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Insomnia

"You can't fix me."
von

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NINETEEN

NINETEEN

 

Der erste Tag ohne sein Mädchen war wahrscheinlich der Schlimmste.

Mit diesem elend leeren Gefühl in seiner Brust fuhr Chiaki zur Schule, wenige Stunden nachdem er sie das letzte Mal gesehen hatte. Yamato bemerkte sofort, dass etwas nicht stimmte, fragte jedoch nicht nach. Chiaki war froh drum, denn er hatte keinen Bedarf mit ihm darüber zu reden.

Er sah, wie Miyako mit einem betretenen Gesichtsausdruck allein in der Schule ankam und die Tatsache, dass sie wirklich nicht mehr da war, traf ihn hart wie ein Schlag.

Der Platz zu seiner Rechten war leer. Sie war in der Mittagspause nicht an ihrem Tisch mit den anderen zu sehen. Allein saß Chiaki an seinem Tisch und aß seine erste Tüte der Abschiedskekse. Yamato war irgendwo mit Miyako verschwunden, doch das interessierte ihn nicht.

Nach der Schule wusste aber sein Freund wohl nun auch Bescheid, dank Miyako. Chiaki konnte es an dessen verständnisvollen Gesichtsausdruck sehen.

Als er zu Hause ankam und auf das leere Sofa starrte, fühlte er sich noch beschissener als er sich schon fühlte. Er ließ sich darauf nieder, das Gesicht ins weiche Leder vergraben und verharrte für eine ganze Weile da drauf.

Am Abend putzte er sich die Zähne und blickte auf die kleine rote Zahnbürste am Waschbecken herunter, die allein am Zahnbürstenhalter hing.

In dieser Nacht zog sich seinen Pyjama an - nicht, dass er versuchen wollte zu schlafen, denn das war ohne sein Mädchen sowieso einfach nicht möglich. Aber die Sachen dufteten nach ihr. Genauso wie das Bett.

Weshalb er sich seinen Pyjama anzog und unter die Decke kroch, die alle nach Blumen, Zitrone und Kekse dufteten. Es gab ihm die Illusion, dass sein Mädchen da war. Seufzend vergrub Chiaki sein Gesicht in ihr Kissen.

Die ganze Nacht lag er hellwach in seinem Bett und fühlte sich einfach nur wie ein elendes Stück Scheiße.

 

Die Müdigkeit kehrte am zweiten Tag schon wieder.

Als Yamato in sein Auto einstieg, konnte Chiaki wieder diesen bedauernden, mitleidigen Blick in dessen Augen sehen. Fast hätte er ihn dafür genervt angeschnaubt. Denn sein Freund konnte sich wahrscheinlich nicht mal ansatzweise vorstellen, dass er weitaus mehr als nur den Schlaf vermisste.

Am dritten Tag waren die Augenringe zurück, sowie auch der Zombie-Modus. Als Yamato in sein Auto einstieg, hatte Chiaki versucht irgendwelche Infos über Maron herauszubekommen, hatte die insgeheime Hoffnung, dass Miyako ihm irgendwas erzählen würde. Doch leider hatte Yamato nichts anzubieten.

Chiaki hatte in der Nacht seinen Mut zusammengenommen und probiert sein Mädchen anzurufen, doch sie war nicht zu erreichen. Daraufhin schrieb er ihr eine kurze SMS, doch es kam selbst nach Stunden keine Antwort. Dies beunruhigte ihn.

Wollte sie nicht erreicht werden?

Wollte sie Abstand von ihm?

Hatte er mit seinem Verhalten doch alles vermasselt und sie würde nicht wiederkommen?

Sofort schüttelte Chiaki bei den Gedanken mit dem Kopf und verdrängte die Zweifel wieder.

Sie wird wiederkommen, sagte er sich immer und immer wieder.

 

Am vierten Tag begann er wieder zu schwanken. Er weigerte sich ohne Maron zu schlafen, aber er wusste, dass es unvermeidbar war. In der Nacht hatte er versucht in seinen Pyjama einzuschlafen, in der Hoffnung, dass die Überreste ihres Duftes die Albträume fernhalten würden. Oder ihn eventuell dazu verhelfen von ihr stattdessen zu träumen.

Doch es hatte nicht funktioniert. Natürlich nicht.

Die Albträume kehrten wieder und nach zwei Stunden wachte er weinend, zitternd und in Angstschweiß gebadet auf. In dieser Nacht fing er wieder an regelmäßig zu rauchen. Nicht nur Maron, aber auch der Schlaf hatten ihn eigentlich dabei verholfen damit aufzuhören.

Aber jetzt brauchte er es.

Chiaki ging zu seinem Balkon raus, blickte zur Seite zum Pflanzengitter und wünschte sich, dass sein Mädchen hochgeklettert kommen würde. Jeden Tag spähte er vor und nach der Schule zu den Nachbarn rüber und erhoffte sich Takumi’s Auto in der Einfahrt zu sehen oder dass nachts in der Küche das Licht an sei.

Es war erbärmlich. Schließlich wusste er, dass sie bis nächste Woche nicht wieder da sein wird.

Und was ist, wenn sie gar nicht wieder da sein wird?

Schwerseufzend senkte er den Kopf in seine Hände. Er sollte aufhören an ihre Rückkehr zu zweifeln. Es war schwerer gesagt als getan.

In derselben Nacht hatte er wieder Kaiki’s Vorrat an Amphetaminen geplündert. Zum Glück hatte der Arzt den Vorrat wieder aufgefüllt. Denn Chiaki brauchte sie, nutzte die Medikamente auch ziemlich großzügig. Mehr als früher.

Am fünften Tag hatte Kaiki ihn dazu bewegt mit ihm zusammen Weihnachtseinkäufe zu erledigen. Er ahnte, dass etwas los war, versuchte den ganzen Nachmittag irgendetwas aus Chiaki rauszubekommen. Allerdings gab es nichts, was er ihm sagen würde. Sie liefen durch das überfüllte Einkaufszentrum und Chiaki konnte ununterbrochen diesen kritischen Seitenblick seines Vaters spüren. Es war nicht zum Aushalten. Am liebsten hätte er geschrien, ihn angeschrien.

An dem Nachmittag hatte der Blauhaarige sich ein neues Skizzenbuch gekauft und später die ganze Nacht lang sein Mädchen gezeichnet, blickte dabei immer mal zu seinem Sofa rüber und rief sich ihr Abbild in Erinnerungen.

Jede Nacht trug er seinen Pyjama, auch wenn ihr Duft inzwischen schon vollständig vergangen war.

 

Er war so verdammt müde. Taub wie ein Zombie durchlebte Chiaki seinen Alltag, versuchte alles was in seiner Macht stand, um nicht einzuschlafen.

Viele Dinge kehrten wieder.

Der Tunnelblick, der leicht zerfetzten Gedächtnislücken, die Konzentrationsschwierigkeiten. Mittlerweile wurde er wieder zu einem reizbaren Arsch. Er konnte es Yamato nicht verübeln, wenn er die Mittagspausen lieber mit Miyako irgendwo verbrachte. Chiaki bevorzugte sowieso derzeit allein zu sein. Und sein Freund verstand das womöglich auch. Jeden Tag aß er eine der Kekstüten. Dies war das Einzige was ihm von ihr und der Routine übrig geblieben ist.

Zehn Uhr nachts war für Chiaki immer die schlimmste Zeit des Tages. Er fragte sich immer, wo Maron sich im Moment aufhielt oder wie es ihr ging und wie sie zurecht kam. Und er wünschte sich bei ihr sein zu können, wenn sie weinte. Denn er wusste, dass sie weinen wird.

Das Wochenende war am schwierigsten gegen die Müdigkeit anzukämpfen.

In der Nacht zu Samstag ging Chiaki raus zu der kleinen Parkanlage mit den Picknickbänken, in der Hoffnung, dass die kalten Dezembertemperaturen ihn wach halten würde. Aber die Stille machten ihn letztendlich noch schläfriger. Es war so ruhig und leer.

Er vermisste es jemanden zum Reden zu haben.

Er vermisste sein Mädchen bei sich zu haben.

Noch immer kam kein Anruf oder SMS von ihr zurück, was ihn nicht nur frustrierte, sondern auch depressiv stimmte. Immer wieder sagte er sich, dass seine Ängste irrational waren.

Maron würde zurückkommen. Sie würde ihn immer noch sehen wollen, mit ihm die Nacht verbringen und zusammen schlafen.

Vielleicht würde sie ihn auch küssen wollen...und wenn nicht, dann war es auch okay. Hauptsache sie blieb bei ihm.

Aber die Ängste und Zweifel waren immer da. Angst darüber, dass er sie verjagt hätte, sie verletzt hätte. Angst darüber, dass sie ihm niemals verzeihen würde, falls er seine Fehler jemals wieder gut machen konnte.

All diese Zweifel ließen ihn an eine andere Person zurückdenken, die einst versprochen hatte, bei ihm zu bleiben. Und ihn am Ende doch, ohne zurückzukehren, verließ.

 

Von Samstag auf Sonntag hatte Yamato ihn unerwarteter Weise zu sich nach Hause eingeladen, um einen Zockerabend mit Übernachtung zu veranstalten. Das mit der Übernachtung war zumindest etwas, was Chiaki seinem Vater auftischte als er ihm Bescheid gegeben hatte, bevor er ging.

Denn eigentlich Yamato hatte geplant an dem Abend aus Solidaritätsgründen mit seinem besten Freund wach zu bleiben, wenn auch nur für diese eine Nacht. So sehr dies Chiaki überraschte, so schätze er die Geste auch sehr wert.

Die erste Hälfte des Abends verlief auch relativ gut. Sie zockten in Yamato’s Zimmer vor der Playstation einige Multiplayer-Spiele, wobei Chiaki sich bemühte all seine Konzentration aufzusammeln, um nicht dauernd zu sterben. Yamato quatschte ihm unterdessen das Ohr voll über seine nahezu täglichen Dates mit Miyako und wie sie am Freitag schließlich das erste Mal miteinander schliefen. Ließ dabei keine Details aus.

Alles Informationen, die Chiaki offensichtlich nicht unbedingt wissen wollte und ausnahmsweise war er dem Gedächtnisverlust dankbar, denn nach wenigen Stunden hatte er alles Erzählte Gott sei Dank schon wieder vergessen.

Gegen ein Uhr fing Yamato an gegen die Müdigkeit anzukämpfen, die Lider wurden schwer, er nickte beim Spielen immer mal wieder weg und trank literweise Kaffee. Chiaki beobachtete ihn dabei aus dem Augenwinkel und schmunzelte etwas. Nach etwa einer halben Stunde war sein braunhaariger Freund schließlich mit Controller in der Hand und offenem Mund tief und fest eingeschlafen.

Leise musste Chiaki amüsiert kichern. Naja…Wenigstens hatte er es versucht.

Yamato hatte zwar gemeint, dass er ihn wecken soll, wenn er einschlief, aber Chiaki ließ ihn schlafen. Anschließend zockte er die restliche Nacht weiter.

 

Es war Montag, Tag acht und vorletzte Tag.

Chiaki bekam das Gefühl als würde seine eigenen vier Wände ihn allmählich erdrücken.

Weshalb er in der Nacht aus seinem Zimmer ging und leise durch die Villa wanderte, nachdem er sichergestellt hatte, dass Shinji und Kaiki schliefen.

Schließlich fand er sich in der dunklen Küche wieder. Die Uhr war das einzige was die Stille in der Dunkelheit durchbrach. Das konstante Ticken des Zeigers, welches ihn mit jedem Mal näher zu Maron brachte.

Gedankenverloren saß Chiaki am Tisch, hörte dem Ticken zu, kämpfte damit die Augen offen und den Kopf aufrechtzuhalten und aß seine letzte Kekstüte.

Während er aß, verabschiedete er sich in Gedanken von seinem Mädchen und ließ los. Nur für den Fall, dass die Geschichte sich wiederholen wird und sie nicht mehr sein Mädchen sein wollte.
 

***

„Hallo Mama.“

Es war der letzte Tag vor dem Gerichtsprozess und Maron saß vor dem Grab ihrer Mutter, hatte frische Blumen davor gelegt. Ihr Vater wartete vor dem Friedhof auf sie, hatte vorhin ebenfalls Blumen beigelegt.

Für einige Minuten saß sie vor dem Grab und sprach über alles was ihr in den Sinn kam. „Morgen werde ich… dieses Monster wiedersehen… Ich… weiß nicht, was ich darüber denken soll…“ Tränen blinzelten in ihren müden Augen. „Selbst wenn das Recht auf unsere Seite wäre, wird es dich nicht zurückbringen.“ Sie seufzte schwer. „Ich bin so müde, Mama… Du fehlst mir so…Und gerade jetzt bräuchte ich deinen Rat“, sagte sie. Ihre Mutter war wie eine beste Freundin für sie gewesen, der sie alles anvertrauen konnte. Schniefend presste Maron die Lippen fest zusammen, sah zu Boden und blickte mit einem verlegenen Lächeln wieder auf. „Es gibt da nämlich einen Jungen in Momokuri. Und… irgendwie… ist es kompliziert. Denke ich. Keine Ahnung, frag mich nicht.“ Wieder musste sie seufzend.

„Maron.“ Erschrocken zuckte die Angesprochene bei Takumi’s Stimme zusammen und drehte sich um. „Ehm, Tschuldige. Aber es wird schon spät“, sagte er, fuhr sich mit einer Hand über den Hinterkopf.

Maron blinzelte einige Male verwundert, ehe sie sich umschaute und bemerkte, dass der Himmel um weitem dunkler war, als sie hier ankam.

„Oh. O-Okay. Schon okay!“, sagte sie, stand auf und verließ mit ihrem Vater den Friedhof.

Beide beschlossen noch in einem Supermarkt in der Nähe etwas zu Essen zu holen.

Sowohl im Laden als auch draußen auf den Straßen war es ziemlich überfüllt. Unter Anspannung schlängelte Maron sich an den Menschen vorbei.

Sie vermisste Momokuri. Dort war die Einwohnerzahl um einige Millionen Menschen kleiner. Hier in Osaka kam sie sich nämlich vor, als würde sie unter all den Menschen ersticken. Von daher konnte sie es kaum erwarten, wenn der morgige Tag um ist und sie endlich nach Hause konnte.

 

Gerade stand Maron vor den Backwaren, als sie unerwartet eine Stimme von der Seite vernahm.

„Maron? Du meine Güte, bist du das?“

Die Angesprochene drehte sich um und blickte die Person mit überrascht großen Augen an.

„Saki...?“ Vor ihr stand eine ihrer ehemaligen besten Freundinnen, Arm in Arm mit einem Jungen. Den Jungen kannte sie auch noch. „Hiro?“, sagte sie ungläubig, legte den Kopf etwas schief.

Sie alle gingen in dieselbe Klasse, waren im selben großen Freundeskreis. Maron konnte sich noch daran erinnern, dass Saki unter anderem permanent versucht hatte sie mit Hiro zu verkuppeln, da er angeblich Interesse an ihr hatte. Nicht, dass diese Interessen auf Gegenseitigkeit beruhten, aber ein wenig überrascht war die Braunhaarige jetzt schon, dass ihre ehemalige Freundin sich ihn jetzt geschnappt hat.

Beide lächelten Maron mit einem Lächeln an, was zwar freundlich aber auch irgendwie falsch und gekünstelt wirkte.

„Lange nicht mehr gesehen“, kam es von Saki ein bisschen zu überschwänglich. „Wie geht es dir so?“

In dem Moment machte Maron ein leicht mürrisches Gesicht. Seit wann interessiert dich das?, dachte sie sich, sagte jedoch ganz knapp: „Gut.“ Obwohl es ihr das komplette Gegenteil von gut ging. Nicht nur weil sie müde und erschöpft war.

Erinnerungen kamen ihr hoch als sie im Krankenhaus war, die Wunden des Höllenerlebnisses noch ganz frisch. All ihre Freunde kamen zu Besuch. Auf dem ersten Blick war alles gut, bis einer der Jungs -wahrscheinlich Hiro- auf sie zukam und sie umarmte. Das Nächste was sie wusste, war das sie hysterisch wurde und ihre schockierte Freunde Arzt und Krankenschwester holen mussten, damit man sie mit einer Spritze beruhigen konnte. Nachdem sie nach einigen Stunden wieder zu sich kam und alle bereits weg waren, hatte Maron jeden Einzelnen angerufen und sich entschuldigt. Ihre damaligen Freunde meinten, dass sie es verstehen würden, aber seitdem kamen sie nie wieder ins Krankenhaus sie besuchen.

Selbst Freundinnen, wie Saki, die sie seit Kindheitstagen kannte und von denen die Braunhaarige davon ausging, dass sie durch dick und dünn gingen, ließen sich nicht mehr blicken oder von sich hören. Jedes Mal, wenn Maron danach fragte, ob sie ihr Gesellschaft leisten würde, kam irgendeine halbherzige Ausrede, dass sie nicht kommen könnte. Allerdings konnte Maron in deren Sozialen Medien sehen, wie alle sich prächtig ohne sie amüsierten.

Es dauerte nicht lange bis sie verstand, dass sie alle sich von ihr abgewandt haben. Dass sie mit dieser „neuen“ Maron und ihren Problemen nicht klarkamen. Dass sie mit einem Freak nicht befreundet sein wollten.

Irgendwo konnte sie sie verstehen, aber die Wut und Bitterkeit darüber, dass ihre sogenannten besten Freunde sie im Stich ließen, überwog.

„Wo lebst du jetzt eigentlich?“ Saki’s neugierige Stimme riss sie in die Gegenwart zurück.

„Bei meinem Vater“, antwortete Maron schulterzuckend, „In Momokuri.“ Wo echte Freunde auf sie warteten…

„Ah. Gut. Cool“, kam es von Hiro nickend, worauf sie trocken eine Augenbraue hochzog.

Einige lange Sekunden vergingen in der keiner mehr was zu sagen hatte. Wahrscheinlich warteten die beiden darauf, dass sie nach deren Wohlergehen und Leben fragte, auf welches Maron allerdings kein Interesse hatte. Sie hatte mit all den Leuten abgeschlossen.

„Maron, hast du alles?“, hörte sie ihren Vater sagen, der mit einem Einkaufskorb hinter einem Regal hervorkam.

„Ich muss los.“ Sie schnappte sich eine Packung Croissants, drehte auf dem Absatz um und ging schnellen Schrittes davon. Das Saki irgendwas sagen wollte, ignorierte sie. Bittere Tränen hatten sich unbemerkt in ihre Augen geschlichen, die sie sich schnell wegblinzelte.

„Alles okay?“, fragte Takumi, als Maron bei ihm war.

„Ja.“ Sie bemerkte, wie er eine Hand auf Höhe ihrer Schulter in der Luft hielt, sie jedoch nicht berührte. „Mir geht es gut“, sagte sie mit einem kleinen, müden Lächeln.

Er nickte verstehend und schaute kurz hinter sich über die Schulter. „Alte Freunde?“

„Nein…“, schüttelte sie nur mit dem Kopf.

Mit den Worten gingen sie zur Kasse, bezahlten und fuhren mit einem Taxi ins Hotel zurück.

 

In der Nacht saß Maron auf dem Bett, in ihren Pyjama und blätterte durch Chiaki’s Skizzenbuch. Dies machte sie jede Nacht seit sie hier war. An den ersten Tagen hatte ihr Pyjama noch nach Chiaki geduftet. Sie hatte ihre Kopfhörer im Ohr, hörte sich seine Playlist an, um sich die Illusion zu machen, dass er bei ihr war.

Sorgfältig fuhr sie mit ihren Fingerspitzen über die feinen Bleistiftstriche, begutachtete jede einzelne Zeichnung von ihr.

Er zeichnete sie immer lächelnd.

Mal ein Grinsen, mal ein halbes Lächeln, mal aus vollem Herzen lächelnd.

Auf der Skizze, welches mit dem Datum ihres ersten gemeinsamen Kusses datiert wurde, war sie mit einem sehr breiten, albernen Lächeln zu sehen. Automatisch bildete sich auf ihren Lippen ein Lächeln, als sie daran zurückdachte.

Seine Zeichnungen waren alle sehr schön. Aber die, wo sie abgebildet waren, sahen besonders wunderschön aus, als hätte er sich bei ihr besonders viel Mühe gegeben.

Das Buch verwirrte Maron ein wenig.

Es war mit den Menschen gefüllt, die er geliebt und verloren hatte - seinen Eltern. Und sie verstand nicht, wie sie da reinpasste. Ebenso stand auf jeder Seite, in der ihr Gesicht zu sehen war „mein Mädchen“ da. Sie konnte nicht verstehen wieso oder in welchen Kontext.

Wie und was genau empfand er für sie?

Maron hatte zu große Angst zu hoffen.

Sie wusste nicht, was Liebe war oder ob sie fähig war, sowas Gutes und Reines zu empfinden. Aber sie wusste -war sich sicher- dass das, was sie für Chiaki empfand, diesem Gefühl von Liebe wahrscheinlich ziemlich nah kam.

Sie vermisste ihn. Sehr.

Es ärgerte Maron, dass sie ihn nicht anrufen oder schreiben konnte. Sie hatte überlegt mit dem Handy ihres Vaters heimlich die Nummer der Nagoyas nachzuschlagen und anzurufen, aber entschied sich dennoch dagegen.

Der Drang bei ihm sein zu wollen, würde sich nur verschlimmern. Weshalb sie stark blieb und die Tage bis zum Gerichtsprozess sich geduldete.

Diese Tage erwiesen sich als sehr schwierig und anstrengend. Sie waren gefüllt mit Terminen mit ihren Anwälten, welche Maron wie ein gefühlsloser Zombie durchzog. Schon nach der ersten schlaflosen Nacht war sie todmüde. Die Augenringe kehrten zurück. Und der ganze Stress strapazierte sie noch mehr. Ihr Vater war besorgt, aber sie lehnte eine ärztliche Behandlung ab.

Jeden Tag verbrachten sie Stunden in diesem -nach Leder riechendem- Büro. Ihr Kaffeekonsum hatte sich womöglich um ein dreifaches erhöht. Es war ätzend.

Alles was Maron wollte, war die Sache hinter sich zu bringen und nach Hause zukommen.

Sie wollte mit Miyako zusammen Lachen.

Sie wollte Chiaki sehen.

Sie wollte wieder schlafen können. In der fünften Nacht war Maron nicht mehr stark genug gewesen, um noch länger wach zu bleiben, hatte sich auf dem weichen Bett zusammengerollt und war eingeschlafen. Die Albträume kamen wieder und waren noch lebhafter und verstörender als zuvor. Wenn man bedenkt, dass das Monster, der für die Träume verantwortlich war, nur wenige Kilometer irgendwo von ihr entfernt war.

 

Gerade war Maron wieder am Ende des Skizzenbuches angelangt und fing nochmal vom neuen an, prägte sich jede einzelne Zeichnung seiner Eltern ein. Höchstwahrscheinlich konnte sie das Buch schon auswendig und könnte jede einzelne Seite blind beschreiben.

Besonders seine Mutter studierte sie genau, versuchte Merkmale ausfindig zu machen, die sie in Chiaki wiederfand.

Sie versuchte eine Art Gefühl von Bewunderung -oder ähnliches- für diese Frau zu empfinden, aber sie konnte nicht.

Die Frau hatte ihren Sohn ruiniert. Ihn einfach verstoßen und verlassen.

Das machte Maron wütend. Vielleicht hatte sie nicht das Recht dazu.

Sie wusste, dass Chiaki achtsam versuchte ihr Halbwahrheiten wiederzugeben, wenn es um seine Mutter ging. Sie wusste, dass mehr hinter der ganzen Story steckte.

Vielleicht gab’s auch einen vernünftigen Grund für ihre Entscheidung.

Nur fiel Maron kein Grund ein, der akzeptable für sie wäre.

 

Es war der Tag des Gerichtsprozesses. Um neun Uhr war der Termin.

Maron und ihr Vater kamen vor dem Gerichtsgebäude an und wurden von ihren Anwälten in den Saal begleitet.

„Nur keine Angst“, flüsterte Takumi ihr in einem beruhigenden Ton zu, während sie die Minuten warteten bis der Prozess losging. Maron musste etwas schmunzeln. Ein bisschen wünschte sie sich, dass sie Angst hätte oder in irgendeiner Weise nervös war. Aber sie war zu müde dafür.

Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück, schloss ihre Augen und dachte an Chiaki. Fragte sich, was er gerade machte. Jetzt um die Uhrzeit müsste die zweite Unterrichtseinheit angefangen haben.

Ob er an sie dachte?

Maron hörte wie ihr Vater leise unverständlich fluchte und da wusste sie, dass Noyn und sein Verteidiger eingetroffen waren. Sie öffnete ihre Augen, blickte jedoch starr auf ihre Hände herunter.

Im nächsten Moment kam auch der Richter und der Prozess begann.

Die ganze Zeit über, auch als die Braunhaarige schließlich für ihre Aussage dran war, blickte sie überall hin, nur nicht in Richtung des Monsters. Das war für sie der einzige Weg, um dessen Präsenz im Raum zu erdulden.

In einem leisen Wispern gab sie die Geschehnisse aus ihrer Sicht wieder, nutzte dabei das kleine Mikrofon vor sich. Sie weinte, schluchzte, ließ die Emotionen freien Lauf - wie sie es mit ihren Anwälten besprochen hatte. Danach war ihr Gesicht vollkommen nass und ihr Inneres taub.

Der Rest des Prozesses ging wie ein Film an ihr vorbei. Der Richter machte sein Urteil: lebenslange Freiheitsstrafe.

Takumi murmelte unzufrieden etwas von einer Todesstrafe, doch Maron war sich nicht sicher. Sie konnte sich auch nicht daran erinnern, dass sie den Saal und das Gebäude verlassen hatten.

Im Hotel angekommen, ließ die Taubheit nach. Sie ging eilig in ihr Hotelzimmer und holte ihre bereits fertig gepackte Reisetasche hervor. In zwei Stunden wäre der Flug.

Körperlich und geistig war sie völlig ausgelaugt.

Ihr Vater hatte versucht ihr einzureden sich eventuell für heute nochmal auszuruhen, um die letzten Stunden zu verarbeiten und dass sie morgen fliegen würden.

Aber sie wollte nicht.

Sie wollte sich nicht ausruhen.

Sie wollte nicht noch einen Tag länger hierbleiben.

Sie wollte endlich nach Hause nach Momokuri.

Das einzige was sie wollte, war einfach nur nach Hause in Chiaki’s Armen zurückzukehren.



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  ItachiUchih4
2020-01-19T03:06:42+00:00 19.01.2020 04:06
Oh man habe ich bis tief in die Nacht weiter und fertig gelesen!

Nun ich hatte in meinem vorigen Kommentar schon alles gesagt! Klasse Story!

Allerdings bin ich doch tatsächlich über Chiaki etwas verwirrt! Maron ist klar, sie liebt Chiaki und bei Chiaki, irgendwie verwirrend.

Habe ich das richtig verstanden, dass er Angst hat, dass zu verlieren was sie gerade haben, nämlich das sorgenlose einschlafen jeden Abend und er deshalb nicht weiter geht? Und ist er noch zu blind um zu erkennen, dass Maron mehr will? Sowie ich seine Gefühle verstehe, hat er sich auch verliebt, was man aber noch nicht deutlich lesen konnte!? Also bzw. er noch nicht zugegeben hat, aus Angst sie dadurch ganz zu verlieren oder?

Man hatte ich mit Maron Mitleid, wie blöd ist Chiaki da man!? :P

Schreib schnell weiter! Wahnsinn die Story! :P

lg
Antwort von:  mairio
19.01.2020 05:48
Hallo :)

erstmal danke, fürs reinlesen! das freut mich sehr! (und das noch zur späten/frühen(?) Stunde ^^)

zu deinen fragen zu Chiaki:
ja, ja, ja und nochmals ja.
der ist was seine Gefühle angeht ein wenig komplizierter, da der sie selbst nicht versteht ^^* (man, kämpfe ich mich mit dem auch ab beim Tippen...)
am Anfang war die ganze Nachts-Treffen sowie Schlafsache, wie eine Art Zweckbeziehung (?) für ihn, um jemand zum reden zu haben und halt schließlich auch schlafen zu können, auch wenn er schon irgendwo wusste, dass Maron ihm was bedeutete.
der kapiert auch nicht, dass das, was er Maron gegenüber empfindet Liebe ist (wird sich noch in späteren Kapiteln zeigen und zur Herausforderung für ihn)
er ist allerdings auch ziemlich gezeichnet von seinem emotionalen Trauma, lässt für gewöhnlich niemand an sich ran, aus angst, dass man ihm in stich lässt. und bei Maron hat er eher auch die Angst, dass -wenn die beziehung weiter gebracht wird- er derjenige ist, der am Ende Grund dafür ist, dass sie ihn irgendwie noch verlassen wird.
Er erkennt in nem gewissen Maße, dass sie mehr will, aber seine Ängste sich ihr zu nähern und dass er irgendwie alles kaputt macht, selbst beim kleinsten fehler, hindern ihn daran ihre Gefühle aus ihrer Sicht richtig zu verstehen.
Und ja, teilweise ist der auch wirklich einfach Blöd :D

Ich hoffe, ich habe alle vier fragen mit dieser Psychoanalyse beantwortet xD (Und nein ich bin privat nicht im psychologischen Gebiet unterwegs ^^)

Bis zum nächsten Kapitel kann es jetzt momentan eine Weile dauern, weil ich privat in einer ziemlichen Stressphase bin :/
Ich bemühe mich aber, dass es so bald wie möglich weitergeht :)

LG
Antwort von:  ItachiUchih4
19.01.2020 11:32
Hehe ok, solange dich die Lustlosigkeit nicht besiegt und die Geschichte unvollendet bleibt! :P

Könnte es allerdings verstehen, wäre trotzdem schade um die schöne Story! :)

Grüße
Antwort von:  mairio
19.01.2020 11:52
Nein, auf keinen Fall!

Jede Story wird beendet, selbst wenn es Jahre dauert xD (so eine lange Wartezeit will ich den Lesern natürlich nicht antun xD mir tun schon paar Monate immer leid :'D)

Wie gesagt, danke fürs Lesen und hoffe du bleibst geduldig :)

LG


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