Zum Inhalt der Seite

Lügner!

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Eine Verbindung erschaffen

Nagi hatte nicht erwartet, Schuldigs Büro besetzt vorzufinden. Noch viel weniger hatte er allerdings erwartet, dass der Deutsche tatsächlich an seinem Schreibtisch saß. Er hatte die Hemdsärmel aufgekrempelt, den Kopf in die rechte Hand gestützt und las in einem Buch. Als Nagi eintrat, strich er sich die neuerdings rostrote Mähne aus dem Gesicht und lehnte sich in seinem Stuhl zurück.

„Nagi! Was verschafft mir die Ehre?“

„Ich soll dir das hier von Crawford bringen.“ Nagi trat an den Schreibtisch und legte eine Dokumentenmappe und einen versiegelten Umschlag neben die diversen Schriftstücke, die sich bereits auf der Tischplatte aufstapelten.

„Was tust du?“

„Arbeiten.“ Schuldig grinste. „Hättest du nicht gedacht, was?“

Nagi wollte eigentlich nicht antworten, aber bevor er es verhindern konnte, war ihm das „Nein, nicht wirklich“ schon herausgerutscht.

Schuldig blies sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und klappte mit einem Ruck das Buch zu. „Hast recht, reicht für heute.“ Er streckte sich und wollte gerade aufstehen, als ihm etwas einzufallen schien. Er öffnete die oberste Schublade seines Schreibtischs, wühlte kurz darin herum und zog dann eine längliche Schachtel heraus. Ohne Vorwarnung warf er sie Nagi zu, der sie gerade noch auffangen konnte.

„Hier für dich. Und sag jetzt nicht, du hättest Matcha gewollt. Diese Abscheulichkeit weigere ich mich nämlich zu kaufen.“

Ungläubig sah Nagi auf eine Packung Pocky herab. „Was … warum … woher?“

Schuldig grinste erneut. „Hast du ein Glück, dass ich Gedanken lesen kann. Aus deinem Gestammel wird ja keiner schlau. Das ist eine Packung Gebäckstangen mit Schokolade. Die schenke ich dir, weil ich nett bin. Und woher ich wusste, dass du die magst, kannst du dir vielleicht selbst beantworten.“

Nagi konnte es immer noch nicht so ganz glauben und drückte die Packung ein wenig enger an sich. Nur für den Fall, dass der Telepath sie plötzlich wieder zurück haben wollte. „Und was willst du dafür?“

Schuldig hob gespielt erstaunt die Augenbrauen. „Kann ich nicht einmal einfach nett zu einem Kollegen sein?“

„Schul~dig!“ Nagis Ton machte deutlich, dass er sich gerade veralbert fühlte und ihm das überhaupt nicht gefiel.

Der Telepath hob beschwichtigend die Hände. „Ok ok, ich hätte da was. Du weißt doch bestimmt, wo man hier Mangas kaufen kann.“

Nagi runzelte die Stirn. War das eine Fangfrage?

Schuldig rollte mit den Augen: „Nein, ist es nicht. Also los, nun rück schon raus mit der Sprache. Wo bekommt man hier die Hefte mit den vielen, bunten Bildern? “

Nagi musste zugeben, dass er ein wenig irritiert war. Natürlich wusste er um Schuldigs Talent, aber normalerweise war der Telepath nicht so … verschwenderisch damit. So wie er mitbekommen hatte, strengte das Benutzen der Gabe Schuldig an. Jetzt jedoch schien er beste Laune zu haben. War ihm etwa nicht einmal aufgefallen, dass Nagi seine Frage nicht ausgesprochen hatte?

 

Schuldigs Handy, das auf dem Tisch neben ihm lag, gab einen Ton von sich und das Nachrichtensymbol auf dem Display leuchtete auf. Er nahm es in die Hand, las den Text und ein zufriedener Ausdruck trat auf sein Gesicht. Bevor Nagi fragen konnte, worum es ging, war er bereits aufgestanden und hatte das Handy in der Hosentasche verschwinden lassen.

„Also, was ist? Zeigst du mir jetzt einen dieser berühmten Manga-Mega-Stores. Wenn möglich einen, in dem man auch ältere und gebrauchte Ausgaben bekommt.“

Nagi konnte nicht anders, als zu nicken und Schuldig nach draußen zu folgen.

 

Während sie im Aufzug nach unten fuhren, lehnte sich Schuldig an die Wand des Aufzugs, legte den Kopf leicht zurück und schloss die Augen. Die Muskeln in seinem Gesicht spielten unter der Haut, verschiedene Ausdrücke huschten darüber, seine Lippen bewegten sich unter ungesagten Worten. Er lachte leise.

„Sieh an, sieh an. Yamada aus der Buchhaltung möchte also die Sekretärin seines Chefs vernaschen. Wirklich, wirklich unanständig, was er sich da wünscht. Allein die Leine … kinky.“

Nagis Blick glitt zur Anzeige an der Fahrstuhlwand. Sie passierten gerade den fünften Stock. Die Buchhaltung saß im dritten.

 

Sie verließen den Aufzug im Erdgeschoss und durchquerten die Vorhalle des Gebäudes mit den getönten Scheiben und dem Fußboden aus weißem Marmor. Die Dame am Empfang grüßte sie höflich, bevor sie der Gebäudekomplex endgültig auf die Straße entließ. Die Hitze traf Nagi wie ein Schlag und er musste für einen Augenblick gegen die auf ihn einströmende Helligkeit anblinzeln. Schuldig grinste ihn an und schob sich eine Sonnenbrille auf die Nase.

„Brauchen Sie einen Fahrer, Herr Naoe?“

„Wir fahren nicht mit der U-Bahn?“

„Nein, heute nicht. Heute gelüstet es mich mal danach, selbst am Steuer zu sitzen.“

Nagi konnte es kaum glauben, dass er kurze Zeit später in einem roten Sportwagen durch Tokio chauffiert wurde. Als sie an einer Ampel hielten, stießen sich zwei junge Männer am Straßenrand bewundernd in die Seiten. Nagi rutsche tiefer in seinen Sitz.

„Keine Bange, die Scheiben sind undurchsichtig.“ Schuldig zwinkerte ihm verschwörerisch zu.

„Ist das denn erlaubt?“

„Wo kein Kläger, da kein Richter“, antwortete Schuldig leichthin und gab Gas, als die Ampel auf Gelb sprang. Ein paar Fußgänger, die zu langsam gewesen waren, sprangen kreischend zur Seite, bevor sie als Kühlerfigur endeten.

„Das solltest du aber nicht auf der Kreuzung in Shibuya machen“, murmelte Nagi und kontrollierte noch einmal, ob er auch wirklich angeschnallt war.

Schuldig antwortete nicht, aber sein Gesichtsausdruck sprach Bände. Er hatte das schon mal gemacht.

„Hast du wen erwischt?“

„Fast.“

Nagi lachte. Er hätte es nicht gedacht, aber es machte Spaß, Zeit mit Schuldig zu verbringen. Was immer seinen Kollegen in so gute Stimmung versetzt hatte, konnte ruhig noch eine Weile anhalten.

 

 

Das an einer Straßenecke gelegene Gebäude mit der schwarz-getäfelten Fassade und dem auffälligen, weißen Schriftzug auf rotem Grund, sah mehr wie eine Festung, denn wie ein Laden aus, in dem man bunte Plastikfiguren und Comics bekam. Lediglich die Schaufenster ließen erahnen, dass sich im Inneren ein wahres Paradies für Fans von One Piece, Naruto, Pokémon und Co finden ließ.

Sie betraten den Laden und Nagi steuerte zielsicher auf den Aufzug zu.

„Du weißt wohl, wo wir hinmüssen?“

„Man kann kaum in Tokio aufgewachsen und noch nie hier gewesen sein.“

Nagi drückte den Knopf und trat dann zurück, um Platz für eventuell aussteigende Kunden zu machen. Als sich die Türen öffneten, hatten sie jedoch Glück und die Kabine war leer. Nagi drückte den Knopf für den zweiten Stock und die Türen wollten sich gerade schließen, als mit zwitschernden Stimmen zwei Mädchen in den Laden stoben und sich gerade noch rechtzeitig durch die Tür quetschten. Die eine von ihnen trug einen Haarreif mit Katzenohren und unter ihrem Rock lugte ein passender Schwanz hervor. Nagi starrte auf das pelzige Anhängsel und bekam bei dem Gedanken, wo dieses wohl befestigt war, rote Ohren. Aus den Augenwinkeln sah er, wie Schuldig zu grinsen begann. Zu Nagis Glück stiegen die beiden Mädchen schon im nächsten Stock wieder aus und verschwanden immer noch kichernd in einem bunten Durcheinander aus Puppen und Kostümen. Die Tür schloss sich wieder und er atmete hörbar aus. Schuldigs Grinsen wurde breiter, er sagte aber nichts.

Als sich die Tür erneut öffnete, reihten sich vor ihnen Reihen über Reihen von bunten Heftrücken auf. Bis zu zwei Meter hohe Regale bildeten enge Gassen, auf deren schwarzglänzenden Fußboden sich die ganze Pracht noch einmal spiegelte. In ihrer einheitlichen Vielfalt wirkten sie fast bedrückend und lösten leichte Platzangst in Nagi aus.

„Die gebrauchten Hefte sind weiter hinten“, erklärte er. „Ich bleibe hier.“

Schuldig wirkte, als wolle er noch etwas dazu sage, verschwand dann aber im Gewirr der Gänge. Nagi konnte hören, wie er einen der Verkäufer ansprach. Er selbst lehnte sich zurück und starrte auf die unzähligen bunten Bilder. Er hatte Schuldig nicht ganz die Wahrheit gesagt. In Wirklichkeit war er noch nie im Inneren des großen, wenn nicht sogar größten Kaufhauses dieser Art gewesen. Natürlich hatte er es das eine oder andere Mal sehnsüchtig von außen betrachtet, als er noch jünger gewesen war. Aber er hatte sich nie hineingetraut, denn wer hier etwas kaufen wollte, brauchte etwas, das Nagi zu der Zeit noch nicht gehabt hatte: Geld.

In dem Waisenhaus, in dem er aufgewachsen war, hatte man ihn mit allem versorgt, was er zum Leben brauchte. Zum Überleben. Kleidung, Essen, ein Dach über dem Kopf, den Besuch einer Schule. All das hatte er bekommen. Und er hätte dankbar sein sollen, so hatte man ihm immer wieder gesagt. Doch Nagi war das nicht genug gewesen. Er hatte von einer besseren Zukunft geträumt. Anders als die anderen hatte er jedoch genau gewusst, dass niemand kommen würde, um ihm diese Zukunft in den Schoß zu legen. Kinder wie ihn wollte niemand. Es sei denn, sie hatten etwas, dass jemand anderes gebrauchen konnte. Nagi hatte so etwas. Er konnte mit Computern umgehen. Schon immer. Irgendwann hatte er sich nachts Zutritt zum Büro des Heimleiters verschafft und hatte sich in das Sicherheitssystem der japanischen Nationalbank gehackt. Einfach um zu sehen, ob er es konnte. Am nächsten Tag waren Männer gekommen und hatten ihn mitgenommen. Aber nicht, um ihn einzusperren, wie er zunächst gedacht hatte, sondern um ihm einen Job anzubieten. Er war ausgebildet worden, hatte weiter gelernt und jetzt war er einer der Besten, ein Meister der Tastatur. Schlussendlich hatte man ihn Schwarz zugeteilt und nun … stand er in dem einst so bewunderten Mangaladen herum und wartete auf Schuldig. Nagi seufzte. Manche Träume sollten vielleicht nicht in Erfüllung gehen.

 

„Ich habe alles, wir können gehen.“ Schuldig war wieder aufgetaucht und hielt zwei bunte Hefte in der Hand. Nagi konnte nicht sehen, um was es sich handelte, aber die Hefte waren augenscheinlich schon älteren Datums.

„Was willst du eigentlich damit?“

Schuldig grinste und wedelte mit dem Zeigefinger vor seiner Nase herum. Er sagte etwas auf Deutsch, das Nagi nicht verstand. Nagi hasste es, wenn er das tat. Mit aufeinander gepressten Lippen drehte er sich abrupt zu der orangen Aufzugtür um. Hätte er Superkräfte gehabt, wäre vermutlich ein Loch in dem zentimeterdicken Metall gewesen. So konnte er jedoch nur versuchen, eins hineinzustarren.

„Ich habe gesagt, dass du zwar alles essen, aber nicht alles wissen darfst.“

Nagi zog es vor, darauf nicht zu antworten.

„Willst du, dass ich es dir beibringe?“

„Was?“

„Na Deutsch. Wir könnten ein paar Mal die Woche üben. Bei deiner Intelligenz hast du das bestimmt schnell drauf. Und ich verspreche auch, nicht zu lachen.“

Nagi schielte zu Schuldig herüber. Der hatte die Sonnenbrille in die Haare geschoben und lächelte ihn offen an. Nagis Blick glitt tiefer zu der ausgestreckten Hand, die sich ihm entgegenstreckte. Mit einiger Verzögerung griff er danach.

„Ok, abgemacht“, sagte er. „Aber jetzt bekomme ich was zu essen. Und du bezahlst.“

„Deal!“, antwortete Schuldig und grinste ihn an. „Wir fahren zu einem schicken Restaurant und dann darfst du dir aussuchen, was du möchtest.“

„Das wird aber nicht billig.“

„Natürlich nicht.“

„Und ich will Eiscreme.“

„Ok.“

„Mit Matchageschmack!“

„Würg. Alles nur das nicht.“

Schuldig machte ein verkniffenes Gesicht und Nagi betrat lachend den Aufzug. Vielleicht war das mit dem Deutsch lernen gar keine so schlechte Idee. Man konnte nie wissen, was die Zukunft noch so mit sich brachte.

 

 

 

 

Aya hatte das Gefühl, das er gleich durchdrehen würde. Jeden Moment musste es soweit sein. Dann würde er dem nächsten Kunden seine Blumen ins Gesicht werfen und ihn anschreien, dass er kündigte. Für immer. Stattdessen wickelte er den Blumenstrauß in Papier und reichte ihn mit knirschenden Zähnen über den Ladentisch, bevor sich bereits der Nächste mit seinen Wünschen an ihn wendete. Dabei war es nicht so, dass das Koneko vor Leuten überquoll. Es war mehr ein stetiger Fluss von Kaufwilligen, der heute durch die Tür tröpfelte, um Blumen zu erstehen. Weiß war dabei die vorherrschende Farbe, aber auch bunte Sträuße und Gestecke fanden ihren Weg über die Theke, damit die Leute sie heimtrugen oder gleich zum nächsten Friedhof gingen, um dort die Gräber für das bevorstehende Obonfest zu schmücken. Am Abend würden sie Feuer und Laternen entzünden, um den Verstorbenen den Weg aus dem Totenreich in die Welt der Lebenden zu weisen.

Auch Aya hatte überlegt, ob er das Grab seiner Eltern besuchen sollte. Sie waren auf einem Friedhof nahe ihres ehemaligen Wohnhauses begraben worden. Er war kurz nach ihrem Tod einmal am Friedhof gewesen, hatte es aber nicht über sich bringen können, das Grab zu besichtigen. Irgendwann, wenn der Tod seiner Eltern gerächt und Aya wieder erwacht war, würde er es vielleicht schaffen, mit ihr zusammen dort hinzugehen. Für den Moment jedoch würde er die Toten ruhen lassen.

 

Er schüttelte den Kopf und konzentrierte sich auf seine Arbeit. Das war allerdings leichter gesagt, als getan, denn es gab etwas, das ihm heute Morgen nicht aus dem Kopf gehen wollte. Immer wieder wanderten seine Gedanken zu dem Handy, das sich in seiner hinteren Hosentasche befand. Das ungewohnte Gewicht drückte sich an sein Gesäß und erinnerte ihn bei jeder Bewegung daran, dass es da war. Er hatte es am Morgen vor Öffnung des Blumenladens noch schnell erstanden und eine einzige Nummer einprogrammiert. In einem kurzen Moment der Ruhe, hatte er sich in den Lagerraum geschlichen, um Tim von dort aus eine Nachricht zu schicken.

„Das hier ist meine Nummer“, hatte er geschrieben und dann volle fünf Minuten überlegt, ob er die Nachricht wirklich abschicken sollte. Irgendwann hatte Ken mit der Faust gegen die Tür geschlagen und ihn sehr nachdrücklich aufgefordert, wieder bei der Kundschaft zu helfen. Also hatte er auf 'Senden' gedrückt und das kleine Gerät wieder in seiner Hosentasche verschwinden lassen. Seitdem wartete er auf eine Antwort.

'Vielleicht hätte ich doch noch warten sollen. Es war aufdringlich, sich so schnell zu melden. Oder nicht? Ich hätte noch etwas dazu schreiben sollen. Hätte ich ein Treffen vorschlagen sollen? Nein, lieber warten, ob er etwas vorschlägt. Aber vielleicht war die Nachricht zu unfreundlich. Ich habe nicht einmal Grüße dazu geschrieben. 'Bis bald' zum Beispiel. Ja, das wäre gut gewesen. Aber nun ist es zu spät. Ob ich noch eine Nachricht schreiben sollte? Nein, das ist albern. Ich muss abwarten, bis er sich meldet.'

Aya unterdrückte ein Seufzen und wendete sich dem nächsten Kunden zu, der gerade den Laden betreten hatte. Es blieb ihm gerade genug Zeit, um sich Gedanken zu machen, aber nicht genug, um diese in die Tat umzusetzen. Und immerzu spürte er das Handy in seiner Tasche. Es war auf lautlos gestellt. Er glaubte zumindest, dass er das getan hatte. Was, wenn nicht? Leichte Panik begann sich in ihm auszubreiten. Er musste dringend nachsehen.

„Hey, Ken, wo bleibt Yoji? Der hätte doch schon vor einer halben Stunde da sein sollen.“

Ken zuckte nur mit den Schultern. „Keine Ahnung. Hat vermutlich mal wieder verschlafen. Holst du mal neue Chrysanthemen aus der Kühlung?“

Aya schnaubte unwillig, machte sich aber auf den Weg. Das war mal wieder typisch. Kaum artete ihre Beschäftigung im Blumenladen wirklich in Arbeit aus, tauchte Yoji einfach nicht auf. Wobei es ja nicht so war, dass er und Ken die Arbeit nicht schafften. Und sie hatten immer noch Omi als Backup, falls es wirklich zu voll werden sollte. Aber trotzdem hätte Aya sich gerade heute über etwas mehr Luft gefreut. Wenn doch nur endlich eine Antwort käme.

 

Er presste die Kiefer zusammen und griff nach dem Wassereimer mit den Chrysanthemen. Der intensive, leicht herbe Geruch der Blüten schlug ihm entgegen und hüllte ihn ein. Unwillkürlich fragte er sich, ob er wohl nach Blumen roch, wenn er von der Arbeit kam. Wenn er im Restaurant bedient hatte, hatte sich der Geruch der Speisen oft in seinen Haaren und seiner Kleidung festgesetzt wie ein öliger Film. Ob das wohl auch hier so war?

Er schüttelte den Kopf. Was für unsinnige Gedanken er heute hatte. Und immer noch hatte das Handy sich nicht gerührt. Mit grimmiger Entschlossenheit fasste er den Eimer fester und ging in den Laden zurück. Er wollte gerade die verbliebenen Blumen in den neu dazugekommenen Eimer stellen und den alten entsorgen, als sich die Ladentür öffnete und mehrere Personen den Laden betraten. Er sah auf und wurde mit dem Anblick von drei jungen Mädchen belohnt, von denen zwei die dritte vor sich herschoben.

„Muss das wirklich sein?“, jammerte die Geschobene. „Ihr wisst doch gar nicht, ob er heute da ist.“

Eines der anderen Mädchen lachte. „Es sind Ferien, wo sollte er wohl sonst sein?“

„Genau, Ouka“, bestätigte die andere. „Stell dich nicht so an. Wir wollen doch nur mal 'Hallo' sagen.“

Das erste Mädchen lachte und strich sich die Haare hinter die Ohren. Sie drehte sich um und sah sich mit Aya konfrontiert, der sie mit zusammengezogenen Augenbrauen musterte.

„Oh, hallo, ich … wir wollten fragen, ob Omi Tsukiyono heute arbeitet.“

Aya seufzte innerlich. Er hatte schon mitbekommen, dass sich immer, wenn Omi im Laden war, mehr der jungen Mädchen hier herumdrückten. Yoji behauptete immer, sie umschwärmten ihn wie Bienen einen Honigtopf, auch wenn Omi das fürchterlich peinlich war und er steif und fest behauptete, die Mädchen kämen wegen der Blumen. Seit dem Beginn der Ferien hatte die nachmittägliche Flutwelle von schnatternden Schülerinnen deutlich abgenommen, aber heute hatten die zwei Mädchen, von denen sich Aya vage erinnerte, dass es sich um Klassenkameradinnen von Omi handeln musste, anscheinend beschlossen, dass die Schonzeit vorbei war. Und sie hatten gleich noch jemanden gefunden, den sie dafür den Kopf hinhalten lassen konnten.

 

Aya wurde bewusst, dass er immer noch nicht auf die Frage des Mädchens reagiert hatte. Die unglückliche Auserwählte stand vor ihm und ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, war sie kurz davor, den Laden fluchtartig zu verlassen. Das wiederum würden ihre beiden Begleiterinnen vermutlich zu verhindern wissen. Er fühlte einen Anflug von Sympathie für das Mädchen in sich aufsteigen, deren zwei kichernde Schatten ihn plötzlich verdächtig an Yoji und Ken erinnerten. Sie musste sich wahnsinnig vorgeführt fühlen. Und wenn er jetzt nichts dagegen tat, würden die drei womöglich immer wieder kommen, bis sie Omi irgendwann erwischten. Es war also nur logisch, dass er das gleich im Keim erstickte. Mit einem entschlossenen Gesicht legte er das Messer weg, das er die ganze Zeit, ohne es zu merken, in den Händen gehalten hatte.

„Ich gehe ihn holen“, verkündete er und ging unter den ungläubigen Blicken von Ken und zwei der drei anwesenden weiblichen Wesen in Richtung Kellertür. Die dritte sah, wenn er das richtig interpretierte, vage erleichtert aus. Erleichtert und aufgeregt gleichzeitig. Er hatte das eigenartige Gefühl, dass er wusste, wie ihr zumute war.

 

Das Geräusch, das seine Schritte auf den metallenen Stufen machten, hallte ein wenig dumpf von den kahlen Wänden wieder. Einige betagte, nicht zueinander passende Polstermöbeln lungerten im nur von einer kleinen Lampe erhellten Halbdunkel herum, auf einem niedrigen Couchtisch lagen einige Zeitschriften und Dartpfeile. Ein halbvoller Aschenbecher hinterließ einen unangenehmen Geruch nach kaltem Rauch. Er musste Yoji wirklich sagen, dass er das Ding abends ausleeren musste.

„Aya!“ Omis helle Stimme klang freudig überrascht. Ein Tonfall, den der Junge unabhängig von seiner derzeitigen Gemütslage jederzeit abrufen konnte. Manchmal, ganz manchmal hatte Aya das Gefühl, dass ein Teil dieser Fröhlichkeit nicht echt war.

„Ich bin gerade fertig geworden. Braucht ihr Hilfe oben im Laden?“

Omi große, blaue Augen sahen ihn fragend an. Für einen Bruchteil erinnerten sie ihn an ein anderes Paar blaue Augen, auch wenn der Ausdruck darin ein völlig anderer gewesen war. Aya stopfte die hinderlichen Gedanken ganz weit hinten in seinen Kopf.

„Oben sind ein paar Mädchen, die dich suchen.“

„Mädchen?“ Omi überlegte kurz, bevor sich Erkenntnis auf seinem Gesicht ausbreitete „Das werden Eri und Hanako sein. Ich habe die beiden vorgestern im Park getroffen. Sie sagten, sie wollten mal vorbeikommen“

„Sie haben noch jemand mitgebracht. Eine gewisse Ouka.“

„Ouka?“ Omi blinzelte überrascht. „Das muss ... Ouka Sakaki sein. Sie ist Anfang des Schuljahres neu in unsere Klasse gekommen. Ich … wir haben uns noch nicht sehr oft unterhalten.“

„Es sah so aus, als wolle sie das jetzt ändern.“

Mit einer gewissen Genugtuung bemerkte Aya, dass Omi die Hände in den Ärmeln seines Pullovers zu verstecken versuchte. Das tat er immer, wenn er nervös war. Mit einem auffordernden Nicken zur Treppe hin fügte er hinzu: „Du solltest sie vielleicht nicht warten lassen.“

Omi begann zu stammeln. „Ja … ja, da hast du recht. Ich … ich sollte sie nicht warten lassen.“

Er sprang von seinem Schreibtischstuhl auf wie ein zurückgeprallter Gummiball. „Machst du noch das Licht aus?“, bat er Aya, während er bereits nach oben hastete.

 

Aya unterdrückte ein Schmunzeln und griff in seine Hosentasche. Nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass das Handy tatsächlich auf lautlos gestellt war – und immer noch keine Nachricht empfangen hatte – wanderte seine Hand schon zum Lichtschalter, als er das kleine, rote Licht bemerkte, das im Dunkeln neben dem Schreibtisch leuchtete. Was war das? Hatte Omi vergessen, den Rechner herunterzufahren? Das sah ihm gar nicht ähnlich, denn der Junge war immer sehr gewissenhaft, was die Pflege seines technischen Equipments anging. Und trotzdem war da dieses Licht und jetzt, da er es gesehen hatte, konnte Aya auch das leise Geräusch der Lüftung hören. Der Computer war definitiv noch an. Omi hatte lediglich den Bildschirm ausgeschaltet. Wenn man nur flüchtig hinsah, konnte man es leicht übersehen. Ob er das mit Absicht getan hatte?

 

Aya beschlich ein eigenartiges Gefühl. Er sah noch einmal zur Kellertreppe, dann ließ er sich auf den Drehstuhl gleiten und drückte den Knopf unten am Bildschirm. Sofort erwachte dieser wieder zum Leben. Mit großen Augen starrte Aya auf das Bild, das sich ihm bot. Dort, aufgeteilt in Bytes und Pixel, war sein Leben. Geburtsurkunde, Zeugnisse, Fotos, Krankenberichte, alles. Wie von selbst kroch seine Hand zur Maus und er begann, sich durch die verschiedenen Fenster zu klicken. Dort standen Dinge, die er selbst nicht einmal mehr wusste. Das Ergebnis seiner Kendo-Prüfung? Warum sah Omi sich das an? Was wollte er mit diesen Informationen?

Aya wollte sich schon von diesem Puzzle, das einmal sein Leben gewesen war, abwenden, als er auf der Taskleiste noch einen zweiten, geöffneten Ordner entdeckte. Er war mit 'AF' beschriftet. Aya merkte, wie er zu zittern begann. Trotzdem schob er den Mauszeiger auf den zweiten Ordner, atmete tief durch und klickte darauf.

Im nächsten Moment krallte sich seine Hand um die Maus, als wolle sie diese zerdrücken. Vor ihm auf dem Bildschirm war das Foto eines Krankenbetts. Das Mädchen darin war unverkennbar seine Schwester. Die Tatsache, die Aya daran so wütend machte, war die, dass es sich um ein Bild aus dem Krankenhaus handelte, in dem Aya jetzt lag. Was sollte das? Was für ein Spiel wurde hier gespielt? Dass er selbst jetzt so etwas wie Kritikers Eigentum war, damit konnte er sich abfinden. Aber er würde nicht zulassen, dass Aya in irgendetwas hineingezogen wurde, das mit Weiß zu tun hatte. Mit einem entschlossenen Mausklick löschte er den Ordner und nach kurzem Zögern auch den mit den Informationen über ihn selbst. Sollte Omi ihn danach fragen, so würde er selbst einige Fragen parat haben. Dieser kleine Schnüffler sollte sich schon mal warm anziehen.

Er schaltete den Bildschirm wieder ab und wollte sich gerade wieder zurück in den Blumenladen begeben, als es plötzlich in seiner hinteren Hosentasche vibrierte. Er hatte eine Nachricht von Tim!

 


Nachwort zu diesem Kapitel:
Soundtrack:
"Sick Boy" - The Chainsmokers


Ja ok, ich weiß, ich bin ein bisschen fies. An dieser Stelle hätte es jetzt noch weitergehen können, aber die nächste Szene wird dann schon wieder etwas umfangreicher und ich hatte mir vorgenommen, die einzelnen Kapitel nicht zu lang werden zu lassen, damit ich lieber öfter mal eins fertig bekomme. Leider muss ich ja auch noch was anderes machen als Schreiben. (So ein Real Life ist wirklich lästig ...) Ich schließe zwar längere Kapitel im weiteren Verlauf nicht aus, aber für dieses Mal muss das jetzt so reichen. Wer meckern will (daran oder an anderem), darf das aber gerne tun, dann überlege ich mir das vielleicht noch. ^_~

Ach und noch eine kleine Anmerkung: In der Gegend von Tokio wird das Obonfest wohl eigentlich im Juli gefeiert, während es in großen Teilen Japans eben erst im August stattfindet. Ich hoffe, ihr könnt diese kleine Ungenauigkeit verzeihen. Komplett anzeigen

Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück