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Insomnia

"You can't fix me."
von

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FORTY-NINE

FORTY-NINE

 

Sechs Wochen später:

 

Geduldig saß Maron in dem Wartezimmer, starrte auf den kleinen, mit Magazinen gefüllten Tisch vor sich. Sie war die Einzige hier und das Einzige was zu hören war, war das Tippen der Mitarbeiterin beim Empfang und das Ticken der Uhr an der Wand. Die sollten sich hier eine Radio zulegen.

Schließlich schwang die Tür zum Sprechzimmer endlich auf und Dr. Anzai kam raus.

Es war das erste Mal, dass Maron sie richtig sah. (Das erste und letzte Mal war zu Neujahr gewesen.)

Sie hatte schöne, schwarze Haare, die nach hinten zusammengebunden waren und ein junges Gesicht, auf welchem ein freundliches Lächeln haftete. Maron erwiderte das Lächeln nicht, stand jedoch von ihrem Sitz auf.

„Miss...“ Dr. Anzai sah kurz auf ihr Klemmbrett. „Kusakabe.“ Sie lächelte sie an. „Maron. Ist es okay, wenn wir uns duzen?“

Maron zuckte mit den Schultern. „Ja.“

„Super. Du kannst mich ruhig Midori nennen, wenn du magst.“

Sie nickte und folgte ihr ins Büro. Midori nahm auf einem Sessel Platz, während Maron sich gegenüber von ihr auf das Sofa hinsetzte.

„Wie geht es dir?“

Wortlos zuckte Maron wieder mit den Schultern. Midori schrieb sich kurz was auf und sah auf ihre Notizen.

„Mal sehen...Du bist hier, weil Kaiki-…ich meine Dr. Nagoya angerufen und den Termin für dich gemacht hatte. In was für einem Verhältnis stehst du zu ihm?“, fragte sie immer noch mit einem Lächeln.

Maron spürte, wie sich ihr Körper versteifte. Sie versuchte sich bestmöglich zu entspannen, räusperte sich. „Dr. Nagoya ist ein Freund der Familie“, antwortete sie ihr.

„Okay.“

„Und... sein Sohn und ich hatten eine Beziehung...“, offenbarte sie leise.

Midori nickte verstehend und schrieb sich wieder etwas auf.

„Ihr wart in einer Beziehung?“, sagte sie beim Schreiben, „Und jetzt nicht mehr?“ Sie neigte fragend ihren Kopf.

Mit fester Stimme und geballten Fäusten gab Maron ihr die verkürzte Version:

„Er war vor sechs Wochen losgezogen, um seine Mutter zu finden und ist seitdem nicht zurückgekehrt.“ Es fiel ihr leichter über die Lippen, als erwartet und sie versuchte ihre Hände zu entspannen.

„Ist nicht zurückgekehrt“, murmelte Midori schreibend. „Und ihr kommuniziert nicht mehr miteinander?“

Maron presste ihre Lippen zusammen, verkniff sich einen mürrischen Laut. „Ich hatte nicht erwartet, dass es um Chiaki geht“, sagte sie spitz.

Ihre Blicke trafen sich.

„Schau, Maron“, begann Midori seufzend zu sagen und kreuzte mit einem ernsten Gesichtsausdruck ihre Beine. „Dr. Nagoya sagte mir bereits, dass du schwierig sein kannst und ich versteh das.“ Sie zuckte mit den Schultern.

„Aber es gibt wahrscheinlich etwas, dass du über mich wissen solltest: ich nehme meinen Job ernst. Wenn ich eine Reaktion bei der Erwähnung von diesen Chiaki bekomme, befasse ich mich damit. Das ist mein Büro und wir werden die Dinge auf meine Art machen. Ich sitze hier mit dir zusammen, weil Dr. Nagoya mich darum gebeten hat. Aber ich habe kein Interesse daran jemanden zu zwingen mit mir zu sprechen. Es ist eine Verschwendung meiner kostbaren Zeit. Zeit, die ich damit verbringen kann, jemandem zu helfen, der es auch wirklich will.“ Mit einem ernsten Gesichtsausdruck deutete Midori auf die Tür. „Wenn du nicht hier sein willst, dann hält dich auch niemand auf zu gehen.“

Maron schwieg und starrte hinaus aus dem Fenster. Natürlich wollte sie nicht hier sein, aber ihre Füße bewegten sich nicht von der Stelle.

Nach einigen Momenten seufzte Midori erneut und Maron drehte sich wieder zu ihr um.

„Wie wäre es damit-“, sagte Midori in einem sanfteren Ton, „Wir reden heute miteinander und am Ende der Sitzung werde ich dir meine Einschätzungen geben. Wenn du glaubst, dass sie falsch sind oder bis Freitag immer noch Zweifel hast, dann brauchst du nicht wiederkommen. Okay?“

Maron fragte sich kurz, ob man ihre Abneigung über das Ganze stark ansehen konnte. Sie hatte durchaus Zweifel darüber, ob diese Frau ihr wirklich helfen konnte. Und wenn sie ehrlich mit sich war, so hatte Midori recht. Sie könnte ihre Zeit damit verbringen, jemandem zu helfen, dem geholfen werden konnte, anstatt sich mit ihr im Kreis zu drehen.

Es war so oder so eine Zeitverschwendung.

Aber sie erinnerte sich daran, dass sie ihre Gründe hatte heute hierherzukommen und daher auch nicht gehen würde. Obwohl sie kein Interesse an ihren Einschätzungen hatte und keine Lust hatte mit ihr über Chiaki zu reden, nickte Maron trotzdem und versuchte sich zu entspannen.

„Also“, fuhr Midori fort, „Kommunizieren du und Chiaki miteinander?“

Maron versuchte sich ihren Frust wegzuschlucken.

„Gar nicht“, antwortete sie ihr bitter, „Er kommuniziert mit niemanden. Anrufe gehen nicht durch und Nachrichten bleiben ungelesen und unbeantwortet… Das Einzige was ich in den letzten sechs Wochen an Kommunikation von ihm erhalten habe, war ein Brief.“

Sie erinnerte sich daran, als wäre es gestern gewesen...der Moment als sie den Brief erhielt.

 

Sie hatte die erste Woche seit einer Abreise hinter sich gehabt. Noch immer befand sie sich in der Nagoya-Villa, war mit Natsuki und Shinji im Wohnzimmer am Chillen gewesen, während Kaiki in seinem Büro war.

Seit Maron hier lebte, hatte sie mit ihm kaum geredet. Wenn höchstens ein „Hallo“, wenn sie sich im Flur oder auf den Treppen begegneten.

Plötzlich klingelte es und Miyako’s Stimme war durch die Tür zu hören.

„Maron!“

In dem Moment, als sie von der Couch aufstand, kam Kaiki die Treppen runtergelaufen und steuerte auf die Tür zu. Er machte sie auf und Miyako schoss an ihn mit einem schnellen „Hallo“ vorbei.

„Miyako, hey“, kam es von Shinji verwundert, „Was machst du hier?“

Maron konnte sehen, dass Miyako etwas in ihrer Hand hielt, als sie das Wohnzimmer betrat und auf sie zuging. Einen Umschlag.

Miyako hielt ihr den Umschlag entgegen, blickte ihr unsicher in die Augen.

Zögernd nahm Maron ihn an und ihr Herz machte einen Sprung. Es stand kein Absender da, aber sie erkannte die Handschrift sofort.

Hastig öffnete sie den Brief, ignorierte die vier Paar Augen, die auf sie gerichtet waren.

Als sie den Brief rausnahm und entfaltete, brauchte sie nur drei Sekunden, um ihn zu lesen.
 

„Maron.

Ich liebe dich.

Ich vermisse dich.

Ich brauche mehr Zeit.

Es tut mir leid.“

*

 „Wie lange ist es her, seitdem du den Brief erhalten hast?“, fragte Midori.

Maron presste sich ihre Lippen zusammen, während sie den vertrauten Schmerz in ihrer Brust spürte. „Vor fünf Wochen“, antwortete sie ihr leise.

Vor drei Wochen hätte er zurückkommen sollen. Er sollte längst wieder da sein. Er hatte es ihr versprochen...

Mit einem weiteren Nicken fuhr Midori fort. „Warum denkst du, ist er nicht zurückgekehrt?“

Maron zuckte mit den Schultern, sah wieder aus dem Fenster raus, während sie sich an das erste Gespräch erinnerte, dass sie mit Kaiki allein hatte.

 

Nervös stand Maron vor Kaiki’s Bürotür, die offen stand.

Kaiki war über seinen Schreibtisch gebeugt, ging ein Stapel Papiere durch und tippte etwas an seinem Computer. Er wirkte konzentriert, wodurch sie es in Betracht zog, ihn zu einem anderen Zeitpunkt zu stören.

Gerade als sie gehen wollte, sah Kaiki auf und ihre Blicke trafen sich. Verunsichert blickte sie die Treppen zum Obergeschoss hoch und drehte sich zu ihm zurück, lächelte ein schüchternes Lächeln. Er erwiderte das Lächeln.

„Maron“, begrüßte Kaiki sie in einem warmen Ton, nickte ihr zu und lehnte sich langsam in seinem Schreibtischstuhl zurück. Sein Lächeln war warm und freundlich und seine Augen blickten geduldig in ihre.

Maron realisierte, dass er ihr Zeit gab, um den Mut aufzubringen, reinzukommen. Es war lächerlich, dass sie sich schwertat. Schließlich lebte sie seit drei Wochen nun hier. Allerdings hatte sie in der Zeit auch nie das Gespräch mit Kaiki gesucht.

Nach einer Weile überwand sie sich und trat durch die Türschwelle. Sein Gesicht erhellte sich bei ihrem Fortschritt.

Sie ging auf den Ledersessel zu, auf dem sie damals nach dem Vorfall in der Schule schon mal gesessen hatte und nahm darauf Platz.

Nun musste Maron nur noch den Mut aufbringen mit ihm zu reden. Sie war noch nie mit Chiaki’s Vater alleine in einem Raum, fiel ihr auf. Anstatt seiner Arbeit weiter nachzugehen, lächelte Kaiki sie nach wie vor freundlich und mit einem geduldigen Blick an.

Maron atmete einige Male tief durch. „W-Wie... geht es dir?“, fragte sie leise.

„Ganz gut, Maron. Wie geht es dir?“, antwortete er in einem herzerwärmenden Ton.

Sie entspannte sich etwas mehr.

„Den Umständen entsprechend“, murmelte sie. „Es tut mir leid, dass ich dich störe“, fügte sie hinzu. Ihr tat es wirklich leid, dass sie so viel von seiner Zeit in Anspruch nahm.

Kaiki zuckte mit den Schultern, streckte sich etwas und lehnte sich mit beiden Händen hinter dem Kopf zurück.

„Du störst nicht, Maron. Ganz ehrlich“, entgegnete er, „Wenn überhaupt, es ist eine willkommene Ablenkung von dem langweiligen Papierkram. Es ist nicht einfach ein Krankenhaus zu leiten.“ Er begann etwas Amüsantes über das Krankenhaus und seiner Arbeit zu erzählen, worauf sie leise kichern musst.

Es war für einen weiteren Moment still, bevor Maron sich dazu entschied nicht mehr um den heißen Brei reden zu wollen und das anzusprechen, wofür sie hier war.

„Ich will wissen wo Chiaki’s Mutter ist.“

Überrascht schossen seine Augenbrauen nach oben. „Darf ich fragen wieso?“, fragte Kaiki in dem allwissenden, elterlichen Ton, der sie nervte.

Mit verengten Augen sah sie ihn an. „Findest du es nicht merkwürdig, dass Chiaki sich in den letzten drei Wochen nicht gemeldet hat?“

„Maron...“ Er schüttelte resigniert seinen Kopf. „Wenn Chiaki sich bei uns melden will, dann wird er es auch tun“, sprach er mit ruhiger Stimme.

„Aber was ist, wenn er das nicht kann, weil etwas passiert ist?!“

„Was könnte passiert sein?“

„Nun, mal sehen...“, sagte Maron in einem sarkastischen Ton. „Autounfall, Überfälle, Gebäudesturz, plötzlicher Virusausbruch... Flugzeuge, die vom Himmel fallen. So ziemlich alles könnte passiert sein und wir würden es nie erfahren, Kaiki! Stört dich das nicht ein bisschen?“

Erneut seufzte er schwer, sah für einen Moment betreten nach unten und wieder zu ihr.

„Tut mir leid, Maron, aber ich bin mir sicher, dass Chiaki seine Gründe hat.“

„Er hätte längst zurück sein sollen! E-Er hatte es mir versprochen.“

„Ich befürchte, dass Chiaki einfach noch nicht nach Hause will...“

„Wie kannst du dir da so sicher sein?“, fragte Maron ihn argwöhnisch.

Kaiki rieb sich für einen Moment die Augen.

„Seine Kreditkarte“, antwortete er ihr, „Ich kann den Aktivitäten seiner Kreditkarte folgen und in den letzten zwei Wochen sind einige Ausgaben vermerkt. Einige ungewöhnliche Einkäufe sind dabei, aber das meiste ist typisch für Chiaki: Essen, Zigaretten, Zeichenutensilien, Benzin...“

Diese Offenbarung brachte ihre Emotionen in einen Zwiespalt.

Einerseits war sie erleichtert darüber, dass Chiaki scheinbar in Ordnung war. Andererseits - die Tatsache, dass er sie nicht kontaktierte, ließ sie mit einem Gefühl von Bedeutungslosigkeit in ihrer Brust zurück.

Ihre Augen füllten sich mit Tränen, die sie krampfhaft zurückhielt. „Kann ich die Kontoübersichten haben?“, fragte Maron.

Kaiki zog leicht verwundert eine Augenbraue hoch und nickte.

„Ich leg dir eine Kopie morgens vor die Tür, okay?“, bot er an, worauf sie zustimmend nickte und sich erhob.

„Kannst du mir was versprechen, Maron?“, sagte er plötzlich, bevor sie durch die Tür ging.

Mit einem fragenden Gesichtsausdruck drehte Maron sich um. Seufzend rieb Kaiki sich die Stirn.

„Ich möchte, dass du anfängst die... Möglichkeit zu akzeptieren, dass er nicht zurückkehren könnte. Chiaki versucht seinen Platz in der Welt zu finden und das könnte hier bei uns sein... oder es könnte dort bei ihr sein. Du musst diese Möglichkeiten in Betracht ziehen... und dich darauf vorbereiten“, bat er sie mit einem betrübten Blick.

Schnaubend verließ Maron sein Büro und rannt in den zweiten Stock hoch. Sie wollte ihm nichts sagen, was sie später vielleicht noch bereuen würde.

Denn Chiaki würde nach Hause kommen.

Sein Platz war hier. Bei ihnen.

 

Am folgenden Morgen fand Maron, wie versprochen, einen großen Umschlag vor der Tür.

Sie schaute sich die Kontoübersichten genaustens an.

Zigaretten, Zeichenbücher, Essen... Haushaltsutensilien, diverse Reinigungsmittel, Bettwäsche...

Sie ging die Liste einige Male durch. Ihm musste es wohl wirklich gut gehen.

Und es erschien ihr, dass Chiaki sich dort, wo auch immer er ist, niederließ.

Womöglich hatte Kaiki recht.

Es lag an Chiaki, herauszufinden, wo sein Platz auf der Welt war. Und wenn er nach Hause kommt, sollte es sich richtig für ihn anfühlen.

Sie hoffte, dass er es bald herausfinden würde...
 

*

„Wie fühltest du dich, als du realisiertest, dass Chiaki vielleicht nicht zurückkommen würde?“, fragte Midori sanft.

Maron atmete tief aus.

„Zurückgelassen. Abgewiesen. Einsam. Unglücklich. Hilflos. Besorgt“, zählte sie murmelnd auf, vermied ihren Blick, „Keine Ahnung.“ Sie seufzte. „Erst vor kurzem habe ich gelernt diese Eventualität zu akzeptieren“, sagte sie abschließend mit einem Achselzucken.

Sie und Kaiki hatten es mittlerweile zur Routine gemacht, dass er ihr jeden Sonntag eine Kopie von Chiaki’s Kreditkartenabrechnungen gab.

Während die Wochen vergingen, fand Maron sich regelmäßiger in Kaiki’s Büro vor, führte mit ihm belanglose Gespräche, bevor er ihr die Dokumente gab.

Irgendwann legte er ihr die Papiere einfach auf ihrem Sessel hin, aber sie blieb trotzdem für eine Weile, redete und spielte sogar eine Runde Schach mit ihm.

Sie war Kaiki das zumindest schuldig. Dafür, dass sie in seinem Haus lebte und private Dokumente von ihm forderte.

„Du siehst müde aus“, merkte Midori nach einigen ruhigen Momenten an, worauf Maron nur gleichgültig mit den Schultern zuckte. „Dr. Nagoya hatte erwähnt, dass du Schlafprobleme hast. Ist das wahr?“

Maron seufzte. „Ja…“

Da sie beschlossen hatte ehrlich zu sein, würde sie das auch bleiben. Solange diese Frau ihr eventuell am Ende dabei half das zu bewerkstelligen, wofür sie auch hier war (auch wenn Maron immer noch zweifelte).

„Können wir darüber reden?“, fragte Midori.

Als Antwort schüttelte Maron verneinend den Kopf.

„Nun, worüber möchtest du denn reden, Maron?“, fragte sie mit hochgezogener Augenbraue.

„Es gibt da etwas Spezifisches, worüber ich mit dir reden will…“, begann Maron zu sagen. Midori nickte.

„Nun, da ist dieser begehbare Kleiderschrank…beziehungsweise Ankleidezimmer…“

Während die Wochen vergingen und sie nach wie vor Wut, Bitterkeit und Abweisung über Chiaki’s Abwesenheit verspürte, war gleichzeitig der Drang sehr groß in dieses kleine, verdammte Zimmer reinzukommen.

Maron hatte es schon so oft probiert und schaffte es einfach nicht. Es hatte sie unzählige Versuche gekostet, allein die Klinke kurz anzufassen, ohne zu hyperventilieren.

Doch den eigentlich Schritt, die Klinke runter zu drücken und einzutreten, bekam sie einfach nicht hin.

Logisch gesehen, wusste sie, dass es da drin nichts gab, wovor sie Angst haben müsste. Es befand sich kein Monster dahinter, welche sie da drin einsperren würde.

Sie wusste aus der Ferne bereits, wie es da drin aussah und sie wusste, dass es ein harmloses Zimmer war.

Aber ihr Körper und ihr Verstand war nicht davon überzeugt. Reagierte mit Herzrasen und Schweißausbrüchen.

Es brauchte Stunden, bis Maron sich von einem Fehlversuch beruhigen konnte und sie verbrachte den restlichen Tag damit dieses Zimmer zu verfluchen. Es war der einzige Ort, welches ihr den kleinen Einblick in Chiaki’s Leben verwehrte.

Sie wollte sehen, was sich darin befand. Sich ein genaueres Bild machen und nicht nur von außerhalb der Tür. Sie wollte in den Kisten und Boxen, die sich darin befanden, reinschauen. Sie wollte…

Sie wollte unbedingt Zugang in dieses Zimmer. Brauchte es. Genauso wie sie Schlaf und seine Zuneigung brauchte.

„Ein Ankleidezimmer?“ Fragend legte Midori den Kopf schief.

Maron nickte und gab ihr grob ihre Versuche das Zimmer zu öffnen und zu betreten wieder.

Bei den Erinnerungen allein wurde ihr Herz schneller und ihre Atmung beschleunigte sich.

Midori wartete, bis Maron sich beruhigt hatte, nachdem sie zu Ende gesprochen hatte.

„Hast du Angst vor dem, was in dem Zimmer drin ist? Oder da drinnen gefangen zu sein?“

„Beides.“

Bei Midori’s fragenden Blick begann sie ihr alles zu erzählen, was in Osaka passiert war und wie sie anschließend nach Momokuri kam.

Ein wenig war Maron froh, dass sie über die wesentlichen Einzelheiten sprachen und nicht über ihre Gefühle darüber.

Letztendlich hatte sie doch noch die Schlafprobleme grob angerissen und erläutert.

„Dein Vater“, setzte Midori an, während sie sich etwas aufschrieb. „In was für einem Verhältnis steht ihr jetzt zueinander, in Anbetracht dessen, dass du nun bei Dr. Nagoya wohnst?“

Maron verzog ihr Gesicht, als sie an ihre erste Konversation mit ihm zurückdachte, seit sie -im Grunde genommen- nebenan eingezogen war.

 

Es war Freitagnachmittag.

Und Maron musste an dem Tag zu Fuß von der Schule nach Hause laufen, weil Miyako mit Yamato nachsitzen musste, weil die beiden zusammen im Abstellraum das Hausmeisters erwischt wurden. Und da das Universum sie hasste, fing es auch noch an zu regnen.

Ihre schlechte Laune hatte damit ihren Tiefpunkt erreicht. Den ganzen Tag schon hatte sie Kopfschmerzen. Womöglich, weil sie heute Morgen ihre Tasse Kaffee vergessen hatte und ihr Körper jetzt nach Koffein schrie.

„Soll ich dich fahren?“

Überrascht blieb Maron stehen und drehte sich um, sah den Wagen ihres Vaters am Straßenrand und ihn, mit offene, Beifahrerfenster zu ihr hingebeugt.

Sie verschränkte ihre Arme vor der Brust und schüttelte stur den Kopf, ein paar nasse Strähnen fielen ihr ins Gesicht. „Musst du nicht auf Arbeit sein?“

„Ich bin grade für die Arbeit unterwegs und da muss ich sowieso kurz nach Hause.“

„Aha“, sagte sie nur. „Fahr ruhig. Ich laufe.“

Takumi ließ leider Gottes nicht locker. „Komm. Es sind noch um die dreißig Minuten Fußweg. Du erkältest dich sonst noch.“

Mürrisch blickte Maron gerade aus. Es war wirklich noch ein langer Weg, den sie vor sich hatte. Und sie war von oben bis unten bereits durchnässt. Selbst die Kapuze ihrer Jacke half nichts mehr.

Fein...!, stöhnte sie innerlich auf. Trotzig ging Maron wortlos auf das Auto zu und stieg ein.

Takumi fuhr los und sie wandte sich stur dem Fenster zu. Es herrschte unangenehmes Schweigen im Auto.

„Ich hatte gehofft, dir irgendwie mal zu begegnen“, durchbrach er nach einer Weile die Stille. Ihr entging der traurige Unterton in seiner Stimme nicht.

Maron sagte nichts.

„Weißt du, Maron, obwohl ich in den letzten Wochen ein nervöses Wrack vor Sorge um dich bin, bleibe ich trotzdem geduldig und lasse dich nebenan wohnen. Das Mindeste, was du tun kannst, ist mir mit einem netten Gespräch entgegenzukommen“, sagte Takumi schwer seufzend, während er sich auf die Straße konzentrierte.

Maron warf ihm einen scharfen Blick zu. „Worüber genau sollen wir reden? Vielleicht sollten wir damit anfangen, dass du dich nicht mal bemühst mich zu sehen. Besser noch - wir könnten auch darüber diskutieren, wie du meine Beziehung zu Chiaki zerstören wolltest. Aber das wäre kein sehr nettes Gespräch, nicht wahr?“

Takumi verzog bei ihrem kalten, gefühllosen Ton reuevoll sein Gesicht.

„Du würdest mich doch nicht sehen wollen“, sagte er. „Ich weiß, dass ich einige schlechte Entscheidungen getroffen habe, als ich dir verboten habe Chiaki zu sehen. Es tut mir sehr leid und ich versichere dir, mir sind meine Fehler bewusst. Ich hoffe, du vergibst mir eventuell.“

Seine Entschuldigung ließ sie kalt. Maron verschränkte ihre Arme, war immer noch sauer.

Es wurde wieder still zwischen ihnen. Nur das Trommeln des Regens auf das Auto war zu hören. Plötzlich hielten sie vor einem Café an.

„Warte kurz“, sagte Takumi und stieg aus.

Augenrollend stützte Maron schlecht gelaunt ihren Kopf an der Seite ab. War zum einen genervt darüber, dass er sie nicht einfach direkt nach Hause fahren konnte und zum anderen, weil sie immer noch Kopfschmerzen hatte.

Wenige Minuten später kam ihr Vater wieder, mit einem Kaffeebecher in der Hand.

„Hier”, sagte er und stellte den Becher im Getränkehalter zwischen ihnen ab.

„Wie bitte?“ Mit einer Mischung von Verwirrung und Argwohn blickte Maron zwischen ihm und dem Becher hin und her, während er den Motor startete und wieder losfuhr.

Takumi deutete mit dem Finger auf den Becher.

„Der ist für dich“, sagte er nüchtern, als wäre es offensichtlich. „Seit gestern Abend hattest du keinen Kaffee mehr, richtig? Weshalb du jetzt wohl auch Kopfschmerzen hast.“

Maron’s Mund klappte auf. „Woher-…spionierst du mir nach?“

Seine Mundwinkel zuckten zu einem kleinen Lächeln nach oben.

„Ich spioniere dir nicht nach, Maron. Ich bin dein Vater. Ich bin für dich verantwortlich. Denkst du wirklich, ich würde mich nicht um dein Wohlergehen sorgen?“

Daraufhin wusste sie nicht, was sie erwidern soll.

„Ich weiß, dass du vorgestern die Treppe hoch gestolpert bist und nun einen großen blauen Fleck auf deinem Knie hast. Gestern hattest du einen Caesar Salat als Abendessen gehabt und in der Nacht nur drei Stunden geschlafen“, sprach Takumi weiter.

„Woher-“, setzte sie wieder an und verstummte, war sichtlich überrascht. Denn alles was er wiedergegeben hatte, war korrekt gewesen.

„Kaiki, Miyako, Sakura und Natsuki geben mir Updates über dich, wenn ich danach frage“, offenbarte Takumi. „Würde ich nicht wissen, dass du bei Kaiki vollkommen sicher bist, hätte ich schon längst eingegriffen“, fügte er hinzu.

Fassungslos blickte Maron nach vorne aus der Windschutzscheibe raus, kochte innerlich.

All die Zeit dachte sie, dass sie vollkommen unabhängig wäre, aber es stellte sich heraus, dass jeder für ihren Vater sie im Auge behalten hatte.

Dass Takumi alles über sie und ihr Leben wusste, nervte sie immens. Es war lästig, ätzend... und irgendwie auch fürsorglich von ihm.

Sie kamen endlich in ihrer Straße an. Ohne sich zu ihm umzudrehen oder zu verabschieden, stieg Maron wortlos aus dem Wagen aus, nahm dabei noch den Becher Kaffee mit. Es war noch heiß und wärmte ihre Hände angenehm auf.

Unwillkürlich bildete sich ein kleines Lächeln auf ihren Lippen, als sie daran nippte.
 

*

„Und wie ist das Verhältnis zu ihm jetzt?“, fragte Midori, ohne von ihren Notizen aufzusehen.

„Ich würde nicht sagen, dass es sonderlich gut ist“, erwiderte Maron trocken. „Ich ignoriere ihn nicht mehr und wir wechseln ein paar Worte, wenn wir uns sehen.“

Sie nickte verstehend. „Und wie sieht es mit Miyako und ihre Mutter Sakura aus? Wie ist das Verhältnis zu ihnen jetzt?“

Ohne zu zögern, erzählte Maron ihr, dass sie die beiden öfter sieht als ihren Vater. Es fiel ihr allmählich leichter mit Midori über solche Dinge zu reden.

„Wir reden miteinander... und es hat sich eigentlich kaum was verändert“, sagte Maron. „Außer, dass sie mir immer noch Abstand geben“, fügte sie hinzu. „Gleichzeitig fragen sie immer danach, ob wir mehr Zeit wieder miteinander verbringen.“

Für einen Moment schwieg sie, biss sich auf die Lippe. „Aber wenn ich ehrlich bin... fange ich an dieses seltsame Gefühl von völliger Entfremdung von denen um mich herum zu verspüren und ich kann nicht genau sagen warum.“

Zugegeben – sie hatte sehr viel Zeit damit verbracht, in Chiaki’s Schlafzimmer sich einzusperren, während sie auf seine Rückkehr wartete.

„Du fühlst dich also entfremdet von ihnen“, sagte Midori leise, die sich mit dem Stift aufs Kinn tippte und auf ihre Notizen herabsah. „Und deine anderen Freunde? Diese Natsuki hast du ein paar Male erwähnt.“

Maron räusperte sich. „Sie und Shinji sind vor zwei Wochen zusammengezogen und fangen mit der Uni an.“

Das Paar war sehr aufgeregt darüber...

 

„Kann ich helfen?“, fragte Maron zaghaft, stand vor Shinji’s offener Tür. Er und Natsuki packten gerade Klamotten in einen großen Karton ein.

„Klar“, antwortete Shinji und zeigte auf seinen Schreibtisch. Die nächsten dreißig Minuten verbrachte sie schweigend damit, seine Bücher und Papiere in eine Kiste zu packen.

„Das ist ziemlich viel Zeug“, murmelte sie.

„Hmm-Mh“, nickte er nur.

Viel zu viel..., dachte Maron sich säuerlich.

Nach einiger Zeit drehte sie sich um. „Was ist mit Kaiki?“, fragte sie mit tonloser Stimme.

Shinji begegnete ihren Blick mit einem verwirrten Ausdruck, während Natsuki seine Sachen ungestört weiter einpackte.

„Was soll mit ihm sein?“

Ihre Hände ballten sich an den Seiten. „Du gehst und lässt ihn hier allein.“

Ihr war klar, dass er zu Uni gehen und einen neuen Lebensabschnitt starten wollte, aber sie konnte die aufkeimende Wut in ihr nicht unterdrücken, über die Tatsache, dass jemand anderes dieses Haus verließ.

Shinji schüttelte seinen Kopf. „Ich muss gehen, weißt du? Kaiki wird es gut gehen und wir werden weiterhin in der Nähe sein. Es wird also nicht so sein, dass wir für immer weg sind“, versuchte er Maron zu beruhigen, aber etwas in seinen Worten ließ ihre Wut nur weiterwachsen.

„Ach. Dachtest du das auch, als du Chiaki sagtest, dass er gehen soll? Weil du da offensichtlich falsch lagst.“ Ihre harten Worte trafen ihn. Er zuckte sichtbar zusammen und erblasste.

Natsuki starrte sie entsetzt an. Maron hatte es ihr nie offenkundig gezeigt, aber ein kleiner Teil von ihr machte ihren Freund für Chiaki’s Abgang verantwortlich.

„Hör zu. Ich habe ihm nie gesagt, dass er gehen soll“, sagte Shinji, seine Stimme schwer mit Reue gekennzeichnet.

„Nein, aber du bist derjenige, der ihm die Idee gegeben hat! Du bist der Grund, warum er gegangen ist!“, fuhr Maron ihn wütend an.

Mit den Worten stürmte sie aus Shinji’s Zimmer raus und flüchtete sich in Chiaki’s.

Einige Zeit später klopfte Natsuki laut gegen die Tür und platzte ins Zimmer rein, knallte die Tür hinter sich wieder zu.

„Was zum verdammten Teufel glaubst du, wer du bist?!“

Maron schluckte. Sie hatte Natsuki noch nie so wütend gesehen. „Hast du eigentlich eine Ahnung, wie schuldig er sich über die ganze Sache bereits fühlt? Und dann musstest du ankommen und machst es noch schlimmer!“

Natsuki ging auf Maron zu, die auf dem Bett saß, sich beschämt auf die Lippe biss und ihren Blicken auswich.

„Wenn du das alles nicht zurücknimmst und dich entschuldigst bis morgen, dann werde ich es dir nicht verzeihen, Maron!“

Maron nickte stumm und vergrub ihr Gesicht in das Kissen, was sie umarmte. Begann zu weinen. Sie wusste nicht, was in sie gefahren war. Ihre Emotionen gingen mit ihr durch.

Natsuki’s Gesicht besänftigte sich und sie setzte sich seufzend neben Maron auf die Bettkante hin.

„Sorry“, murmelte sie. „Ich mag es nur nicht, wenn man meinen Freund falsch behandelt.“

Maron nickte verständnisvoll und entschuldigte sich bei ihr mit schwacher Stimme. Natsuki akzeptierte die Entschuldigung und umarmte sie innig.

Später in der Nacht hatte sie Shinji einen Entschuldigungsbrief geschrieben und es ihm unter die Tür geschoben - war zu beschämt ihm ins Gesicht zu sehen.

Gleichzeitig war es auch ein Abschied.
 

*

Midori sah sie für eine lange Weile mit einem undurchdringlichen Gesichtsausdruck an, nachdem sie zu Ende erzählt hatte. Maron fühlte sich unter ihrem Blick sichtlich unwohl, spielte mit ihren Fingern und rutschte nervös auf dem Sofa hin und her.

„Warum bist du hier, Maron?“, fragte sie nach drei Minuten Schweigen, ihr Gesicht blieb unverändert.

Maron zog ihre Augenbrauen leicht zusammen. „Ich will in das Ankleidezimmer rein“, antwortete sie wahrheitsgetreu.

„Nein“, schüttelte Midori ihren Kopf. „Ich möchte, dass du mir den genauen Moment sagst, als du deine Entscheidung getroffen hast hierherzukommen. Lass dabei nichts aus“, bat sie sie.

Maron rollte mit den Augen, tat jedoch wie ihr geheißen und gab ihr die Konversation wieder, die sie mit Kaiki vor drei Tagen hatte.

 

Es war Sonntag. Maron hatte sich wie gewohnt auf ihrem Platz in Kaiki’s Büro hingesetzt, begrüßte ihn höflich und lächelte sogar etwas, worauf er freundlich zurück lächelte.

Insgeheim hatte sie jedoch mal wieder einen schlechten Tag.

Keiner ihrer Freunde hatte heute Zeit für sie. Und da es nicht viel gab, womit Maron sich beschäftigt halten konnte, hatte sie letztendlich viele Stunden vor der verfluchten Tür des Ankleidezimmers verbracht und sich gewünscht, dass sie diese irrationale Angst überwinden konnte.

Immer wieder versuchte sie es und gab jedes mal auf. Ein verdammter Teufelskreis. Schließlich funkelte sie die Tür für eine lange Weile an, ehe sie sich dazu Zwang aus dem Zimmer raus zu gehen und nach Kaiki’s Gesellschaft zu suchen. Mit der Hoffnung, dass ein Gespräch mit ihm sie vielleicht ablenken würde.

Kaiki war wie immer an seinem Schreibtisch vor dem Computer, hatte einen Stapel Papiere vor sich. Den Umschlag mit den Dokumenten hatte er, wie gewohnt, für sie auf ihrem Sitz hingelegt.

Maron legte es immer auf der Armlehne beiseite, schaute es sich erst im Zimmer an. Diese Dokumente waren das Einzige, was ihr einen Einblick in Chiaki’s unbekanntes Leben gab. Sie ging die Liste seiner Ausgaben durch und stellte sich vor, was er machte.

Fragte sich, was er machte. Es war erbärmlich, aber es war allerdings auch das Einzige in der Woche, worauf sie gespannt war.

„Du siehst müde aus.“ Kaiki’s seufzende Stimme riss sie aus den Gedanken. Er wirkte enttäuscht über ihren Mangel an Schlaf.

Maron brachte nur ein gleichgültiges Schulterzucken entgegen, vermied seinen Blick.

Sie schlief nur, wenn es absolut notwendig war.

Er strich sich einmal durch die Haare. „Es ist erschreckend, wie ähnlich ihr beide euch seid.“

Auch wenn sie wusste, was er damit meinte, kam Maron nicht drum herum ihn beleidigt anzuschauen. „Ich bin nicht wie Chiaki“, beharrte sie. Vielmehr war sie das Gegenteil von ihm.

Sie war zwar schüchtern und zurückhaltend, aber sie war weder grob noch kaltherzig zu anderen Menschen.

Sie hatte zwar Albträume, die sie wachhielten, aber sie rauchte nicht oder nahm Drogen, um ihnen zu entkommen.

Sie mochte es, allein in seinem Zimmer zu sein, aber sie verbrachte ihre Zeit nicht damit, sich an die Vergangenheit zu klammern.

Nicht wahr?

Kaiki blickte Maron entschuldigend an, ehe er begann zu erläutern:

„Nicht ganz, aber ihr seid in vielen Aspekten vergleichbar. Ihr Beide habt die gemeinsame Angewohnheit Schlaf zu vermeiden, aber das ist das Offensichtlichste. Ihre beide seid lieber allein, als in der Gesellschaft von anderen. Ihr Beide seid besessen davon, unabhängig von jeglicher Hilfe zu bleiben. An manchen Tagen, wenn ich dich in seinem Zimmer höre, ist es fast so, als wäre er nie weggegangen.“

Mit verengten Augen begegnete Maron seinen Blick. „Das macht uns trotzdem nicht gleich.“

Kurz schürzte Kaiki nachdenklich die Lippen.

„Du bist ihm aber von Tag zu Tag ähnlicher“, sagte er, „Unter anderem ist niemanden entgangen, dass du komplett aufgehört hast zu kochen. Was mal zu deinen Lieblingsbeschäftigungen gehörte.“ Sie blinzelte ihn leicht konfus an. Das war ihr gar nicht aufgefallen.

„Shinji vermisst deine Kekse“, merkte er mit einem leichten Kichern an und wurde anschließend wieder ernster. „Deine Freundinnen sprachen auch davon, dass du nicht hundert Prozent du selbst bist.“

Hatte er recht? Wurde sie wirklich zu dieser bitteren Person, die Chiaki verkörperte?

Am Arsch!, dachte Maron sich. Ich bin besser!

Davon war sie überzeugt. Sie war eine ehrliche Person und wenn sie ein Versprechen machte, dann würde sie es auch halten.

Versprechen waren schließlich dazu da, gehalten zu werden und beruhten auf das Vertrauen zweier involvierte Menschen.

Chiaki hat sein Versprechen gebrochen. Er hatte ihr Vertrauen demnach nicht verdient.

Dementsprechend würde auch sie ihr Versprechen, dem sie ihm gegeben hatte, brechen.

Maron blinzelte sich die bitteren Tränen weg und blickte Kaiki direkt in die Augen.

„Was ist, wenn ich etwas tue, was uns voneinander unterscheidet?“, fragte sie mit ruhiger Stimme, „Was ist, wenn ich Hilfe will?“ Kaiki’s Augenbrauen zogen sich verwirrt zusammen. „Was ist, wenn ich eine Therapie will?“

Nun gingen seine Brauen überrascht nach oben und ein Anflug von Begeisterung war in seinen Augen zu sehen.

„Ich nehme an, dass würde dich von Chiaki unterschieden“, sagte er und bestätigte damit ihre Annahme. Kaiki schien sich seine Freude über ihre Entscheidung bestmöglich verkneifen zu wollen, was ihm jedoch nicht gelang.

Maron räusperte sich. „Okayyy“, sagte sie langgezogen, „Was schlägst du vor?“, fragte sie und setzte ein Lächeln auf.

„Oh“. Kaiki überlegte für nicht mal eine Millisekunde, ehe er sein Handy in die Hand nahm und wie ein Wasserfall sprach. „Ich kenne einige Kollegen, die spezialisiert sind mit Konditionen, wie deinen. Und ich habe auch direkt jemand in Betracht gezogen, die zu dir passen könnte. Eine Frau natürlich. Und-“

„Warte!“, stoppte sie seinen Redefluss.

Kaiki hielt inne, sah Maron an und grinste. „Entschuldige meine Überstürzung. Es kam nur ziemlich unerwartet und ich hatte die Befürchtung, dass du deine Meinung in der nächsten Sekunde ändern würdest.“ Er rieb sich verlegen den Nacken „Natürlich solltest du dir die Zeit nehmen, um es dir genaustens zu überlegen.“

Maron erwiderte sein Grinsen mit einem Lächeln, als sie realisiert, worüber er sich wirklich freute.

Nicht nur, würde sie endlich das machen, worauf er und ihr Vater gewartet haben - ihm wird auch noch die Möglichkeit geboten, jemanden zu helfen.

Etwas, was Chiaki ihm nie gewährt hatte.

Nun würde sie die Person sein, der er helfen konnte.

Was ihren Entschluss nur noch mehr festigte. Sie würde anders und besser sein.

„Ich bin mir sicher“, versicherte Maron ihm. „Ich werde es durchziehen.“ Nickend versuchte Kaiki sein erfreutes Lächeln zu verstecken.

„Und ich vertraue darauf, dass du die richtige Person findest“, fügte sie hinzu, nahm ihren Umschlag und stand auf. Allmählich merkte sie, wie ihre Nerven über die ganze Sache doch auf Hochtouren gingen. „Würde es dir was ausmachen... wenn du das alles für mich einrichtest?“, fragte sie unsicher.

Mit einem zuversichtlichen und zugleich stolzen Lächeln nickte Kaiki. Und erneut realisierte Maron, dass er stolz über ihre Entscheidung, über ihren Fortschritt sein musste. Etwas, was er bei Chiaki bisher nicht erleben konnte.

Und sie konnte ihm ansehen, dass er wirklich erleichtert darüber war, ihr in irgendeiner Weise helfen zu können.

Maron wollte sich sowieso in irgendeiner Weise bedanken, dass sie so lange in seinem Haus wohnte – und es erschien so, dass sie sich damit revanchieren konnte.
 

*

Midori lächelte auf ihre Notizen herab. Maron konnte das Lächeln nicht deuten.

Sie sah auf die Uhr. Eigentlich wäre ihre Sitzung vor zehn Minuten zu Ende gewesen und sie konnte es kaum erwarten ins Bett zurückzukehren und sich nochmal die aktuellen Kreditkartenabrechnungen anzusehen. Sie las sie sich öfter in der Woche durch.

„Okay“, kam es von Midori, die die Beine übereinanderschlug und sie ansah. „Ich bin bereit für meine Einschätzungen.“

„Nur zu“, erwiderte Maron trocken, mit einer einladenden Handbewegung, fragte sich gleichzeitig, wie lange das wohl noch dauern würde.

Mit einem eindringlichen und gleichzeitig ernsten Ausdruck schaute Midori ihr in die Augen.

„Du wirst dich nicht bessern“, sagte sie schlichtweg. Maron klappte entgeistert der Mund auf, wollte protestieren, doch sie hielt stoppend eine Hand hoch.

„Lass mich zu Ende reden“, befahl sie in einem sanfteren Ton. Mit einem mürrischen Blick schloss Maron ihren Mund.

„Du wirst dich nicht bessern, weil du es nicht für dich tust. Du bist hier, weil du Chiaki eins auswischen wolltest, indem du dein Versprechen mit ihm brichst und um seinem und deinem Vater eine Freude zu machen. Aber du tust es nicht für dich.“ Midori lehnte sich etwas nach vorne, worauf Maron sich zum Fenster drehte, um ihren Blick auszuweichen.

„Diese ganze Besessenheit, die du mit dem Ankleidezimmer hast, ist nur eine Manifestation deiner Gefühle zu Chiaki.“

Bitte was?!, ging es Maron irritiert durch den Kopf. Ernsthaft?

Das war einfach nur psychopathisches, hirnrissiges Geschwätz.

„Sein Zimmer steht symbolisch für ihn und das Ankleidezimmer da drin ist diese eine kleine Nische, die du nicht betreten kannst. Es ist wahrscheinlich vergleichbar mit dem Teil seines Herzens, welches für seine Mutter reserviert ist, aber darauf will ich nicht näher eingehen“, winkte Midori mit einer Handbewegung ab.

Gott sei dank, rollte Maron sichtbar genervt mit den Augen.

Konnte sie nicht einfach nur in dieses verfluchte Zimmer wollen? Und diese Frau würde ihr sonst irgendeine Psycho-Methode als Lösung anbieten? Mehr verlangte sie nicht!

„Du willst alle anderen dafür verantwortlich machen, dass er gegangen ist, weil du daran gewöhnt bist. Du kannst Noyn die Schuld für alles geben, was mit dir nicht stimmt. Alles. Außer, dass du Chiaki verloren hast. Stattdessen entscheidest du dich, den Nächstbesten die Schuld zu geben, während du die Tatsache ignorierst, dass niemand Schuld hat“, fuhr Midori fort, lehnte sich in ihrem Sessel zurück.

Maron schluckte, mied weiterhin ihren Blick.

„Du fühlst dich entfremdet, weil du dich selbst von allen um dich herum entfremdest. Für einen kurzen Zeitraum lässt du sie an dich heran, blockst aber ab, aus Angst diejenigen, die du liebst zu verlieren. So wie Chiaki.“

Maron strich sich ihre Haare nach hinten und war aufgestanden.

Sie konnte diesen Einschätzungen nicht widersprechen, aber sie wollte sich den ganzen Quatsch, was sowieso nichts mit dem Ankleidezimmer zu tun hatte, nicht länger anhören.

Mit hochgezogener Augenbraue stand Midori ebenfalls auf, seufzte, ging zu ihrem Schreibtisch und holte sich einen Keks aus einer gläsernen Keksdose raus.

„Keks?“, fragte sie, nachdem sie einen in den Mund nahm und einen weiteren Maron entgegenhielt. Diese runzelte nur die Stirn und verschränkte ihre Arme vor der Brust.

„Die täglichen Kekse, die du einst gemacht hast, waren ein Ausdruck deiner Kameradschaft zu anderen Menschen. Es war etwas Spezielles für dich und obwohl du es vielleicht nicht erkennst, war es umso spezieller für die um dich herum. Die Kekse waren, wie eine Brücke zu deinen Mitmenschen gewesen, die du geschaffen hast. Und ohne diese Brücke, hast du keine Möglichkeit, dich mit ihnen in Verbindung zu setzen oder ihnen zu zeigen, wie du dich fühlst. Deshalb fühlst du dich so entfremdet.“

Ein letztes mal sah Maron das kleine Grinsen auf Midori’s Gesicht, ehe sie aus dem Büro stürmte.

Diese Frau hatte doch einen Knall! Aber was will man auch von Psychologen erwarten.

Sie wollte doch nur in dieses Zimmer! Das hatte in keinerlei Weise etwas mit Chiaki zu tun!

 

In der Nacht lag sie hellwach im Bett, war völlig unruhig und zappelig.

Lesen lenkte sie nicht ab. Die ganze Zeit verspürte sie so ein Bedürfnis, welches ihr in den Fingern juckte.

Sie lief aus Chiaki’s Zimmer raus und schoss im Dunkeln die Treppen herunter.

In der Küche angekommen, suchte sie mit zitternden Händen den Lichtschalter.

Nachdem sie alles erhellt hatte, begann Maron alle Schränke und Schubladen zu öffnen, holte Töpfe und Pfannen raus. Aufgelöst suchte sie nach etwas, fand es jedoch nicht, was ihren Frust und ihre innere Unruhe noch mehr in die Höhe trieb.

Erneut ging sie alle Schränke fieberhaft durch, holte alles geräuschvoll raus.

Erschrocken schnappte sie nach Luft, als sie Kaiki in der Tür stehen sah, der verschlafen sich die Augen zusammenkniff.

„Was in aller Welt hat diese Aufruhr hier unten zu bedeuten?“, fragte er.

Maron hätte normalerweise ein schlechtes Gewissen gehabt, dass sie ihn geweckt und die Ruhe im Haus gestört hatte, aber sie hatte gerade andere Probleme.

„Warum ist hier kein Backblech?!“, platzte es aus ihr heraus.

Kaiki rieb sich verwirrt die Augen. „Wie bitte?“

„Ein Backblech, Kaiki! Du hast keins!“ Frustriert wandte sie sich wieder den Schränken zu, suchte nach einem Ersatz, um darauf zu backen.

Wie konnte es sein, dass es in dieser Küche kein Backblech gab? Wie konnte sie in einem Haus gelandet sein, welches keins besaß?

Maron war so in ihrer Tätigkeit versunken gewesen, dass sie gar nicht mitbekam, wie Kaiki sein Handy herausholte und einen Anruf tätigte.

In dem Moment, als sie aufgeben und wieder ins Zimmer hochgehen wollte, schreckte sie beim Klingeln der Haustür hoch.

Kaiki machte auf und zu ihrer Überraschung kamen ihr Vater mit einer großen Box in den Armen, gefolgt von Sakura, die eine Tüte in den Händen hielt.

„Hier.“ Mit einem Klappern stellte beide die Sachen auf die Arbeitsfläche ab. „Ich habe mit Sakura’s Hilfe noch ein bisschen Zeug dazugetan“, sagte Takumi an Kaiki gerichtet, der Maron immer noch einen besorgten Blick zuwarf.

Maron unterdessen öffnete die Box und lächelte erleichtert. Sie hatten ihr alles mitgebracht, was sie zum Keksebacken bräuchte.

Mit einem verlegenen Lächeln bedankte sie sich bei beiden.

„Keine Ursache“, sagte Sakura leicht gähnend, die sich mit den Männern am Tresen hingesetzt hatte.

Für die nächste halbe Stunde begann Maron in der Küche zu arbeiten, während die drei Erwachsene ihr schweigend dabei zusahen. Es war ein angenehmes Schweigen im Raum.

Die Geräusche der Küchengeräte und der Duft der aufbackenden Kekse erfüllten sie mit einem vertrauten und zugleich beruhigenden Gefühl in der Brust, welches sie seit langem nicht mehr verspürt hatte.

Als die Kekse schließlich fertig waren, holte Maron sie raus und gab den Erwachsenen jeweils ein Stück. Es störte niemanden, dass sie noch heiß waren.

Sie fühlte sich auf jeden Fall besser. Auch nachdem alle sagten, dass die Kekse ausgezeichnet schmeckten.

Maron war sich sicher, dass Midori das in ihrem Kopf eingepflanzt haben musste. Und irgendwie war sie ihr auch dankbar dafür, denn das leere Empfinden in ihrer Brust war nicht mehr so ausgeprägt.

Maron setzte sich zu den Erwachsenen am Tresen dazu, versuchte bestmöglich die Verbindung zu ihnen wieder aufzubauen, wie sie konnte.

Alle waren höchst erfreut, als sie ihnen mitteilte, dass sie am nächsten Tag Midori zu einer weiteren Therapiesitzung wiedersehen wollen würde.
 

*

In den folgenden Tagen hatte Midori mit ihr ausgemacht, dass sie mindestens zweimal die Woche nach der Schule eine Sitzung mit ihr durchführen sollte.

Zusammen gingen sie auch die Abschnitte ihres Lebens vor dem Vorfall in Osaka durch und arbeiteten sich langsam zur Gegenwart hin.

Wie Kaiki, war Midori sehr geduldig und zeigte auch nie das Bedürfnis Maron triggern zu wollen. Die Therapiestunden mit ihr waren vollkommen anders, als sie sich sowas ausgemalt hatte.

Es gab Dinge, die Maron schon befürchtet hatte, wie die Einnahme von Medikamenten, die ihre innere Unruhe und Ängste mindern sollen.

Zum Ende einer Sitzung bot Midori ihr auch an Selbstverteidigungskurse zu nehmen - einfach zum Aufbau der allgemeinen Stärke und des Selbstbewusstseins und würde ihr sogar eine Leiterin empfehlen, zu der sie hingehen könnte.

„Okay“, stimmte Maron nur zu, ehe sie das Büro verließ und sich nach Hause begab.

Es wurde wärmer. Der Winter war längst vorüber und der Frühling brach überall durch.

Die Bäume wurden wieder grüner und Blumen brachten Farbe in die grünen Gräser.

Gähnend hielt Maron sich eine Hand vor den Mund, während sie Heim ging. Sie hatte die letzten drei Tage nicht geschlafen. Womöglich müsste sie versuchen, für zwei bis drei Stunden die Augen zu zu bekommen.

Bei den Nagoya’s angekommen, blickte Maron auf die leere Stelle rüber, wo sonst Chiaki’s Auto immer stand.

Die Leere, die durch seine Abwesenheit verursacht wurde, war zwar abgeschwächt, aber nach wie vor existent. Seufzend schloss sie ihre Augen, als sie reinging.

Stellte ihn sich neben sich vor, wie er sie reinführte. Seinen Arm auf ihrem Rücken, die Wärme, die er ausstrahlte und ihr Geborgenheit gab.

Aber es half alles nichts.

Er war fort.



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