Insomnia von mairio ("You can't fix me.") ================================================================================ FOUR ---- FOUR   Chiaki sah von seinem Skizzenbuch auf. Maron stand noch immer da, inmitten seines Zimmers und sah sich unbeholfen um. Er musterte sie. Anstatt der Schuluniform trug sie diesmal Jeans und einen großen Kapuzenpullover. Die ihm bereits bekannten, langen braunen Haare waren unter der Kapuze verdeckt, die ihr teilweise über das Gesicht gezogen war. Als wollte sie es verstecken. Doch er konnte es offensichtlich sehen. Sie war hübsch, musste er zugeben. Zu mindestens ihr Gesicht. Hübscher, als die meisten Mädels ohne Make-up. Chiaki konnte seinen Blick nicht von ihren Augen abwenden. Sie hatten dunkle Ringe unter ihnen und sie wirkten leer, glanzlos, traurig... müde. Sie sah beinah so müde aus, wie er sich fühlte, was seiner Ansicht nach unmöglich war. Obwohl...! Augenblicklich erinnerte er sich an ihr Schläfchen in der Schule zurück. „Du kannst dich hinsetzen, weißt du“, sagte Chiaki mit hochgezogenen Augenbrauen und nickte mit dem Kopf auf das Sofa. Für einen Moment trafen sich ihre Blicke und zögernd ging Maron darauf zu. Sie setzte sich hin, nahm ihre Knie hoch und legte ihre Arme um sie. Seine Augen verengten sich, als er ihre Schuhe auf dem Leder sah. „Wenn du dich schon so hinsetzen willst, dann habe wenigstens den Anstand dir deine Schuhe auszuziehen, sonst ruinierst du mein 50.000 Yen teures Sofa“, murrte Chiaki. Ihre Augen weiteten sich kurz bevor sie vom Sofa aufsprang und hektisch über die Stelle strich, wo ihre Schuhe den Stoff berührt hatten. „Du meine Güte, tut mir furchtbar leid! Ich habe nicht nachgedacht! Entschuldige.“ Maron hörte nicht auf sich zu entschuldigen. Fast bereute Chiaki es, dass er überhaupt was gesagt hatte. „Ist schon gut. Wirklich. Mach dir keinen Kopf drum“, seufzte er, versuchte nicht genervt zu klingen. Sie stoppte sich, richtete sich aufrecht und inspizierte das Sofa grundlich. Nachdem sie sicher war, dass das Leder in keinster Weise beschädigt war, setzte Maron sich wieder hin, diesmal mit ihren Füßen auf dem Boden. Chiaki wandte sich den nächsten Minuten wieder seiner Zeichnung zu. Als er aufsah, bemerkte er, wie Maron nervös mit ein paar Strähnen, die rauslugten, spielte und den Blick interessiert auf seine Bücherregale fixiert. Mag sie zu lesen?, wunderte er sich. „Magst du Bücher?“, fragte er laut. Ihr Kopf drehte sich in seine Richtung, die Wangen verlegen rot gefärbt. Schüchtern nickte sie. Innerlich musste er kichern. „Du darfst gucken, wenn du willst. Tu dir keinen Zwang an“, sagte Chiaki mit einer einladenden Geste zu seinen Bücherregalen. Sofort leuchteten ihre braunen Augen etwas auf. Maron erhob sich, ging zu den Regalen und scannte mit ihren Augen die Titel. Chiaki war stolz auf die Sammlung, die er sich seit seinem Einzug hier erworben hat. Maron’s Hand streckte sich nach einem Buch aus, sie hielt jedoch inne und wandte ihren Kopf zu ihn um. „Darf ich?“, fragte sie und deutete mit dem Finger auf das Exemplar. Mit einer kurzen Handbewegung gab er ihr wortlos zu verstehen, dass sie darf. Mit einem kleinen Lächeln nahm sie das Buch aus dem Regal, öffnete es und blätterte ehrfürchtig darin durch. Definitiv eine Bücherliebhaberin, dachte Chiaki sich leicht schmunzelnd. Maron ging zu ihrem Platz auf dem Sofa zurück und begann zu lesen. Er konnte nicht sehen, welches Buch es war, aber sie schien ziemlich versunken darin zu sein, weshalb er sich wieder dem Zeichnen zuwandte. Für eine lange Weile herrschte eine angenehme Stille. Das einzige was man hörte, war die Party unter ihnen, Chiaki’s Stift auf dem Papier und das gelegentliche Blättern von Maron’s Buch. In der Zeit, in der sie las, sah Maron nicht mehr von ihrem Buch auf und Chiaki war so vertieft in seiner Zeichnung gewesen, dass er am Ende, als er fertig war feststellte, dass zwei Stunden vergangen waren. Er sah zu Maron rüber. Sie wirkte so friedlich beim Lesen. Das komplette Gegenteil von dem, als sie in sein Zimmer reingestürmt war. Ebenso sah sie sehr müde aus. „Weißt du…“, durchbrach Chiaki das Schweigen zwischen ihnen. Als Maron zu ihm rüber sah, sprach er weiter: „Ich wette, Shikaidou liegt irgendwo ohnmächtig in seiner eigenen Kotze rum.“ Er grinste verschmitzt. „Oh…“, sagte sie etwas abgelenkt, dann weiteten sich ihre Augen, „OH! Oh mein Gott!“ Sie klappte ihr Buch zu und stand auf. „Tut mir furchtbar leid! Ich habe die Zeit vollkommen vergessen. Entschuldige, ich wollte nicht so unhöflich sein. Ganz ehrlich…“ Während Maron zum Bücherregal ging, versuchte Chiaki sie zu besänftigen. „Nein, mir macht das nichts aus, es ist nur...“ Er war leicht erstaunt über sich selbst, dass es ihn wirklich nichts ausmachte, dass sie so lange hier war. Im Normalfall wäre er schon sichtlich genervt gewesen. „Es ist nur, uhm, du siehst so müde aus. Du solltest nach Hause gehen und schlafen“, sagte er in einem aufrichtigen Ton und meinte es auch ernst. Maron warf ihm einen flüchtigen Blick zu, nachdem sie das Buch ins Regal zurückgelegt hatte und kicherte trocken. „Ja…Ich sollte nach Hause gehen und schlafen.“, wiederholte sie mit Sarkasmus in ihrer Stimme. Chiaki blickte sie fragend mit zusammengezogenen Augenbrauen an. Maron bemerkte dies, verzog eine Grimasse und schüttelte den Kopf. „Ich, nun ja… schlafe nicht wirklich“, offenbarte sie. Bei seinem offensichtlich geschockten Gesichtsausdruck fügte sie hinzu: „Ich meine… Ich versuche nicht zu schlafen. Albträume“, zuckte sie mit den Schultern. Natürlich. Jetzt machte für ihn auch alles Sinn. Der müde, erschöpfte Ausdruck in ihrem Gesicht; der Fakt, dass sie in der Schule schlief; der Albtraum, den sie bekam. Sie war wie er. „Du schläfst auch nicht? Du versuchst auch wach zu bleiben?“, fragte Chiaki erstaunt. Maron’s Augen schnellten zu ihm und ihr Gesicht verlor etwas an Farbe. Dann zog sie verwirrt ihre Brauen zusammen. „Auch?“, wiederholte sie überrascht, „Du schläfst nicht?“ Sie schaute ihn eindringlich an. Ihre Blicke trafen sich. Er presste sich zögernd die Lippen zusammen. Er hatte noch nie mit jemanden über seine Schlafprobleme geredet. Aber dieses Mädchen schien dieselben Probleme zu haben. Langsam nickte er bestätigend seinen Kopf. „Auch Albträume?“, fragte sie. „Mhmm.“ Er mochte das Wort nicht. Klang so harmlos. „Man könnte sie so nennen...“ Ihrem Gesichtsausdruck zu urteilen, schien sie zu verstehen, was er meinte. „Wie machst du das? Wach zu bleiben?“, fragte er mit ehrlicher Neugier. „Kaffee, Kochen, Hausaufgaben, Lernen, Sauber machen...“, zählte Maron achselzuckend auf. „Ich versuche immer ein bisschen Schlaf in der Schule zu finden...“, sie hielt kurz inne und schüttelte mit einem bitteren Lächeln den Kopf, „Nun ja, bis heute zu mindestens. Ich werde das womöglich nie wieder tun.“ Sie senkte ihren Blick beschämt zu Boden. Chiaki vermutete, dass sie von ihrem Schläfchen heute Morgen sprach. Auf einmal fühlte er sich schuldig dafür, dass er sie schlafen ließ. Wenn ihre Albträume genauso schlimm waren wie seine, dann konnte er sich nur zu gut vorstellen, dass sie in vollkommener Panik aufgewacht war. Ihrem Schrei nach zu urteilen, war dem wohl auch so. Ihre Stimme riss ihn aus den Gedanken. „Wie machst du das?“, fragte Maron, den Kopf leicht fragend geneigt. Chiaki lehnte sich in seine Kissen zurück. „Mein Vater, Kaiki, ist Arzt. Ich erbeute mir manchmal ein paar Sachen von ihm. Aufputschmittel, verstehst du?“ Sie wirkte etwas überrascht über seine sorglose Haltung gegenüber Drogen. Er zuckte unbekümmert mit den Schultern. „Abgesehen davon halte ich mich mit Zeichnen und sonstigem wach... Konzentration und so, weißt du“, fügte er hinzu, nichtwollend das Maron ihn für drogensüchtig hielt. „Ich meine, Kaffee? Wirklich?“, lächelte Chiaki schnaubend auf. Wie konnte sie nur mit Kaffee überleben? Und auf die Idee kommen, in der Schule zu schlafen? Diesen Fehler würde er nie machen. „Ich habe Tabletten daheim, aber die haben eher den gegenteiligen Effekt als die, die du nimmst. Ich benutzte die auch nie“, zuckte Maron mit den Schultern. Chiaki nickte verstehend. Er vermutete, dass sie Medikamente gegen ihre Angstausbrüche oder ähnliches hat. Sie blickte unschlüssig zur Tür und wieder zu ihm zurück. „Uhm... ich sollte wahrscheinlich gehen. Ich möchte nicht, dass Miyako sich Sorgen um mich macht... Aber danke, dass ich mich hier vor Hijiri verstecken durfte.“ Ihre Mundwinkel zogen sich etwas hoch und der Ansatz eines schiefen Lächelns war auf ihren hübschen Gesicht zu sehen. Chiaki lächelte nickend zurück. Diese Maron schien doch nicht so schräg zu sein, wie die Gerüchte sie darstellten. Er sah, wie sie auf die Tür zusteuerte, als ihm etwas einfiel. „Warte!“ Mit einem fragenden Blick drehte sie sich zu ihm um. „Kennst du diese kleine Parkanlage mit den Picknickbänken hinten? Die am Fluss?“, fragte er, bezog sich dabei auf ein paar Picknickbänke, die ein paar wenige Meter entfernt von beide Hinterhöfen waren. Maron nickte bejahend. „Manchmal verbringe ich meine Nächte dort. Die Kälte hilft einen wach zu halten.“ Chiaki hielt kurz inne und überlegte, wie er seine Frage am besten formulieren sollte. „Vielleicht sehe ich dich dort mal“, vollendete er in einem legeren Ton. Bei der Erwähnung ihn wieder sehen zu können, leuchteten Maron’s große Augen ein wenig auf. Sie nickte lächelnd, bevor sie die Tür aufmachte und aus seinem Zimmer ging. Chiaki sah ihr für eine Weile nach. Er würde morgen Nacht auf jeden Fall zu den besagten Bänken gehen. Die Vorstellung, jemanden nachts zum Reden zu haben, war Grund genug für ihn zu gehen. Jemanden, der ihn auch verstehen würde. Gleichzeitig war er interessiert darin, Maron näher kennenzulernen. Es war nett - sich ausnahmsweise mal nicht allein zu fühlen. *** Maron lief durch die Gänge des ersten Obergeschosses und blieb vor einer Tür überrascht stehen. Augenblick musste sie schadenfroh lachen. Wow, Chiaki hatte Recht..., dachte sie sich. Hijiri lag ohnmächtig in einem Badezimmer in seinem eigenen Erbrochenem. Beim genaueren Hinsehen fiel ihr auch eine blutende Nase auf. Wahrscheinlich hatte er sie sich am Waschbecken aufgeschlagen, als er das Bewusstsein verlor. Mit einem Dauergrinsen auf ihrem Gesicht lief Maron die restlichen Treppen runter, mied alle restlichen Gäste, die noch bei Bewusstsein waren und begab sich nach draußen. Die Nachtluft war erfrischend kühl. Maron nahm einen tiefen Atemzug. Zu ihrem Erstaunen endete die Nacht mit einer guten Wendung, was sie in keinster Weise erwartet hätte. Chiaki war zwar merkwürdig an manchen Moment, aber sie war interessiert darin mehr über ihn und seiner Person zu erfahren. Zu Hause fand sie Miyako schon schlafend in ihrem Bett vor, noch immer das orange Kleid tragend. Maron schmunzelte, sie hoffte, dass ihre Freundin Yamato heute Nacht gefunden hatte. Leise begab sie sich zu ihrem Zimmer, um sich umziehen. Zögernd hielt sie eine Hand über die Türklinke. Innerlich verfluchte sie sich dafür keine Wechselklamotten im Bad bereitgelegt zu haben. Maron nach tief Luft, sammelte all ihren Mut zusammen, öffnete die Tür und rannte so schnell wie möglich zu ihrer Kommode. Sie griff rein, schnappte sich die ersten Sachen, die sie in die Hand bekam und rannte aus dem Zimmer aus, ohne zurückzuschauen. Keuchend ging sie ins Gästebad, wartete für einen Moment bis die Angst verebbte. Nach dem Duschen dachte sie an Chiaki zurück. Sie beschloss morgen Nacht zu der Parkanlage mit den Picknickbänken zu gehen und sie hoffte aufs tiefste, dass er da sein wird.     Am nächsten Tag hatte Maron Schwierigkeiten sich von der Müdigkeit abzulenken. Es was Samstag, was bedeutete, dass es auch keine Schule gab, weshalb sie zu viel Zeit hatte und damit kämpfen musste, sich irgendwo Beschäftigungen zu suchen. Sie hatte schon gebackt, gekocht und ein paar Hausaufgaben gemacht, aber damit war gerade mal der Vormittag um. Derzeit saß sie auf dem Bett in Miyako’s Zimmer und scrollte ein wenig durch die Social Medias auf ihrem Handy rum. Schnell bereute sie es wieder, als sie die glücklichen Gesichter ihrer alten Freunde sah. Vermissen tun die mich nicht…, dachte sie sich bitter und schloss die Apps. Eigentlich wollte sie ihre ganzen Profile schon seit langem löschen, tat es allerdings noch nicht. Maron schnappte sich eine Modezeitschrift neben dem Bett und blätterte gelangweilt die Seiten durch. Währenddessen lief Miyako die ganze Zeit temperamentvoll auf und ab, quatschte ihr das Ohr über die Party zu. Maron war froh darüber, denn Miyako’s laute Stimme hinderte sie vor dem Einschlafen. „Ich meine-“ Miyako schnaufte dramatisch auf. „Jeder aus unserer Schule war auf Shinji's Party gestern gewesen, Maron! Warum zum Teufel war er nicht da gewesen?! Glaubst du es lag an mir?? Nein… nein, das kann nicht sein… vielleicht mag er Shinji nicht? Aber Chiaki war dort – und der ist sein bester Freund! Man würde doch zu der Party seines besten Freundes gehen, oder?! Überhaupt sowas freiwillig verpassen zu wollen!“, nörgelte sie. Bei der Erwähnung von Chiaki's Namen wurde Maron hellhörig. „Sag mal…“, setzte sie an, ohne von der Zeitschrift aufzublicken und stoppte sich. Wie könnte sie Miyako am besten fragen, ohne dass diese Verdacht schöpfte? Miyako stoppte ihren Redefluss und sah Maron erwartungsvoll an. „Dieser Chiaki-Typ von dem du redest… was ist das überhaupt für einer?“, fragte sie so gelangweilt wie möglich. Aus Angst darüber, das Miyako Verdacht schöpfen könnte und sie über ihre Beweggründe ausfragte, fügte Maron schnell hinzu: „Ich meine, wenn er Yamato’s bester Freund ist, dann bräuchte ich mehr Informationen über diejenigen mit denen Yamato sich umgibt, damit ich dir bei deinem Dilemma helfen kann.“ Seltsamerweise verzog Miyako ihr Gesicht zu einer Grimasse und verschränkte die Arme vor der Brust. „Nun… Chiaki ist…“ Nachdenklich neigte sie ihren Kopf zu Seite, auf der Suche nach den richtigen Worten, um ihn zu beschreiben. Ist interessant? Ist furchtbar gut aussehend? Lebt förmlich in einer Bibliothek und ist stolzer Besitzer eines 50.000 Yen teuren Ledersofas?, vollendete Maron in ihren Gedanken. „Er bedeutet Ärger“, sagte Miyako mit entschiedenem Kopfnicken. Nun blickte Maron verwirrt von ihrer Zeitschrift auf. „Ärger?“ Miyako nickte ein weiteres Mal und sprach weiter: „Ja, halte dich fern von dem Kerl.“ „Wieso?“ „Sagen wir es mal so, er ist nicht unbedingt jemand, der mit seinen Mitmenschen gut klarkommt.“ Maron seufzte innerlich genervt auf. Da wollte sie einmal von Miyako’s Klatsch- und Tratschleidenschaft profitieren und ausgerechnet jetzt behandelte sie das Thema auf einmal wie ein rohes Ei. „Könntest du dich bitte etwas deutlicher ausdrücken, Miyako?“ Sonst redete sie wie ein Wasserfall. Wo war das Problem? Miyako verdrehte ihre Augen. „Er hat Probleme, okay? Und ist jemand, der Probleme stiftet. Bis auf Yamato, ist er gemein zu jeden und ziemlich unverschämt, er mag es nicht mit anderen Menschen zu reden, er wurde schon mal verhaftet, er hasst Shinji, er hat ein recht loses Mundwerk und letztes Jahr hatte er mal mein Auto ‚ausversehen‘ demoliert! Und sich nicht dafür entschuldigt! Den Lack zu fixen hat ein Haufen Geld gekostet! Wie kann so jemand mit Dr. Nagoya, die netteste Person auf Erden, verwandt sein?!“ Mit jedem Fakt mehr, den Miyako auszählte wurde ihr Ton immer schroffer. Maron war etwas erstaunt darüber und in welchem Licht sie Chiaki darstellte. So schlecht schien er ihr letzte Nacht nicht gewesen zu sein. Natürlich konnte sich Schlafmangel auf die Stimmung und Gemütslage auswirken, wo drüber sie selbst hinwegsehen konnte. Miyako kannte diese Hintergründe offensichtlich nicht. Die Leute, die nur das Geringste über dich wissen, haben das Meiste zu sagen. Maron kannte das nur zu gut. Sie verspürte das starke Bedürfnis Chiaki verteidigen zu wollen, verkniff es sich jedoch und setzte ihr gespieltes Interesse für das Yamato-Dilemma fort. „Hmm…Ist Yamaro denn auch so? Gemein zu Menschen, mein ich?“, fragte sie mit eigentlichem Desinteresse. Sofort schüttelte Miyako wild den Kopf. „Nein! Nein, Yamato ist da ganz anders. Er feiert zwar ab und an, aber nicht viel mehr als Shinji. Der ist nicht so wild. Einmal habe ich ihn beim Shoppen mit seiner Mum in der Stadt gesehen und er war so lieb zu ihr! Einen Gentleman hat die Frau aufgezogen…“ Maron hörte schon nicht mehr zu. Schulterzuckend blätterte sie durch ihre Zeitschrift, während Miyako wiedermal über Yamato schwärmte. Ohne sich auf Miyako’s Unterstellungen festzusetzen, beschloss sie sich einen besseren Eindruck von Chiaki heute Nacht zu machen. Mit hoher Wahrscheinlichkeit hatte er die Gerüchte über sie in der Schule bereits mitbekommen und Maron konnte sich vorstellen, dass er sie für völlig verrückt hielt. Vielleicht denkt er das wirklich von mir…, ging es ihr niedergeschlagen durch den Kopf. Aus ihr unerfindlichen Gründen wollte sie, dass Chiaki sie mag. Zu mindestens soweit dass er sich höflich mit ihr unterhalten wollen würde, was Miyako nach zu urteilen wohl eine Rarität bei ihm war. Plötzlich hörte sie, wie Sakura und Takumi vom Einkaufen nach Hause kamen. Sofort ging Maron runter und kümmerte sich ums Mittagessen. Anschließend verbrachte sie den restlichen Tag damit, das Haus sauber zu machen, trotz einer Einwände von den Erwachsenen. Während die Stunden vergingen, stieg ihre Aufregung für das heutige Treffen mit Chiaki – im positiven sowie im negativen Sinne.   Als die Nacht anbrach und alle anderen im Haus schon friedlich in ihren Betten schliefen, saß Maron unterdessen auf ihrem Platz am Tresen und schaute immer wieder nervös auf die Uhr. Vor ihr lag eine Tasse Kaffee sowie eine ihrer Kekstüten, die sie noch gemacht hatte mit dem Gedanken, dass dies als nette Geste gut ankommen sollte. Sie war aufgeregt und nervös. Gleichzeitig wunderte Maron sich, ob er überhaupt kommen würde. Da würde sie sich dumm und idiotisch vorkommen. Hör auf! Miyako’s Paranoia färbt schon auf dir ab, ermahnte sie sich selbst. Sie nahm ihren Kaffee und nippte daran. Allmählich wurden ihre Lider wieder schwer. Sie fragte sich, wann Chiaki wohl da sein würde und beschloss für sich selbst um Mitternacht zu gehen. Kein Grund übereifrig zu sein, dachte Maron sich, zwang sich zur Geduld. Sobald die Uhr zwölf anzeigte, sprang sie vom Hocker auf und lief geräuschlos zur Hintertür, die in den Hinterhof führte.   Draußen nieselt es etwas. In den letzten Tagen war es öfters feucht draußen, dadurch dass es November war. Maron zog sich die Kapuze ihrer Jacke über und versuchte ihre Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen. Schließlich steuerte sie in Richtung der besagten Parkanlage mit den Picknickbänken zu. Erst jetzt wurde ihr bewusst, wie riesig die Grundstücke waren. Maron blickte zu der Villa nebenan rüber und konnte ein Fenster erkennen, in der das Licht noch brannte. Chiaki’s Zimmer. Sie nahm tief Luft und ging weiter bis sie die Bänke erreicht hatte. Mit jedem Schritt hörte sie das Rauschen des Flusses immer näherkommen. Da angekommen, legte sie ihre Tüte auf dem Tisch ab und setzte sich auf eine Bank hin, womit sie den Häusern den Rücken zukehrte und zu dem kleinen Fluss nach vorne schaute. Ihre Augen hatten sich mittlerweile so an die Dunkelheit gewöhnt, dass sie die schwache Reflektion des Mondes hinter den Wolken im Wasser erkennen konnte. Es war ein ruhiger Ort. Und sehr friedlich. Chiaki hatte teilweise Recht. Die eisige Kälte der Nacht hielt sie zwar wach, aber das sanfte Plätschern des Wassers war wie ein Schlaflied in ihren Ohren. Maron rieb sich gähnend die Augen, blinzelte einige Male und aß einen Keks. Für eine Weile saß sie da und beobachtete den Fluss bis sie Schritte hinter sich hörte. Zunächst bekam Maron Angst, doch dann fiel ihr wieder ein, dass sie auf jemand wartete. Langsam schaute sie über ihre Schulter und sah Chiaki auf sie zukommen. Er trug eine schwarze Lederjacke mit Kapuze und dunkle Jeans. Sie konnte seinen Gesichtsausdruck nicht lesen, aber sie würde nicht behaupten, dass es nach Miyako’s Worten „gemein“ wirkte. Er nahm wortlos am anderen Ende der Bank auf der Maron saß Platz und blickte zum Fluss hinaus. Maron erlaubte es sich für einen Moment einen inneren Freudetanz über den Fakt zu machen, dass er gekommen war. Schweigend saß er da, die Arme auf den Tisch abgestützt und starrte auf den Fluss. Er wirkte wie in Gedanken versunken. Eine leichte Brise wehte vorbei, spielte mit losen Strähnen seiner Haare. Maron konnte den vagen Geruch von Zigaretten aus seiner Richtung wahrnehmen, gemischt mit dem minzigen Duft von Shampoo und Seife. Sekunden, Minuten vergingen. Allmählich wurde ihr die Stille unangenehm. „Keks?“, fragte sie und schob ihm die Tüte entgegen. Kekse waren ihrer Erfahrung nach immer gute Eisbrecher. Chiaki beäugte die Tüte, die Brauen argwöhnisch zusammengezogen. Zögernd griff er in die Tüte rein, nahm er sich einen Keks heraus und inspizierte es, als hätte man ihm Hundekot angeboten. Genervt rollte Maron mit den Augen, reichte nach ihrer Tüte und holte sich selbst einen Keks raus. Demonstrativ biss sie rein, um ihm zu zeigen, dass er keine Lebensmittelvergiftung erleiden würde, sah ihm dabei direkt in die Augen. Chiaki zog eine Braue in ihre Richtung hoch, sah auf dem Keks in seiner Hand herab und nahm schließlich einen Bissen. Augenblicklich leuchteten seine Augen beim Geschmack des Gebäcks auf, was Maron zu einem weiteren inneren Freudetanz verleitete. Sie wusste, dass er sie mögen würde. Bisher gab es niemanden, der ihre Kreationen widerstehen konnte. „Die sind wirklich gut. Hast du sie gemacht?“, fragte er mit leichter Faszination in der Stimme. Maron nickte grinsend. Lächelnd holte Chiaki sich einen weiteren Keks heraus. „Meinen Respekt. Beim nächsten Mal mach mir bitte ein LKW-Ladung von denen“, sagte er und zwinkerte ihr zu. Maron konnte spüren, wie ihre Wangen erröteten und hoffte, dass es dunkel genug war, damit er es nicht sehen konnte. „Du hattest übrigens deine Wette gewonnen“, merkte sie an. Etwas verwundert blickte er sie an, ehe sie hinzufügte: „Wegen Hijiri. Er lag bewusstlos in seinem eigenem Erbrochenen. Wie du vorausgesagt hast.“ Daraufhin musste er belustigt auflachen. „Zum Glück musst ich den nicht aufwischen.“ „Nicht?“ Chiaki schüttelte den Kopf. „Da Shinji die Party veranstaltet hat, muss er die auch aufräumen.“ Sie schmunzelte. „Ach so.“ Für einige Minuten war es wieder still zwischen ihnen, jeder in seinen eigenen Gedanken versunken. Beide schauten in den Fluss hinaus, während der Niesel um sie herum allmählich aufhörte. Maron war immer noch erstaunt darüber, dass sie sich in Chiaki’s Gegenwart wohl fühlte. Kein Zittern oder sonstige Panikanfälle. Bei jedem anderen Kerl hätte sie schon längst den nächsten Fluchtweg gesucht. Selbst bei ihrem Vater fühlte sie sich noch lange nicht so entspannt, wie bei ihm. Chiaki’s Stimme riss sie plötzlich aus den Gedanken. „Worüber handeln deine Albträume?“, hörte sie ihn mit einem Hauch von Neugier fragen. Sie drehte ihren Kopf zu ihm. Seine Augen waren auf seine Hände fixiert. Maron verzog grimmig das Gesicht. Sie hatte nicht unbedingt das Bedürfnis ihm von ihrer elenden Vergangenheit zu erzählen. Als für einige Sekunden keine Antwort von ihr kam, fügte Chiaki sanft hinzu: „Du musst es mir nicht sagen. Zwingt dich auch keiner dazu. Ich war nur neugierig, mehr nicht.“ Mit einem aufrichtigen Ausdruck im Gesicht sah er ihr in die Augen. „Nein, das ist es nicht“, erwiderte Maron schnell, „Ist schon okay, denke ich...“ Sie biss sich auf die Lippe. „Es ist nur... ich rede für gewöhnlich mit niemand darüber.“ Ihre Augen wanderten von ihm zu ihren Händen auf dem Tisch herunter. „Ich wette, du hälst mich schon für verrückt genug, bei all den Gerüchten, die über mich kursieren. Man muss nicht noch mehr Öl ins Feuer legen“, merkte sie bitter an. Er schnaubte, erwiderte nichts, um ihre Anschuldigungen zu widerlegen. Maron warf ihm einen scharfen Seitenblick zu, die Lippen zu einem dünnen Strich zusammengepresst. Für einen Moment saß Chiaki da, die Augen blickten distanziert in die Ferne. Nach ein paar Minuten drehte er sich mit einem bestimmten, entschlossenen Gesichtsausdruck zu ihr um. „Ich erzähle dir von meinen, wenn du mir von deinen erzählst.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)