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Insomnia

"You can't fix me."
von

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FIFTY

FIFTY

 

Maron,

 

Ich hatte eins Mal die Vorstellung gehabt, dass du mit mir hier wärst. Hier, in dem Ort, wo ich meine Kindheit verbracht habe. Aber du bist nicht bei mir.

Ich vermisse dich. Du fehlst mir.

 

Ich will dich hier, jetzt, bei mir, mehr als ich dich jemals irgendwo wollte.

Ich will dich. Ich will, dass du mir gehörst. Ich will dich fragen, ob du mein bist. Und ich will, dass du „Ja“ sagst.

Es ist witzig, aber gleichzeitig auch nicht, wie ich vor nicht allzu langer Zeit dich mein gemacht habe. Bevor wir uns geküsst haben. Ich hatte es einfach getan, unüberlegt.

Und dann, nachdem wir uns geküsst haben, wolltest du, dass ich dich zu mein mache. Ich hätte dich fragen können „Bist du mein?“ und du hättest „Ja“ gesagt.

 

Aber ich kann dich das jetzt nicht fragen. Oder ich könnte, aber ich würde nicht mehr wissen, was du antworten würdest. Und ich wäre auch ein zu großer Feigling.

Weshalb ich dir das schreibe, auch wenn du es nie lesen wirst. In der Hoffnung, dass ich diese Gedanken austreiben kann.

Bist du mein? Oder sind wir nur zwei abgefuckte Idioten, die einander Versprechungen machten, die wir nicht halten würden?

 

Du bist nicht mein. Ich habe kein Recht dazu.

Aber gerade jetzt fühle ich mich, als würde ich alles dafür geben, um dich zu haben. Du bist wie eine Droge in meinem System. Süß, wie eine verbotene Frucht, bei der man immer mehr will.

Aber ich habe nach dieser Entscheidung kein Recht dazu.

 

Dein Chiaki

...Immer noch
 

*

Sonnenlicht kam gefiltert durch den offenen Spalt der schweren Vorhänge rein und badete das Sofa in einem staubigen Strahl.

Chiaki schloss schnell seine Augen, als er Schritte hörte, die sich der Haustür näherten. Er behielt seine Atmung ruhig und wusste, dass seine Mutter davon ausging, dass er schlief. Das tat er immer, wenn sie die Wohnung am Morgen verließ. Schlaf vortäuschen.

Er wusste, wohin sie ging und er hatte sie auch nur einmal aufgehalten. Fast hätte er sich gewünscht, es nicht getan zu haben.

An dem einen Tag hatte er sie dazu gezwungen 24 Stunden ohne Alkohol auszukommen, aber ihr Körper war so abhängig von dem Zeug geworden, dass der Entzug sie handlungsunfähig machte. Sie konnte ihr Glas Wasser nicht heben, ohne das es zitternd über den Rand schwappte und sie konnte den Inhalt nicht einmal runter bekommen, wenn sie es versuchte zu trinken. Weshalb er es aufgab, sie am nächsten Morgen gehen ließ und so tat, als würde er schlafen.

Seit acht Wochen war Chiaki nun bei ihr in Yokohama. Sein Verhältnis zu Kyoko war im besten Fall empfindlich. Im schlimmsten Fall nicht existent.

Er versuchte sich um sie zu kümmern, doch sie stieß ihn ständig weg und verlangte, dass er ging, damit sie -in ihren Worten- in Ruhe verrotten konnte. Es war das Erbärmlichste, was er je gesehen hatte.

Sie hatte nicht gelogen, als sie ihm erzählte, dass sie ihre Tage damit verbrachte, sich in Vergessenheit zu trinken. Er blieb nicht, um ihr dabei zu zusehen, wie sie verkümmerte.

Er blieb, weil er ihr helfen wollte.

Um eventuell das Leben mit ihr zu bekommen, welches er sich so lange erhofft hatte und weil er daran glauben wollte, dass diese Frau, zu der er aufgesehen hatte, immer noch irgendwo in dieser traurigen Hülle steckte.

An dem Tag, als Chiaki den Brief an Maron abgeschickt hatte, war es, als war ein Stück seiner Seele mitgestorben.

Nicht nur, hatte er sein Versprechen an sie gebrochen – er wusste nicht mal, wann oder ob er jemals wieder nach Momokuri zurückkehrte.

Er konnte sich vorstellen, wie sie den Brief las und er hasste sich dafür, dass er ihr Herz gebrochen hatte. Ein kleiner Teil von ihm fragte sich gleichzeitig, ob sie ohne ihn nicht besser dran war.

Schließlich war er immer derjenige gewesen, der sie davon abgehalten hatte besser zu werden. Hatte sie im Grunde genommen vor ein Ultimatum immer gestellt, wenn sie es in Erwägung gezogen hatte einen Therapeuten zu sehen.

Rückblickend war es von ihm womöglich auch unverzeihlich, sie so zu kontrollieren und an sich zu binden und er hoffte, dass sie nicht auf ihn hörte. Insbesondere, weil er nicht mehr bei ihr war.

Chiaki versuchte diese Gedankengänge nicht mehr weiter fortzuführen. Denn die Vorstellung allein, dass Maron eventuell jemand besseres fand, konnte er nicht ertragen - obwohl er wusste, dass sie es verdient hat.

Sie hat Besseres verdient. Das ganze Fiasko bewies es doch nur.

Er wusste nur nicht, ob er wollte, dass sie es auch realisierte.

 

Nachdem er sich dafür entschieden hatte bei seiner Mutter zu bleiben, hatte Chiaki seine Kreditkarte genommen und erstmal alles Mögliche eingekauft, um die Bruchbude, in der sie lebte, auf Vordermann zu bringen.

Es war falsch dafür Kaiki’s Geld zu nutzen, aber davon hatte er sowieso genug. Irgendwann würde Chiaki es ihm auf jeden Fall zurückzahlen wollen.

Er kaufte Kyoko Essen und zwang sie zu essen, denn das tat sie auch zu wenig.

Er hatte ihre Wohnung sauber gemacht, hatte dafür Tage gebraucht. Sie beharrte darauf, dass er aufhören sollte, aber nachdem sie erkannte, dass er nicht hören würde, bot sie kleinlaut an ihm zu helfen – was er immer ablehnte.

Für einen Moment hatte Chiaki es in Erwägung gezogen sie woanders hinzuziehen, aber so eklig wie dieser Ort auch war, seine Mutter schien sich hier wohl zu fühlen.

Nach einiger Zeit hatte er Boden, Wände und Möbel so stark gereinigt, dass es fast wieder bewohnbar aussah. Neue Bettwäsche, Decken und Kissen hatte er ihr auch geholt.

Das Schlimmste war das Bad. Augenrollend musste er sich ihre Entschuldigungen anhören, während er die Fliesen schrubbte und von den schleimigen Substanzen dazwischen befreite. Er wollte nicht wissen, was sich über die Jahre alles darauf festgesetzt hatte.

Nach zwei Wochen war er halbwegs zufrieden mit der Wohnung.

Die nächste Aufgabe war sie wieder sauber zu bekommen.

Es war offensichtlich, dass diese Frau -dieselbe Frau, die ihn immer dazu ermahnt hatte, sich zweimal am Tag die Zähne zu putzen und jeden Tag zu duschen- alles vernachlässig hatte, inklusive ihrer eigenen Hygiene.

Zuerst hatte Kyoko sich gesträubt, aber nachdem Chiaki ihr gedroht hatte, sie eigenhändig in die Badewanne zu strecken, gab sie nach.

Was ihre Klamotten anging, so ging er in einen Waschsalon am Ende der Straße, um sie zu waschen. Eigentlich warf er mehr weg, als er wusch, denn das meiste konnte man wirklich nur noch in den Müll schmeißen.

Er kam sich vor, als würde er sich um ein Kind kümmern, doch all die Aufgaben lenkten seine Gedanken von Momokuri ab.

Die Haustür ging auf und seine Mutter kam wieder rein, während er regungslos auf dem Sofa liegen blieb. Chiaki hörte, wie sie den Flur durchquerte, direkt in ihr Schlafzimmer ging und die Tür schloss. Seufzend öffnete er seine Augen, fühlte sich in dem Moment noch nie so distanziert von ihr, wie jetzt.
 

*

„Bitte, erzähl es mir“, fragte Kyoko zum dritten Mal diesen Abend, während er und sie am Küchentisch saßen und bestellte Nudeln aßen. Die ganze Zeit fragte sie ihn über sein Leben mit Kaiki, die er in den letzten Wochen immer umgangen war.

Ihre Augen waren blutunterlaufen und Chiaki war sich nicht sicher, ob sie wirklich nüchtern war. In dem kleinen Zeitfenster, in der sie mal nicht trank, zwang er sie immer dazu etwas zu essen.

Gleichgültig beäugte sie ihr Essen und stocherte mit der Gabel darin rum.

Chiaki seufzte entnervt. „Iss dein Essen oder ich erzähl dir nichts.“

Mit den Worten begann sie schnell ein paar Bisse in sich hineinzuschaufeln.

Er nahm tief Luft und erzählte ihr mit tonloser Stimme von den letzten sieben Jahre, in der er mit Kaiki lebte und wie gut dieser sich um ihn gekümmert hatte. Ihm fiel auf, dass, je mehr er ihr erzählte, umso mehr sie aß, weshalb er weitersprach.

Er erzählte ihr von ihren gemeinsamen Schachabenden und alles Gute, was ihm einfiel. Umging alles Negative ihrer Beziehung.

Am Ende hatte sie ihre gesamte Mahlzeit fertig gegessen und sah den leeren Behälter mit gerunzelter Stirn an, als hätte sie ihre einzige Möglichkeit verloren Informationen von ihm zu erhalten.

Kyoko räusperte sich. „Kaiki ist ein guter Mann“, murmelte sie mit einem schwachen Lächeln, strich sich die Haare hinters Ohr. Chiaki nickte nur, während er noch aß. „Ich sollte mich eines Tages bei ihm persönlich bedanken..., dass er sich um dich gekümmert hat.“

Bitte nicht!, dachte Chiaki sich direkt, als er den Kopf schüttelte.

Er wollte sich gar nicht vorstellen, wenn Kaiki seine Mutter so antraf. Bei der Vorstellung allein, verzog Chiaki schon das Gesicht.

Nach einigen stillen Sekunden ließ sie das Thema seufzend fallen und kehrte in ihr Zimmer zurück.

Er schlief in der Nacht nicht, lag hellwach auf dem Sofa und starrte zur Decke hoch. Seine Schlafgewohnheiten waren im Grunde genommen genauso, wie zu der Zeit bevor Maron in sein Leben kam. Würde nur schlafen, um die Symptome nicht wieder ans Limit auszureizen.

Der einzige Unterschied war das Halluz-Maron irgendwann, wie aus dem Nichts, auftauchen und ihn wieder auf den Geist gehen würde. Sie war verdammt nervig.

Gleichzeitig wollte er unter anderem auch wach bleiben, um sie zu sehen. (Ihm ist klar, dass er verrückt war...)

Die darauffolgenden Tage verbachte seine Mutter immer damit ihn beim Abendessen mit Fragen zu durchlöchern. Sie wollte mehr über sein Leben, die Schule und seinen Noten wissen.

Jegliche Fragen, ob er jemals zurückkehrte, tat Chiaki mit einem Schulterzucken ab.

„Das ist hübsch“, kam es eines Abends plötzlich von ihr. Er blickte sie überrascht an und folgte ihren Blick runter auf seine Hand. Sie schaute auf seinen Claddagh-Ring. Chiaki schwieg, ließ ihre Anmerkung unkommentiert.

Auf keinen Fall wollte er mit ihr über sein Mädchen reden. Allein der Gedanke an sie zerriss ihm das Herz in zwei.

Er konnte diese gegensätzlichen Sehnsüchte nicht unter einem Hut bekommen. Er wollte alles, wusste gleichzeitig, dass es unmöglich war.

Letztendlich sollte er dankbar darüber sein, seine Mutter endlich wieder zu haben... wieso spürte er trotzdem diese anwachsende Wut in seinem Inneren, während er gedankenverloren an dem Ring um seinen Finger drehte?

 

In dieser Nacht zeichnete er wieder. Es hatte eine Weile gebraucht, bis er einen anständigen Laden finden konnte, der die exakten Skizzenbücher und Stifte, die er benutzte, verkaufte. Draußen war irgendein Festival mit Feuerwerk und allem Drum und Dran im Gange.

Das Licht des Feuerwerks erleuchtete das Wohnzimmer sowie auch die Seite, auf der er gerade zeichnete. Darauf war eine ähnliche Szene abgebildet: Maron, die sich zu Silvester das Feuerwerk anschaute und zum Himmel hinaufsah.

Seine Augen waren träge und müde, weshalb es schwierig war den Stift präzise zu führen, aber es verging auch schnell wieder. Ein Lächeln huschte ihm über die Lippen, während er sich im Zeichnen verlor.

Nach einigen Minuten hörte er neben dem Krachen und Flackern des Feuerwerks ein sanftes Kichern, welches seine völlige Aufmerksamkeit weckte.

Mit zusammengepressten Lippen fixierte er das schwarz-weiße Abbild vor sich, konzentrierte sich gleichzeitig darauf mehr von der Stimme zu hören. Ein klein wenig hatte er gehofft, sie wiederzusehen. Vielleicht hatte er es auch geplant... auf jeden Fall war seine Erleichterung deutlich fühlbar, als er sie klar hören konnte.

„Hmmm“, summte die Stimme musikalisch und er sah langsam zu der roten Figur auf. Halluz-Maron sah auf seine Skizze herab, während er den Moment dazu nutzte jede Welle ihrer Haare, ihre rosigen Wangen, ihre vollen, roten Lippen sowie ihre sanften, braunen Augen zu bewundern.

„Mir gefällt das nicht“, sagte sie, warf ihm einen unzufriedenen Blick zu.

Chiaki strich sich durch die Haare, als er auf die Zeichnung schaute. „Ich weiß“, stimmte er ihr zu.

Unterdessen lief Halluz-Maron durchs Zimmer. Der Rock ihres Kleides schwang hin und her und ihre blasse Haut wurde von den Farben des Feuerwerks getränkt.

Seufzend warf Chiaki das Skizzenbuch beiseite und fokussierte sich auf sie.

Halluz-Maron inspizierte jede Ritze und jeden Winkel, die er versucht hatte sauber zu bekommen.

„Staubig hier“, kommentierte sie nur und fuhr mit dem Finger über das Sofa.

Seufzend rollte er mit den Augen. „Ein Sofa zu reinigen, ist schwieriger als man denkt“, entgegnete er trocken.

„Im Internet gibt es bestimmt genug Tutorials für Dummies.“

Na toll, jetzt ließ er sich auch noch von seiner eigenen Halluzination runter machen. Er brauchte dringend Schlaf.

„Vergiss es“, sagte er und schloss seine Augen. „Ich will-“

„Chiaki?“

Überrascht schreckte er bei der Stimme hoch und drehte sich zur Tür um.

Seine Mutter stand am Türrahmen angelehnt, war offensichtlich betrunken und blickte ihn mit zusammengekniffenen Augen an.

„Mit wem hast du geredet?“, fragte sie leicht nuschelnd, schwankte etwas nach vorne und richtet sich wieder aufrecht.

„Mit niemand“, sagte er stumpf, stand auf, ging auf sie zu und packte sie am Arm, führte sie zu ihrem Schlafzimmer. Skeptisch beäugte Kyoko ihn, doch Chiaki wusste, dass sie sich morgen wahrscheinlich nicht mehr an diesen Moment erinnern würde.

Als er wieder ins Wohnzimmer zurückkehrte, war Halluz-Maron verschwunden. Er legte sich wieder aufs Sofa hin und schloss seine Augen.
 

*

Drei weitere Wochen vergingen.

Es hatte sich kaum was verändert. Eigentlich so gut wie gar nichts.

Seine Mutter war nach wie vor die leere Hülle, wie am ersten Tag und er fühlte sich noch hilfloser als vorher. Chiaki kam sich vor, als wäre er in ihrem Leben bedeutungslos, trotz all der Hilfe, die er ihr bot.

Jedes Mal sagte sie ihm, dass er gehen soll, beharrte darauf, dass er sie nicht in diesem Zustand sehen soll. Und mit jedem Mal spürte er diese Wut und Abscheu, gemischt mit Abweisung und Hoffnungslosigkeit.

Zur selben Zeit erwischte Chiaki sich immer mehr dabei, wie er Momokuri vermisste.

 

Es war Juni. Die Temperaturen stiegen weiter an, die Sonne war in den Abendstunden länger auf und seine Mutter hatte heute einen ungewöhnlich guten Tag.

Sie hatte sich nicht übergeben, frühstückte bevor sie aus der Wohnung ging und hatte nur eine Flasche gehabt. Am frühen Nachmittag war sie zwar völlig weggetreten, aber zumindest würde sie nichts mehr zum Trinken haben, wenn sie gegen 17 Uhr wieder aufwachte.

Es war zwar traurig, dass sowas seine Stimmung heben konnte, aber das tat es.

Weshalb Chiaki Pizza holen ging, in der neuen Hoffnung, sich und ihr einen guten Abend zu beschaffen. Er kaufte auch noch einige andere Sachen, wie die Lieblingsschokolade seiner Mutter oder süße Oreo-Kekse.

Während Chiaki die Straßen nach Hause lief, fragte er sich, wie es Maron ging und wie sie im neuen Schuljahr klarkam. Der Gedanke an sie bereitete ihm ein kleines, trauriges Lächeln auf die Lippen, welches auch direkt wieder erstarb, aufgrund des Schmerzes in seiner Brust.

Zu Hause angekommen begab er sich in die Küche. Auf den Weg dahin bemerkte er im Augenwinkel jedoch, dass jemand im Wohnzimmer auf dem Sofa saß.

Sein kleines Lächeln kehrte kurz zurück, als er erkannte, dass seine Mutter sich wahrhaftig im Wohnzimmer befand und nicht in ihrem Schlafzimmer. Etwas, was sie nie tat.

Als sein Blick auf Kyoko fiel, löste sein Lächeln sich direkt wieder und er sah rot.

„Was zum Teufel tust du da?!“

Sein Skizzenbuch fiel ihr aus den Händen, sie zuckte erschrocken zusammen und sah mit riesigen Augen zu ihm auf.

„I-Ich wusste gar nicht, dass du zeichnen kannst“, sagte Kyoko zaghaft, blickte auf das Buch auf dem Boden. In dem Augenblick, in der sie sich herunterbeugen und es aufheben wollte, war Chiaki zu ihr rüber gestampft, hatte das Essen auf den Wohnzimmertisch geschmissen und nahm sein Skizzenbuch an sich, bevor sie wieder darauf Hand anlegen konnte.

„Und ich wusste gar nicht, dass du die Privatsphäre anderer nicht respektierst“, entgegnete er mürrisch.

„Das ist meine Wohnung und du hast mir kein bisschen Privatsphäre gegeben“, konterte sie, worauf er sie mit verengten Augen ansah. In ihrem Fall war Privatsphäre etwas, was sie sich verdienen musste.

Sie schien zu spüren, dass eine Diskussion ihr nichts brachte, weshalb sie resigniert ihren Blick auf ihr Schoss senkte. „Ich wollte dich nicht aufregen. Ich habe nach dir gesucht, nachdem ich aufgewacht war und habe es hier liegen sehen. Ich hätte nicht reinschauen sollen.“

Seufzend wandte Kyoko sich der Pizzabox zu und holte sich ein Stück heraus.

Wortlos setzte Chiaki sich neben sie, sein Buch auf seinem Schoss schützend unter dem Arm geklemmt. Er nahm sich ebenfalls ein Stück und aß mit ihr. Sie aß aus freien Stücken und er war froh, dass er sie ausnahmsweise nicht in irgendeiner Weise dazu bringen musste.

Nach einigen, langen Momenten des Schweigens kam schließlich die unvermeidbare Frage.

„Also...“, kam es von ihr vorsichtig, „Wer ist sie?“

„Niemand“, antwortete Chiaki hastig, mied ihren Blick.

„Hmm. Sie sieht für mich bestimmt nicht nach ‚niemand‘ aus.“ Er konnte förmlich spüren, wie seine Mutter ihn prüfend anstarrte. Schweigend aß Chiaki kommentarlos weiter.

„Ist sie diejenige, die für den Ring verantwortlich ist?“, fragte Kyoko, mit einer Spur von Neugier in ihrer Stimme. Als er nach wie vor weiterschwieg, seufzte sie frustriert auf.

„Liebtest du sie?“, fragte sie sanft.

Diesmal erwiderte Chiaki ihren Blick. Es war unmöglich darauf nichts zu erwidern.

„Liebe. Nicht Liebte“, korrigierte er sie schroff. Hasste es, dass die Worte in der Vergangenheit ausgesprochen wurden.

Etwas blitzte in ihren Augen auf, was auch direkt wieder verschwand.

„Wie ist ihr Name?“, fragte sie ihn in einem Ton, bei der er es wirklich in Erwägung zog ihr zu antworten.

„Maron“, antwortete Chiaki leise murmelnd. Es war so lange her, seit er ihren Namen das letzte Mal laut ausgesprochen hatte.

Ihre Augen leuchteten für einen Moment wieder auf. Sie warf die leere Pizzabox beiseite und drehte sich ihm ganz zu.

„Zeig sie mir bitte“, bat Kyoko ihn, blickte unsicher zwischen ihm und dem Skizzenbuch hin und her.

Chiaki seufzte, konnte ihr die Bitte einfach nicht abschlagen.

Er wischte sich mit einer Serviette die Hände ab und schlug die erste Seite auf. Sie rutschte näher zu ihn heran und legte unerwartet ihr Kinn auf seine Schulter ab. Er versteifte sich für einen minimalen Moment.

Diese Geste war das Nächste was sie ihm je an mütterliche Zuneigung zeigte, seit er hier angekommen war.

Er sah auf das Buch vor ihnen herab. Das Buch, was sein Herz repräsentierte. In der jede einzelne Seite, jede einzelne freie Fläche mit seinem Mädchen gefüllt war.

„Sie mag es zu kochen“, sagte er zu der Zeichnung, in der Maron mit einem entspannten Ausdruck in Kaiki’s Küche zu sehen war, als sie das erste Mal bei ihnen zum Abendessen eingeladen wurde.

Seine Mutter hob ihre Hand und fuhr mit dem Finger sachte über die Linien ihres Gesichts. „Sie ist wunderschön, Chiaki“, sagte sie mit einem zufriedenen, sogar erfreuten Lächeln. Bei ihrem Gesichtsausdruck warf er ihr einen leicht ungläubigen Blick zu.

„Erzähl mir von ihr“, bat sie ihn leise, erwiderte seinen Blick, ehe sie wieder auf die Seite heruntersah.

Erfreut über ihre Freude nickte Chiaki.

„Sie ist etwas schüchtern“, begann er zu erzählen und blätterte weiter. „Kann aber unter Menschen, die ihr vertraut sind, aufgehen.“ Die Zeichnung vor ihnen war halbfertig. Wieder strich seine Mutter sachte über die schwarz-weißen Konturen. „Manche würden sagen, dass sie stur ist, aber da liegen sie falsch. Sie ist nur sehr entschlossen. Und eine Kämpferin.“

Kyoko lächelte erneut und sah ihn an. „So wie du.“

Er schnaubte, ließ ihre Aussage unkommentiert. Er blätterte und zog kurz scharf Luft ein, blätterte eine weitere Seite schnell weiter.

Eben die Zeichnung war weniger jugendfrei und zeigte ein wenig zu viel von Maron, als er jemand erlauben würde zu sehen. Seine Mutter schmunzelte etwas.

Chiaki räusperte sich verlegen und fuhr bei dem Abbild von Maron auf ihrer Picknickbank fort.
 

Sie verbrachten fast zwei Stunden auf dem Sofa, während er ihr sein Mädchen zeigte.

Ihr Grinsen ließ keinen Moment nach. Er erzählte ihr von Maron’s Qualitäten und Persönlichkeiten, sprach von den Momenten, die er festgehalten hatte. Ihr erstes Date, ihre Nachmittage in der Hütte, ihre gemeinsamen Erlebnisse mit ihren Freunden...

Jedes Mal, wenn Chiaki blätterte, achtete er vorsichtig darauf, dass die nächsten Abbildungen jugendfrei blieben.

Nach einer Weile wollte sie Dinge über Maron wissen, die nicht in den Zeichnungen gezeigt werden konnten: warum sie keine anderen Männer anfassen konnte, warum sie diese und jene Narbe hat, warum sie bei ihm geschlafen hatte....

Das würde viel zu viel von Maron’s Vergangenheit preisgeben – und seiner. Aber er erzählte weiter, beantwortete jede ihrer Fragen. Er konnte sich nicht erklären wieso.

Mit jeder Antwort kamen drei weitere Fragen von ihr, die er alle beantwortete, da sie alle was mit seinem Mädchen zu tun hatten.

Es war falsch mit jemand über all die sensiblen Details von Maron’s Vergangenheit zu reden, der sie noch nicht mal kannte. Aber es fühlte sich auch gut an, mit ihr über diese Dinge zu reden und das ungewohnte Lächeln von seiner Mutter spornte ihn noch mehr an.

Einige Zeit später wusste Kyoko so gut wie alles über sein Mädchen.

An irgendeinem Punkt hatte sie seine Hand genommen und spielte gedankenverloren mit dem Ring an seinem Finger.

„Nun...Was ist passiert?“, fragte sie, lächelte nicht mehr. „Warum bist du nicht bei deiner Maron?“

Chiaki presste sich die Lippen zusammen, blickte stirnrunzelnd auf den Ring.

„Sie blieb in Momokuri“, wich er ihr aus. Sie beide wussten die Wahrheit: er war nicht bei seinem Mädchen, weil er bei ihr war.

Die Stille streckte sich für einige Momente, bis Kyoko ihn plötzlich von sich schob und ihn aufgebracht ansah.

„Du Narr!!“, schrie sie ihn an. Er zuckte überrascht zusammen. Ihre Hände, die sich zusammenballten, zitterten und sie stand vom Sofa auf. „Du hattest alles! Und schmeißt alles für das hier hin?!“ Sie gestikulierte in den Raum.

„Wow. Drei Stunden an netten Mutter-Sohn-Momente mit einem Ruck ruiniert“, sagte er spöttisch und angepisst. „Danke.“

Ihre Augen trafen furios auf seine. „Du verstehst es einfach nicht, oder?“

„Nein, weil alles was du tust, einfach nur unverständlich ist.“

„Wie ich lebe ist selbstsüchtig und erbärmlich, aber nicht unverständlich“, sagte sie, worauf er nicht zustimmend die Arme vor der Brust verschränkte.

„Das ist eine scheiß-faule Ausrede. Wenn du mich liebst, würdest du dich bessern wollen“, warf er spitz ein, war ebenfalls aufgestanden, „Du würdest mich dich helfen lassen!“

Sie knickte ihren Kopf, ließ ihre angespannten Schultern sinken.

Tränen rannten ihr herunter und sie hielt ihre Hände vor das Gesicht. „Ich liebe dich, mein Sohn“, wisperte sie schmerzlich, „…mehr als alles andere auf der Welt. Weshalb ich will, dass du verstehst, dass du mir nicht helfen kannst.“

„Aber ich kann dir helfen! Ich weiß, dass es unmöglich für dich ist, von hier auf jetzt aufzuhören. Aber es gibt Orte... Krankenhäuser und Kliniken, die spezia-“

Humorlos lachte sie auf und unterbrach ihn damit. Sie blickte ihn für einige lange Sekunden an und seufzte kopfschüttelnd.

„Ich bin innerlich tot, Chiaki. Nichts und niemand kann mich wiederbeleben“, wisperte sie mit gebrochener Stimme und biss sich auf die Lippe. „Was würdest du denn tun, wenn du eines Tages erfährst, dass deine Maron nicht mehr lebt?“

Bei der Frage ballte Chiaki seine Hände zu Fäusten.

„Das ist nicht dasselbe! Und wage es nie wieder-…“ Er stockte, brach ab. Seine Brust schmerzte tief bei der Vorstellung allein und schnürte ihm den Hals zu.

Er würde verdammt nochmal sterben, wenn seinem Mädchen etwas zustoßen würde...

Er wäre nur noch eine wandelnde, leere Hülle auf Erden.

Genau wie seine Mutter es gerade war. So gern er es abstreiten würde, so war es letztendlich doch nur wahr.

Das Erstaunlichste von allem war nicht die Tatsache, dass sie seine Hilfe ablehnte (denn das war etwas, woran er sich über die Monate gewöhnt hatte) sondern der Aspekt, wie auffallend vertraut ihm die ganze Situation erschien.

Denn Kaiki war in derselben Position wie er, wenn er versucht hatte ihm Hilfe anzubieten, die er immer abgelehnt hatte.

Es gab kein schlimmeres Gefühl -kein größeres Leid- als jemanden, der einem viel bedeutet, leiden zu sehen, während gleichzeitig die eigene Hilfe verweigert wird. Er fühlte sich beschissen, dass er Kaiki dieses Leid angetan hatte.

Und zum ersten Mal verstand Chiaki seinen Vater auch richtig. Er verstand dessen Verzweiflung und dessen Schmerz darüber, dass er sich nicht bessern wollte.

Ohne ein weiteres Wort drehte Chiaki sich um und ließ seine Mutter in der Wohnung zurück.
 

*

Ziellos war er durch die Straßen gelaufen, hatte viel nachgedacht.

Vor dem Wohnkomplex blieb Chiaki stehen, als er zurückkehrte, blickte zum siebten Stock hoch.

„Es ist schon spät“, hörte er die sanfte Stimme seines Mädchens sagen. Chiaki drehte sich um, blickte Halluz-Maron in die Augen. „Wir sollten nach Hause gehen.“ 

„Nach Hause?“, wisperte er kaum hörbar, den Blick wieder nach oben gerichtet. Tief in seinem Inneren wusste er sofort, von welchem Zuhause sie sprach. Und das er spät dran war...

In der Wohnung war das Wohnzimmer leer, sein Skizzenbuch lag verlassen auf dem Sofa. Chiaki durchquerte den Flur zum Schlafzimmer, die Tür war leicht angelehnt. Er machte sie weiter auf, seine Augen fielen sofort auf seine Mutter, die auf der Bettkante saß. Die Lichter waren an und sie hatte eine Flasche in der Hand, als ihr Blicke sich trafen. Die zweite Flasche musste sie an ihn wohl vorbeigeschmuggelt haben.

„Du hattest recht“, gab Chiaki zu, gab sich geschlagen. „Ich kann dir nicht helfen.“

Nichtsdestotrotz schmerzte es ihn, ihr dabei zu zusehen, wie sie sich selbst vergiftete.

Mit einem leeren Blick starrte Kyoko ihn an, bis ihre Lippen sich zu einem wehleidigen Grinsen verzogen.

Traurig schüttelte sie den Kopf, die Augen schimmerten glasig.

„Nein... Ich wette aber, dass du jemand anderes helfen kannst“, sagte sie, den Blick auf seine Hand gerichtet. Chiaki sah ebenfalls runter, berührte sachte den Ring.

Sie schluckte schwer, stand auf, setzte die Flasche auf dem Boden ab und ging auf ihn zu.

Ein trauriges Lächeln war auf ihren Lippen zu sehen und Tränen rannten ihr das Gesicht herunter.

„Du sagst deiner Maron, dass sie besser gut zu dir sein soll“, sagte Kyoko mit erstickter Stimme und ihre Augen leuchteten, als Chiaki sie in seine Arme nahm und sie an sich drückte.

Er konnte nicht bleiben, wenn er ihr nicht helfen konnte. Das wussten sie beide.

Er vergrub sein Gesicht in ihrer Schulter, versuchte kläglich das Schluchzen in seiner Brust zu unterdrücken.

„Putz dir zweimal am Tag die Zähne“, weinte sie. Er nickte. „Sag immer ‚Bitte‘ und ‚Danke‘ und halte für Fremde die Türen auf...“ Erneut nickte er, während sie ihm alles an guten Manieren aufsagte, die sie ihm früher beigebracht hatte.

„Danke“, flüsterte er und ließ sie los, strich sich mit der Hand über die Augen. Sie sahen sich an und es war klar, für was Chiaki sich bedankte.

Er bedankte sich für das Opfer, was sie letztendlich für ihn getan hatte – auch wenn er sieben Jahre gebraucht hatte, um das zu erkennen. Denn schließlich hatte sie alles und ihn aufgegeben, damit er ein besseres Leben führen konnte.

Auch wenn vieles, was sie getan hatte falsch war, so hatte es ihn zu den Leuten geführt, die ihn liebten und mit denen er glücklicher werden konnte, als mit ihr.

Es war in gewisser Weise selbstsüchtig von ihr, aber er konnte das jetzt verstehen. Und ihr verzeihen.

Ihre tränengefüllten Augen blickten in seine und sie verabschiedeten sich mit einer letzten Umarmung. Zeigten einander, dass sie sich immer noch liebten. Sie war immer noch seine Mutter und er war immer noch ihr Sohn.

Chiaki drehte sich um, um zu gehen. Kyoko lächelte ein schwaches Lächeln.

Während er seine Sachen einsammelte, ließ er sein Skizzenbuch auf dem Sofa, sodass sie immer etwas zum Lächeln hatte, wenn sie sein Mädchen sah.

Er eilte aus der Wohnung raus nach unten zu seinem Auto, schmiss seine Sachen rein und setzte sich vor das Lenkrad.

Den Schmerz in seiner Brust, dass er seine Mutter verließ, ignorierte er. Er musste sie zu seinem eigenen Besten loslassen.

Er fuhr los, ließ ihren Wohnkomplex hinter sich und blickte nicht zurück.

 



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