Lügner! von Maginisha ================================================================================ Kapitel 22: Der letzte Vorhang ------------------------------ Wenn Yoji jemand gefragt hätte, hätte er es natürlich nie zugegeben, aber dieses Gerenne durch die engen Gassen und Winkel strengte wirklich ganz schön an. Nicht, dass er nicht mithalten konnte, aber er begann sich zu fragen, warum sie nicht einfach am anderen Ende des Geländes eingestiegen waren. Er erinnerte sich dunkel an Omis Schilderungen von Wachen und Überwachungskameras und ähnlichem elektronischem Schnickschnack und dass sie am besten von hinten an das Gebäude heran kamen, aber im Moment hätte er einen Kampf diesem lächerlichen Herumgehetze wirklich vorgezogen. Ein Schrei erschütterte die Nacht. 'Oh, ich und meine große Klappe', dachte er bei sich und kam neben Ken zum Stehen. „Was war das?“ Suchend sahen sie sich um und hörten erneut einen Schrei, gefolgt von einem eigenartigen, fauchenden Geräusch. Der Schrei wurde lauter und höher und brach dann plötzlich ab. Die nachfolgende Stille konnte eigentlich nur eines bedeuten. „Das muss einer der Jäger sein“, wisperte Ken und deutete in die Richtung, aus der die Geräusche gekommen waren. „Dort entlang, ungefähr 400 Meter.“ Er wollte schon loslaufen, als Yoji ihn an der Schulter festhielt. „Wir sind hier nicht auf einer Rettungsmission. Unser Ziel ist das Hauptgebäude.“ Ken sah ihn verständnislos an. Sein Blick irrte kurz in die Richtung des Jägers und wieder zurück zu Yoji. „Was soll das heißen? Willst du ihn etwa laufen lassen?“ „Er ist nicht unser ausgewiesenes Ziel.“ Ken machte sich los und schüttelte störrisch den Kopf. „Da mache ich nicht mit. Dieser Abschaum killt unschuldige Menschen, Yoji. Und ich werde ihn zur Strecke bringen mit oder ohne deine Hilfe.“ Mit geballten Fäusten und entschlossener Miene wandte er sich zum Gehen. Yoji seufzte innerlich. Es konnte ja nicht schaden, wenn sie sich das Ganze mal ansahen. In leichtem Laufschritt folgte er Ken. Sie drückten sich an eine Ziegelwand und horchten auf die Geräusche, die um die Ecke drangen. Da war das Scharren von Schritten und wieder das fauchende Geräusch. Yoji hatte das Gefühl, dass er es kannte, aber ihm fiel nicht ein, was es war. Er zog die Nase kraus, als er eines eigenartigen Geruchs gewahr wurde. Es war eine zum Würgen reizende Mischung von verbranntem Haar und Fleisch. Darüber lag eine beißende Note von verschüttetem Treibstoff. Die Erkenntnis, woher der Gestank kam, traf ihn mit der Wucht eines Hammerschlags. „Ken, Vorsicht!“ Er zog seinen Kollegen, der gerade um die Ecke spähen wollte, zurück in die Deckung. Nur eine Sekunde später jagte ein Feuerstoß an ihnen vorbei und hinterließ glühende Ränder an der Hauswand. „Was...?“ Ken krabbelte rückwärts und rappelte sich hektisch auf. An der gegenüberliegenden Wand erschien der Schatten eines buckligen Mannes. Aber Yoji ließ sich davon nicht täuschen. Er wusste jetzt, mit was sie es zu tun hatten. „Flammenwerfer“, presste er zwischen den Zähnen hervor, bevor er sich bereits vor der nächsten Feuergarbe in Sicherheit bringen musste. Ihr Gegner hatte sie entdeckt und ließ ein böses Lachen hören. „Ah, gleich zwei Opfer auf einmal. Wie schön. Es ist lästig, euch räudige Ratten alle einzeln auszuräuchern.“ Ken ließ die Krallen seiner Bugnuks aufschnappen. „Dem zeige ich, wer hier die Ratte ist.“ Mit einem Schrei warf er sich nach vorn. „Ken, nein!“ Yoji handelte instinktiv. Er griff nach seiner Uhr und ließ den silbernen Draht durch die Luft fliegen. Er wickelte sich um die Düse des Flammenwerfers und zog die Waffe gerade noch rechtzeitig in die Höhe, um Kens Ableben zu verhindern. Die Flammensäule, die ihn hatte treffen sollen, schoss stattdessen schräg in die Luft. Im nächsten Moment versenkte Ken seine Krallen in der Brust des Jägers. Es gab ein reißendes Geräusch, als er die Kleidung und die Haltegurte des Flammenwerfers durchtrennte. Der Kanister rutschte zu Boden. Es klirrte und zischte. Der Geruch nach auslaufendem Treibstoff wurde stärker. „In Deckung!“ Ohne abzuwarten, ob Ken ihm folgte, fuhr Yoji herum und sprintete los. Das Zischen wurde lauter, er erreichte die nächste Hausecke, duckte sich dahinter … und die Welt explodierte. Für einen Moment füllten Flammen die gesamte Gasse. Yoji schloss geblendet die Augen und wandte das Gesicht ab. Er spürte die Gluthitze an seiner Haut lecken und fühlte förmlich, wie sich seine sorgfältig gepflegten Haare kräuselten und zu verschmorten Klumpen zusammenzogen. Einen Augenblick später war es vorbei. Schwer atmend lehnte sich Yoji rückwärts gegen die Hauswand. Er konnte es nicht glauben, dass sie so blind in die Falle gelaufen waren. Und Ken! Was war mit Ken? Er hätte beinahe aufgeschrien, als eine Gestalt um die Ecke trat. „Yoji, alles okay?“ Er sah auf und blickte in Kens besorgtes Gesicht. Der rauchte an einigen Stellen und das Hemd um seine Hüfte hatte ein Brandloch. Ansonsten schien er unverletzt. „Wie hast du …?“ „Torwartreflexe und Müllcontainer.“ Ken grinste schief. „Nicht gerade meine erste Wahl, aber bevor ich mich einäschern lasse.“ Yoji erwiderte sein Lächeln, fasste nach Kens ausgestreckter Hand und ließ sich hochhelfen. „Ich schwöre, du bist irgendwann nochmal mein Tod.“ Er suchte in seinen Taschen nach Zigaretten. Als er eine davon zwischen die Lippen steckte, runzelte Ken die Stirn. „Du willst dir jetzt eine anzünden?“ Er wies vielsagend auf die qualmende Leiche, die mitten in der Gasse lag, wo gerade noch der Jäger gestanden hatte. „Na er wird mir wohl kaum noch Feuer geben“, witzelte Yoji und ließ sein Feuerzeug aufschnappen. „Außerdem könnte es meine letzte sein. Also hör auf, dich wie eine nörgelnde Ehefrau zu benehmen, und lass uns weitergehen.“ Ken verzog das Gesicht, setzte sich aber gehorsam in Bewegung. Gemeinsam machten sie sich auf den Weg zu dem hell erleuchteten Gebäude am Ende des Straße. Aya sah auf, als ein ganzes Stück von ihnen entfernt eine Flammensäule in die Höhe schoss. Es war in etwa die Richtung, in die Yoji und Ken gegangen waren. Omi sah ihn besorgt an. „Meinst du, es geht ihnen gut?“ „Wenn nicht, können wir es auch nicht ändern. Beeilen wir uns lieber, damit wir zu ihnen stoßen können.“ Der Plan, sich in dem Labyrinth zu trennen, erschien ihm immer weniger geeignet, ihr Ziel zu erreichen. Andererseits wussten sie nicht, was auf dem Gelände vielleicht noch für unliebsame Überraschungen versteckt waren. Wenn sie alle vier gemeinsam scheiterten, wäre niemandem geholfen. Sie eilten weiter durch die Gassen. Das Geräusch ihrer Schritte hallte zwischen den Wänden wieder. Mit jedem Meter, den sie zurücklegten, wurde Aya nervöser. Das hier lief zu glatt. Sie drangen weiter und weiter auf feindliches Gebiet vor, ohne auch nur einem der Spieler oder gar einem Jäger zu begegnen. Das war nicht normal. An einer Kreuzung blieb er stehen. Omi, der sein Zurückbleiben nicht bemerkt hatte, lief weiter die Straße entlang. Aya sah sich um. Der Nachthimmel über ihnen war inzwischen so dunkel, dass es schwierig wurde, seine Umgebung zu erkennen. Von überall schienen ihn die Schatten anzustarren, die zwischen den Häusern und in den Ecken lauerten. Darin konnte sich nichts oder eine ganze Horde Gegner verbergen. Das gefiel ihm nicht. Ein Geräusch ließ ihn herumfahren. Es klang wie das Klirren, wenn Metall auf Metall traf. Augenblicklich zog Aya seine Waffe. Er trat in die nächste Seitenstraße und blickte sich misstrauisch um. Das Geräusch wiederholte sich, aber es kam nicht aus der Gasse. Es kam von oben. Aya überlegte nicht lange. Er griff nach der Feuerleiter, die neben ihm die Wand hinaufführte, und begann, die rostigen Stufen zu erklimmen. Irgendjemand war dort oben und er würde herausfinden, wer das war. Er schwang sich über die Mauerkante und ging sofort in Verteidigungshaltung. Erst dann sah er sich auf dem flachen Areal um. Es war hier oben geringfügig heller als in den Schatten zwischen den Gebäuden und so konnte er ohne Probleme den Körper erkennen, der in der Mitte des Daches lag. Die zusammengesunkene Gestalt regte sich nicht. Mit gezückter Waffe näherte sich Aya dem Mann. Immer noch regte er sich nicht und ein Verdacht drängte sich Aya auf. Ein Verdacht, den er bestätigt sah, als er den Fremden mit dem Fuß herumdrehte. Der Mann war tot. Jemand hatte ihm die Kehle durchgeschnitten. Seine toten Augen, die immer noch einen Ausdruck von Entsetzen innehatten, starrten in den dunklen Nachthimmel und Aya fühlte das Fragezeichen in seinem Kopf immer größer werden. Wer mochte die Leiche hier oben platziert haben? Er hob den Kopf und sah plötzlich auf dem Dach auf der anderen Straßenseite einen weiteren Körper liegen. Auch wenn er es in der Dunkelheit nicht wirklich erkennen konnte, war sich Aya sicher, dass auch dieser Mann hier oben gestorben war. Oder hatte jemand die Leichen hierher geschafft, um sie zu verstecken? Aber wer würde so etwas machen? Und warum? 'Damit wir sie nicht finden', schoss es ihm durch den Kopf. Wer auch immer diese Männer umgebracht hatte, hatte sie versteckt, damit sie nicht gewarnt wurden. Das hier war eine Falle! Aya wirbelte herum und wollte zum Rand des Daches stürmen, als er in der Bewegung gefror. Die Dachkante war nicht mehr leer. Im trüben Zwielicht konnte er nur wenige Details seines Gegenübers erkennen. Eines davon war eine weiße Maske mit kleinen Hörnern, das andere ein großes Jagdmesser, von dessen Klinge Blut tropfte. Er hatte den Jäger gefunden. Ganz automatisch hob er das Katana und hielt es kampfbereit vor sich. Seine Muskeln spannten sich und seine Augen wurden schmal. Instinktiv versuchte er, Lücken in der Verteidigung seines Gegners zu erkennen, seinen ersten Schritt vorauszuahnen. Der Maskierte sah ihn an, musterte Ayas Schwert und ließ den Blick anschließend zu seinem eigenen Messer gleiten. Er schien einen Augenblick zu überlegen, dann ließ er es achtlos fallen. Seine Hand wanderte zu seinem Gürtel. Aya duckte sich in der Erwartung einer Schusswaffe, aber der Fremde zog etwas hervor, das Aya zunächst für einen nadelartigen Dolch mit einem überlangen Griff und einer eigenartigen, halbmondförmigen Parierstange hielt. Im nächsten Moment ließ der Mann die Klinge ausfahren und hielt plötzlich ein dünnes Schwert in der Hand. Aya konnte einen Laut der Überraschung nicht ganz unterdrücken. Der Fremde sprang vom Rand des Daches, kam zwei Schritte auf ihn zu und hob dann das Rapier waagerecht vor den Körper. Ayas Gedanken rasten. Diese Kampfhaltung war so ungewöhnlich, dass er nicht wusste, was er von dem anderen zu erwarten hatte. Würde er zuerst attackieren oder Ayas Ausfall abwarten? Was sollte er tun? „Ich will nicht mit dir kämpfen“, sagte er, ohne große Hoffnung zu haben, dass dieser Einwand Erfolg haben würde. Er verlagerte sein Gewicht und ging leicht in die Knie. Die Spitze des Katanas war auf den Mann mit der Maske gerichtet. Der antwortete nicht. Stattdessen legte er den Kopf in den Nacken, als würde er etwas hören, dann richtete sich sein Blick wieder auf Aya. Irgendetwas an seinem Ausdruck hatte sich verändert. Aya war sich dessen sicher, obwohl er die Gesichtszüge des anderen nicht erkennen konnte. Da war etwas Animalisches, Wildes, das ihm einen Schauer über den Rücken jagte. Es kribbelte in seinem Nacken. Urplötzlich ging der Fremde zum Angriff über. Die Klinge seines Rapiers krachte gegen Ayas Katana, das dieser im letzten Moment zur Seite gerissen hatte, um den Schlag abzublocken. Die Wucht des Angriffs ließ die breitere Klinge in seinen Händen vibrieren und eine dumpfe Betäubung kroch seinen Arm hinauf. Das war eigentlich unmöglich. Der Fremde hatte eine Stich- und keine Hiebwaffe. Trotzdem fuhr er fort, damit auf Aya einzudreschen, als wolle er ihn in den Boden rammen. Aya hatte alle Hände voll zu tun, den heftigen Schlägen auszuweichen. Er hörte das Metall der Waffe unter dieser Behandlung protestierend kreischen und hatte plötzlich die absurde Hoffnung, dass dieses vielleicht einfach irgendwann brechen würde. In diesem Moment drehte der Fremde plötzlich das Handgelenk und stieß durch Ayas vernachlässigte Deckung. Die spitze Klinge bohrte sich in seine Schulter und Aya stieß einen Schmerzensschrei aus. Er hieb in blinder Wut über seine eigene Dummheit nach dem anderen Streiter. Seine Waffe durchschnitt die leere Luft, da dieser sich bereits mit einem gewaltigen und vollkommen unmöglich erscheinenden Rückwärtssprung in Sicherheit gebracht hatte. Die dünne Metallspitze in seinen Händen glitzerte rot. Ayas Hand glitt zu seiner Schulter. Die Verletzung war aufgrund des geringen Durchmessers der eingedrungenen Schneide nicht besonders groß, aber sie schränkte die Beweglichkeit seines Arms ein und machte das beidhändige Fassen des Katanas schwerer. Er biss die Zähne zusammen und nahm wieder Aufstellung. Der Fremde betrachtete ihn und trotz der Maske war Aya sich sicher, ein spöttisches Lächeln auf den ausdruckslosen Zügen erkennen zu können. Das Gefühl, dass hier irgendetwas vorging, verstärkte sich mit jeder verstreichenden Sekunde. Er hatte nur überhaupt keine Idee, was das sein sollte. Somit blieb ihm nichts anderes übrig, als sich auf den Kampf mit dem Maskierten zu konzentrieren, der bereits wieder die Waffe hob und sich für den nächsten Angriff bereit machte. Omi blieb stehen und sah zurück. Die Straße hinter ihm war leer. „Aya-kun?“ Seine Stimme verlor sich zwischen den rauen Backsteinwänden. „Abyssinian?“ Er lauschte noch einen Augenblick, dann machte er kehrt und ging langsam den Weg zurück, den er gerade gekommen war. Seine Augen scannten die Gegend nach Hinweisen. War Aya angegriffen worden? Hatte er etwas gehört? Gesehen? Warum hatte er ihm nicht Bescheid gesagt? Ein unterdrückter Laut ließ ihn herumfahren. Er kam aus einem der Gebäude. Hatte sich hinter einem der Fenster nicht gerade etwas bewegt? Omi griff nach einem Dart mit Betäubungsmittel und schlich näher heran. Er drückte sich an die Wand und spähte um die Ecke. Dort öffnete sich in der Dunkelheit ein noch finstereres Loch aus vollkommener Schwärze. Eine Tür, aber es war unmöglich zu erkennen, was dahinter lag. 'Es könnte eine Falle sein“, dachte er bei sich. Eigentlich hatte er schon die ganze Zeit darauf gewartet, dass sie in einen Hinterhalt liefen. In diesem Moment verfluchte er seine Entscheidung, den anderen nichts davon gesagt zu haben. Vielleicht war er doch kein so guter Anführer. So oder so konnte er das, was er gesehen hatte, aber nicht einfach ignorieren. Wenn jemand dort drinnen war, musste er ihn stellen. Andernfalls würde er riskieren, dass derjenige ihm in den Rücken fiel. Vielleicht war es ja auch nur einer der Spieler, der sich dort versteckt hatte. 'Ja, genauso wird es sein. Wenn es ein Gegner wäre, hätte der mich sicherlich auf der Straße angegriffen und sich nicht hier drinnen verkrochen. Ich werde ihm sagen, dass er nichts von mir zu befürchten hat.' Mit diesem Vorsatz schob sich Omi langsam auf die dunkle Türöffnung zu. Immer noch konnte er im Inneren nicht das Geringste erkennen. Seine Hand legte sich an die Türöffnung. „Hallo?“, rief er leise. Er schmeckte den Staub und das feuchte Aroma der Steine in der Luft. Seit die Sonne untergegangen war, war es merklich kälter geworden und Omi begann zu frösteln. Bedächtig setzte er einen Fuß in die Tür. „Ich komme jetzt rein. Sie brauchen keine Angst zu haben, ich will Ihnen nichts tun?“ Er hörte eine Bewegung in der Dunkelheit und dann ein kurzes Lachen. „Das trifft sich gut“, sagte eine Stimme irgendwo links von ihm. „Allerdings beruht das nicht auf Gegenseitigkeit.“ Jemand griff blitzschnell nach seinem Arm und zog ihn nach vorne, Er stolperte, versuchte die Bewegung abzufangen, seinen unsichtbaren Gegner mit dem Dart zu treffen, aber der war schneller. Seine zweite Hand wurde ebenfalls abgefangen, er wurde herum gewirbelt und gegen einen festen Körper gepresst. Er wand sich, trat nach hinten aus, doch sein Fuß kollidierte nur schmerzhaft mit einer Wand. Der Dart wurde seinen Fingern entwunden und im nächsten Augenblick fühlte er, wie sich die Nadel in seinen Hals bohrte. Er schrie und merkte, wie das Mittel augenblicklich zu wirken begann. Seine Bewegungen wurden kraftlos, sein Bewusstsein schwand. Etwas Weiches strich über sein Gesicht, bevor die Welt um ihn herum finster wurde. „Dort, das muss es sein.“ Ken deutete nach vorne auf ein hohes Gebäude, das größer war als die umliegenden Häuser. In der oberen Etage brannte Licht und auf dem hell erleuchteten Hof davor patrouillierten Wachen mit gezückten Gewehren. Es war unmöglich, dort ungesehen hineinzukommen. „Was machen wir jetzt?“ Yoji überlegte. Wenn sie sich nicht durch ein Heer von Wachposten kämpfen wollten, gab es eigentlich nur eine Möglichkeit. „Die da“, bestimmte er und zeigte auf zwei Wachen. Sie standen ein wenig abseits von den anderen und waren in ein Gespräch vertieft. „Du schleichst dich von rechts heran, ich von links. Und denk dran, keine Krallen. Wir brauchen ihre Uniformen.“ Ken verdrehte die Augen. „Ich bin ja kein Anfänger. Also los, Go, go!“ Minuten später lehnten die beiden Wachposten gefesselt und halbnackt an der Wand eines nahegelegenen Gebäudes und Yoji versuchte, seine langen Beine in die Hose des größeren der beiden zu bringen. Zweifelnd sah er an sich herab. Das Kleidungsstück endete mehrere Zentimeter über seinen Knöcheln. „Na hoffentlich merkt das keiner.“ „Ach Quatsch, die haben besseres zu tun“, meinte Ken und zog sich die Mütze seines Postens tief ins Gesicht. „Hauptsache, wir fallen lange genug nicht auf, um ins Gebäude zu kommen. Wenn wir erst mal drinnen sind, wird sich der Rest finden.“ Yoji nickte, obwohl ihm die Sache immer weniger gefiel und das hatte nicht nur etwas mit der unpassenden Garderobe zu tun. Dort nur zu zweit einzusteigen, war ein ziemlich gewagtes Unterfangen. Sie konnten nicht wissen, was sie im Inneren erwartete. Im einfachsten Fall standen sie nach wenigen Metern vor einer verschlossenen Tür, die sie ohne passenden Sicherheitscode nicht öffnen konnten. Im schlimmsten Fall … Mit einem Seufzen setzte er sich ebenfalls seine Mütze auf und schob die Sonnenbrille auf der Nase nach oben. Sie hatten keine Wahl. Zu groß war das Risiko, dass jemand die bewusstlosen Wachen entdeckte oder sie anderweitig aufflogen. Dieses Mal mussten sie es ohne Omi und Aya schaffen. „Na schön. Gehen wir.“ Die gezackte Klinge bohrte sich in den Brustkorb und schlitzte diesen von unten nach oben auf. Mit einem gurgelnden Schrei ging das Opfer zu Boden. Der Jäger mit der Lanze zog seine Waffe wieder heraus und schulterte sie. „Das macht jetzt acht“, verkündete er und grinste hinter seiner Maske. Die Zuschauer im Beobachtungsraum reagierten höchst unterschiedlich auf die Szene, die sich auf den Bildschirmen abspielte. Während einige in Jubel ausbrachen, fingen andere an zu lamentieren und mit säuerlichem Gesicht die Geldscheine zu zücken, die sie durch die Führung des Lanzenträgers verloren hatten. Hirofumi überwachte das Ganze mit zufriedenem Gesicht. Sein Blick richtete sich auf seinen Vater, der mit rauchender Zigarre in seinem Sessel zurückgelehnt saß und den Erfolg des Projekts genoss. Ein knappes Nicken war alles, was der Sohn vom Vater als Anerkennung bekam, und doch ließ ihn selbst dieses innerlich aufjubeln. Es lief tatsächlich alles nach Plan. Jetzt musste nur noch … Er unterbrach seine Gedanken, als sich die Tür öffnete und eine wohlbekannte Gestalt hereinkam. „Crawford?“ Der Amerikaner deutete eine Verbeugung an, bevor er zu Reiji Takatori trat und ihm etwas ins Ohr flüsterte. Das Gesicht des Patriarchen verzog sich und er paffte zweimal an seiner Zigarre, bevor er sein Glas entschieden leerte und Anstalten machte, sich zu erheben. Hirofumi trat hinzu. „Gibt es ein Problem, Vater?“ „Eine andere, geschäftliche Verpflichtung. Ich würde gerne noch bleiben, aber ich denke, ihr werdet den Abend auch ohne mich zu Ende bringen können. Wir sehen uns morgen in meinem Büro.“ Hirofumi verbeugte sich pflichtschuldig. „Natürlich Vater. Wie du wünschst.“ Ihm entging der Blick, den Crawford ihm zuwarf. Die leichte Belustigung, als wisse er etwas, das Hirofumi verborgen blieb. Mit einem geschäftsmäßigen Lächeln wandte Crawford sich an Takatori. „Wenn Sie mich entschuldigen wollen? Ich habe hier noch einiges zu erledigen. Der Fahrer erwartet Sie jedoch bereits vor dem Gebäude. Er wird Sie unbeschadet nach Hause bringen.“ Reiji Takatori nahm die Zigarre aus dem Mund und winkte damit grob in Richtung der anderen Anwesenden. „Und sie?“ Crawford neigte leicht den Kopf. „Ich habe Vorkehrungen getroffen, dass sich der Verlust für Sie in Grenzen halten wird. Oder wünschen Sie, dass einer der Herren sie begleitet? Ich gebe jedoch zu bedenken, dass es verdächtig wirken könnte.“ Für einen Augenblick sahen sich die beiden Männer in die Augen, dann begann Takatori zu lachen. „Ah, Crawford, ich muss sagen, dass ich Sie ein kleines bisschen vermisst habe. Dieser rothaarige Teufel ist einfach kein vollwertiger Ersatz.“ „Ich bin froh, Sie zufriedenstellen zu können. Allerdings würde ich jetzt zum Aufbruch raten. Das Zeitfenster beginnt sich zu schließen.“ Takatori nickte und begab sich nach draußen. Crawford sah ihm nach, bis sich die Tür hinter seinem breiten Rücken geschlossen hatte, bevor sein Blick zu der zweiten Tür glitt, hinter der Nagi immer noch die Spielarena überwachte. Er zögerte kurz, bevor er sich herumdrehte und den Raum ebenfalls verließ. Mit einem gewaltigen Klirren prallten die beiden ungleichen Klingen aufeinander. Aya wich einem Tritt aus, der auf seine Kniescheibe zielte, und ließ sich fallen. Er rollte herum und kam aus der Bewegung heraus auf die Füße, nur um im nächsten Augenblick wieder das Katana hochzureißen, um einen weiteren Hieb abzuwehren. Der Schlag trieb ihn zurück an die Kante des Daches. Sein Blick irrte nach unten. Vielleicht konnte er es schaffen, den anderen dort hinunter … Er wich einem erneuten Angriff aus und die Klinge des Rapiers schlug mit ohrenbetäubenden Klang gegen den harten Stein. Doch ebenso wie ihr Führer schien die Waffe aus unzerbrechlichem Material gemacht zu sein. Egal, wie viele Treffer Aya landete, die Kräfte seines Gegenübers schienen grenzenlos, während seine eigenen langsam zu erlahmen begannen. Er schwitzte, sein Atem ging stoßweise, er blutete aus mehreren, kleineren Schnitten. Und doch hatte er das Gefühl, dass sein Gegner immer noch nicht wirklich ernst machte. Für ihn schien das Ganze nicht mehr als ein Spiel zu sein. Eine Bewegung aus den Augenwinkeln ließ ihn zusammenfahren. Er hatte nicht aufgepasst und die dünne Klinge sauste in atemberaubender Geschwindigkeit auf ihn zu. Dieses Mal würde er den Schlag nicht abfangen können. Er würde … „Stop!“ Der Klang der Stimme ließ den Maskierten herumfahren. Er stieß einen knurrenden Laut aus und sprang zurück. So wurde Ayas Blick frei auf... „Tim?“ Ayas Augen wurden groß. Dort am Rande des Daches stand tatsächlich Tim. Er trug Teile eines Anzugs, seine Haare hingen offen um seine Schultern und seine rechte Hand hielt eine Eisenstange. Er atmete schwer, als wäre er gerannt. „Look what the cat dragged in“, ließ sich der Jäger vernehmen und plötzlich durchzuckte Aya eine Erkenntnis. Er kannte diese Stimme. Er kannte diesen Satz. Er hatte ihn schon einmal gehört. „Jei, lass ihn zufrieden.“ Tim kam einen Schritt auf sie zu und hob dabei seine improvisierte Waffe. Der Mann mit dem Rapier lachte und griff nach seiner Maske. Mit einem klappernden Geräusch landete sie auf dem Boden, bevor ein schwerer Stiefel sie zermalmte. „Sieht so aus, als wäre das Versteckspiel vorbei“, grinste Tims Mitbewohner und sein eines Auge glühte in der Dunkelheit unheilvoll auf. „Bist du gekommen um zuzusehen, wie ich deinem Liebchen das Licht ausblase?“ „Du wirst ihn in Ruhe lassen, verstanden?“ In Tims Augen loderte blaues Feuer. Sein Blick richtete sich auf Aya. „Es tut mir leid, dass das passieren musste.“ Aya verstand nicht. „Wo kommst du her? Was tust du hier?“ Irgendwo am Rande seines Geistes registrierte er, dass sein Kartenhaus gerade zusammengebrochen war. Tim war hier. Auf einer Mission! Er hatte Aya gesehen, wie er ... wie er … Das Wissen darum lähmte ihn, machte ihn unfähig, sich zu erheben, unfähig weiterzukämpfen. „Du musst hier sofort weg. Es ist zu gefährlich!“ "Ja, genau Tim. Hör auf ihn und verschwinde von hier. Lass mich noch ein bisschen mit dem Kätzchen spielen. " Tim schüttelte entschieden den Kopf. "Vergiss es, Jei. Wenn du Ran haben willst, musst du zuerst an mir vorbei." Der Einäugige schmunzelte. "Ach, muss ich das? Nun, genau genommen nicht, aber wenn du darauf bestehst ..." Der Angriff erfolgte ohne weitere Vorwarnung. Das Rapier landete funkensprühend auf dem Eisenrohr, glitt daran entlang und hätte beinahe Tims Finger gekappt, wenn dieser nicht rechtzeitig losgelassen hätte. Mit einem Fußtritt beförderte Jei es außer Reichweite. Sein vernarbtes Gesicht zierte ein überlegenes Grinsen. Er sprang vor und Tim stolperte rückwärts. Von dem eben noch gezeigten Kampfgeist war nichts mehr übrig. Erschrocken richteten sich seine Augen auf die heransausende Waffe. „Tim! Nein!“ Aya reagierte, so schnell ihn seine Füße tragen wollten. Er flog förmlich auf den Angreifer zu, hob das Katana, um den Schlag abzufangen, aber die Schneide verfehlte das Rapier um Haaresbreite. Die Klinge sauste einem tödlichen Blitz gleich weiter nach vorne. Aya wollte den Arm heben, den Schlag mit bloßen Händen aufhalten,Tim aus dem Weg stoßen, irgendetwas, aber es war zu spät. Das scharfe Metall raste unaufhaltsam auf Tims Oberkörper zu und drang mit einem lächerlich dünn klingenden Laut darin ein. Bis zum Heft rammte Jei seine Waffe in den wehrlosen Körper, bevor er ihm einen Stoß versetzte, der Tim nach hinten taumeln ließ. Er prallte gegen die niedrige Mauer, die das Dach begrenzte. Für einen Augenblick schien er schwerelos über dem Rand zu schweben, dann kippte er wie in Zeitlupe in die Tiefe. Nagi starrte auf den Bildschirm und konnte es nicht glauben. Farfarello hatte Fujimiya gestellt, aber er hatte auch … er hatte auch ... Nagis Gehirn weigerte sich, die Information zu verarbeiten. Stattdessen setzte es alle Signale auf Flucht. Er musste hier weg. Bevor Takatori etwas merkte. Bevor irgendjemand etwas merkte. Aber wo sollte er hin? Er konnte unmöglich zu Crawford nach Hause. Aber wo sonst hin? Da gab es eigentlich nur eine Möglichkeit. Er hatte sich das Grab geschaufelt, nun musste er wohl oder übel hineinsteigen. Ohne weiter darüber nachzudenken, setzte er das Headset ab, erhob sich und ging zur Tür. Der johlenden Meute, die gerade live den nächsten Mord ihres Favoriten verfolgten, schenkte er keinen Blick. Wenn man niemanden ansah, wurde man auch nicht beobachtet. Einfach den Kopf einziehen und hoffen, dass man niemandem auffiel. Und dann nur weg von hier. Er öffnete die Sicherheitsschleuse, die hinunter zum Spielbereich führte, ging, so schnell es eben noch unauffällig war, an den zwei Wachen vorbei, die hier gerade ihre Runde machten, und setzte dann seinen Weg in Richtung von Masafumis Labor fort. Wenn er Glück hatte, würde er vor Farfarello dort eintreffen. Ken senkte den Blick, als die Tür vor ihm sich öffnete und ein Junge an ihm vorbei in den Gang trat. Er sah sich zum Glück nicht um, sondern lief einfach weiter, und so konnte Ken unbemerkt verhindern, dass die Tür sich vor ihnen wieder schloss. Yoji, dessen Finger noch in dem elektronischen Türschloss steckten, zuckte nur mit den Schultern. Endlich war das letzte Hindernis, das sie an der Ausführung ihres Auftrags hinderte, beseitigt. Ken nahm die Mütze ab und ließ die Krallen aufschnappen. Es war Showtime! „NEIN!“ Aya konnte es nicht glauben. Wollte es nicht glauben. Ohne weiter auf seinen Gegner zu achten, stürzte er zum Rand des Daches und sprang in die Tiefe. Er landete hart auf dem Asphalt, ein scharfer Schmerz durchzuckte sein Bein und er hörte förmlich, wie sein Knöchel unter dem zu großen Anprall brach. Aber er scherte sich nicht darum, rollte sich ab, kam auf die Füße und stürzte zu der Stelle, wo Tim am Boden lag. Das Blut hatte seine linke Seite inzwischen fast vollkommen durchtränkt. Aya kniete sich neben ihn, griff nach der Einstichstelle und presste seine Hände drauf, um irgendwie den Blutstrom zu stoppen. Tims Augen öffneten sich flatternd. „Ran?“ Seine Stimme war leise, sein Atem rasselnd. Ein dünner Blutfaden floss aus seinem Mundwinkel. „Ja! Ja, ich bin da. Halte aus, es wird alles gut.“ Aya wusste nicht, wie schlimm es stand. Tims einer Arm schien in einem eigenartigen Winkel abzustehen und die Wunde … die Wunde war viel zu nahe am Herzen. Zu dicht und zu tief. Er schluckte, spürte heiße Flüssigkeit über sein Gesicht laufen. Etwas brannte in seiner Kehle. „Halte aus, es wird alles gut. Ich hole Hilfe.“ Trotz seiner Versprechungen bewegte er sich nicht. Er kniete da, die Hände auf die Stelle gedrückt, aus der Tims Leben langsam aber unaufhörlich hinausfloss. Tims sah Aya genau in die Augen und lächelte. „Lügner.“ Das Wort wurde gefolgt von einem Hustenanfall und mehr Blut, das aus Tims Mund lief. Wahrscheinlich hatte er sich beim Sturz auch noch weitere, innere Verletzungen zugezogen. Aya fühlte, wie die Verzweiflung seine Brust zusammenzudrücken drohte. Er nahm die Hände von der Wunde und griff nach Tims Hand. Seine blutbeschmierten Finger verflochten sich mit Tims blassen. Er presste sie an seinen Mund. Sie waren eiskalt. „Tim, ich bin da, hörst du? Ich lasse dich nicht sterben.“ Tim lachte wieder. „Ich glaube, das hast nicht du zu entscheiden. Ich hätte wissen müssen, dass es irgendwann so kommt. Sie hätten es nicht zugelassen, dass wir ...“ Wieder begann er zu husten und der Blutstrom aus seinem Mund wurde breiter. Aya wusste, was das bedeutete. Mit einem Aufschrei riss er Tim an sich. „Du darfst nicht sterben, hörst du! Du darfst nicht!“ Er vergrub seine Nase in Tims Haaren, küsste seine Stirn.Wie im Traum wiegte er ihn hin und her, flüsterte sinnlose Worte, als könne er es so wieder gut machen. Als könnte das irgendetwas an dem ändern, von dem er bereits wusste, dass es die Wahrheit war. Tief in seinem Inneren wusste er, dass Tim von ihm gegangen war. Aber seine Hände weigerten sich, den Körper loszulassen, dessen Brust sich nicht mehr hob und senkte. Verzweifelt versuchte er, noch das letzte bisschen Leben in ihm festzuhalten. Noch einen letzten Moment, einen letzten Atemzug, einen letzten Blick in diese wunderschönen, hellblauen Augen. Augen, die sich für immer geschlossen hatten. Sein Herz zog sich zusammen und es war, als bräche etwas in ihm entzwei. Etwas, von dem er nicht gewusst hatte, das es da war. Etwas, das jetzt für immer verloren war. Es zersprang mit einem Geräusch wie brechendes Glas und versank in Splitter geschlagen in der Dunkelheit. Die Verbindung war fort. Für immer. „Wie rührend.“ Die heisere Stimme schien von irgendwo weit herzukommen. Durch den Tränenschleier sah Aya, wie Jei langsam näherkam. Das Rapier aus seinen Händen war verschwunden. Stattdessen hielt er die Eisenstange in der Hand. Aya fühlte heiße Wut in sich aufwallen. Wie konnte er es wagen? Wie konnte er das in seinen dreckigen Fingern halten, was Tim als Letztes berührt hatte. Wie konnte er es wagen? „Du Mörder!“, schrie er und ballte die Fäuste. Vorsichtig legte er Tims Leiche ab und sprang in den Stand. Seine Hände suchten sein Katana, aber vergeblich. Er hatte die Waffe bei dem Sprung achtlos fallen lassen. Ein fataler Fehler, wie er jetzt feststellen musste, als die Eisenstange auf ihn zu jagte. Er blockte den Schlag mit dem Unterarm und schrie auf, als der Knochen darin brach. Ein weiterer Schlag traf seine Rippen und lähmte seine Atmung. Ein Tritt ließ ihn in die Knie brechen. Er schnappte nach Luft, wollte sich wieder erheben, wollte Rache üben, aber er konnte nicht. Ein Schatten raste auf ihn zu, ein scharfer Schmerz an seiner Schläfe und dann versank die Welt endlich in gnädiger Dunkelheit. Crawford betrat die kleine Seitengasse und sah sich um. Ihm war, als kenne er jeden Stein, jede Unebenheit des Bodens. Den Körper, der zusammengekrümmt auf dem Pflaster lag, beachtete er nicht weiter. Er hörte hinter sich schon die Männer, die Masafumi geschickt hatte, um ihn zu holen. Er war sicher, sie würden Verwendung für ihn finden. Sein Weg jedoch führte ihn weiter hinein in die kleine Straße, an deren Ende in einer Ecke eine wohlbekannte Gestalt am Boden lag. Die kupferroten Haare bildeten einen eigenartigen Kontrast zu der dunkelrot verfärbten Brust, die an den Rändern bereits dunkel zu werden begann. Über ihm setzte der Regen ein. Er hatte keinen Schirm dabei. Er hätte einen haben können, denn genau dieses Bild hatte ihm die Vision gezeigt, die er schon vor einigen Tagen gehabt hatte. Vor jenem Abendessen, das das Ausmaß seiner Gabe in so beträchtlichem Umfang verändert hatte. Die letzten Tage hatte er damit verbracht, Szenarien durchzuspielen, Zukunftsstränge zu verfolgen, nur um wieder und wieder bei ein und demselben Ergebnis zu landen: Schuldig von einer scharfen Klinge durchbohrt hier in dieser Gasse. Es hatte gedauert, bis er die feinen Unterschiede der Visionen erkannt hatte. Die Nuancen gegeneinander abgeglichen hatte. Die Form der Verletzung, Abweichungen an Schuldigs Aufmachung, der Kleidung, die er trug, ja sogar das Fehlen oder Vorhandensein des fürchterlichen, gelben Bandanas, das er in der einen Vision um den Kopf gewunden hatte, in der anderen nicht. Irgendwann hatte er es verstanden und gewusst, worin der Unterschied bestand. Jetzt musste sich nur noch zeigen, ob auch der Rest seiner Vision zur Wahrheit werden würde. In seinem Kopf meinte er den Telepathen leise lachen zu hören. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)