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Lügner!

von

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Bestien

Das Schwert krachte gegen Kens Unterarm. Er blockte den Schlag, ignorierte den Schmerz und hieb mit der anderen Kralle nach Ayas ungeschützter Seite. Der wich aus, Ken stolperte vorwärts, ließ sich fallen und trat aus der Bewegung heraus nach Ayas Beinen. Seine Ferse traf die Kniekehle und Aya ging mit einem Ächzen zu Boden. Sofort war Ken hinter ihm und hielt die hölzernen Krallen an seine Kehle. Er keuchte und schwitzte. Die salzige Flüssigkeit rann in seine Augen, sein Herz hämmerte wie wild gegen seinen Brustkorb.

„Du hast verloren“, brachte er hervor und schluckte. Seine Kehle fühlte sich an wie ausgedörrt.

Aya, der ebenfalls schwer atmete, ließ das Schwert sinken und entspannte den Körper. „Okay, damit steht es fünf zu drei. Für mich.“

Ken trat einen Schritt zurück und ließ Aya aufstehen. Er fuhr sich mit dem Arm über das Gesicht, erreichte damit aber nur, dass der Schweiß gleichmäßig verteilt wurde. Er nahm kurzerhand sein T-Shirt zur Hilfe, das nur noch aus dunklen Flecken zu bestehen schien.

„Na los, raff dich auf, alter Mann. Ich hab noch was auszugleichen.“

Aya lachte. „Alter Mann? Ich bin grad mal anderthalb Jahre älter als du.“

„Siehst du?“, grinste Ken. „Sag ich ja. Alter Mann! Also was ist jetzt mit meiner Revanche?“

„Wenn du noch nicht genug davon hast, dich von mir verprügeln zu lassen.“ Aya hob das Schwert. „Nur zu.“

 

Ken wollte sich in die Ausgangsposition begeben, als die Tür aufging und Omi den Kopf hineinsteckte. „Ach hier seid ihr. Yoji macht gerade oben zu. Birman ist da.“

Er wollte schon wieder gehen, als er noch einmal in den Raum zurückkam. Er atmete kurz durch und setzte dann hinzu: „Vor einer Mission solltet ihr euch nicht so verausgaben. Ich erwarte, dass ihr heute Abend fit seid. Aya, kühl das Knie und Ken, hol dir eine Bandage für deinen Knöchel. Wer versagt, bekommt ne Reise in ner großen Holzkiste geschenkt.“

Damit drehte er sich um und die Tür fiel hinter ihm ins Schloss. Ken ließ ein Zischen hören. „Also so gern ich Omi ja hab, aber Bombay ist ein echter Sklaventreiber.“

Aya strich mit dem Daumen über die Schneide des Bokuto. Es hatte Risse bekommen und an mehreren Stellen wies das Holz Kratzspuren von Kens Krallen auf. Noch ein paar Schläge und es würde vollkommen zersplittern.

„Aber er hat Recht“, sagte er. „Wir haben es wirklich übertrieben. Wie geht’s deinem Arm?“

„Gut“, antwortete Ken und zog den Handschuh aus. Die Haut, die darunter zum Vorschein kam, begann sich bereits blau zu färben. Ayas letzten Hieb hatte auch der Handschuh nicht vollkommen abfangen können.

„Tu was von der Salbe drauf, die ich in den Verbandskasten getan habe. Ich sage den anderen, dass du gleich kommst.“

Ken wollte aufbegehren, aber als er seinen Arm mit der anderen Hand umfasste, sog er scharf die Luft ein. „Okay, ich geh mich dann mal einschmieren. Ich bring dir ein Eispack mit.“

Aya nickte und nahm sich im Rausgehen ein Handtuch von einem Regal neben der Tür. Er trocknete sich die Haare und legte sich den Stoff dann über die Schultern, während er zum Missionsraum ging, wo Omi und Birman bereits auf ihn warteten. Er grüßte Birman mit einem knappen Nicken, das die junge Frau mit einem Lächeln beantwortete. Yoji kam kurz nach ihm und ließ sich in einen der betagten Sessel fallen. Er griff nach seinen Zigaretten und legte sie betont sorgfältig auf den Tisch. Sein Blick bohrte sich in Ayas.

'Ich hatte nicht mal Zeit, eine zu rauchen, weil ihr euch verpisst habt.'

'Rauchen ist ungesund', schoss Aya zurück.

Yoji hielt seinem Blick einen Augenblick lang stand, dann wandte er sich Birman zu.

„Entschuldige, dass ich dir heute nicht die gebührende Aufmerksamkeit schenken kann. Ich wurde schmählich im Laden allein gelassen und jetzt bin ich vollkommen überarbeitet.“

Birman schenkte auch ihm ein Lächeln. „Ich bin mir sicher, du wirst dich erholen, Yoji.“

„Oh, ich hätte da schon eine Idee. Du und ich. Eine Woche Hokkaido? Wie sieht's aus?“

Birman strich sich die halblangen, dunklen Haare hinter das Ohr und ihr Lächeln wurde noch eine Spur süßer. „Ich habe eine bessere Idee. Du machst deinen Job und ich jage dir keine Kugel in den Kopf.“

Yoji grinste breit und seufzte. „Ich wusste es. Sie liebt mich. Bestellt schon mal die Blumen, Jungs.“

„Für was? Deine Beerdigung?“ Ken stolperte die Treppe hinunter und warf Aya ein Kühlpack zu. Der fing es auf und presste es wie angewiesen auf sein Knie, das tatsächlich leicht angeschwollen war. Eine dumme Verletzung, die ihn beim Laufen behindern konnte. Er war wirklich zu leichtsinnig gewesen.

 

„Also schön, wenn dann alle anwesend sind?“ Birman wedelte mit der Videokassette in ihrer Hand. „Hier ist euer neuer Auftrag.“

Sie startete die Aufnahme und der Bildschirm an der Wand erwachte zu flackerndem Leben. Die Silhouette eines Mannes wurde sichtbar. Sein Gesicht lag im Schatten und man konnte wenig mehr als die Umrisse vor dem hellen Hintergrund ausmachen. Der Stimme nach, die jetzt zu sprechen begann, tippte Aya auf einen Mann mittleren Alters.

„Weiß, wir haben eine neue Aufgabe für euch. Euer Ziel ist Isamu Hibino. Hibino ist Leiter eines örtlichen Waisenhauses. Er steht im Verdacht, immer wieder Kinder an Menschenhändler weitergereicht zu haben. Einige der früheren Insassen des Heims sind jetzt wieder aufgetaucht.“

Auf dem Bildschirm erschienen Fotos von Jungen im Alter von etwa 14 bis 17 Jahren. Ihre Körper wiesen Verletzungen in einem Bereich auf, der vier Personen im Raum aufkeuchen ließ. Persers Stimme fuhr ungerührt fort:

„Allen Opfern wurden die Testikel entfernt. Dabei wurde mit chirurgischer Präzision vorgegangen. Einige der Opfer wiesen auch Verletzungen im Rückenbereich auf, die darauf hinweisen, dass hier Knochenmark entnommen wurde. Zu welchem Zweck ist bisher noch unklar. Fest steht jedoch, dass Hibino mit den Tätern zusammengearbeitet und somit den Tod dieser Unschuldigen mitverschuldet hat. Männer von Weiß, zieht diese Bestie zur Rechenschaft.“

 

Der Bildschirm erlosch und Ken schaltete das Licht wieder an. Wenn Aya sich in der kalten Beleuchtung des Kellers nicht täuschte, war er ein wenig grün um die Nase.

„Wer zur Hölle macht so was?“, ereiferte sich auch Yoji. „Das ist doch krank.“

„Vielleicht nicht.“

Alle Anwesenden drehten sich zu Omi um. Ihr Jüngster hatte die Stirn in Falten gelegt und schien scharf nachzudenken.

„Wir hatten im letzten Halbjahr Genetik in der Schule. Es gibt da eine ganze Menge Entwicklung im Bereich der Stammzellenforschung. Und die werden am effektivsten aus Rückenmark gewonnen.“

„Ähm, Omi, ich weiß nicht, ob du's mitgekriegt hast, aber die haben diesen Jungs die Eier abgeschnitten.“ Ken war anscheinend immer noch vollkommen fassungslos.

„Nein, das stimmt nicht.“ Omi griff nach einem Foto und hob es hoch. Ein dreikehliges Stöhnen antwortete ihm.

„Seht ihr? Sie haben nur das Innere entfernt. Es ging also nicht um das Abnehmen, sondern um das Entnehmen. In den so gewonnenen Drüsen werden die Keimzellen gebildet. Quasi die Vorstufe von Stammzellen.“ Er legte den Zeigefinger an die Nase. „Birman, wurden auch Mädchen entführt?“

„Nicht, dass wir wüssten.“

„Mhm, das macht noch mehr Sinn. Aus den Eierstöcken ließen sich lediglich weibliche Keimzellen gewinnen. Um männliche zu bekommen, benötigt man ... nun ja.“ Er warf noch einen Blick auf das Foto und verzog das Gesicht.

 

Birman sah von einem zum anderen. „Ich nehme an, dass ihr alle dabei seid?“

Yoji rührte sich als Erster. „Normalerweise würde ich ja ablehnen. Um irgendeinen alten Sack, der sich an kleinen Jungs vergreift, um die Ecke zu bringen, braucht man keine vier Leute. Aber das hier geht mir definitiv gegen die Ehre. Ich bin also dabei.“

„Ich auch!“, schloss sich Ken an.

„Ich komme auch mit.“ Omi starrte immer noch auf das Foto. „Ich möchte mich da umsehen und schauen, ob wir Hinweise auf die Hintermänner finden. Das ist doch in Persers Sinne, oder Birman?“

Die Sekretärin nickte. „Ich denke, das geht in Ordnung. Ich kläre das aber noch mit ihm ab.“ Ihr Blick richtete sich auf Aya. „Was ist mit dir?“

Aya dachte an sein Knie. Wenn er es überlastete oder gar unglücklich fiel, konnte er sich schwere Verletzungen zuziehen. Vielleicht sogar bleibende Schäden riskieren. Am klügsten wäre es, das Bein mindestens zwei Tage zu schonen, bis die Schwellung wieder abgeklungen war. Er warf einen Blick auf Omi. Der Junge taxierte ihn vollkommen ausdruckslos.

„Ich bin dabei“, sagte er und verlagerte das Kühlpack.

„Gut“, lächelte Birman. „Dann sind alle entlassen. Alle bis auf Aya.“

 

Er gefror in der Bewegung, mit der er schon hatte zur Treppe gehen wollen. Er hatte es gewusst. Die anderen liefen an ihm vorbei. Ken machte ein finsteres Gesicht, Yoji klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter und Omi warf ihm einen entschuldigenden Blick zu, bevor er hinter den anderen herhastete. Aya seufzte innerlich und drehte sich zu Birman um. Sie sah ihn freundlich an.

„Wenn du dich bitte setzen könntest?“

„Und wenn ich lieber stehe?“

Birman geriet nicht außer Fassung. „Das hier muss kein unangenehmes Gespräch werden. Ich möchte nur ein wenig mit dir plaudern.“

Aya sah ein, dass er sich in keine gute Position brachte, wenn er sich stur stellte. So setzte er sich widerwillig auf das Sofa, während Birman sich auf den Platz gleiten ließ, den Yoji gerade noch innegehabt hatte. Aya fragte sich, ob er wohl noch warm war. Und ob er Yoji das nachher erzählen sollte. Der Playboy würde garantiert ziemlich dumm aus der Wäsche gucken.

 

Birman strich ihr kurzes Kleid glatt. Ihre Finger glitten über die durchgehende Knopfleiste und falteten sich schließlich auf ihren Knien übereinander. Braune Augen musterten Aya fragend.

„Du weißt, worum es geht?“

„Nein“, log er. Natürlich wusste er, worum es ging, aber er wollte es von ihr hören.

„Mir wurde zugetragen, dass du neuerdings eine … Beziehung unterhältst. Ist das korrekt?“

„Zugetragen? Von wem?“ Fragespielchen konnte er auch spielen.

„Das ist nicht von Belang.“

Er schüttelte den Kopf. Das war so albern. Er hatte keine Lust, um den heißen Brei herumzureden. „Es ist Omi, hab ich recht? Er erstattet über alles Bericht, oder? Auch darüber, was wir morgens frühstücken und wie lange wir duschen?“

Birman lächelte freundlich. „Nein, aber wenn du selbst einen entsprechenden Bericht einreichen möchtest?“

Aya schwieg.

Birman seufzte.

„Aya, es geht hier lediglich um Fragen der Sicherheit. Das verstehst du doch.“

Natürlich verstand er. Was gab es da nicht zu verstehen? Er war nicht einmal wütend auf Omi. Er hätte an seiner Stelle genauso gehandelt. Weiß bewegte sich außerhalb des Gesetzes. Im Grunde waren sie nicht viel besser als die Verbrecher, die sie zur Strecke brachten. Zumindest wenn man es von Seiten der Justiz betrachtete. Wenn irgendwas von dem, was hinter der Fassade des Koneko vorging, nach außen drang, waren sie alle geliefert. Und Birman hatte bei seiner „Einstellung“ keinen Hehl daraus gemacht, dass Kritiker sie in dem Fall fallen lassen würde. Bei dem Drahtseilakt, der sich Weiß nannte, gab es kein Netz. Nur seine eigenen Fähigkeiten und die seines Teams. Eine Schwachstelle im Team bedrohte ihr aller Leben. Aber trotzdem …

„Hast du einen Freund, Birman? Und Perser? Ist er verheiratet? Frau und Kinder? Was ist mit Manx? Mit all den anderen Mitarbeitern von Kritiker? Dürfen die auch alle kein Leben haben?“

Er war mit jedem Wort lauter geworden und hatte sie am Ende angeschrien. Sie hatte nicht einmal mit der Wimper gezuckt.

„Diese Informationen stehen dir nicht zu. Du bist ...“

„Eine Waffe!“ Er spuckte ihr die Worte vor die Füße. „Viel mehr seht ihr doch nicht in uns.“

Der verständnisvolle Ausdruck, der jetzt auf ihre Zügen trat, gefiel ihm nicht. „Denkst du das wirklich? Das wir uns nicht um euch kümmern? Dass ihr uns egal seid?“

Er antwortete nicht. Seine Augen begannen zu stechen und er wollte das nicht. Er wollte wütend auf sie sein.

„Warst du mal wieder bei deiner Schwester? Gefällt dir das neue Krankenhaus?“

„Aya hat nichts damit zu tun.“ Wut. Auch auf sich selbst, weil er Aya vernachlässigt hatte.

„Ach nein? Ich dachte, sie wäre das Wichtigste auf der Welt für dich. Der Grund, warum du hier bist. Hast du das vergessen?“

Ja, das hatte er. Er hatte sich ein rosarotes Wolkenluftschloss gebaut und die Tür fest hinter sich zugemacht, damit nichts von diesem Leben dorthin hinüberschwappte. Aber die Flut stand vor den Toren und drohte, sie einstürzen zu lassen. Er schluckte schwer.

 

Eine warme Hand legte sich auf seine. Er sah auf und Birman lächelte ihn an. „Wir verlangen nicht, dass du ihn aufgibst. Diese Entscheidung liegt allein bei dir. Aber ich rate dir, sehr vorsichtig zu sein. Du bist ein gefährlicher Mann, Aya. Leute in deiner Umgebung könnten verletzt werden.“

Sie tätschelte noch einmal seine Hand und erhob sich dann. Als sie nach ihrer Tasche griff, öffnete er den Mund.

„Birman?“

„Ja?“

„Warum bekommt Yoji solche Vorträge nicht von dir?“

Sie grinste. „Wer sagt, dass er die nicht bekommt?“

Sie winkte ihm noch einmal zu und ließ ihn dann allein. Er sank gegen die Rückenlehne des Sofas und verzog das Gesicht zu einer angeekelten Grimasse. Er war vollkommen durchgeschwitzt, ihm war kalt und er stank. Es wurde höchste Zeit, dass er unter eine Dusche kam. Er würde sich waschen, etwas essen, Tim eine Nachricht schicken, ob sie sich morgen treffen konnten, und dann würde er sein Katana nehmen und ein dunkles Biest zur Strecke bringen. Das mochte nicht das ideale Leben sein, das er sich mal vorgestellt hatte, aber es war sein Leben und das würde ihm niemand wegnehmen.

 

 

 

 

„Bombay an Abyssinian. Hast du Sichtkontakt?“

Aya zuckte zusammen und griff sich ans Ohr, um die Lautstärke des Kommunikators runterzuregeln.

„Abbyssinian?“

„Ja, ich sehe ihn. Er ist in seinem Büro. Allein.“

Diese Mission war ein Witz. Es hatte lediglich am Eingang des eingezäunten Geländes eine Sicherheitskamera gegeben, die Yoji ohne Probleme mithilfe seiner Waffe heruntergeholt hatte. Eine Drahtschere hatte kurzen Prozess mit dem Zaun gemacht und jetzt hockte Aya im Schatten eines rechteckigen Gebäudes, dessen dunkle Fenster auf einen asphaltierten Platz hinuntersahen. Es gab einen windschiefen Basketballkorb, der kein Netz mehr hatte, und im trüben Zwielicht waren die Gerippe von zwei Fußballtoren erkennbar. Eine rostige Schaukel bewegte sich leicht im aufkommenden Wind. Er brachte kühlere Luft und plötzlich begann es zu regnen. Es war, als hätte jemand einen Schalter umgelegt. Von einem Augenblick auf den anderen waren der Platz und die Gebäude hinter einem grauen Vorhang aus Wasser verschwunden. Selbst das Licht im Büro des Heimleiters erschien nur noch als trübes Flackern in der Nacht.

„Kommt schon, Leute. Zugriff jetzt. Wenn ich hier noch eine Minute länger stehe, bin ich durchgeweicht bis auf die Haut.“

„Reiß dich zusammen, Siberian.“

 

Es knackte im Lautsprecher und Aya wusste, dass Ken sein Headset abgeschaltet hatte. Er biss die Zähne zusammen und fasste den Haltegriff seiner Schwerttasche fester. Mit huschenden Schritten überquerte er den Hof und drückte sich neben dem Eingang des Bürogebäudes an die Wand. Auf der anderen Seite der Treppe, die in das Gebäude hineinführte, bewegte sich etwas.

„Aya, bist du das?“ Ken. Natürlich.

„Was soll das? Warum hast du deinen Kommunikator abgeschaltet?“ Aya war erstaunt, wie ärgerlich er klang. Wasser begann, in den Kragen seines Mantels zu laufen. Das Material sog sich langsam mit Wasser voll.

„Weil das hier total albern ist. Los, lass uns reingehen und das Schwein umbringen und dann nichts wie ab nach Hause. Ich hol mir hier doch nicht den Tod.“

Kens Umrisse schälten sich aus dem Regen. Er war ebenso wie Aya total durchnässt, seine Haare klebten an seiner Stirn und das orangefarbene Hemd, das er um die Hüfte geknotet hatte, hing wie ein nasser Lappen herunter. Er schüttelte den Kopf wie ein Hund, bevor er nach der Türklinke griff. Sie ließ sich ohne Widerstand herunterdrücken und die Tür schwang nach innen auf. Ken grinste.

„Bitte nach Ihnen.“

Aya schnaubte und schlüpfte durch die dunkle Öffnung. Ken folgte ihm und schloss die Tür wieder. Vor ihnen lag ein unbeleuchteter Gang, an dessen Ende ein wenig Licht unter einer Tür hervor schien. Das Büro des Heimleiters. Aya nahm die längliche Tasche von seinem Rücken, öffnete den Reißverschluss und holte das Katana heraus. Er legte die Tasche auf den Boden und nickte Ken zu. In der knappen Beleuchtung konnte man gerade noch ihre Umrisse erkennen.

Ohne einen Laut zu verursachen, schlichen sie bis zur Tür. Ken zählte an den Fingern einen Countdown von drei, dann stürmten sie beide gleichzeitig hinein.
 

Drinnen erwartete sie das totale Chaos. Überall lagen Papiere herum, Schranktüren standen offen, die Schubladen einer Kommode waren herausgezogen und auf dem Boden verteilt worden. Inmitten dieser Unordnung stand ein Mann. Er war etwa Anfang 50, untersetzt, schütteres Haar und eine Brille mit runden Gläsern, die sein Gesicht noch feister wirken ließ. In seiner Hand hielt er eine Pistole.

„Siberian, Vorsicht!“

Ken ging sofort in Kampfhaltung und auch Aya fasste sein Katana fester. Der Mann starrte sie aus großen Augen an.

„W-wer seid ihr? Was wollt ihr hier?“

In diesem Moment erwachte Ayas Kommunikator wieder zum Leben. „Abyssinian? Ist Siberian bei dir? Er hat sein ...“

Aya legte die Hand an sein Ohr. Dabei ließ er den Mann nicht aus den Augen. „Ja, er ist bei mir. Haben die Zielperson gestellt.“

„Z-Zielperson?“ Der Man sah zwischen ihnen hin und her. An die Waffe in seiner Hand dachte er offensichtlich gar nicht. Er war kein Kämpfer. Eher der Typ Mitläufer, zu schwach, um den Mächtigen die Stirn zu bieten. Also zog er den Schwanz ein und hielt den Kopf unten, um nur ja nicht aufzufallen. Aya begann sich zu fragen, wie ausgerechnet er ins Visier von Kritiker gekommen war.

„Isamu Hibino?“

Der Mann nickte. Auf seiner Stirn stand kalter Schweiß. Er war weiß wie die Wand.

„Wir sind gekommen, um der Gerechtigkeit genüge zu tun. Du hast diejenigen ausgeliefert, die dir zum Schutz unterstellt waren. Jetzt wird dich das gleiche Schicksal ereilen wie sie.“

„A-aber … er hat doch gesagt, mir würde nichts geschehen. Er hat Nanami mitgenommen. Meine süße, kleine Nanami. Er hat gesagt, wenn ich sie ihm gebe, wird mir nichts passieren.“

„Komm, schon, Aya. Lass uns diesen winselnden Hund erledigen und dann nichts wie nach Hause.“

Ken ließ seine Krallen aufschnappen und der Mann ließ vor Schreck seine Waffe fallen. Er schlug die Arme vors Gesicht und begann zu wimmern.

„Ich habe doch alles getan, was er wollte. Warum schickt er euch dann?“

Aya hob die Hand als Zeichen an Ken, dass der noch warten sollte.

„Wer glaubst du, schickt uns?“

„Masafumi. Masafumi Takatori.“

Aya hatte das Gefühl, geschlagen worden zu sein. „Taka...tori?“

„Ja! Er war es doch, der mich zu diesen schrecklichen Dingen überredet hat. Er hat mir Geld versprochen. Hat gemeint, es würde endlich wieder Ruhe einkehren, wenn er sich um ein paar der Störenfriede hier kümmern würde. Aber er kam immer und immer wieder. Und jetzt hat er meine kleine Nanami mitgenommen. Meinen Augenstern.“

Ayas Hand schloss sich fester um den Griff seines Schwerts. Takatori. Er hatte geschworen, diesen Mann zu vernichten. Ihn, seine Familie, alle, die er je gekannt oder geliebt hatte. Und dieser Mann, der jetzt auf die Knie fiel mit Tränen in den Augen, er hatte mit einem Takatori Geschäfte gemacht. Aya löste mit dem Daumen das Katana aus der Scheide.

„Meine süße, kleine Nanami. Sie war mein Ein und Alles und er hat sie einfach mitgenommen. Ohne sie ist mein Leben so traurig und leer.“

Hibino begann nun wirklich zu weinen. Die Tränen quollen hinter der Brille hervor, die prompt beschlug, und der Rotz lief ihm aus der Nase. Er widerte Aya an. Ein erbärmlicher, kleiner Mann. Ayas Blick fiel auf den Schreibtisch. Dort stand ein Foto eines jungen Mädchens. Sie musste etwa im Alter seiner Schwester sein. Ein wenig scheu sah sie in die Kamera und drückte ihr Plüschtier an sich.

„Nanami, oh, warum hat er dich mir genommen?“

Die Waffe lag immer noch vor Ayas Füßen. Er sah von ihr zu dem schluchzenden Hibino und verstand. Langsam ließ er das Katana wieder sinken. Dieser Wurm verdiente es nicht, durch seine Hand zu sterben. Er verdiente es, zu leben und sich seiner Schuld immer und immer wieder bewusst zu werden, wann immer er an die Tochter dachte, die er durch seine eigenen Taten verloren hatte. Solange bis er es endlich schaffte, seinem erbärmlichen Dasein selbst ein Ende zu setzen.

„Sie hatte so wunderbar duftendes Haar, so weiche Haut. So schöne, weiche Haut. So weich ...“

Aya gefror das Blut in den Adern. Sein Magen krampfte sich zusammen. Mit einem Schrei riss er das Katana aus der Scheide und hieb zu. Blut spritze und Hibino kippte wie ein gefällter Baum nach vorn. Aya atmete durch den Mund, versuchte die Übelkeit zu bekämpfen, die seine Kehle hinaufkroch. Er würde sich nicht übergeben. Nicht übergeben …

 

„Aya?“ Ken zögerte sichtlich, ihn anzufassen. Seine Hand schwebte auf halben Weg zwischen ihm und Ayas Arm. Vorsichtig zog er sie wieder zurück. „Alles in Ordnung?“

Atmen. Nicht übergeben. „Ja. Verschwinden wir.“

„Aber Omi wollte doch ...“

„Wir werden hier nichts finden. Hibino hat uns alles gesagt, was wir wissen müssen.“

Er sah noch einmal auf die Leiche, die Gesicht voran in einer größer werdenden Blutlache lag. Takatori.

 

 

 

 

 

„Hey, Nagi. Der Big Boss wird langsam ungeduldig. Sieh zu, dass du das in den Griff kriegst.“

Nagi lag ein 'Fick dich, Schuldig!' auf den Lippen, aber er beherrschte sich und würdigte den Deutschen in der Tür keines Blickes. Seine Finger flogen über die Tastatur seines Laptops. Das war jetzt schon der dritte, fehlgeschlagene Reboot. Er bekam einfach kein Bild rein. Ihm war danach, irgendetwas zu werfen.

„Geht es jetzt los?“ Die Stimme des Mädchens neben ihm war nicht im Geringsten beeindruckt. Er warf ihr einen kurzen Blick zu. Sie saß auf einem Klapptstuhl und hatte ein entzückendes, hellblaues Rüschenkleid an. Ihre Haare waren zu einer festlichen Frisur hochgesteckt und das Einzige, was das Bild nachhaltig trübte, war das Metallgestell, das mit breiten, schwarzen Riemen an ihrem Kopf befestigt war. Es erinnerte Nagi an eine dieser überdimensionierten Zahnspangen, die man manchmal im Fernsehen sah. An der Seite des Gestells saß ein kleiner Kasten mit einer grünen Blinkleuchte.

„Nein, ich … es gibt technische Schwierigkeiten.“

„Oh. In Ordnung. Dann warte ich noch.“ Sie baumelte mit den Beinen und sah sich im Raum um. Es war wirklich erstaunlich, wie sehr sie sich von dem Mädchen unterschied, das er heute Morgen getroffen hatte.

Sein Blick streifte Farfarello, der wie ein böser Geist in einer Ecke des Raumes hockte und dort was auch immer tat. Solange er Nagi nicht störte, war es ihm egal. Er drückte ein paar weitere Tasten.

„Es funktioniert nicht. Etwas an der Hardware scheint dem Regen zum Opfer gefallen zu sein. Ich muss einen Techniker da rausschicken.“ Er betätigte den Sendeknopf am Mikrofon seines Headsets.

„Ich will jemand am Sendeturm im östlichen Bereich. Von dort kommt nur noch Ton, aber kein Bild. Ajino oder Shiba sollen das machen.“

Es knackte und rauschte, dann endlich eine Antwort. „Ajino ist schon nach Hause gegangen und Shiba muss die Stromversorgung überwachen. Wenn ich ihn abziehe, stehen wir vielleicht gleich alle im Dunkeln.“

Nagi knirschte mit den Zähnen. „Dann schickt einen anderen. Egal. Irgendwer muss da raus.“

„Aber … das Spiel hat doch schon angefangen.“

„Das ist mir verdammt nochmal egal. Kriegt diesen Turm zum Laufen!“

Er hätte heulen können. Hier ging gerade alles den Bach runter. Takatori würde ihm die Hölle heiß machen. Irgendeiner von ihnen auf jeden Fall. Oder alle drei. Alles nur wegen des verdammten Wetters.
 

Die Tür öffnete sich erneut und Schuldig kam herein.

„Da draußen ist echt dicke Luft. Erst die Enttäuschung, dass die Hälfte der Kandidaten heute aus Kindern besteht, dann sind nur drei Jäger unterwegs und jetzt gibt es nicht mal Bild zum Ton? Das ist unterirdisches Entertainment.“

„Und was soll ich deiner Meinung nach dagegen tun?“, fauchte Nagi und wies anklagend auf den Bildschirm. „Von hier aus bin ich machtlos. Wir müssen warten, bis der Techniker ...“

Es knackte in seinem Headset. „Naoe-san, Akagawa hier. Ich bin auf dem Weg zum Turm.“

Nagi hätte sich am liebsten mit der Hand gegen die Stirn geklatscht. Akagawa war nicht nur langsam, sondern auch noch fett. Er würde niemals bis zum Sendemast hinaufklettern können. War er denn wirklich nur von Idioten umgeben?

Es knackte wieder im Headset. „Äh, ich glaube, da gibt es ein Missverständnis. Ich bin keiner von .. Hey! Hey, nein! Ruf die Köter zurück. Nein!“

Das nächste, was Nagi hörte, war ein lautes Knurren, einen Schrei und ein Geräusch, das ihm den Magen umdrehte. Dann brach die Verbindung ab.

Schuldig hob die Augenbrauen. „Da waren's nur noch zwei. Und jetzt? Wenn nicht gleich was passiert, können wir den Abend abblasen. Takatori wird das nicht gefallen. Überhaupt nicht gefallen.“

Nagis Gedanken rasten. Er brauchte diesen Turm. Jetzt. Kurzentschlossen sprang er auf und schmiss das Headset zur Seite.

„Ich gehe selber.“

„Was?“ Schuldig schüttelte den Kopf. „Kommt gar nicht in Frage. Die fressen dich bei lebendigem Leib. Und das meine ich wörtlich.“

„Ich begleite ihn.“ Farfarello hatte sich erhoben und musterte die Reflexion der Deckenbeleuchtung auf der Klinge seines Jagdmessers. „Ich wollte mir das Spiel ohnehin lieber aus der Nähe ansehen.“

Schuldig sah zwischen ihnen hin und her. Er schien zu überlegen.

„Also schön“, meinte er schließlich. „Aber wenn Nagi was passiert, sorge ich dafür, dass du in ein Kloster eintrittst und dort für den Rest deines Lebens Rosenkränze polierst. Freiwillig.“

Farfarello grinste. „Ich bin mir sicher, Er würde davon nicht begeistert sein.“

Nagi beschloss, die beiden zu ignorieren, und öffnete die Tür zum Nebenraum. Dort saß Takatori mit einigen Geschäftspartnern zusammen und verpestete wie üblich die Luft mit seiner schrecklichen Zigarre. In seiner Hand lag ein schwerer Whiskeyschwenker. Als er Nagi kommen sah, hob er ihn wie ein Szepter.

„Bekommen wir nun endlich ein Bild?“ Im Hintergrund erklang ein gurgelnder Todesschrei.

„Ich kümmere mich persönlich darum, Takatori-sama“, antwortete Nagi mit einer viel zu knappen Verbeugung und eilte weiter nach draußen. Für solcherlei Höflichkeiten hatte er jetzt keine Zeit.

 

Vor dem Gebäude empfingen Nagi Sturzbäche aus Wasser, die unbeeindruckt von seinem gerechten Zorn weiter vom Himmel rauschten. Er griff nach einem Werkzeugkoffer und sah sich nach Farfarello um. Der Ire kam gemächlich hinter ihm her geschlendert.

„Zu faul zum Laufen“, knurrte Nagi, duckte sich und sprang hinaus in den Regen. Er kam etwa zehn Meter weit, bevor er vollkommen durchnässt war. Der sintflutartige Niederschlag machte das Atmen schwer und behinderte die Sicht. Es war, als würde man durch eine überdimensionale Dusche laufen. Auf dem Boden und in seinen Schuhen staute sich das Wasser. Sie schwappten bei jedem Schritt und gaben ihm das unangenehme Gefühl, durch einen klebrigen Sumpf zu laufen.

Er versuchte, sich an den Gebäuden zu orientieren, aber was auf der Karte auf seinem Computer noch so einfach ausgesehen hatte, wurde hier unten zu einer völlig neuen Herausforderung. Das Gebiet war das reinste Labyrinth. An einer Ecke blieb er unentschlossen stehen.

„Wir müssen hier lang.“ Farfarello ging an ihm vorbei in die linke Gasse.

„Woher weißt du das?“

Der Ire, der schon fast wieder vom Regen verschluckt worden war, drehte sich um und sein eines Auge glühte im Dunkeln. „Das nennt sich Instinkt.“

Ärgerlich fasste Nagi die Tasche fester und folgte Farfarello in die angegebene Richtung. Es dauerte nicht lange, bis in der Ferne endlich der Sendeturm auftauchte. Er stand auf dem Dach eines Gebäudes und war nur durch eine schmale Feuerleiter zu erreichen, die an der Außenseite emporführte. Unter dem Einstieg der Leiter lag ein unförmiges Etwas. Und über dem Etwas …

„Scheiße!“, rutschte es Nagi heraus und der Hund, der sich gerade noch an Akagawas Überresten gütlich getan hatte, hob knurrend den Kopf. Von seinem Kiefer tropfte das Blut.

 

„Ah, ich wusste doch, das noch mehr kommen würden. Gut.“ Ein Schatten sprang von einem der nahen Dächer herunter. Nagi erkannte den Führer der Hunde wieder. Er atmete auf.

„Wir sind hier, um den Sendeturm zu reparieren. Also pfeif die Köter zurück.“

Der Mann mit der Maske reagierte nicht. Nagi sah den zweiten Hund hinter ihm auftauchen. Der Rückenkamm des Tiers war drohend aufgerichtet und seine langen Krallen klickten auf dem Untergrund. Zumindest bildete sich Nagi ein, das Geräusch im Rauschen des Regens zu hören.

„Takatori schickt uns. Du wirst mächtig Ärger bekommen.“

„Ach, werde ich das?“ Nagi konnte das Grinsen unter der Maske hören. „Aber ich halte mich doch nur an die Regeln. Hier unten ist das Spielfeld und wer sich auf dem Spielfeld befindet, ist ein Spieler. Und für jeden Spieler, den ich erwische, bekomme ich Geld. So einfach ist das.“

„Wir sind aber keine ...“ Nagi kam nicht weiter, denn Farfarello war zwischen ihn und den Jäger getreten. Er hatte die Faust um den Griff seines Messers geschlossen und den Kopf leicht schiefgelegt.

„Er hat gesagt, du sollst die Hunde zurückrufen.“

Der Hundeführer trat einen Schritt vor. „Und wenn ich es nicht tue?“ Hinter ihm schlich ein vierfüßiger Schatten immer näher.

„Dann töte ich dich.“

Der Jäger lachte auf. „Dann werden sie dich zerreißen. Ich bin der Einzige, der sie unter Kontrolle hat. Hier drin ...“, er tippte gegen seinen Kopf, „ist ein Implantat, auf das die Viecher reagieren. Wer das nicht hat, hat schlechte Karten.“

Farfarello schien über die Bedeutung der Worte nachzudenken. „Tja, wenn das so ist.“

Mit einer fast nachlässig aussehenden Bewegung schleuderte er das Messer. Es blieb in der Stirn der Maske stecken und spaltete sie in zwei Hälften. Mit einem Röcheln brach der Jäger in die Knie. Die beiden Hunde jaulten gequält auf. Nagi auch.

„Bist du verrückt?“, quietschte er und verwünschte seine Stimme und den bekloppten Irren, der mit ihm hier rausgekommen war, gleich mit. „Er hat doch gesagt, dass nur er die Hunde kontrollieren kann.“

Farfarello sah über die Schulter zu ihm zurück. „Er hat gesagt, der Chip kontrolliert die Hunde. Der Chip ist in seinem Kopf. Es war die einfachste Möglichkeit, heranzukommen.“

Nagi starrte Farfarello fassungslos an. Das konnte er nicht ernst meinen. „So funktioniert das nicht, du schwachsinniger … Katholik!“

Es war das Schlimmste, was ihm eingefallen war. Immerhin hatte er schon gehört, wie Schuldig Farfarello so bezeichnet hatte und der daraufhin durchgedreht war. Farfarellos Mund verzog sich zu einem schmalen Lächeln.

„Du musst noch viel lernen.“

„Und du musst diese Viecher aufhalten!“

Hinter Farfarello waren die beiden Hunde inzwischen so nahe gekommen, dass Nagi die schrecklichen Einzelheiten erkennen konnte. Das Fell der riesigen Tiere erschien räudig und an einigen Stellen sah er stattdessen Schuppen auf der Haut schimmern. Die rasselnden Rückenstacheln waren hoch aufgerichtet und die Pranken mit den langen Krallen scharrten den Untergrund auf. Am schlimmsten jedoch war das Gesicht. Was einst edel erscheinende Rassetiere gewesen sein mochten, wirkte jetzt wie einem Alptraum entstiegen. Die Kiefer waren vollkommen deformiert von der schieren Anzahl an messerscharfen Reißzähnen, die widernatürlich hineingepresst worden waren. Nagi hatte nicht viel Ahnung von Tieren, aber das hier sah ihm nicht sehr praktisch aus. Es war nicht möglich, die Schnauze zu schließen, sodass beständig Geifer heraustropfte. Infolge dessen waren die Lefzen entzündet und voller Geschwüre. Das Zahnfleisch eiterte und die Nase des einen Hundes war von einer schwärenden Wunde halb zerfressen worden. Sie mussten große Schmerzen haben.

'Was dann auch ihre Laune erklären würde', dachte Nagi bei sich und wunderte sich über sich selbst. Er hatte immer gedacht, seine letzten Gedanken auf dieser Welt würden irgendwas mit Computern oder der Weltherrschaft zu tun haben und nicht mit wild gewordenen Haustieren.

„Sie wollen dich.“ Farfarellos Worte waren nicht eben angetan, ihn zu beruhigen.

„Warum mich?“

„Raubtiere, die jagen, suchen sich immer das schwächste Opfer aus.“

Nagi wollte etwas darauf antworten, aber er kam nicht mehr dazu. Einer der Hunde schnellte vor und wollte an Farfarello vorbei auf ihn zuspringen. Ein schwerer Stiefel traf das Tier in die Seite und schleuderte es gegen eine Wand. Es jaulte auf, kam aber sofort wieder auf die Füße. Es schüttelte sich und ein tiefes Grollen entstieg seiner Brust.

Ungläubig sah Nagi zu, wie sich der Schwanz des Tiers veränderte. Er wurde länger und spitzer, bog sich nach oben und …

„Ein Stachel!“, keuchte Nagi. „Der hat einen Stachel. Vorsicht!“

Ohne zu zögern setzte das Tier seine neu gewonnene Waffe ein. Die Spitze seines Schwanzes raste auf Farfarello zu, der im letzten Moment zurücksprang, bevor er durchbohrt wurde. Der Hund setzte ihm nach, schnappte mit dem zähnestarrenden Kiefer nach ihm und drängte ihn so weiter zurück. Das Messer, dass der Ire plötzlich in Händen hielt, erschien Nagi lächerlich klein.

Der zweite Hund griff nun ebenfalls in das Geschehen ein. Er näherte sich Farfarello von der anderen Seite, umrundete ihn mit aufgestellten Rückenstacheln und …

Nagi erkannte den Fehler in dem Moment, in dem sich der erste Hund wieder zu ihm herumdrehte. Die Tiere hatten sich zielsicher zwischen ihn und Farfarello gesetzt. Während einer von ihnen den einäugigen Mann im Schach hielt, kam der andere langsam wieder auf Nagi zu. Er war ihm schutzlos ausgeliefert.

'Nein, ich will nicht sterben. Ich will nicht. Schuldig, Crawford, irgendwer! Ich will noch nicht sterben.'

Er merkte, wie seine Atmung schneller wurde und sein Herz wie wild klopfte. Er schwitzte. Begann zu hyperventilieren. Sein Kopf fühlte sich plötzlich ganz leicht an. Er konnte nicht mehr denken. Die raue Wand drückte sich in seinen Rücken. Irgendwo mussten doch hier Waffen sein. Er hatte doch... Die Behälter! Aber er konnte sie von hier aus nicht öffnen. Eine Sicherheitsmaßnahme, damit die Kandidaten sich nicht selbst bedienten. Er musste … irgendwie... Der Hund vor ihm duckte sich zum Sprung.

 

„Nagi? Nagi-kun?“ Eine helle Stimme durchbrach den Regen und die Watte in seinem Kopf. Er kannte diese Stimme.

„Nagi-kun, bist du hier?“ Schritte näherten sich auf dem Asphalt. Schritte von Absatzschuhen.

Der Kopf des Hundes vor ihm ruckte herum. Er stellte die Ohren auf. Seine roten Augen fixierten das neue Ziel, das am Rande des Hinterhofs aufgetaucht war. Es war ein Mädchen in einem blauen Kleid.

Nagi wollte schreien. Wollte ihr zurufen, dass sie verschwinden sollte, aber die Angst hatte seine Stimmbänder gelähmt. Er brachte nicht mehr als ein heiseres Krächzen zustande. Hilflos musste er zusehen, wie der Hund von ihm abließ und stattdessen auf Nanami zupirschte. Sie drehte sich zu ihm herum und lächelte.

„Ach da bist du. Dieser unhöfliche Mann mit den orangen Haaren hat gesagt, ich solle nicht herkommen, aber ich wollte dir helfen. Du warst so nett zu mir.“

„Lauf!“, flüsterte Nagi, immer noch nicht wieder Herr seiner Stimme. „Lauf weg. Bring dich in Sicherheit.“

Sie hörte ihn nicht. Der Hund kam näher. Im strömenden Regen bewegte er sich auf das Mädchen zu, dessen Kleid und Haare ebenfalls vom Wasser völlig durchweicht waren. Sie sah dem Tier entgegen und blinzelte überrascht.

„Oh, wer bist du denn? Ist das dein Hund, Nagi-kun?“

Es war wie ein Unfall. Er wollte den Blick abwenden, aber seine Augen klebten an dem Raubtier, dass sich immer weiter an Nanami heranschob. Sie lächelte und ging in die Hocke. Ihre Züge waren vollkommen entspannt, zeigten keinerlei Furcht.

'Natürlich. Der Transmitter. Das Gerät an ihrem Kopf blockiert ihre Ängste. Sie weiß nicht, in was für einer Gefahr sie schwebt.'

Der Hund war jetzt in Sprungreichweite, zögerte aber immer noch, das eigenartige Mädchen anzugreifen. Seine kaputte Nase schnüffelte in ihre Richtung.

„Oh, der ist aber niedlich. Na komm her, du Kleiner.“

Sie streckte die Hand aus. Der Hund zuckte zurück, seine Lefzen hoben sich, die Rückenstacheln stellten sich auf und rasselten drohend. Nanami zeigte keinerlei Reaktion.

„Na los, komm her“, lockte sie weiter. Sie lächelte. Nagi schloss endlich die Augen. Er konnte es nicht mitansehen.

„Ja, siehst du, so ist es fein. Na, du bist ja ein Lieber. Oh, nicht so wild. Du schubst mich ja um.“

Nagi riss die Augen wieder auf. Was er sah, ließ ihn für einen Moment vergessen, wie man atmet. Der Höllenhund schmiegte seine monströse Schnauze an Nanamis Hand und ließ sich von ihr hinter den zerfetzten Ohren kraulen. Sie lachte glockenhell, als er versuchte, sich auf den Rücken zu legen, aber immer wieder umfiel, weil die Stacheln es verhinderten. Er gab gurrende Laute von sich, wälzte sich herum. Seine Pranken schlugen spielerisch durch die Luft. Eine der Krallen erwischte den Kopfschmuck, blieb daran hängen und zog ihn ihr vom Kopf.

 

In diesem Moment begann Nanami zu schreien.

 

 


Nachwort zu diesem Kapitel:
Soundtrack:
„Ex's & Oh's“ - Elle King
„Hanging Tree“ - Jennifer Lawrence
„Blah Blah Blah“ - Armin van Buuren

Uff, was für ein Monster-Kapitel. Aber ich wollte euch nicht weiter auf die Folter spannen. Die Inspiration für die letzte Szene stammt aus „Riddick“, die mir Pseudoböse netterweise an den Kopf geworfen hat. Ich hoffe, die Umsetzung gefällt. ^_~

Bis zum nächsten Kapitel könnte es jetzt etwas dauern. Ich muss hier mal ein bisschen Real Life absolvieren. Also stay tuned! Komplett anzeigen

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