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Insomnia

"You can't fix me."
von

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FORTY-SIX

FORTY-SIX

 

Es mussten ein paar Stunden vergangen sein, als Maron aufwachte. Ein, zwei…oder drei? Vielleicht sogar vier?

Das Erste, was sie registrierte, war, dass die Sonne tiefer stand, einen kräftigen Orangeton angenommen hatte und die Schatten in dem verwüsteten Zimmer länger waren.

Das Zweite war, dass Chiaki nicht mehr neben ihr lag. Maron wandte ihren Kopf zur Seite und sah, wie er mit dem Rücken zu ihr gewandt auf der Bettkante saß und nicht bemerkte, dass sie wach war. Er hatte sich seine Boxershorts schon wieder angezogen, das Gesicht in seine Hände vergraben.

Das Dritte war der Schock, der sich in ihrer Brust festsetzte, als sie seinen Rücken betrachtete und realisierte, was geschehen war.

Tiefe, rote Kratzer waren an den Schulterblättern zu sehen, die von ihren Nägeln stammten. Sie rückte näher zu ihn heran, betrachtete sein Seitenprofil.

Die Wangen waren von ihren Schlägen gerötet, Blut klebte ihm am Mundwinkel und Bissspuren zeichneten sich auf seinem Hals ab.

Fassungslos hielt Maron sich eine Hand vor dem Mund und drehte sich von ihm weg. Ihr wurde schlecht.

Sie hatte ihm geschlagen und wehgetan.

Sie war nicht besser als seine gottverdammte Mutter.

Was für ein Recht hatte sie gehabt? Sie war wütend auf ihn gewesen. Furchtbar wütend auf seine verletzenden Worte.

Aber das rechtfertigte nichts.

Ihre Emotionen und Gedanken gingen mit einem Mal auf Hochtouren.

Maron wusste, dass der Schlafmangel Grund für alles war. Sie hätte ihm dabei helfen sollen, für ein paar Stunden mehr zu schlafen. Dann würde es ihm auch besser gehen.

Doch stattdessen machte sie alles nur noch schlimmer. Ließ sich noch dazu auf den Sex ein. Sie wusste nicht, was sie da weitergetrieben hatte.

Es wäre gelogen, wenn sie behaupten würde, dass sie es nicht wollte. Die Sehnsucht nach ihm und seinen Körper überwog. Jegliche Vernunft war abgeschaltet gewesen, als ihre Lippen aufeinandertrafen und wurden von den körperlichen Bedürfnissen und Instinkten ersetzt. Ihre Sinne waren so benebelt gewesen, dass sie die Schmerzen davon gar nicht wahrnahm. Weder Liebe noch Genuss war beim Sex vorhanden gewesen. Dennoch wollte sie es, ging ihren Instinkten nach.

Sie hatte ihn letztendlich auch nur benutzt.

Ein lauter Schluchzer entkam ihrer Brust, welches Chiaki von seiner Starre löste. Er drehte seinen Kopf zu Maron um.

Sein Gesicht war leichenbleich und ein panischer Ausdruck lag in seinen Augen.

„Maron-“ Sie wandte sich abrupt von ihm ab. Konnte ihm nicht in die Augen blicken. Zu beschämt war sie von ihren Taten.

„I-Ich...“, stammelte sie schnell, rappelte sich auf und suchte ihre Klamotten. „Ich muss gehen.“ Mit den Worten zog sie sich in Handumdrehen an.

Sie hörte, wie er aufstand. „W-Was?“, entkam es ihm hauchleise.

„Ich kann hier nicht bleiben.“ Ein Schluchzen entkam ihrer Brust und die Tränen fielen unkontrolliert herunter.

„I-Ich kann hier nicht bleiben“, wiederholte Maron immer und immer wieder, bis sie schließlich weinend aus seinem Zimmer rausrannte und ihn in dem Chaos zurückließ.
 

***

Sie hasste ihn.

Sie musste ihn hassen.

Weshalb sonst würde sie nicht bleiben wollen.

Wenn Chiaki in ihrer Haut stecken würde, würde er sich auch hassen.

Er konnte nicht glauben, was sie getan hatten. Was er getan hat. Schließlich hatte er es in die Wege geleitet. Er war der Auslöser.

Er hatte sie provoziert. Sie ohne Einverständnis geküsst und dominiert.

Und er hatte nichts getan, um sich zu stoppen.

Das Blut in seinen Adern gefror, als er die Spuren auf ihrem Körper sah, die Abdrücke seiner Hände und Finger, wo er zu fest zugepackt hatte.

Er hatte ihr wehgetan. Schon wieder.

Er wollte sich entschuldigen. Für alles, nicht nur für die Verletzungen. Doch Maron wies ihn entschieden ab. Und er konnte nichts machen, außer dazustehen und dabei zuzusehen, wie sie vor ihm wegrannte. Ihn verließ.

Sie musste ihn hassen. Definitiv. Genauso wie er sich selbst hasste.

Sein Herz fühlte sich an, als wurde es in tausend Stücke gerissen. Der Schmerz in seiner Brust war qualvoll. Wenn er es nicht besser wüsste, wäre er davon ausgegangen, dass er einen Herzinfarkt erlitt. Es fühlte sich an, als wäre ein Laster über ihn drübergefahren und würde mit seinem gesamten Gewicht auf seinen Lungen stehen.

Er konnte nicht atmen. Er konnte nicht klarsehen.

Sein Herz hämmerte in seinen Ohren. Blut strömte zu schnell in seinen Kopf und ihm war heiß und schwindelig. Er fühlte sich, als würde er ersticken.

Er konnte nichts als diesen immensen, unerträglichen Druck auf seinen Körper spüren, der ihn auseinanderzubrechen schien. Alles andere fühlte sich taub an.

Er fiel zurück, sein Kopf war gegen die Wand gelehnt. Chiaki versuche sich zu beruhigen, seine Atmung zu beruhigen. Er versuche klar zu denken.

Das ist kein Herzinfarkt, sagte er sich. Er wusste es besser.

Er hatte eine Panikattacke.

Der Schmerz verschlang ihn richtig. Es war etwas, außerhalb seiner Kontrolle. Und er wusste nicht, wie er sich dieses Mal helfen konnte. Er wusste nicht, ob er stark genug war, um dagegen anzukämpfen - ob er noch die Kraft dazu hatte.

 

Gerade als er auf dem Boden zusammenbrach, auf dem Rücken lag und seine Hand gegen den Schmerz an seine Brust presste, öffnete sich die Tür.

Für einen minimalen Moment spürte er sein Herz neustarten. Chiaki hob hoffnungsvoll seinen Kopf.

„Hey, Chiaki!“

Stöhnend ließ er seinen Kopf wieder fallen. Ausgerechnet der...

„Chiaki?“ Schritte waren zu hören, die in das Zimmer eintraten. „Alter, was ist denn hier passiert? Warum steht alles kreuz und quer? Und was machen die Decken und Kissen auf dem Boden?“

Stille.

„Hier sieht es wirklich aus hätte eine Bombe eingeschlagen.“

Und da war er. Sein Schuh war direkt neben Chiaki’s Kopf. Verdutzt starrte Shinji auf ihn herab.

„Hey.“ Es war alles, was Chiaki im Moment zustande brachte.

Shinji blickte ihn perplex an. „Was zur Hölle machst du auf dem Boden? Wo sind deine Klamotten?“ Er blinzelte. „Warte-…hast du geweint?“

Chiaki schloss seine feuchten Augen, betete darum zu Sterben.

„Was ist los?“ Shinji’s Stimme war plötzlich näher als vorher. Er musste sich neben ihn runtergekniet haben. „Alter, was ist los mit dir?“

„Kann nicht atmen“, wisperte Chiaki.

„Was meinst du damit, du kannst nicht atmen?“

Er schlucke schwer. „Bitte. Geh.“

„Uhm...Nein“, sagte Shinji. „Ich sehe doch, dass du leidest.“

„Das nennt man Panikattacke.“ Chiaki versuchte zu atmen. „Und ich hätte gern meine Ruhe.“

„Oh Shit.” Shinji stand auf. „Warte - ich schau, ob Kaiki in seinem Büro was hat.“

„Bad“, erwiderte Chiaki.

Für einen Augenblick runzelte Shinji die Stirn und ging anschließend in sein Bad. „Alter! Hast du Kaiki’s Vorrat ausgebeutet?!“

Hätte Chiaki die Kraft dazu, hätte er mit den Augen gerollt. Einen Moment später kam Shinji mit den richtigen Medikamenten wieder, zu seiner Erleichterung. „Die hier, oder?“

Chiaki nickte. Er hatte diese Medikamente noch nie genommen. Er hatte sie für Maron geholt, für den Fall, dass sie sie bräuchte... Nie kam es ihm in den Sinn, dass er sie mal bräuchte.

„Brauchst du Wasser?“

Chiaki verneinte kopfschüttelnd. Mit zittrigen Händen öffnete er die Packung. Er konnte sich nicht an die richtige Dosis erinnern, weshalb er willkürlich einfach drei Pillen in den Mund nahm, hart zubiss und den abscheulich bitteren Geschmack auf seiner Zunge willkommen hieß.

Einige Minuten später, nachdem die Medikamente ihre Wirkung zeigten, löste sich auch der imaginäre Laster von seiner Brust. Seine Lungen konnten wieder arbeiten.

Chiaki fühlte sich schlaff, erschöpft. Und träge.

Er zog sich auf die Beine hoch, stolperte und schwankte etwas.

„Willst du mir jetzt sagen, was hier los ist?“, hörte er Shinji fragen, der ihn immer noch anstarrte, die Arme vor sich verschränkt.

Er war so müde.

Ein Lachen baute sich in seiner Brust auf und er wusste nicht, woher es kam. Chiaki schaffte es das Lachen zu unterdrücken, aber konnte sich dennoch nicht das dämliche Lächeln verkneifen. „Verprügel’ mich einfach“, sagte er.

Sorge breitete sich bei der Aussage auf Shinji’s Gesicht aus.

Diese Medikamente verlangsamten seine Sinne. Chiaki hoffte, dass er nicht zu viele von ihnen genommen hatte.

„Hey“, sagte Shinji sanft, „Was ist passiert?“

Kopfschüttelnd schloss Chiaki seine Augen. „Was ist passiert?“ Nun lachte er wirklich. „Was ist passiert, was ist passiert...“ Er öffnete lang genug seine Augen, um zu sagen:

„Maron hasst mich.“

„Was?“

„Japp. Ich denke, dass tut sie...“ Chiaki stoppte, runzelte die Stirn, tippte sich mit dem Finger aufs Kinn. „Ich kann mir vorstellen, dass sie deswegen vorhin abgehauen ist und geweint hat.“

„Aber-… Warum? Warum hat sie geweint?“

Wieder musste Chiaki lachen. „Weil ich-“, sagte er und zeigte auf sich, „-ein Arsch bin.“

„Erzähl mal was Neues“, erwiderte Shinji scherzhaft.

Chiaki lächelte amüsiert. Lustig. Wirklich lustig der Kerl.

„Ich brauch ein neues Shirt“, murmelte er, fühlte sich plötzlich in einer ganz anderen Art und Weise taub. „Hmm?“ Er schaute sich um, kniff sich die Augen zusammen. Verschränkte die Arme vor seiner nackten, vernarbten Brust. „Siehst du irgendwo ein sauberes Shirt?“

Shinji zog leicht belustigt eine Augenbraue hoch. „Alter, bist du high?“

Lachend winkte Chiaki ab.

„High? Mit Koks und so hab ich doch aufgehört.“ Er hob belehrend einen Finger. „Denn Drogen sind schlecht - wie Doctor Daddy K uns beigebracht hat.“

„Aw, ich wusste gar nicht, dass du Grübchen hast.“ Shinji deutete kichernd auf sein Gesicht. „Sehr süß.“

„Halt die Fresse.“ Chiaki zog seine Brauen zusammen. „Und hau ab.“

Shinji lachte. „Ich glaub, du hast ein paar Pillen zu viel genommen“, sagte er und hob die Packung vom Boden auf. „Hier steht, du sollst eine alle drei Stunden nehmen.“ Erneut lachte er laut auf. „Scheiße, man. Würdest du gerade nicht leiden, würde ich dich filmen. Das ist Comedy pur!“

Genervt zeigte Chiaki ihm den Mittelfinger. „Ich bin müde. Also, verschwinde.“

„Erst wenn du mir sagst, was zwischen dir und Maron passiert ist.“ Shinji lehnte sich an die nächstliegende Wand an.

Chiaki ignorierte ihn, hielt immer noch Ausschau nach einem Shirt. Fand auch schließlich eins und zog es sich an.

„Du hast es verkehrtherum angezogen“, merkte Shinji an.

Chiaki erstach ihn mit seinem Blick, ließ sich aufs Bett fallen und schloss die Augen. Er fühlte sich einfach nur kraftlos.

Er spürte, wie sich das Gewicht auf einer Seite verlagerte. „Warum sind die Decken und Kissen auf dem Boden?“, fragte Shinji verwundert.

Chiaki schielte zu ihm hoch. „Was glaubst du wohl?“

Es dauerte eine Sekunde bis-

„Oh... Oh! Eww!“ Shinji sprang angewidert vom Bett runter. Diesmal schaffte Chiaki es mit den Augen zu rollen. Er beobachtet, wie Shinji sich wieder an die Wand stellte und seinen Blick durch den Raum kurz schweifen ließ. „Ist Sex bei euch beiden immer so…zerstörerisch?“

„Keine Ahnung. War das zweite Mal gewesen.“

„Oh.“

„War garantiert auch das letzte Mal.“

„Warum?“

„Weil Maron mich hasst.“

„Ich glaube nicht, dass sie das tut, aber ich frage nochmal: warum?“

Seufzend strich Chiaki sich eine Hand durch die Haare. „Weil ich alles kaputt mache“, offenbarte er schließlich. „Ich habe sie verletzt…ihr wehgetan…für Sex benutzt…“ Er verstummte kurz. „Ich habe massiv verkackt“, sagte er in einem resignierten Ton.

Shinji nickte verstehend und sagte für eine lange Weile nichts.

Chiaki schloss schweigend seine Augen. Er spürte, wie der Rausch und das Taubheitsgefühl der Pillen allmählich nachließen.

„Weißt du, Kumpel“, begann Shinji zu sagen und ging aufs Sofa zu, setzte sich auf Maron’s gewohnten Platz hin.

„Ich sage mal das, was dir höchstwahrscheinlich nicht gefällt, aber mir und allen anderen durch den Kopf geht: Du und Maron - ihr macht euch gegenseitig kaputt. Ihr fuckt euch gegenseitig ab. Klar, ihr helft euch gegenseitig, ist eigentlich auch schön - aber das ist keine Dauerlösung für eure Probleme! Ihr seid wie ein Pflaster füreinander, welches die Wunde überdeckt. Aber nicht das vollwertige Allheilmittel, verstehst du? Denn offensichtlich sind eure Wunden nach wie vor da, heilen nicht und entzünden sich weiter (im metaphorischen Sinne versteht sich).“ Er stoppte kurz, seufzte.

„Aber ihr seid beide in eurer eigenen, kleinen Welt und seht das nicht.“ Chiaki sah zu ihm rüber. Seine Augen weiteten sich. „Ich weiß, alles ist abgefuckt. Und es war wahrscheinlich nicht die beste Lösung euch beide zu trennen“, fuhr Shinji fort, „Aber ganz ehrlich: Ihr seid beide abgefuckt. Ihr seid beide abgefuckt im Kopf. Nicht nur Maron.“ Er blickte ihm hart in die Augen. „Du auch. Und solange ihr nichts unternehmt, um das zu ändern, werdet ihr abgefuckt bleiben.“

Er hatte Recht. Er hatte so verdammt Recht. So gern Chiaki alles dem Schlafentzug, den Halluzinationen, oder irgendjemanden in die Schuhe schieben wollte – so lag die Schuld doch bei ihm.

„Was soll ich tun?“, fragte er kaum hörbar. „Wie kann ich mich bessern?“

Shinji’s Augen besänftigten sich. Er stand auf und lief zur Balkontür, machte sie auf, ließ ein bisschen frische Luft rein.

„Das kann ich dir auch nicht sagen“, seufzte er. „Ich bin leider auch nicht allwissend.“

Chiaki fluchte. „Gott-“

„Nope. Lass den alten Herrn da oben in Ruhe. Der wird dir nicht helfen können. Du bist auf dich allein gestellt.“

Leicht frustriert stöhnte Chiaki auf. Wozu gab Shinji ihm diesen erleuchtenden Vortrag, wenn er ihm nicht mal einen Rat geben konnte?

Plötzlich durchbrach Shinji wieder die Stille zwischen ihnen.

„Erinnerst du dich an letzten Sommer? Wo ich für ein zwei Wochen in einem Basketball-Camp in Niigata war?“

Chiaki nickte bejahend. Er konnte sich erinnern, dass Kaiki eine riesige Sache draus gemacht hat und Kagura aus irgendwelchen Gründen, angepisst auf seinen kleinen Bruder war. Aber zu der Zeit hatte ihn das alles wenig interessiert.

Er sah, wie Shinji sich die Lippen zusammenpresste und für eine Weile ausdruckslos in die Luft starrte.

Schließlich trafen sich ihre Blicke.

„Nun, ich war in Niigata, aber nicht wegen des Camps“, gestand Shinji leise, als würde er nicht wollen, dass jemand mithörte, „Das war nur ein Vorwand, den Kaiki mir gegeben hat.“
 

*

Es war 20:56.

Das Einzige was Chiaki wahrnahm, war das Ticken der Uhr, während er im Kaiki’s Büro die Sekunden runterzählte bis dieser nach Hause kam.

Es war merkwürdig, wie die Dunkelheit dieses monotone Geräusch verstärkte. Aber es gab viele Dinge, die merkwürdig waren.

Dass er nach einer gefühlten Ewigkeit wieder in diesem Büro saß, war merkwürdig.

Dass er Shinji zu Maron rübergeschickt hatte, damit er ein Auge auf sie werfen und sicher gehen soll, dass sie okay war, war merkwürdig. Er hatte Chiaki versprochen zu bleiben, bis sich alles geklärt hatte.

Dass Chiaki auch noch Natsuki um einen speziellen Gefallen angerufen hatte, war ebenfalls merkwürdig. Aber von dem, was Shinji ihm erzählte, war sie die Einzige, die dafür wahrscheinlich geeignet war.

Es war alles einfach sehr merkwürdig.

Die Uhr tickte und tickte. Schließlich hörte er um neun das Öffnen der Haustür und dumpfe Fußstapfen, die die Treppen hochstiegen.

Kaiki rief nach ihm und Shinji, doch Chiaki antwortete ihm nicht, rührte sich nicht. Er hatte sonst die Befürchtung, dass die Emotionen ihn überladen würden und dass er seine Vorsätze über Bord werfen würde. Er versuchte sie daher so gut es ging abzuschalten.

Er hörte, wie Kaiki erneut nach ihnen rief und mit schnelleren Schritten die Treppen zum Obergeschoss hochging. Womöglich schaute er in ihre leeren Zimmer nach und sah das Chaos in seinem.

Wieder hörte er seinen Namen rufen, mehr Panik und Unruhe war in seiner Stimme zu vernehmen.

Im nächsten Moment hörte er, wie sich Schritte dem Büro näherten.

Ein schockierter Laut war von Kaiki zu hören, als er die Tür öffnete und Chiaki sah.

„Würdest du mir bitte erklären, was zur Hölle oben passiert ist? Und wo in aller Welt ist Shinji?“, fragte er und durchquerte den Raum.

Chiaki konnte keiner der Fragen beantworten. Bei beiden ging es um Maron und an sie durfte er im Moment nicht denken. Sonst würde er wieder von seinen Emotionen überwältigt werden.

„Gott, Chiaki...“ Kaiki blickte ihn erschrocken an, als er sein Gesicht genauer betrachtete. Man musste zugeben: Maron konnte harte -sehr harte- Schläge verteilen. „Was ist passiert?“

Chiaki presste sich zögernd die Lippen zusammen. Einige stille Momente vergingen.

„Würdest du bitte was sagen?“, bat Kaiki ihn mit einem alarmierenden Ton.

Jetzt oder nie.

„Ich...“ Er hatte die Worte in den letzten zwei Stunden oft genug in seinem Kopf geübt. „Ich brauche deine Hilfe.“

Kaiki’s Augen weiteten sich für einen Moment, ehe er sich fasste. Chiaki konnte sich vorstellen, dass er lange auf genau diese Worte von ihm gewartet hatte.

„Natürlich. Sag mir, was du brauchst“, sagte Kaiki, war deutlich bereit ihm zu helfen.

Chiaki nahm tief Luft und sprach seine Bitte aus. Kaiki hörte sie sich genauestens an, machte erneut große Augen.

Nachdem er zu Ende gesprochen hatte, blickten sie sich für einige Sekunden an.

„Bist du dir auch wirklich sicher?“, fragte Kaiki in einem ernsten, vorsichtigen Ton.

Chiaki nickte. „Ich muss damit abschließen“, sagte er kaum hörbar.

Wieder wurde es still zwischen ihnen. Chiaki spürte, wie die Nervosität in ihm stieg. Er könnte es verstehen, wenn er ihm die Bitte abschlagen würde.

Zu seiner Überraschung nickte Kaiki einmal und sagte: „Okay“. Er ging zu seinem Tisch und suchte in einer Schublade nach etwas. Anschließend holte er einen Umschlag heraus, legte es auf dem Tisch ab.

Stirnrunzelnd blickte Chiaki auf dem Umschlag und dann wieder zu Kaiki.

„Wie du siehst... Bin ich vorbereitet“, gestand er, „Darüber wollte ich mit dir letztens reden und war deswegen damals-...du weißt schon.“

Chiaki nickte verstehend, blickte stumm auf dem Umschlag herab. Keiner sagte mehr was.

Wortlos fing Kaiki an die Wunden zu behandeln, während Chiaki Löcher in den Umschlag starrte.
 

***

„Alles okay?“

Wie oft hatte Maron diese Frage schon in den letzten drei Stunden gehört?

Nichts war okay.

Dennoch zwang sie sich immer wieder zu einem Lächeln und nickte.

Gerade befand sie sich mit Miyako und Shinji im Wohnzimmer, schauten sich irgendeine Serie im Fernsehen an. Vorher hatten sie zu dritt Abend gegessen. Takumi und Sakura wurden zu einem Geschäftsessen eingeladen, weshalb sie etwas später kommen würden.

Irgendwann kamen Natsuki und Yamato dazu, hingen ebenfalls im Wohnzimmer ab.

Maron hatte wenig Interesse daran, das Geschehen im Fernsehen oder die Gespräche ihrer Freunde mitzuverfolgen.

Ihr Kopf war ganz woanders. Nebenan bei Chiaki, um genau zu sein.

Der ganz allein in dem Haus war.

Die Schuldgefühle ihrer Taten von heute Nachmittag schwoll wieder in ihr an, zerfraßen sie und blendeten die Stimmen um sie herum aus.

Sie hatte keine Energie mehr, um weiter vorzutäuschen, dass alles „okay“ sei.

Immer wieder bemerkte Maron die Seitenblicke ihrer Freunde auf sich. Alle hatte schließlich mitbekommen, wie sie und Chiaki von der Schule abgehauen waren. (Und sie konnte sich vorstellen, dass ihr Vater von der Schule einen Anruf bereits erhalten hat über ihr Schwänzen.)

Miyako hatte schon gefragt, was passiert war, aber Maron ließ die Frage unbeantwortet.

Sie hatte allerdings das Gefühl, dass Shinji Bescheid wusste. Schon als er reinkam, beäugte er sie mit einem achtsamen Blick, ließ seine Augen über ihre langen Sachen schweifen. Als wüsste er, dass sie die geröteten Stellen auf ihrer Haut versteckte.

Es irritierte sie.

Überhaupt war seine plötzliche Anwesenheit irritierend für sie gewesen. Er meinte zu Miyako, er würde nur hier abhängen wollen, aber Maron hatte das Gefühl, dass mehr dahintersteckte. Letztendlich nahm sie seinen Spontanbesuch mit einem Schulterzucken hin und hatte für ihn mit zu Abend gekocht.

Teilweise hatte sie erwartet, dass Shinji nach dem Essen gehen würde, aber zu ihrer Verwunderung war er immer noch da. Yamato und Natsuki kamen irgendwann auch noch dazu und jetzt saßen sie alle zusammen da.

 

Das Klirren von Schlüsseln war plötzlich zu hören und alle drehten ihren Kopf Richtung Tür.

„Oh!“, kam es von Sakura überrascht und amüsiert zugleich, die mit Takumi reinkam. „Hallo, alle zusammen.“

Die Gruppe begrüßte die beiden zurück.

„Alles okay bei euch?“, fragte Sakura lächelnd.

Da war die Frage schon wieder, dachte Maron sich augenrollend. Zum Glück wurde sie an die Gruppe gestellt und Miyako antwortete mit einem „Alles gut“ und einem Daumen hoch.

„Maron“, rief ihr Vater vom Flur aus. Sie schluckte. „Es ist zu spät das heute Abend zu machen, aber morgen würde ich gern mit dir reden.“ Seinem Ton zu urteilen, war er nicht erfreut. Und sie ging stark davon aus, dass sie mit ihrer Vermutung richtig lag und er einen Anruf von der Schule erhalten hatte.

Na super..., ging es ihr innerlich stöhnend durch den Kopf.

Auf einmal klingelte das Telefon. Sakura kam ins Wohnzimmer rein und nahm ab.

Im nächsten Moment runzelte sie leicht verwundert die Stirn und sie gab das Telefon Takumi, der fragte wer dran war.

Er nahm ihr mit einem fragenden Blick das Telefon ab. Als Kaiki’s Name fiel, sah Maron neugierig auf. Ob Chiaki wegen dem Schwänzen auch in Schwierigkeiten steckte?

Das freundliche Lächeln auf Takumi’s Gesicht fiel, jegliche Gesichtszüge entglitten ihm und seine geweiteten Augen trafen im nächsten Moment auf ihre.

Sie versteifte sich. Oh-oh.

Mit einem bestürzten Gesichtsausdruck hörte Takumi, dem was ihm am anderen Ende gesagt wurde zu. Gelegentlich war ein „Oh“ und „Okay?“ zu hören.

Maron war so auf ihren Vater fixiert, dass sie einige Moment brauchte, um zu bemerken, dass alle Gespräche um sie herum verstummt waren. Natsuki und Shinji wichen ihren Blicken aus. Yamato sprach leise etwas zu Miyako und ihr Gesicht bekam denselben bestürzten Ausdruck wie Takumi’s.

Was zum Teufel war nur los?

Maron kam sich vor, als würde man sie von einem großen Geheimnis ausschließen. Was sie nervte.

„Jetzt?“, fragte Takumi nun verwirrt, „Kann das nicht bis morgen-“ Er brach ab und hörte weiter zu. Anschließend legte er auf und wandte sich zu ihr.

Sakura sah besorgt zwischen ihm und Maron hin und her. „Was ist los?“, fragte sie. Maron war sich nicht sicher, ob die Frage an ihn oder an sie gerichtet war.

„Maron, ich glaube-“, setzte er an und hielt kopfschüttelnd inne, als müsste er nochmal neu anfangen. Er blickte zögernd nach draußen zu den Nagoyas rüber. „Was ich sagen will ist-“

Plötzlich klingelte Maron’s Handy.

Überrascht schreckte sie auf, nahm es in die Hand und nahm ab, ohne zu schauen, wer anrief.

„Ha-Hallo?“

„Hey…“ Ihr Herz machte einen Sprung. „Können wir reden? Ich warte im Park auf dich.“

„W-Was?“, stammelte Maron verwirrt, doch er hatte schon aufgelegt.

Sie sah aus dem Fenster raus und dann zu ihrem Vater. Als wüsste er, wer eben dran war und was eben gesagt wurde, nickte Takumi mit dem Kopf nach draußen und sagte zu ihr nur: „Geh.“

Maron ließ sich das nicht zweimal sagen. Sie stand blitzschnell auf, zog sich in einer Bewegung ihre Schuhe an und lief durch die Hintertür raus.

 

Chiaki saß auf seiner Seite ihrer Bank. Zögernd näherte sie sich ihm und nahm auf ihrer Seite Platz.

Er trug seine Lederjacke und schenkte ihr ein kleines Lächeln. Für einige Momente fühlte Maron sich wie in alten Zeiten zurückversetzt.

Er war müde, erschöpft und das zeigte sich. (Die paar wenige Stunden Schlaf heute Nachmittag waren offensichtlich nicht genug gewesen – falls er überhaupt geschlafen hatte.)

Sie blickte ihn nervös an, während er seinen Blick auf den Tisch fixiert hatte. Sie wollte die Distanz zwischen ihnen schließen, aber sie konnte nicht. Es war als wäre eine unsichtbare Mauer zwischen ihnen.

Trotz ihrer Anspannung und Nervosität beruhigten sie die sanften Geräusche des Flusses.

„Es tut mir furchtbar leid!“, platzte es aus ihr heraus. Erschrocken stellte Maron fest, dass sie aus seinem Zimmer verschwunden war, ohne sich für ihre Taten zu entschuldigen. Chiaki drehte sich mit einem leicht verwunderten Ausdruck zu ihr um.

„Ich hätte dich nicht schlagen sollen…Dadurch ist alles eskaliert“, sprach sie weiter und senkte ihren Blick.

Er krauste die Stirn.

„Nein...“, schüttelte Chiaki mit dem Kopf. „Ich muss mich entschuldigen... wegen mir ist alles eskaliert. Wegen mir allein.“

„Trotzdem war ich nicht mit unschuldig. Dafür entschuldige ich mich.“

„Du entschuldigst dich mal wieder zu viel.“

Sie kicherte leise, worauf er mit einstimmte. „Ich weiß.“

Beide verstummten.

„Wir sind beide ziemlich abgefuckt“, sagte er nach einer Weile, mit einem schwermütigen Lächeln.

Maron erwiderte dieses Lächeln. „Ja...das ist wahr.“

Für einige Momente lauschten beide das angenehme Plätschern des Flusses. Die anfängliche Anspannung zwischen Ihnen hatte sich etwas gelöst.

„Was ist los, Chiaki?“, wisperte Maron schließlich und das kleine Lächeln auf seinem Gesicht erstarb.

Er biss sich auf die Lippe, vermied mit einem nervösen Ausdruck ihren Blick. Geduldig wartete sie darauf, dass er sprach.

Nach einigen Minuten, bevor ihr Geduldsfaden endgültig gerissen war, ließ er einen langen, schweren Seufzer aus. Erschöpft ließ er den Kopf hängen.

„Ich bin so verdammt müde, Maron“, sagte er, ohne zu ihr aufzusehen. Seine Stimme klang kraftlos, als würde er einen endlos langen Kampf aufgeben.

Ihr Herz brach bei seinem Anblick. Sie rutschte langsam zu Chiaki rüber, überwand die Distanz zwischen ihnen und legte ihre Arme um ihn. Sie umarmte ihn so fest, wie sie konnte. Er versteifte sich für einen Moment, ehe er zögerlich die Umarmung erwiderte. Seufzend legte er seinen Kopf auf ihrer Schulter ab und drückte ihr einen leichten Kuss an die Schläfe.

„Ich werde gehen“, sagte Chiaki leise in ihre Haare, strich mit den Fingern sachte über ihren Rücken.

Maron blinzelte verwirrte, versuchte seine Worte zu verstehen.

„Im Sinne von...du ziehst aus?“, fragte sie. Würde ihrer Ansicht nach Sinn ergeben. Sie konnte von ihm nicht verlangen, dass er wegen ihr in dieser aufwühlenden Umgebung blieb. So ärgerlich das auch war, so könnte sie lernen damit umzugehen.

Sein Kopfschütteln unterbrach ihre Gedankengänge.

„Nein, dass meinte ich nicht.“ Chiaki hob seinen Kopf und ihre Blicke trafen sich. Maron’s Augenbrauen zogen sich noch mehr zusammen.

Er atmete tief durch. „Ich werde nach Yokohama fahren.“

Maron brauchte einen Moment, um das Gesagte zu registrieren. „Warum?“, war das Einzige was sie entgegenbringen konnte. Sein Griff um ihre Taille verstärkte sich.

Sekunden verstrichen bis Chiaki den Mund aufmachte und weitersprach: „Ich will meine Mutter suchen gehen.“



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