, dass man dies auch mitbekommt, wenn was geupdatet wurde muss ich mir noch überlegen. Auch will ich nochmal nach Fehlern im Text gucken, um das zu verbessern was meine Online-Legasthenie verursacht hat. Gott, was hier teilweise steht ist ja grässlich.

Ansonsten. Es ist durch. Feddish.
Ich hoff, irgendjemanden hat das hier gefallen, auch wenn die Länge der Kapitel allein wohl schon sehr abschreckend war. Vielleicht habe ich auch irgendjemanden mit diesen Fantheorien und Ideen begeistern können, auch wenn es stellenweise für typisches Digimon sehr düster und zu politisch war und sich einiges mit dem Canon wohl nicht so verträgt und auch für das Pairing. (Ja. Ich mag Myotismon mit Sanzomon immer noch, obwohl das Anfangs nicht meine Intension war).

Grüße gehen raus an twitter, das mit jeden Tag wieder zeigt, wie Diskussionen und Politik nicht funktionieren sollten, meine BFF, die die Alpha-Version durchgelesen und Ideen abgesegnet wie kritisiert hat und an die Youtuber, die Videos zu Digimon Adventure, insbesondere zu Myotismon und auch zu tri gemacht haben und somit mir auch nochmal einen Denkanstoß gaben. Und natürlich auch an die, die meine Story mal angeklickt und auch mal empfohlen haben.

Bye. Komplett anzeigen

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