Poem 3: Fallen Rain, Fallen Tears, Fallen Blood ...
Es war still. Nichts durchbrach die vollkommene Stille. Schwer und drückend lag sie über dem
vollkommen leeren Raum in einem kalten, unpersönlichen Weiß. Nichts rührte sich. Es blieb still.
Das Fenster war fest verschlossen, die Schlagläden und Gardinen vorgezogen.
Plötzlich durchbrach ein sehr leises „Plitsch“ die schwer drückende Stille. Wenig später prasselten
die Regentropfen unaufhörlich gegen die Schlagläden. Die Tür öffnete sich und ein Mann in einem
dunklen Mantel trat ein. Seine Haut war moccafarben, die Augen leuchteten klar grün zwischen
den schwarzen, lockigen Strähnen hindurch. Auf dem Arm trug er ein Mädchen, vielleicht sieben,
acht Jahre alt. Sie war in weite, schwarze Rüschenkleider gehüllt, auch ihre welligen Haare waren
schwarz. Ihre Haut war sehr blass, die Augen geschlossen und die roten, vollen Lippen leicht
zusammengekniffen. Schweigend legte der Mann das Mädchen auf den Boden und drückte ihr ein
großes, marmornes Kreuz in die Hand. Das Mädchen zuckte kurz zusammen, ihre kalten Hände
umklammerten das Kreuz. Die Tür fiel zu und nur der Regen war noch zu hören.
Stunden vergingen, bis das Mädchen unendlich langsam die Augen öffnete. Sie blinzelte mehrmals,
geblendet von dem grellen Weiß und sah sich um. Der Raum war nicht länger leer, ein Regal
beanspruchte die Hälfte der Wand, doch es waren nur wenige Bücher auf ihm enthalten. Dem Regal
gegenüber war das fest verriegelte Fenster, hinter weißen Gardinen kaum zu sehen.
Das Mädchen stützte sich mit einer Hand auf und kniete daraufhin in einer Ecke des Zimmers. Sie
klammerte sich ängstlich an das Kreuz und kniff die Augen zusammen. Der Regen ließ nach und
ein einzelner Sonnenstrahl fiel genau in ihre Ecke. Sie schluckte und umklammerte das Kreuz.
Was tue ich hier? Wie komme ich hier? Wo bin ich?
Plötzlich spürte sie, wie das Kreuz feucht wurde, etwas an ihrem Arm entlanglief und auf ihr
Kleid und den Boden tropfte. Sie schrie laut auf und warf das Kreuz von sich. Es prallte an der
Wand ab und hinterließ dunkelrote Flecken auf der Wand und auf dem Boden. Dunkle, blutige
Flecken. Vor ihrem inneren Auge entstanden Bilder, grausige, blutige Bilder. Bilder voller Scherben,
Splitter, Blut, Blut, Blut ...
„Neiiiiiiiiiiiin!“
Sie kniff die Augen fest zusammen, presste die blutigen Hände auf die Ohren. Blut lief an ihren
Schläfen entlang, auf die Wangen, tropfte vom weichen Kinn herab.
„Nein! Ich will das nicht sehen! Neiiiiiiiiiin!“
Sie schrie wie am Spieß, gepeinigt von seelischen Schmerzen. Tränen rannen ihre Wangen
hinunter, vermischten sich mit dem Blut.
Herr, ist das meine Strafe? Bitte, ich will das nicht sehen! Nein, bitte nicht ...
Das Blut war überall, es war überall, sie konnte ihm nicht einmal entkommen! Sie schluchzte
bitterlich, kroch auf das Kreuz zu. Es war Blut verschmiert, von blutigen Handabdrücken übersäht.
Hinter sich zog das Mädchen eine Spur von Blut her, ihre langen schwarzen Haare waren längst
Blut verklebt. Jetzt erst sah sie die große Wand an, vor der sie gelegen hatte und ihre stahlblauen
Augen weiteten sich vor Schreck.
„Das ... Nein! Tu mir das nicht an! Nein, nein, nein! Bitte nicht! Hört mich denn niemand? Hilfe! Ich
will hier weg!“
Die Wand war ebenfalls Blut verschmiert, doch das war es nicht. Unter dem herunter laufenden
Blut war ein Bild zu sehen, dass ihr die Tränen in die Augen trieb.
Mama ... Papa ... „Es war nicht meine Schuld! Es war ein Unfall, ein schlimmer Unfall, der nicht
hätte passieren dürfen, aber es war ein Unfall!“
Sie schluchzte, ballte die Hände zu Fäusten und presste die Stirn an das kalte Kreuz. Überall war
Blut, es breitete sich unter ihr auf dem Kreuz, auf dem Boden und auf ihrem Kleid aus.
„Vergebt mir ...“
Sie wischte sich die Tränen von den Wangen, hinterließ blutige Spuren auf ihrem Gesicht. Sie
wusste, dass es nicht ihr Blut war. Sie stand auf und ging zum Regal. Sie strich mit den
Fingerkuppen über die Einbände der Bücher und schlug dann eins auf. Draußen dämmerte es. Die
Stille war wieder vollkommen. Ihre Augen wanderten über die Buchstabenkolonnen, über die Seiten
und über ihr Leben. Denn nichts anderes war in diesen Büchern enthalten, fein säuberlich in zwölf
Kapitel unterteilt, jeweils ein Jahr pro Buch.
Sie schloss die Augen und stellte das Buch zurück. Vor ihren Augen spielte sich noch lebhaft der
Unfall ab – der LKW, der auf sie zuraste, die spitzen Schreie ihrer Mutter, ihr Vater der sie
zurückreißen wollte. “Schluss damit!!“ Die Bilder ließen sich nicht abschalten. Sie sah erneut
wie ihr Vater sie von der Straße riss, erneut wegrutschte und vom Lastwagen überrollt wurde. Wie
ihre Mutter in einem Anfall von Schmerz, Wahnsinn und Trauer vorsprang und ebenso überrollt
wurde. Nur sie, zitternd und klein, blieb liegen. Sie konnte nicht begreifen was da passiert war. Sie
hörte die Schreie der Passanten, doch sie nahm sie gar nicht wahr. Sie konnte es einfach nicht
begreifen! Das war nicht wahr, nein, das war unmöglich wahr!!
Sie riss die Augen auf und sah sich um. „Also das ist meine „Strafe“, ja?“, fragte sie leise. „Ich soll
ihren Tod akzeptieren, als Unfall?“ Es herrschte Stille, doch sie wusste, dass ihr jemand zuhörte.
„Wollt ihr mir so sagen, dass ich nicht an dem Unfall Schuld bin?“ Wieder herrschte Schweigen. Ihr
stiegen die Tränen in die Augen. „Aber hätte ich besser aufgepasst! Dann... Dann wäre alles anders
gewesen!“, schrie sie gellend auf und schmiss die Bücher gegen die Wand. „So ist es doch? Da
steht’s doch drin geschrieben!“ Das Regal war nun völlig leer, doch noch immer reagierte niemand.
„Ich ...“ Sie schluchzte und fiel auf die Knie, während wie das Gesicht in den Händen vergrub. „Ich
will doch nur meine Eltern zurück!“ Aber sie wusste, dass es vergebens war. Ihre Eltern waren viel,
viel weiter weg als sie. „Niemals werde ich sie vergessen ... Meine Sünde vergessen ...“ Sie
schluckte. „Ist es das, was ihr wollt?“ fragte sie leise. „Dass ich weiterlebe?“ Diesmal schien die
Stille etwas Zustimmendes zu haben. Das Mädchen schluckte und wischte sich die Tränen ab.
„Danke.“, flüsterte sie leise. „Aber das geht nicht!“ Mit diesen Worte riss sie ein Messer aus ihrem
Kleid hervor und schnitt sich den Unterarm längs auf.
Was...?
Ist das Fett, das aus dieser klaffenden Wunde herauslugt?
Dieses weiße Fleisch, das mir entgegenstarrt ... Es sieht aus wie das Innere von Chicken Nuggets...
...oder ein roher Maiskolben ...
Da. Jetzt quillt Blut heraus.
Immer mehr ...
... und mehr ...
Ich fühle, wie mit der Strom mit meinem Herzschlag stärker und schwächer wird.
Ein einmaliges Gefühl.
Wahnsinn.
Wahnsinn.
Ich wusste nicht, dass Blut so warm ist.
Und es riecht ...
Wie ein nagelneues 10-Yen-Stück!
Ab da erinnere ich mich an nichts mehr.
Da war nur noch dieses Gefühl,
langsam, langsam...
... in ein tiefschwarzes Meer zu sinken ...
Um nie mehr die Augen aufzumachen.