Insomnia von mairio ("You can't fix me.") ================================================================================ THIRTY-NINE ----------- THIRTY-NINE   Es kam Maron vor wie Stunden, seitdem ihr Vater sie in ihrem Zimmer allein ließ, sie in ihrem Bett lag und leeren Blickes in den Raum starrte. Es war das zweite Mal, dass sie so richtig darauf lag. Gemütlich war ihr Bett nicht. Viel zu plüschig und viel zu weich. Die Laken fühlten sich auch falsch an. Sie wollte Chiaki’s Bett. Sie kannte jede Vertiefung und jede Feder der Matratze und sie wusste, wie man sich auf ihr richtig drauflegte. Das Gefühl auf ihrem Bett war einfach nur fremdartig und falsch. Egal auf welcher Seite, ob rechts oder links, sie sich wendete. Sie versuchte ihn neben sich vorzustellen, doch es half nichts. Es war dunkel in ihrem Zimmer. Trotz der Nachttischlampe, die viel zu schwach war. Unheimliche Schatten breiteten sich im Raum aus. Und es war unheimlich still. Maron spürte, wie ihr Körper sich instinktiv anspannte. Ein Teil von ihr war noch immer verbittert und wütend über die Gesamtsituation. Ein anderer, irrationaler Teil von ihr bekam Angst. Sie wusste nicht, wovor sie Angst hatte, da sie im Grunde genommen wusste, dass ihr nichts passieren konnte und dieses Zimmer für sie grundsätzlich sicher war. Aber dieses Gefühl des absoluten Unbehagens bekam sie einfach nicht los, selbst als sie ihren zitternden Körper unter dem Schutz der Decke vergrub. Maron fing an sich zu wünschen, dass es bereits Montag war. Sie brauchte Chiaki. Ihr Vater sprach nur davon, dass sie sich außerhalb der Schule nicht sehen konnten. Sie wussten alle, dass sie ihn brauchte. Schließlich wurde der Schulverwaltung auch klare Anweisungen gegeben, dass Chiaki sich im Notfall um sie kümmern sollte. Sie brauchte ihn aber nicht nur da. Sondern auch hier. Jetzt. In dieser schaurigen Einsamkeit. Ein plötzliches Geräusch ließ Maron zusammenzucken. Sie brauchte einen Moment, um zu registrieren, dass ihr Handy klingelte. Sie nahm es von ihrem Nachttisch und ihr Körper entspannte sich etwas, als sie Chiaki’s Namen auf dem Display sah. Es war ein Video-Anruf. „Hallo“, nahm sie schniefend ab, setzte sich auf, lehnte sich mit dem Rücken an die Wand an und justierte die Frontkamera. „Hey“, kam es von seiner samtigen Stimme und sie sah seinen besorgten Gesichtsausdruck auf ihrem Bildschirm. Automatisch bildete sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht als sie ihn sah, auch wenn sie sich wünschte ihn in Person vor sich zu haben. „Ich wollte sichergehen, dass du okay bist“, sagte Chiaki, worauf Maron nickte und sich die getrockneten Tränen auf ihrer Wange wegwischte. „Ich hätte mich am liebsten in dein Zimmer reingeschlichen, um mich deswegen zu versichern… aber dann wäre womöglich die zweite Hölle ausgebrochen“, rollte er mit den Augen. Sie nickte zustimmend. „Und dein Vater hätte noch mehr Grund gehabt mich zu kastrieren.“ Kopfschüttelnd kicherte Maron leise. Er schaffte es trotz allem sie immer wieder zum Lachen zu bringen. „Wie angepisst war er denn?“, hörte sie ihn fragen. Seufzend gab Maron ihm alles wieder, was sich vor wenigen Stunden in ihrem Zimmer abgespielt hatte. Schweigend hörte er mit einem ausdruckslosen Gesicht zu. „Bei mir lief es nicht viel anders ab“, murmelte er, die Augenbrauen grimmig zusammengezogen und erzählte anschließend von seiner Auseinandersetzung mit Kaiki. Danach war es für einige Sekunden still zwischen ihnen. Sehnsüchtig blickte Maron ihn über den Bildschirm an. „Ich vermisse dich“, wisperte sie leise, als ihr wieder Tränen in die Augen stiegen. Seine Mundwinkel zuckten wehleidig nach ob. „Schule“, sagte er in einem tröstenden Ton, versuchte optimistisch zu klingen. „Hmmm...“ Sie seufzte schwer, strich sich ein paar feuchte Strähnen aus dem Gesicht. „Ich verstehe es einfach nicht. Was genau hat es für einen Sinn, dass sie uns trennen? Wir haben ihnen gesagt, dass wir einander brauchen zum Schlafen. Dann müssen die doch verstehen, dass sowas uns somit mehr schadet als gut tut...“ Verständnislos warf Maron ihre freie Hand in die Luft. „Also, ich vermute stark mal, dass es zum Teil was dem persönlichen Groll von deinem Vater mir gegenüber zu tun hat“, sagte Chiaki in einem leichten Unterton. „Aber ich denke, dass es vielleicht auch eine Art Taktik ist, um dich -oder uns- zur Therapie zu bringen.“ Maron machte ein konfuses Gesicht und neigte irritiert den Kopf. „Wahrscheinlich denken unsere alten Herren, dass wir vor Erschöpfung irgendwann nachgeben“, erklärte er. „Ahh...“ Chiaki lachte spöttisch auf. „Was natürlich schwachsinnig ist“, sagte er abwertend und schüttelte den Kopf. „Ja“, stimmte Maron ihm zu. Für eine Weile sagte niemand mehr was. Ihre Blicke schweiften entweder durch den Raum oder zum Display. Unruhig strich Maron sich durch die Haare, ehe sie niedergeschlagen ihre Augen senkte. „Wenn du willst, können wir jede Nacht so miteinander reden“, schlug Chiaki vor. „Nehmen wir uns ein Beispiel an Shinji und Natsuki.“ Sie seufzte. „Das ist nicht dasselbe.“ Gerade wollte sie unbedingt in seine Arme sein und die Welt vergessen. „Besser als nichts. Ich hätte ehrlich gesagt noch erwartet, dass dein Vater dir das Handy wegnimmt.“ „Sag das nicht zu früh“, schmunzelte Maron. Er kicherte ein raues Kichern. Sie sah, wie er den Kopf zur Seite drehte und nach draußen sah. Sie blickte ebenfalls aus dem Fenster. Der Morgen brach allmählich an. Leicht erstaunt darüber, dass plötzlich die Zeit so schnell verging, wandte Maron sich wieder Chiaki zu und lächelte. Vielleicht war die Telefonier-Lösung doch nicht so schlecht. Zumindest gab es ihr das Gefühl, dass er bei ihr war. Ein bittersüßes, trauriges Lächeln haftete auf seinem Gesicht. „Ich werde jetzt auflegen“, sagte er resigniert. Sie nickte. „Ich liebe dich“, wisperte sie müde. „Ich liebe dich auch“, sagte er und im nächsten Moment war ihr Bildschirm schwarz. Währenddessen erhellte sich der Himmel und die morgendlichen Sonnenstrahlen brachen durch die Dunkelheit durch. *** Chiaki und Kaiki sprachen kein Wort mehr miteinander. Es beruhte auf Gegenseitigkeit. Besonders Chiaki war extrem angepisst. Kaiki hätte in dieser Nacht nicht in seinem Zimmer sein sollen. Die Tür war abgeschlossen gewesen und er wusste das, weil er jeden Abend immer sichergestellt hatte, dass sie auch verschlossen war, bevor Maron kam. Was bedeutete, dass Kaiki einen Schlüssel benutzt hatte, um reinzukommen. Und sich einfach Zugang verschafft hatte. Was Chiaki nicht verstand war das wieso, doch Kaiki weigerte sich ihm zu sagen, was er in seinem Zimmer wollte. Er sprach nur davon, dass es sein Haus sei und er als Erwachsener, ein Recht dazu hätte in seine Privatsphäre einzudringen. So ein Bullshit, dachte Chiaki sich. Welchen Grund er auch immer hatte, in seinen Augen war das einfach nur ein mieser Vertrauensbruch, weshalb er unter anderem wütend auf ihn war. Ironischerweise war Kaiki aus denselben Gründen auch auf ihn wütend. Dass er sein Vertrauen gebrochen hatte. Worauf Chiaki nur abschätzig mit den Schultern zuckte. Gerade war er draußen auf seinem Balkon rauchen. Es war verdammt lange her, dass er eine Zigarette geraucht hatte. Seit der Zeit in der sein Mädchen in Osaka war. Es war auch das erste Mal, dass sie wieder richtig getrennt waren... Die Zigarette tat gut, entspannte ihn ein wenig und befreite seinen Kopf etwas. Er dachte an Maron, wollte sie unbedingt sehen. Sich versichern, dass es ihr gut geht. Er sah zu den Nachbarn rüber, hatte überlegt das Gitter runter zu klettern und sich in ihr Zimmer, welches das einzige Fenster, welches in der Dunkelheit erleuchtet war zu schleichen. Aber bei ihrem Glück waren die Chancen nicht gering, dass sie wieder erwischt werden und alles nur noch schlimmer machen. Einmal die Nacht reichte vollkommen. Weshalb er auf die digitale, virtuelle Alternative zurückgriff und sein Mädchen anrief. Chiaki konnte sofort erkennen, dass sie Angst hatte. Sich in dem Zimmer, welches sie nicht mal mochte, unwohl fühlte. Er war froh, dass er Maron -wenn auch nicht persönlich- Trost spenden konnte. Nichtsdestotrotz fand er die Gesamtsituation einfach nur bescheuert. Dass Takumi ihr es nicht mal erlaubte nachts die Küche zu benutzen, erschien ihm extrem. Es war Maron gegenüber auch nicht fair. Kochen war immer etwas, was sie von ihrer Angst und ihrer Unruhe ablenkte und jetzt wurde ihr dies genommen. Bescheuert und verdammt unfair.   Chiaki verbrachte den ganzen Sonntag eingebunkert in seinem Zimmer. Auf keinen Fall wollte er Kaiki in irgendeiner Weise antreffen. Er begann mit dem Gedanken zu spielen, sich jede Nacht zu seinem Mädchen hinauszuschleichen, sobald sich die Situation ansatzweise beruhigt hatte. Sie dann in seine Arme zu nehmen und ihr Sicherheit zu geben. Doch kaum hatte er den Gedankengang zu Ende gedacht, war von draußen Lärm zu hören. Und ehe Chiaki sich versah, entdeckte er Kaiki mit zwei Arbeitern draußen, die das Gitter an der Wand entfernten. In dem Moment, als Kaiki zu seinem Fenster hochsah, funkelte Chiaki ihn wütend an und zog die Vorhänge wieder zurück. Großartig. Jetzt konnte man sich weder rein- noch rausschleichen. Ganz große Klasse. Er hatte wirklich keinen Bock mehr. Wollte nicht mehr hier sein, in diesem Haus leben. Er wollte raus aus diesem Haus, aus dieser Stadt - einfach nur weg von allem sein. Aber er würde sein Mädchen nicht im Stich lassen. Sie hielt ihn hier – in diesem Haus, in dieser Stadt. Sie war der einzige Grund. Sie war immer der Grund. Sein Grund für alles.   In der Nacht auf Montag hatten beide wieder über Telefon miteinander geredet. Für einige Stunden hatte er sich versucht mit Zeichnen abzulenken, bis er sie gegen Mitternacht anrief. Größtenteils hatte Chiaki sich über Kaiki’s Aktion mit dem Gitter aufgeregt, worauf Maron nur seufzend eine Anmerkung gemacht hatte, dass sie es von ihrem Zuhause aus hören und sehen konnte. Selbst durch die Kamera im schwachen Licht konnte er ihre blutunterlaufenen Augen erkennen. Sie sah müde und fertig aus, was ihm im Herzen weh tat. Als er anschließend sagte, dass er den ganzen Tag nicht aus seinem Zimmer rauskam und dementsprechend auch noch nichts gegessen hatte, bekam sie allerdings ein säuerliches Gesicht. Verlangte von ihm, dass er seine Gesundheit nicht vernachlässigen und sofort was zu essen sich holen soll. Daraufhin konnte er sich ein kleines, amüsiertes Schmunzeln nicht verkneifen und tat wie ihm geheißen. Ging schnell runter, um sich in der Küche was Essbares zu holen und direkt wieder hoch, um mit ihr weiterzureden - hatte dabei noch sichergestellt, dass alle im Haus -insbesondere Kaiki- am Schlafen waren. Er konnte seinem Mädchen einfach nicht Nein sagen. Ein zufriedener Ausdruck bildete sich auf Maron’s Gesicht als er wieder vor dem Bildschirm auftauchte, was ihn automatisch zum Lächeln brachte. Umso mehr sehnte er sich nach ihr. Konnte es kaum erwarten sie in der Schule endlich wieder in seine Arme nehmen zu können. Gegen fünf Uhr morgens, zwei Stunden bevor beide zur Schule fuhren, legten sie auf, weil Maron ab dem Zeitpunkt wieder in die Küche konnte und daher auch direkt kochen wollte. In der Zwischenzeit machte Chiaki sich für die Schule fertig. Er merkte allmählich, wie der Schlafmangel an ihn zehrte. Er war verdammt müde. Wie gewohnt, fuhr er zu Yamato und holte ihn ab. Dessen mitleidigen Blicken zu urteilen, musste Miyako ihn bereits über die aktuelle Lage berichtet haben. „Tut mir leid, Kumpel...“, sagte Yamato, als er sich auf dem Beifahrersitz hinsetzte. Chiaki entgegnete darauf nichts, fuhr wortlos zur Schule weiter. Ein großer Teil von ihm war nach wie vor angepisst. Ein kleiner Teil von ihm war einfach nur müde. Und ein weiterer Teil von ihm konnte es kaum erwarten sein Mädchen endlich wiederzusehen. Im Schulgelände angekommen, parkte er seinen Wagen in die nächste freie Lücke, die Miyako’s Wagen am Nächsten war, welches ebenfalls im Parkprozess sich gerade befand. Er stieg aus und zur selben Zeit öffnete sich Maron’s Tür. Sie stieg aus und ihre Blicke trafen sich. Sofort zogen sich ihre Mundwinkel zu einem glücklichen Lächeln hoch. Bei dem Anblick ihres Lächelns, wie sie zu ihm lief und sich in seine Arme warf, konnte Chiaki sich selbst ein Lächeln nicht verkneifen. Er schlang seine Arme fest um sie, eine Hand verwirrte sich in ihren Haaren und er vergrub sein Gesicht in ihren Nacken. Tief atmete er ein und aus, zog ihren Duft in sein ein. Sie umarmte ihn so fest, dass sie ihm wahrscheinlich die Luft wegdrücken konnte. Für eine Weile standen sie da, ihre Körper eng aneinandergepresst, genossen das Gefühl des anderen. Für eine Weile konnten sie so tun, als würde der Rest der Welt für die paar Momente nicht mehr existieren. Leider erinnerte die Schulglocke die Beiden schließlich daran, dass die Welt um sie herum noch existierte und brachte sie in die Realität zurück. Chiaki spürte, wie Maron in seinen Armen schwer seufzte. Er drehte sein Gesicht in ihren Hals und küsste die warme Haut dort. Anschließend hob er leicht seinen Kopf und berührte ihre Lippen mit seinen. Es war ein langsamer, sinnlicher Kuss. Am liebsten hätte er ihn für einige Momente länger hinausgezögert, aber leider Gottes mussten sie in den Unterricht. Sie trennten sich voneinander und er blickte in ihre blutunterlaufenen, dennoch schönen Augen. Der Drang war groß sein Mädchen zu fragen, was sie von Schwänzen hielt. Sie konnten in sein Auto steigen und irgendwohin fahren. Vielleicht zur Hütte, doch da fehlte ihm im Moment der Schlüssel. (Außerdem würde Kaiki das bemerken.) Sie brauchten auch gar nicht irgendwo aussteigen und könnten im Auto bleiben. Sich auf der Rückbank zusammen hinlegen und ein Nickerchen machen. Vielleicht auch noch ein bisschen Rummachen. Warum nicht? Das Auto war direkt hinter ihm. Sie konnten einfach einsteigen und verschwinden. Er hatte seine Kreditkarten, Bargeld und sein Sparkonto konnte er daheim auch eventuell noch holen. Sowie andere Utensilien, wie Decken. Sie konnten endlich allein sein. Weg von all der Scheiße. Während seine Durchbrenn-Fantasien sich in seinem Kopf selbstständig machten, sah Maron ihn mit einem schläfrigen und dennoch liebevollen Blick in die Augen. Leise seufzend drückte er ihre einen Kuss auf die Stirn. „Wir kommen noch zu spät zum Unterricht“, murmelte er, verschränkte ihre Finger miteinander und lächelte sie an. Sie nickte nur, drückte seine Hand und lief mit ihm zusammen in ihre Klasse. So groß der Wunsch auch war dem Ganzen hier zu entfliehen, so war es womöglich doch besser zu bleiben. Sie würden bleiben und ihr Bestes dafür geben, dass es irgendwie doch funktionierte. Es würde fast so wie vorher sein, nachdem sie sich kennengelernt hatten. Nur dass sie tagsüber in den sechs bis acht Stunden zusammen sein werden - und nicht nachts. Er wird sich mit der Müdigkeit, den Albträumen sowie den kaputten Erinnerungen abquälen für sie. Er wird dafür sorgen, dass es funktionierte für sie. Er würde für sie beide -und insbesondere für sein Mädchen- stark bleiben.   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)