Insomnia von mairio ("You can't fix me.") ================================================================================ FORTY-EIGHT ----------- FORTY-EIGHT   Chiaki hatte sich schon immer einen Roadtrip mit Maron vorgestellt. Zusammen in seinem Auto durch das Land fahren, über Gott und die Welt reden, an Rastmomenten die vorbeifahrenden Autos beobachten... „Hat sich doch erfüllt“, erklang neben ihm eine amüsierte, sing-sang Stimme. Seine Kiffer pressten sich zusammen. Nein, nicht so. So, hatte er es sich nicht vorgestellt. Insbesondere nicht mit dieser Maron. Er schloss seine Augen, lehnte sich in seinem Sitz zurück und atmete tief durch. Sie war nicht hier. Sie konnte nicht hier sein. Diese Worte sagte er sich einige Male in Gedanken auf. Chiaki öffnete seine Augen, die direkt auf Maron’s trafen. „Ja, ich bin hier“, wisperte sie mit einem Grinsen, strich sich über ihr rotes Kleid und lehnte sich in den Beifahrersitz zurück. „Nein, bist du nicht“, entgegnete er genervt. Sie schnaubte. Diese Maron -Halluz-Maron, wie er sie auch nannte- ging ihm mächtig auf den Sack. Als sie das erste Mal auf seinem Beifahrersitz auftauchte, war er mitten am Fahren gewesen und hätte fast sein Auto gecrasht. Nun beschloss sie einfach, wie aus dem Nichts aufzutauchen... so ganz sporadisch. So nervtötend. „Halt die Klappe“, fuhr Chiaki sie spitz an. Ihre roten Lippen formten sich zu einem Schmollmund und sie lehnte ihren Kopf gegen das Fenster an. „Du verletzt meine Gefühle“, flüsterte sie, senkte ihren Blick zu ihren Händen auf ihrem Schoß und legte wie immer eine gute Show ab. Denn dieser Ausdruck auf dem Gesicht seines Mädchens brach ihm immer das Herz, aber Chiaki rief sich immer wieder in Erinnerung, dass dies nicht Maron war. Sie hatte keine Gefühle, die verletzt werden konnten. Chiaki wandte seinen Blick von Halluz-Maron ab und sah auf die Gebäude vor ihm. „Das ist gerade ein ganz schlechter Zeitpunkt für mich. Komm wieder, wenn ich was Spitzes gefunden habe, um mir die Augäpfel rauszustechen.“ Geistesabwesend schweifte sein Blick über die Straße. Es war noch ziemlich früh, aber die Straßen Yokohama’s füllten sich langsam. „Tsk… Chiaki“, sagte Halluz-Maron missbilligend und legte ihre Füße auf das Armaturenbrett ab. Er funkelte sie mit einem Seitenblick an, was sie zu amüsieren schien. „Musst du mit deiner eigenen Psyche so gemein sein?“, grinste sie ihn mit einem wissenden Lächeln an, während er versuchte ihre Präsenz zu ignorieren. Er war verrückt - und mit der Sekunde wurde es immer schlimmer. Sie kam auch immer wieder zurück. Nachdem er aus Momokuri rausgefahren war, nahm Chiaki die erste Ausfahrt zum Rasten, um für ein paar Stunden in seinem Wagen zu schlafen. Ihm war voll und ganz bewusst, dass er in diesem instabilen Zustand nicht fahren konnte. Danach hatte er ohne Pause es nach Yokohama geschafft. Seit seiner Ankunft, versuchte er den Schlaf wieder bestmöglich zu vermeiden. Offensichtlich hatte der Schlafentzug seine Tücken. Sie … war eine dieser Tücken. „Wir sind nicht verrückt“, verteidigte Halluz-Maron sich, zog ihre Füße wieder an. „Verrückte Leute wissen nicht, dass sie verrückt sind. Was sie noch verrückter macht“, erklärte sie, „Trifft nicht auf uns zu.“ Sie kicherte und begann irgendwelche angefangenen Sätze zusammenhanglos zu sagen. Chiaki warf ihr einen genervten Seitenblick zu. Die meiste Zeit verbrachte sie damit mit sich selbst zu reden. Obwohl... Hieß das nicht, dass er das auch tat? Er hatte keine Ahnung. Es war verwirrend. Er wusste, dass er abgefuckt war. Ihr Kichern verebbte und es wurde wieder angenehm ruhig im Auto. Chiaki nutzte die Gelegenheit, um sich wieder aufs wesentliche zu fokussieren und blickte zu dem Gebäude vor ihm auf. Heute würde er dahingehen und es endlich machen... Keine Ausreden mehr. Seit fünf Tagen war er in Yokohama, hatte in einem billigen Hotel „übernachtet“. Er hatte mit ihr noch nicht geredet – obwohl er drei Tage gebraucht hatte, um sie zu finden. Es war überraschend einfach gewesen mit den Informationen, die Kaiki ihm gegeben hatte. Anscheinend wohnte sie seit drei Jahren in einer kleinen Wohnung in dem mehrstöckigen Hochhaus vor ihm. Heute wird es sein erster Versuch sie zu sehen. Die anderen Tage hatte er sich nicht mal in die Nähe des Gebäudes getraut. Unzählige Gedanken und Szenarios gingen ihm durch den Kopf, während Chiaki aus der Windschutzscheibe starrte. Er dachte an Shinji’s Erzählung von seinen Erfahrungen zurück. „Ich war dann da... und hatte mit der Zeit festgestellt, dass mein Platz im Leben in Momomkuri ist“, hatte er gesagt. „Alles was ich brauchte, war schon hier. Ich musste es nur für mich selbst herausfinden.“ Chiaki fand es erstaunlich, wie einfach Shinji Akzeptanz gefunden hatte. Das wollte er auch. Das Gefühl von Akzeptanz. Ein Teil von ihm wusste, dass sie furchtbar zu ihm gewesen war und dass es einfacher wäre, sie einfach loszulassen. Am besten entschuldigte er sich für alles und ging, bevor er ihr neues Leben noch ruinierte. „Warum rufst du mich nicht an?“ Halluz-Maron’s Stimme riss ihn aus den Gedanken. Chiaki atmete tief ein und aus, seine Hände verkrampften sich um das Lenkrad. Wieso sprach sie das immer wieder an? „Ich kann nicht, okay?“, schnauzte er sie an und wandte sich von ihr ab. Abgesehen davon, dass er seit seiner Abreise sein Handy ausgeschalten hatte (und das Ding jetzt womöglich sowieso leer war) … er konnte es einfach nicht. Nicht nur Maron, sondern überhaupt mit jemand in Kontakt zu bleiben. Nicht, solange er hier nicht fertig war... „Und nun verschwinde“, fügte er hinzu, kämpfte damit sie zu ignorieren. Sie tauchte auch immer zu den unpassendsten Momenten auf und er war nicht in Stimmung zu diskutieren. „Aber du willst, dass ich bleibe“, sagte sie und zwirbelte eine Locke um ihren Finger. „Du willst mit mir reden.“ Er hasste es, wenn sie Recht hatte. „Ich bin fertig mit dir zu reden“, entgegnete er laut und drehte sich zu ihr um. Sie war weg. * Nervös trommelte er mit den Fingern auf das Lenkrad. Immer wieder atmete er tief durch, beobachtete die Leute, die rein- und rauskamen und wurde noch unruhiger, wenn er eine Frau rauskommen sah. Bisher hatte er sie noch nicht gesehen. Stunden vergingen in denen Chiaki in seinem Auto saß und damit kämpfte auszusteigen und in das Gebäude reinzugehen. Gerade als er eine Hand auf die Klinke legte, sah er ein Gesicht, welches ihm vertraut war und gleichzeitig auch nicht. Er hatte hunderte von Nächte verbracht dieses Gesicht zu zeichnen. Doch in den wenigen Momenten, in der er eben sie sah, wirkte das Gesicht blasser, dünner, eingefallener. Dennoch war er sich sicher, dass es dieselbe Person war. Sie kam aus dem Gebäude raus und kehrte einige Minuten später mit einer Einkaufstüte wieder. Erneut stieg die Nervosität in ihm hoch. Als es schließlich fast Mittag war, hatte Chiaki seinen Entschluss gefasst. Wenn er es jetzt hinter sich brachte, konnte er in der Nacht noch nach Momokuri zurückfahren. Mit einem schweren Seufzen und einer zitternden Hand öffnete er die Tür und stieg aus dem Wagen aus. Er zog sich seine Jacke enger um sich. Die war nicht so gemütlich, wie seine Lederjacke, die er Maron gegeben hatte... Und der Gedanke an sie ließ sein Herz schwerer werden. Er dachte an ihre duftenden Haare. An ihre rosanen Wangen. An ihr Lächeln. An ihr Lachen... Das Lachen fühlte sich näher an, als wäre es direkt neben seinem Ohr. Es hallte melodisch durch seinen Kopf und seine Lippen kräuselten sich automatisch zu einem Lächeln. Er hob seinen Kopf, drehte sich um und ließ sein Lächeln vor Erleichterung noch größer werden. Da stand sie. Ganz in Rot, mit einem sanften, mitfühlenden Ausdruck auf ihrem perfekten Gesicht. Auch wenn diese Maron nicht echt war, so war er froh, dass eine Version seines Mädchens bei ihm war. Auch wenn die aus seinem verrückten Verstand entsprang. Sie gab ihm den Komfort, den er gerade brauchte. Da konnte er diese Leere, die er bei dem Anblick von ihr in seiner Brust verspürte, ignorieren. Halluz-Maron grinste und kicherte, ehe sie voraus ging. Ihr rotes Kleid schwang geschmeidig hin und her und sie drehte sich zu Chiaki um. „Kommst du?“ Er nahm tief Luft, um seine Nerven zu beruhigen. Er folgte ihr, betrat das Foyer des Hochhauses. Zu seiner Rechten befanden sich eine Menge Briefkäste. Sie waren nach Stockwerken angeordnet. Und den Namen hatte er auch schnell gefunden. Kyoko Nagoya. Mit Herzklopfen stieg Chiaki in den Aufzug, drückte den Knopf zum siebten Stock. Das sanfte Lachen von seinem Mädchen begleitete ihn. Im siebten Stockwerk angekommen, brauchte er nur wenige Meter zu gehen, um an der richtigen Tür zu stehen. Halluz-Maron ging zwei Schritte auf die Tür zu und blickte ihn erwartungsvoll an. Sein Herz klopfte ihm mittlerweile bis zum Hals. Er ging die zwei Schritte zur Tür. Langsam hob er seine Hand, einen Finger über der Klingel schwebend. Seine Augen trafen auf ihre, die ihn sanft und ermutigend anblickten. „Ich liebe dich“, wisperte sie ihm beruhigend zu. Und obwohl er wusste, dass sein eigener Verstand sich das alles nur einbildete, so gaben ihm diese Worte von ihr trotzdem den Mut, den er brauchte. Dreimal betätigte Chiaki kurz die Klingel. Nervös fuhr er sich durch die Haare und steckte seine Hände in die Jackentasche. Ehe er daran denken konnte abzuhauen, öffnete sich die Tür. Sie ging nur einen Spalt weit auf. Dunkle, blutunterlaufende Augen tragen auf seine. Er schluckte schwer, als sich ihre Blicke trafen. Der reglose Ausdruck in ihren Augen wandelte sich langsam in Verwirrung um, während sie in konfus anblinzelte. Im nächsten Moment schwang die Tür auf und sie blickte ihn erschrocken an, schnappte scharf nach Luft. Chiaki war selbst bei der plötzlichen Bewegung zusammengezuckt. „Ka-Kaiki?“, fragte sie verwirrt. Er konnte sich nicht bewegen, geschweige den Kopf schütteln. Aber sie schien ihn zu verstehen. „Oh…“, hauchte Kyoko sprachlos. „Du meine Güte!“ „M-M-Mom...“, brachte er stotternd hervor, ehe sie ihn auf unerwarteter Weise fest in ihre Arme nahm. „Chiaki...!“ Chiaki war zu perplex, um zu reagieren. Wortlos ließ er sich von seiner Mutter umarmen, nicht wissend, wie er damit umgehen sollte. Er blickte über ihre Schulter und sah Halluz-Maron, die ihn angrinste. Sie hob ihre Arme, forderte ihn stumm dazu auf die Umarmung einzugehen. Zögernd hob Chiaki seine Hände und legte sie seiner Mutter um die Taille. Es war keine schöne Umarmung. Ihr dünner, knochiger Körper presste sich an seinen und ein stechender Geruch ging von ihr aus. Für einige Momente verharrten sie so, bis Chiaki sich langsam und vorsichtig von ihr löste. Kyoko nahm plötzlich seine Hand und zerrte ihn in die Wohnung rein. Er blickte noch schnell hinter sich und sah wie Halluz-Maron einfach nur winkte, bevor die Tür zufiel. Seine Mutter begann ihn mit Fragen zu bombardieren, während sie ihn in einen abgedunkelten Raum führte, der mit einem üblen Gestank gefüllt war. „Wie geht es dir? Wo lebst du? Ist Gratin immer noch dein Lieblingsessen?“ Schweigend schaute Chiaki sich in dem kleinen, vollgestellten Raum um. Befand er sich in einem Wohnzimmer? Es war schwer zu erkennen, bei all den dunklen und bräunlichen Flecken an den Wänden und Deckel. Das Sofa sah auch stark verfärbt aus. Staubschichten waren überall zu sehen und Spinnen hingen in den Ecken. Ein paar Flaschen standen auf dem kleinen Sofatisch und prahle Mülltüten lagen verstreut auf dem Boden und an jeder Ecke herum. In was für eine Bruchbude lebte diese Frau? Er konnte sich nicht erinnern, dass sie so ein Messi war… „Kann ich dir irgendwas zu trinken anbieten?“ Sein Blick schweifte wieder zu seiner Mutter runter, die unruhig umherlief und ein paar Flaschen vom Tisch einsammelte. „Ich-“, setzte sie an, hielt jedoch abrupt inne und blickte ihn mit denselben ausdruckslosen Blick an, den er vorhin am Anfang bei ihr gesehen hatte. „D-Du solltest nicht hier sein“, sagte sie plötzlich, als würde ihr genau diese Tatsache gerade in den Sinn kommen. Chiaki biss sich auf die Lippe. „Ich weiß“, sagte er und sah zur Seite. Sein Mädchen schritt summend durch den Raum. Grinsend erwiderte Halluz-Maron seinen Blick und zwinkerte ihm zu.   Er wandte sich seiner Mutter wieder zu. „Ich bin nur gekommen, um mich zu entschuldigen... und dann werde ich gehen“, sagte Chiaki mit monotoner Stimme. „Entschuldigen?“, wiederholte Kyoko, neigte verwirrt ihren Kopf. Er nickte kurz und sammelte all seinen Mut zusammen, um weiterzusprechen. „Dass ich damals alles und dein Leben ruiniert habe... und ich wollte dich wissen lassen, dass es mir leidtut.“ Dass seine Stimme so gefasst klang, überraschte sogar ihn. „Was?“ Ihr Gesicht wurde noch verwirrter. „Wofür genau entschuldigst du dich?“ Er konnte das feuchte Schimmern in ihren Augen sehen und nahm nochmal tief Luft. Wieso konnte sie nicht einfach die Entschuldigung annehmen? Als ob das nicht schon schwierig genug war... „Ich entschuldige mich für das... Feuer und ich entschuldige mich dafür... dass ich nicht geholfen habe...“ Seine Stimme brach und er zitterte. Kyoko erbleichte und sie hielt sich eine Hand vor den Mund, ehe sie mit dem Kopf schüttelte. „Wir sollten uns setzen.“ Sie deutete zum Sofa und in der Dunkelheit des Raumes konnte er gerade so eine feuchte Spur auf ihrer Wange erkennen. Chiaki ging zu dem dunklen Sofa und setzte sich. Halluz-Maron war an seiner Seite, lächelte ihn süß an. Es war für eine Weile still im Zimmer. Chiaki war nicht gewillt das Schweigen zu brechen. „Sag mir, warum du denkst, dass es deine Schuld ist“, sagte Kyoko und ließ ihre Hände auf den Schoß fallen. „Ohje“, kommentiert Halluz-Maron. Seine Lippen pressten sich zu einem harten Strich zusammen. „Ich denke das, weil ich mich verantwortlich fühle.“ Nun zeigte er seine Gefühle, seine Wut und Bitterkeit offenkundig, während er sprach. „Ich war derjenige, der auf die Idee kam, dass wir Kerzen rausholen sollen... inmitten all dem leichtverbrennbaren Zeug drum herum.“ Seine Stimme wurde lauter. Chiaki stand auf, lief ein paar Schritte auf und ab und fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare. „Und dann habe ich nichts unternommen, um ihn zu helfen. Habe nur tatenlos zugesehen, dass er bei lebendigem Leib verbrannte.“ Er drehte sich zu Kyoko um. „Ist das nicht der Grund, wieso meine eigene Mutter mich ohne ein Wort verlassen hat? Weil sie meine Gegenwart nicht mehr länger ertragen konnte?“ Für einen Moment tat es gut, all diese Sachen ausgesprochen zu haben, doch direkt im nächsten Moment fühlte er sich mies und er setzte sich wieder auf das Sofa hin. „Sorry…“, murmelte Chiaki kaum hörbar und blickte starr zu Boden, traute sich nicht seiner Mutter in die Augen zu sehen. Halluz-Maron war mittlerweile von seiner Seite verschwunden. Minuten vergingen in der niemand was sagte und Chiaki war schon wieder dabei sich einen Fluchtplan zu überlegen. Einfach nach einem Gefühlsausbruch abhauen…warum nicht? Die Stille zog sich in die Länge. Er wurde sichtlich unruhig. Plötzlich war ein Schluchzen zu hören und seine Mutter rutschte näher zu ihn heran. „Oh Gott. Chiaki…“, wisperte sie, „Das Feuer hatte elektronische Ursachen.“ Der Satz brachte ihn aus dem Konzept. Chiaki zog verwirrt seine Augenbrauen zusammen, rückte von ihr weg. Doch sie rutschte weiter zu ihm hin und fuhr fort: „Ich habe dir nie die Schuld gegeben.“ Sie legte eine knochige Hand auf seinem Knie und blickte ihm in die Augen. „Du darfst dich nicht dafür verantwortlich machen. Kein bisschen.“ „Hör- Hör auf zu lügen“, brachte er zustande. „Ich lüge nicht“, sagte sie kopfschüttelnd, weinte noch mehr. „Und nach all den Jahren… du kannst das, was ich sage wahrscheinlich nicht nachvollziehen…aber gerade in diesem Moment fühle ich mich, als hätte ich den Tod mehr verdient als jemals zuvor-“ Abrupt stand Chiaki auf, wollte im Moment einfach nur weg von ihr. Er schoss auf die Tür zu, hörte noch ein erbärmliches „Warte, bitte geh nicht“ von seiner Mutter. Er ignorierte sie, riss die Tür auf, lief die Treppen nach unten und aus dem Gebäude raus. In einem Schwung hatte er sich in sein Auto geflüchtet. Schweratmend hob er seine Hand mit dem Schlüssel. Sie zitterte allerdings so stark, dass er den Schlüssel wieder fallen ließ. Er konnte hier nicht weg. Frustriert schrie er auf und raufte sich durch die Haare. Nach einigen Momenten kletterte er nach hinten und legte sich auf die Rückbank hin, schloss kraftlos seine Augen. Er stellte sich vor, dass er mit seinem Mädchen in seinem Bett war. Wie ihr warmer Körper sich an seinen schmiegte und er in ihre Haare lächelte. Innerhalb von Sekunden war er eingeschlafen.   Irgendwann am Nachmittag schreckte Chiaki hoch, wachte wie üblich durch einen feurigen Albtraum auf. Mit zitternden Händen rieb er sich die Augen und atmete tief durch, versuchte sich von dem Traum zu erholen. Er brauchte dringend eine Zigarette. Ein Blick nach draußen sagte ihm, dass der Abend allmählich anbrach. Der Himmel ging in einem samtigen Violettton über. Chiaki kletterte zum Fahrersitz und schnappte sich seine Zigaretten und ein Feuerzeug aus dem Handschuhfach. Er stieg aus und zündete sie sich an. Während er einen tiefen Zug nahm, lehnte er sich an sein Auto an. Er hätte die Möglichkeit nutzen können, um zu gehen, jetzt wegzufahren und den ganzen Quatsch hinter sich zu lassen. Aber er tat es nicht. Konnte es nicht. Wenn er ehrlich mit sich war, war er neugierig über das, was seine Mutter gesagt hatte. Er wollte verstehen was damit gemeint war. Und warum sie ging, wenn sie ihm nie die Schuld für alles gegeben hatte. Es machte für ihn keinen Sinn. Alle die Jahre war er vom Gegenteil überzeugt gewesen. Und jetzt war jedes seiner Gedankengänge mit Fragen über Fragen gefüllt. Chiaki setzte sich auf einer kleinen Bank vor dem Wohngebäude hin, rauchte seine Zigarette und beobachtete ausdruckslos die Autos und Menschen. Auf einmal hörte er Schritte, die zögernd auf ihn zugingen. Er drehte sich zu seiner Mutter um. Sie hatte einen leeren und dennoch fragenden Blick in den Augen. „Ich hatte Angst, dass du gegangen bist“, sagte sie, knetete unsicher ihre Hände. Wortlos wandte Chiaki sich wieder der Straße zu und hob zur Antwort seine Hand mit der Zigarette. Kyoko setzte sich neben ihn hin. „Du solltest nicht rauchen“, sagte sie in einem missbilligenden Ton. Er schnaubte und lachte humorlos auf. „Wer bist du? Meine Mutter?“, entgegnete er. Welches Recht hatte sie denn schon, ihm zu sagen, was er machen soll und was nicht... Sie wusste es und sah geknickt auf ihren Schoß herab. Chiaki warf Kyoko einen unauffälligen Seitenblick zu. Sie sah aus wie ein Schatten ihrer Selbst. Glich in keinerlei Weise mehr der Frau, die ihn damals in den Schlaf gesummt hatte. Er konnte sie sich nicht in einer Küche oder den Haushalt machen vorstellen, selbst wenn er es versuche. Sie wirkte einfach wie eine wandelnde Leiche. Verspätet nahm er diesen bestimmten Geruch von ihr wahr und sah, wie sie kaum merklich schwankte. „Du bist betrunken“, merkte Chiaki säuerlich an. Will ihm eines besser über das Rauchen belehren und trinkt dabei selbst... kaum zu fassen! Sie schaute ihn an. „Ich wollte nicht, aber-… es... es war nicht viel...“, stammelte Kyoko leise, ihre Augen bekamen einen beschämten Blick. Er fragte sich insgeheim, wie oft sie „nicht viel“ hatte. Vielleicht war es nicht der passende Zeitpunkt für all seine Fragen, angesichts ihrer mangelnden Nüchternheit, aber die Stille machte ihn unruhig. „Warum?“, fragte er leise, brauchte die Frage gar nicht zu vollenden. Sie seufzte. „Ich weiß nicht, ob du es verstehen würdest...“ „Das ist eine Scheiß-Antwort.“ Er warf seine abgebrannte Zigarette weg. Seufzend drehte Kyoko sich zu ihm um. „Chiaki... Schau mich an“, bat sie ihn traurig. Er tat es. Sie machte den Mund auf, suchte nach Worte und deutete auf sich selbst. „Sieht das nach einer fähigen Mutter für dich aus?“, fragte sie und ihm entging der Selbstekel in ihrer Stimme nicht. „Ich bin ein Wrack. Ich trinke. Jeden Tag... Ich trinke jeden Tag, bis ich nicht mehr denken kann... bis ich bewusstlos werde. Manchmal finde ich mich in meinem eigenen Erbrochenem wieder... während ich mir den Tod wünsche, obwohl ich weiß, dass ich es nicht verdient habe.“ „Gut zu wissen, dass mein Hang zu Überdramatisieren erblich veranlagt ist“, kommentierte Chiaki tonlos. Sie zuckte zusammen. „Zumindest... wenn ich es tue, verletze ich niemanden außer mir selbst“, fügte er bitter hinzu und wandte sich wieder der Straße zu. „...Würdest du mir glauben, wenn ich dir sage, dass es mir leidtut?“, fragte Kyoko, worauf er schnaubte. „Damals dachte ich... bevor ich dir noch mehr weh tue, dass es besser ist, wenn ich gehe... Ich hatte keine Ahnung, dass du all die Jahre denken würdest...“, sie verstummte. „Mal sehen, ob ich das richtig verstehe-“ Er drehte sich zu ihr um, war angepisst. „Du gibst deine Rolle als Mutter einfach auf..., weil du mir nicht noch mehr wehtun wolltest?! Nein, nein, nein, nein, nein... Willst du mich verarschen?!“ Sie zuckte bei seiner lauter werdenden Stimme zusammen und verzog schmerzlich ihr Gesicht. „Du hattest drei Jahre nach dem Feuer durchgehalten... und dann gibst du einfach auf?!“, sprach Chiaki ungläubig weiter, „Und anstatt mir diese hirnverbrannte, erbärmliche Erklärung zu geben, verschwindest du ohne ein Wort... und erwartest ernsthaft von einem zehnjährigen Jungen, dass er es versteht?!“ Seine Wut steigerte sich mit jedem weiteren Satz. Reuevoll blickte Kyoko zu Boden. „Ist dir vielleicht mal in den Sinn gekommen, dass du mir mit der Aktion mehr wehgetan hast, als du vermeiden wolltest?!“ Als hätten seine Emotionen all seine Kraft weggesaugt, stützte Chiaki seine Arme auf den Knien ab und vergrub sein Gesicht in seine Hände. Ihm wurde schlecht. All die Jahre verbrachte er damit sich selbst zu hassen, nur weil er sich sicher war, dass sie ihn hasste. Wäre er nie davon ausgegangen, dass seine Mutter -die Person, die ihn bedingungslos lieben sollte- ihn hasste, dann hätte er sich eines Tages für den ganzen Scheiß wahrscheinlich vergeben können. Er hätte glücklich und normal sein können...Nicht so kaputt wie jetzt. Diese Frau hatte ihm alles genommen... alles, wovon er der Überzeugung war, es nicht verdient zu haben. Er wollte das alles zurück. Er wollte weinen. Er wollte schreien. Er wollte was kaputt machen... Er wollte...   Er wollte sie fürs Trinken ermahnen, eines Besseren belehren und sich um sie kümmern, während sie sich besserte. Und irgendwie... brach alles zusammen. Sein Körper bebte unkontrolliert, seine Atmung ging unregelmäßig und er konnte die Tränen nicht zurückhalten. Er spürte eine Hand auf seinem Rücken, die versuchte ihm Trost zu spenden... doch es war ihm alles zu viel. All der Schmerz und all die Emotionen, der letzten sieben Jahre schlugen mit Gewalt auf ihn ein und überwältigten ihn. Sie legte ihre Arme um ihn, umarmte ihn und strich ihm beruhigend über den Rücken, während er weinte. Die Geste möge ihr Trost vielleicht geben, aber ihm bot sie überhaupt keinen an, ließ sein Herz unberührt. * Für eine unendlich lange Weile starrte Chiaki auf das leere Blatt Papier herab. Starrte auf die freie, weiße Fläche, die darauf wartete mit Worte gefüllt zu werden. Worte, die er nicht fand. Nicht finden konnte. Er schaute auf, als er ein lautes Geräusch aus dem Flur hörte. Schnell flitzte er raus. Seine Mutter war dort, lehnte sich träge gegen die Wand an und ihre Augen brauchten viele Momente, um seine zu treffen. Chiaki seufzte tief aus, ging auf Kyoko zu, hielt ihren Arm und half ihr ins Schlafzimmer am Ende des Flurs. „Ich wollte nicht... du... nicht hier. Geh“, nuschelte sie, stolperte über ihre eigenen Füße, während Chiaki sie stützte und ins Bett half. Er machte sich einen gedanklichen Vermerk auch das zu reinigen. Ihr dunkles Haar bedeckte ihr blasses Gesicht, als sie anfing was Unverständliches zu murmeln. „Du solltest nicht hier sein“, konnte er heraushören. Augenrollend drehte Chiaki sich um, machte das Licht aus und verließ den Raum, schloss hinter sich lautlos die Tür. Er kehrte zu seinem Platz auf dem Sofa zurück, auf welches er die letzten zwei Nächte geschlafen hatte. Decken und Kissen waren auf einer Seite gestapelt. Er nahm den Stift in die Hand, welcher auf dem Tisch lag und setzte ihn auf dem Blatt an. Tief atmete er ein und wieder aus, begann zu schreiben. Nachdem er fertig geschrieben hatte, verwarf er die Version direkt wieder, nahm ein neues Blatt und setzte den Stift erneut an. Dieses Mal waren die Worte schnell formuliert, er las sie sich nicht nochmal durch. Sorgfältig faltete Chiaki das Papierstück zusammen und schob es in einen Umschlag, versiegelte und frankierte es in einem Stück, bevor er seine Meinung noch änderte. Er ging nach draußen, um eine Zigarette zu rauchen. Die frische Luft war ironischer Weise sehr angenehm. Gedankenlos lief Chiaki die Straßen entlang und hielt an einem Briefkasten an. Er schob den Umschlag in den schmalen Schlitz hinein, ließ es fallen und sah, wie es in der Dunkelheit verschwand. Er wusste, dass sein Versprechen brach... Aber, wenn er ehrlich mit sich war, so hatte er nicht erwartet, dass er es einhalten würde. So scheiße das auch klang. Er würde mit den Konsequenzen leben müssen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)