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Die sieben Schicksale

von

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Eine Begegnung im Walde

Das Wetter war nicht besser geworden. Regenschwere Wolken zogen am Himmelszelt vorbei und die Sonne ließ sich schon seit drei Tagen nicht mehr blicken. Dann und wann ertönte über den Reisenden das tiefe Dröhnen eines Donners. Die Erde war von dem ständig anfallenden Regen aufgeweicht und Syreene hatte Mühe nicht immer mit den Füßen im weichen, schlammigen Untergrund stecken zu bleiben. Schuhe und Hose waren klamm und durchnässt und auch der Umhang, der das dunkle Grau der Wolken angenommen hatte, konnte die Feuchtigkeit nicht mehr länger abhalten.

Vor zwei Nächten hatte die Gruppe den Blue Stones erreicht und seitdem liefen sie an seinem Flussbett entlang. Da der Hengst am Vortag ein Eisen an seinem rechten Hinterlauf verloren hatte, führte Syreene ihn seitdem an den Zügeln. Sie wollte dem müden Pferd, das mit gesenktem Kopf und tropfnasser Mähne neben ihr herstolperte, nicht noch mehr zumuten. Das schwarze Fell des Tieres war an den Beinen und am Bauch unter all dem Schlamm und Dreck nicht mehr zu erkennen. Ghost, der links neben seiner Gefährtin hertrottete, erging es mit seinem stark verschmutzten Haarkleid nicht anders, so dass er jetzt mehr Ähnlichkeit mit seinen Artgenossen hatte.

Als der Wind an Stärke zunahm und ein eisiger Hauch über Syreene hinweg stob, zog sie den Mantel enger um die Schultern und die Kapuze tiefer ins Gesicht. So liefen sie noch einige Meilen weiter, bis Syreene in der Ferne einen hellen Lichtschein ausmachte, das aus einem sich in der hereinbrechenden Nacht dunkel erhebenden Gebäude kam. Die junge Frau seufzte erleichtert auf. Dies musste der Bauernhof sein, von dem Taró gesprochen hatte, dachte sie.

Beim Näher kommen bemerkte Syreene, dass der Hof aus drei Gebäuden bestand. Im Mittelpunkt stand das aus Lehm und Stein angefertigte Hauptgebäude, in dem die Bauernfamilie mit ihrem Gesindel wohnte. Flankiert wurde das Haus von zwei großen, länglichen Ställen, in denen das Vieh, vorwiegend Rinder und Schweine, sowie Pflüge und Fuhrwerke untergebracht waren. Eine niedrige Steinmauer mit einem breiten Gatter zur Straße hin umschloss den ganzen Hof.

Syreene gab dem Wolf ein Zeichen sich zu verstecken und trat auf das Gatter zu. Unter einem der Fenster, in der Nähe der hölzernen Tür, stand eine kleine Hundehütte, vor der ein mittelgroßer Mischlingsrüde schlief. Von dem dumpfen Klappern der Hufen geweckt, sprang der Hund von seinem Platz auf. Als er Syreene entdeckte, fing er an zu bellen und versuchte sich gleichzeitig von seiner Leine loszureißen. Glücklicherweise konnte der Mischling den Höllenwolf nicht riechen, so dass die junge Frau beruhigt war. Sie wusste, wie die Leute auf einen Karach´nak reagierten.

Nachdem Ghost ausgewachsen war und man in ihm den Höllenwolf erkannte, konnte Syreene ihn in kein Dorf und in keine Stadt mehr mitnehmen. Anfangs hatte die junge Frau es versucht, aber jedes Mal bekamen sie die gleiche Reaktion der Leute zu spüren. Frauen und Kinder sind schreiend weggelaufen, während die Männer zu allen möglichen Waffen wie Heugabeln, Beile und Ähnliches gegriffen hatten und sie damit wegjagten. Seitdem achtete Syreene darauf, dass man sie nicht mit dem Wolf zusammen sah.

Die Tür des Bauernhauses öffnete sich und ein kleiner untersetzter Mann mit einem grauen Schnauzer und schütterem Haar stand unter dem Türbogen. Neugierig geworden durch das Gebell des Hundes, der auf ein Zeichen des Bauern mit dem Gekläff aufhörte, wollte der Mann dem Grund für den Lärm nachgehen. Als sein Blick auf die völlig durchnässte Gestalt fiel, die vor dem Gatter stand, und er nur eine dunkle Silhouette ausmachen konnte, verengten sich seine Augen vor Misstrauen.

"Taró, der Waldläufer, schickt mich", kam es, das Prasseln des Regens übertönend, klar aus der Tiefe der Kapuze hervor. Durch den vertrauten Namen beruhigt, entspannte sich der Körper des Mannes und ein freudiges Lächeln erhellte sein Gesicht.

"Tretet näher", rief er laut und winkte die Gestalt näher. Während Syreene das Gatter öffnete und den Hengst hindurch führte, drehte sich der Bauer in das Innere des Hauses um und sagte etwas. Nach nur wenigen Augenblicken stand ein kleiner Junge mit Blondschopf von vielleicht elf Sommern neben dem Mann.

"Dies ist mein Sohn Tom", sagte der Bauer, der eine Hand auf der zerbrechlich wirkenden Schulter des Jungen gelegt hatte, nachdem die junge Frau zu ihm getreten war. "Er wird sich gut um Euer Ross kümmern."

Syreene reichte Tom, der jetzt näher gekommen war, die Zügel und er führte das Pferd in einen der Ställe.

"Es hat ein Eisen am Hinterlauf verloren", sagte sie, als der Bauer ihr mit einer Geste bedeutete ins Haus einzutreten. Mit einem Nicken gab er ihr zu verstehen, dass er ihre Worte vernommen hatte. Syreene trat mit ein paar Schritten in den Raum hinein, der sich als Küche und Aufenthaltsraum erwies. Auf der rechten Seite sah sie an der Wand einige niedrige Schränke, eine Spüle mit einer verrosteten Pumpe sowie eine Kochstelle. Davor war ein kleiner Holztisch, auf dem sich dreckiges Geschirr stapelte und Überreste eines Abendmahles lagen. Hinter dem Tisch stand eine Frau mittleren Alters, die gerade dabei war Wasser in die Spüle einzulassen. Sie trug ein verblichenes blaues Leinenkleid, darüber eine fleckige Schürze, an der sie sich die Hände abwischte, als sie den Besuch eintreten sah. An der gegenüberliegenden Wand befand sich ein massiver Kamin, in dem munter ein Feuer vor sich hin loderte und eine angenehme Wärme verbreitete. Syreene stellte sich davor, streifte sich die Kapuze vom Kopf und streckte dann beide Arme zum Feuer hin aus, während sie sich weiter im Raum umsah. Dabei bemerkte sie an der Nordwand drei weitere Personen, die an einem großen Tisch saßen und sie beobachteten: eine junge Magd, ein kleines Mädchen von etwa sechs Sommern und einen Mann, der im selben Alter wie Syreene sein mochte. Dieser war damit beschäftigt einige Messer von verschiedener Größe zu schleifen. Die Magd hatte neben sich auf dem Tisch einige Kleidungsstücke liegen, um sie zu flicken und auszubessern. Das Mädchen jedoch, das neben dem Mann saß, schaute die Fremde aus großen Augen an. Sie hielt in ihren Armen eine leicht zerrissene Stoffpuppe ohne Gesicht, während sie an einen ihrer Daumen lutschte.

Die Bäuerin stellte einen kleinen Schemel vor dem Kamin.

"Legen Sie Ihren Umhang darauf ab", sagte diese mit freundlicher Stimme. "Und setzen Sie sich ruhig an den Tisch. Ich werde Ihnen einen heißen Becher mit Schokolade machen und Ihnen von den Resten unseres Essens geben."

"Edward", rief der Bauer, während Syreene ihren Umhang löste und ihn auf dem Schemel ausbreitete. Der junge Mann am Tisch schaute von seiner Arbeit auf.

"Das Pferd unseres Gastes hat ein Eisen verloren. Geh, und kümmere dich darum."

Nickend erhob sich Edward von seinem Platz und ging mit langen Schritten hinaus. Derweil hatte die Magd ihre Arbeit zur Seite gelegt und half der Bäuerin einen Teller mit Kartoffeln, zarten Schweinefleisch, etwas Brot und viel Soße vorzubereiten. Syreene stellte ihre restlichen Sachen in der Nähe der Tür auf den Boden und lehnte den Bogen daneben an die Wand. Danach ging sie zum Tisch und setzte sich gegenüber dem kleinen Mädchen hin, während der Bauer sich am Kopfende niederließ.

"Wie heißt dein Pferd?", nuschelte das Mädchen mit heller Stimme, ohne von ihrem Daumen abzulassen. Syreene musste bei diesem Anblick lächeln.

"Ich weiß nicht", antwortete sie freundlich. "Ich habe ihm keinen Namen gegeben."

Die Bäuerin stellte den Teller mit Essen und einen dampfenden Becher vor den Gast. Nickend bedankte sich Syreene bei der Frau und legte ihre noch etwas kalten Finger um den warmen Becher. Zusammen mit der Magd begann die Bäuerin daraufhin das Geschirr abzuwaschen.

"Mein Name ist Boris Vanderhof", stellte sich der Mann vor.

"Ich bin Syreene."

"Ich habe Taró schon lange nicht mehr gesehen", sagte Boris. "Wie geht es ihm?"

Als Taró noch in den Diensten des Königs gestanden hatte, hatte er auf seinen Reisen immer an dem Hof halt gemacht. Er war ein gern gesehener Gast gewesen. Doch nach seinem Racheakt hatte er die Bauernfamilie nie wieder besucht. Hin und wieder hatte Boris von Leuten gehört, die den Waldläufer gesehen hatten, wenn dieser an einem Dorf vorbei kam.

"Als ich ihn verlassen hatte, ging es ihm gut."

Syreene nahm sich ein Stück Brot, das sie in die Soße tunkte.

"Es ist bedauerlich", meinte der Bauer unvermutet. Sein Gast sah ihn fragend an.

"Ich weiß nicht, wie gut Ihr Taró kennt, und ob Ihr von seiner Vergangenheit wisst", sprach er weiter. "Aber es ist schade, was aus ihm geworden ist. Ein einsamer, umherstreifender Mann ohne Heim und Familie."

"Ihr habt nur zu einem Teil recht", sagte Syreene. "Gefühlsmäßig ist Taró einsam, aber immer nur dann, wenn er an seine Eltern und seine Schwester denkt. Doch ist er nie allein unterwegs. Ein Freund und ich begleiten ihn auf seiner Wanderschaft. Und ich denke, in uns sieht Taró seine Familie. Jedenfalls sind die beiden dies für mich."

"Red Hawk machte ihm keine Vorwürfe, was damals geschah", meinte Boris. "Taró hätte in die Dienste des Königs zurückkehren können. Und vielleicht kann er dies immer noch."

"Doch dazu müsste Taró es wollen", gab Syreene zu bedenken. "Aber in seinen Augen ist die Tat, die vollzogene Rache, viel zu groß, als dass er zum König zurückkehren könnte. Es muss etwas Schlimmes gewesen sein, das er getan hat. Taró hatte mir zwar erzählt, was seiner Familie zugestoßen war, und auch, dass er die Schuldigen ausgemacht und getötet hatte. Aber er sagte mir nie auf welche Weise."

"Man hatte die Rebellen in ihrem Lager gefunden", sagte der Mann leise. "Taró hatte sich wahrscheinlich an jeden einzelnen von ihnen herangeschlichen und sie bewusstlos geschlagen. Dann hatte er sie gefesselt und sie in der Mitte des Lagers aufgestellt. Ich kann mir nicht mal annähernd vorstellen, was in ihm vorgegangen sein muss. Aber es muss gewaltig gewesen sein. Es waren dreizehn Männer und alle wiesen Brandspuren auf. Diejenigen von ihnen, die nicht durch die Verbrennungen starben, die verloren Körperteile ... und verbluteten."

Daraufhin saßen sie eine ganze Weile schweigend am Tisch. Die Bäuerin hatte sich während des Gespräches mit dazu gesellt und nähte mit schnellen Fingern die Kleidungsstücke weiter. Die Magd war derweil in die hinteren Räume verschwunden, zu denen man durch eine Tür neben dem Kamin gelangte.

Nein, dachte sich Syreene. Es war nicht das Gefühl von Scham eine solche Tat vollbracht zu haben, das Taró von seinem Dienst abhielt. Sondern Furcht vor dem, zu was er werden konnte, und Angst, dass dies noch einmal geschieht.

"Shadow", murmelte das kleine Mädchen und riss die junge Frau aus ihren Gedanken.

"Was sagtest du?", fragte Syreene neugierig.

"Dein Pferd", meinte die Kleine, nachdem sie ihren Daumen aus dem Mund genommen hatte. "Es sollte Shadow heißen."

"Meinst du?" Syreene machte ein ernstes Gesicht und tat so, als wenn sie nachdächte. "Mein Pferd ist wirklich so schwarz wie ein Schatten. Der Name würde also passen. ... Warum nicht? Gut, ab sofort nenne ich mein Pferd 'Shadow'."

Das Kind lachte begeistert laut auf und klatschte in die Hände. Dabei bemerkte Syreene ein kurzes Aufblitzen an einen der Finger des Mädchens.

"Du hast da aber einen schönen Ring", bemerkte die junge Frau. Boris runzelte verstimmt die Stirn, während seine Frau resigniert den Kopf schüttelte.

"Habe ich dir nicht gesagt, du sollst den Ring in der Kiste lassen?", fragte der Bauer böse.

"Aber er glitzert doch so schön", meinte das Mädchen kleinlaut.

"Darf ich ihn mir mal etwas näher ansehen?", fragte Syreene. Froh darüber weitere Schimpftiraden ihres Vaters zu entgehen, zog die Kleine den goldenen Reif von ihrem Finger und legte ihn der Fremden in die offene Hand. Syreene betrachtete den Ring. Ein seltsames Auge, das von einem Kreis umgeben war und merkwürdige Zeichen darin eingraviert waren.

"Woher habt Ihr ihn?", fragte Syreene neugierig den Bauern.

"Von dem Mann", antwortete das Mädchen wichtigtuerisch.

"Du meinst Edward?"

"Nein", sagte die Kleine und schüttelte ihre kurzen blonden Locken. "Der, ohne Gesicht."

Syreene blickte ratlos den Vater des Kindes an. Sie wusste nicht, was sie von den Worten der Kleinen halten sollte. Ein Mann ohne Gesicht?

"Vor zwei Tagen kamen zwei merkwürdige Gestalten auf meinen Hof", erklärte Boris sichtlich widerstrebend. "Einer von ihnen hat vermutlich den Ring verloren."

"Was meint Ihr mit merkwürdig?"

Aufmerksam geworden durch die Worte des Mannes hakte Syreene nach. Eine dunkle Vorahnung stieg in ihr auf und ein leiser Schauer, den sie nur mit Mühe unterdrücken konnte, kroch an ihrem Rücken hinauf. Die junge Frau erinnerte sich an die Worte Tarós sich nach möglichen Verfolgern zu erkundigen.

"Ich weiß nicht, was das für Leute waren", sprach der Mann weiter. "Sie trugen seltsame Kleidung: rotschwarz, lang und weit ausfallend. Ich dachte erst, sie wären Magier, aber dann sah ich bei einem von ihnen unter dem Mantel etwas Metallisches aufblitzen, das für mich nach einem Kettenhemd aussah. Und dann bemerkte ich auch Schwerter an ihrer Seite. Ich habe noch nie von einem Magier gehört, der ein Schwert zu führen weiß."

"Wollten sie etwas Bestimmtes?", fragte Syreene.

"Sie waren auf der Suche nach einer Person", antwortete der Bauer, der aufmerksam die Reaktionen seines Gastes beobachtete. "Angeblich hat sie etwas in ihrem Besitz, das nicht ihr gehört."

"Was meinte Eure Tochter mit 'Der, ohne Gesicht'?"

"Die beiden Männer hatten ihre Gesichter verhüllt. Nur die Augen waren zu sehen. Dadurch erkannte ich auch, dass die Augenpartie der größeren Gestalt vollkommen behaart war. Entweder gehört sie dem Klan der Katzen oder dem Klan der Bären an. Bei der anderen Person bin ich mir nicht sicher."

"Haben sie Ihnen auch gesagt, was die gesuchte Person in ihrem Besitz hat?", wollte Syreene wissen.

"Nein, das haben sie nicht. Aber ich denke, dass Ihr es wisst."

"Ja, vermutlich", sagte sein Gast vage. Syreene war kaum überrascht von den Worten des Mannes. Die Tatsache, dass der Bauer in so kurzen Abständen fremden Besuch bekommen hatte, ließ nur wenig Platz für Spekulationen. Lange Zeit schaute Syreene das kleine Mädchen nachdenklich an, dass ihre Arme auf den Tisch gelegt hatte und, mit ihrem Kopf darauf, eingeschlafen war. Die Puppe hatte sie neben sich gelegt. Die Kerze auf dem Tisch flackerte leicht, als die Tür des Hauses geöffnet wurde und Edward und Tom eintraten. In ihren Haaren hingen kleine Regentropfen, die im Schein des Feuers wie Perlen glitzerten.

"Ihr solltet jetzt schlafen gehen", meinte die Bäuerin schließlich. "Ihr habt wahrscheinlich einen langen Weg hinter Euch. Karsi wird sicher schon ein Lager für Euch vorbereitet haben."

"Ich danke Euch für Eure Gastfreundschaft", sagte Syreene, "aber ich muss Euer Angebot leider ablehnen. Wenn diese Männer wirklich nach mir suchen, dann bringt meine Anwesenheit in Eurem Haus Euch und Eure Familie in Gefahr."

"Ist es wahr, was die Männer gesagt haben?", fragte der Boris besorgt. "Habt Ihr etwas, dass nicht Euch gehört?"

"Ich kann Euch nicht sagen, um was es dabei geht", antwortete sie bedauernd. "Aber ich bin auf dem Weg nach Castle Shelter zum König, um ihn davon zu unterrichten. Taró meinte, ich solle Euch nach dem kürzesten Weg zur Stadt fragen. Könnt Ihr ihn mir bitte erklären, damit ich mich unverzüglich wieder auf meinen Weg machen kann?"

"Es gibt einen alten Jägerpfad, der nur noch selten genutzt wird."

Boris war erleichtert. Die Worte der jungen Frau bewiesen, dass sie nichts Unrechtes tat. Daher hätte er sie gerne überredet die Nacht in seinem Haus zu verbringen, da die dunklen Ringe unter ihren Augen ihm sagten, dass Syreene die Ruhe hätte gut gebrauchen können. Aber instinktiv wusste der Mann, dass er sie nicht umstimmen konnte. Und so erklärte er ihr, wie sie nach Castle Shelter gelangen konnte.

"Reitet die Straße vor meinem Hof einige Meilen hinauf, bis ihr einen alten Weidenbaum seht. Ihr könnt ihn gar nicht verfehlen, da er hier in der Gegend der einzige seiner Sorte ist. Hinter diesem Baum beginnt der Pfad, doch müsst ihr genau hinsehen. Er ist zu einem Großteil von den Wildpflanzen überwuchert. Wenn Ihr dem Pfad folgt, gelangt Ihr direkt zur Stadt."

"Ich danke Euch", nickte Syreene. "Kann ich Euch noch um einen weiteren Gefallen bitten?"

"Aber sicher", bekräftigte der Mann.

"Sollten diese Männer wieder kommen und Euch erneut befragen, dann erzählt ihnen alles über mich."

"Das kann ich nicht tun!", rief Boris erschrocken aus, während die anderen am Tisch vor Überraschung aufkeuchten.

"Ihr müsst!", sagte Syreene mit kräftiger Stimme. "Jemand aus Eurer Familie oder Ihr selbst könntet unabsichtlich etwas verraten. Ich befürchte, dass diese Männer sehr gefährlich sind. Wer weiß, was sie Euch antun würden, wenn sie glauben, dass Ihr etwas vor ihnen verheimlicht. Und ich möchte nicht, dass Eure Kinder ohne Vater aufwachsen müssen."

"Soll ich ihnen dann auch verraten, wohin Ihr unterwegs seid?", wollte der Mann wissen. Es rührte ihn, dass sein Gast um das Wohl seiner Familie besorgt war und versprach sich selbst, den Männern, sofern sie zurückkehren sollten, nichts von der jungen Frau zu verraten.

"Sagt ihnen nur, dass ich nach Süden weiter gezogen bin, aber Euch kein Ziel genannt habe. Doch jetzt werde ich mich wieder auf den Weg machen."

"Edward wird Euer Pferd satteln", sprach der Bauer. Noch bevor er seinen Satz beendet hatte, war der junge Mann auch schon zur Tür gegangen. Syreene stand von ihrem Platz auf und löste einen kleinen Beutel von ihrem Gürtel. Bevor sie ihn auf den Tisch legte, wog sie ihn in ihrer Hand. Ein leises, dumpfes Klimpern war aus dem Inneren zu hören.

"Dies ist alles, was ich habe", sprach sie zu Boris, der sich ebenfalls von seinem Platz erhoben hatte. "Es ist nicht viel, aber dennoch möchte ich mich für Eure Gastfreundschaft bedanken."

Während Syreene auf den Kamin zuging und sich den mittlerweile trockenen Umhang umlegte, griff der Bauer nach dem Geldbeutel und den Ring, den sein Gast auf den Tisch gelegt hatte. An der Wand neben der Eingangstür schulterte sich die junge Frau ihr Bündel und den Bogen auf den Rücken. Bevor sie jedoch die Tür öffnen konnte, hielt der Bauer sie zurück.

"Nehmt den Beutel wieder zurück", bat er. Syreene schaute ihn überrascht an.

"Obwohl Ihr einen langen Weg hinter und auch vor Euch habt, Ihr und Euer Pferd müde und erschöpft seid und in meinem Haus ein Lager für Euch bereit steht, wollt Ihr dennoch weiterziehen, nur um meine Familie zu beschützen. Dies alleine ist für mich Dank genug. Nehmt also das Gold wieder zurück und auch diesen Ring. Vielleicht kann König Hawk mehr mit ihm anfangen als ich."

Mit diesen Worten drückte der Bauer die beiden Sachen in die Hand der jungen Frau. Jetzt kam auch die Bäuerin auf Syreene zu, die zwischen ihren Händen ein kleines gefülltes Tuch hielt.

"Ich habe Euch etwas zu Essen darin eingewickelt", sprach die Frau lächelnd. Bevor Syreene das Geschenk an sich nehmen konnte, streifte sie sich den Ring auf einen Finger und befestigte den Geldbeutel wieder an ihrem Gürtel. Danach nickte sie der Bäuerin zum Dank, und auch zum Abschied, zu und trat in die Nacht hinaus. Ein leichter Regen hatte wieder eingesetzt, als Edward den Hengst gerade aus dem Stall führte und Syreene die Zügel überreichte. Am Sattelknauf befestigte sie das Bündel mit dem Essen und drehte sich anschließend noch mal zum Haus um. Boris stand zusammen mit Edward an der Tür.

"Ich danke Euch nochmals für Eure Gastfreundschaft", sagte Syreene und verbeugte sich leicht vor dem Mann.

"Ihr seid hier stets herzlich willkommen", sprach dieser freundlich. "Möge das Glück von Felicitas Euch auf Eurer Reise begleiten."

Nach diesen Worten drehte sich Syreene um. Während sie sich die Kapuze überstreifte, führte sie den Hengst zur Straße. Dort stieß die junge Frau einen kleinen, hohen Pfiff aus und wandte sich dann nach links, wie es ihr der Bauer gesagt hatte. Sie war nur wenige Schritte gegangen, als auch schon Ghost an ihrer Seite war. Der Bauer und Edward waren zur Straße gelaufen, nachdem sie einen weißen Lichtblitz vorbeirennen sahen.

"Unglaublich", murmelte Boris und konnte seinen Augen nicht trauen.

"Das ist doch ein Hund, oder?", fragte Edward fassungslos.

"Wir wissen beide, was dies für ein Tier ist", antwortete sein Herr. "Auch wenn wir es nicht glauben wollen."

Er sah Syreene hinterher, die langsam ihren Weg folgte, bis er sie in der Dunkelheit nicht mehr erkennen konnte. Dann ging er wieder zurück ins Haus und erzählte seiner Frau, was er gesehen hatte und noch nicht so recht fassen konnte.
 

Der Regen hatte nachgelassen und die Sonne schob sich jetzt immer öfters vor die Wolken. Syreene merkte, dass der Sommer sich seinem Ende neigte und schon bald würden die Bäume ihre grünen Blätter abwerfen. Der Wind war schwächer geworden und blies jetzt eine milde Brise. Der Weidenbaum, von dem der Bauer gesprochen hatte, hatten Syreene und ihre beiden tierischen Freunde schnell gefunden. Jedoch hatte es lange gedauert den zugewucherten Jägerpfad zu finden. Seit mehr als zwei Tagen folgten sie jetzt schon dem Weg, der abwechselnd durch kleine Wälder und über weite grüne Felder führte.

Am Mittag des zweiten Tages durchquerten sie wieder einen Wald, dessen Namen Syreene nicht kannte. Die junge Frau war auf der Suche nach einem geeigneten Rastplatz, als sie das Rauschen von Wasser hörte. Schon vor einer Weile hatte sie den Höllenwolf auf die Jagd geschickt, da von dem Proviant, den sie von der Bäuerin bekommen hatte, nichts mehr übrig war. Und auch ihre Wasserflasche musste dringend wieder aufgefüllt werden. Und so ging sie jetzt dem Geräusch nach, während sie den Hengst mit sich führte.

Als sie dem Fluss beträchtlich näher gekommen war, hörte Syreene plötzlich neben dem Rauschen des Wassers noch zwei sehr angespannt klingende Stimmen heraus. Daraufhin band sie die Zügel des Pferdes an einen Ast und schlich sich langsam näher an die Stimmen heran. Hinter einem Busch versteckt, spähte die junge Frau durch die Blätter auf den etwa knöcheltiefen Fluss, dessen kristallklare Oberfläche den Himmel über sich widerspiegelte, und sah dabei auf der anderen Seite zwei Männer.

Beide waren hochgewachsen und gut aussehend und strahlten zusätzlich eine anziehende Gefährlichkeit aus, die Syreene frösteln ließ. Ob nun aus Faszination oder Furcht, konnte sie nicht sagen. Der Kleinere der beiden hatte kurzes, braunes Haar, das sich in seinem Nacken in der frischen Brise leicht bewegte. Die Augen waren etwas zusammengekniffen und konzentrierten sich auf einen Punkt vor sich. Das vorgereckte Kinn, das einen kleinen Stoppelbart zeigte, war angespannt und seine kräftigen Hände umfassten ein langes Breitschwert, das er angriffsbereit vor sich hielt. Seine langen, geschmeidigen Beine, die von einer braunen Wildlederhose eng umschmiegt wurden, standen breitbeinig und fest auf dem steinigen Untergrund. Sein Begleiter war nicht weniger kampfbereit. Er stand mit nacktem Oberkörper im Wasser, an dem die Muskeln deutlich hervor traten. Die helle Lederhose wies bis zu den strammen Oberschenkeln feuchte Wasserflecke auf. Die Hände mit den langen, schmalen Fingern hielten einen schussbereiten Kurzbogen und die von feuchten, dunklen Haarsträhnen verdeckten Augen waren fest auf etwas gerichtet, das sich vor ihm befand.

Syreene folgte seinem Blick und keuchte erschrocken auf. Die Vorderbeine weit von sich gestreckt, stand Ghost mit gesträubtem Fell im Wasser. Die Ohren hatte er dicht am Kopf angelegt und die gefährlich scharfen Zähne blitzten in der Sonne auf. Ein tiefes, drohendes Knurren ertönte aus seiner Kehle. Syreene wusste, sie musste jetzt schnell handeln. Mit einem Zucken der linken Schulter rutschte der Langbogen ihren Arm herunter in die offene Hand, während sie gleichzeitig in einer fließenden Bewegung einen der drei Pfeile aus ihrem Köcher herauszog. Anschließend begab sich die junge Frau mit schnellen aber doch leisen Schritten auf gleicher Höhe mit dem Wolf. Syreene legte den Pfeil an und trat langsam aus dem Dickicht heraus.

"Legt eure Waffen nieder!", befahl sie mit lauter und kalter Stimme, während sie auf den Mann mit dem Bogen zielte. Der andere starrte die junge Frau überrascht und mit offenem Munde an. Sein Begleiter jedoch warf nur einen kurzen Blick auf sie und richtete dann seine Aufmerksamkeit wieder auf das Tier.

"Mein Freund wird Eurem Pfeil ausweichen", sagte Syreene überzeugt, die die Entschlossenheit in den Augen des Mannes sah, das Tier töten zu wollen. "Doch frage ich mich, ob Ihr das Gleiche auch von Euch behaupten könnt, wenn ich meinen Pfeil abschieße?"

"Dieses Tier gehört zu Euch?", fragte der Mann mit klarer Stimme.

"So ist es""

"Wird er mich angreifen, wenn ich meine Waffe ablege?"

"Nein, das wird er nicht", antwortete Syreene.

"Also gut", sagte der Mann mit einem tiefen Seufzer und senkte seinen Bogen. Er gab seinem Begleiter ein Zeichen sein Schwert einzustecken. Ghost, der noch den angelegten Bogen seiner Gefährtin bemerkte, entspannte sich sichtlich und gab seine drohende Haltung auf, blieb aber dennoch wachsam.

"Und jetzt verratet mir, wer Ihr seid", verlangte Syreene.

"Es gibt doch tatsächlich noch eine Frau, die dich nicht erkennt", grinste der jüngere Mann. Der Angesprochene schüttelte nur indigniert sein schwarzes Haupt. Ein Zeichen, dass er die Bemerkung seines Begleiters nicht komisch fand. Bei dieser Bewegung fiel Syreene auf, dass es sich bei den grauen Streifen in seinem Haar nicht um Schmutz handelte, wie sie angenommen hatte, sondern um Strähnen. Silberfarbene Strähnen! Erschrocken holte sie tief Luft, ließ ihren Bogen fallen und kniete sich hin.

"Verzeiht mir, mein König", sprach Syreene mit hochrotem Kopf. "Ich habe Euch nicht erkannt."

"Ihr habt einen Freund vor einem Feind verteidigt", sagte Silver Hawk mit samtener Stimme, ging auf der vor ihm knienden Frau zu und hielt ihr eine Hand entgegen. "Da muss ich nichts verzeihen. Und jetzt erhebt Euch bitte. Eure Hose ist schon ganz nass."

Syreene, die mit einer Strafe gerechnet hatte, schaute überrascht in das sanft blickende Gesicht vor sich und ergriff die ihr dargebotene Hand.

"Ihr seid zu gütig, mein König", sagte die junge Frau demütig.

"Bitte", sagte Silver abwehrend. "Seid nicht so förmlich. Mir ist die Person lieber, die sich mir vorhin so mutig entgegen gestellt hatte."

"Euch mag es gefallen haben", meinte Syreene bekümmert, während sich bei seinen Worten erneut eine leichte Röte auf ihre Wangen gelegt hatte. "Aber mein Freund Taró wird mir den Kopf abreißen, wenn er erfährt, dass ich mit dem Bogen auf Euch gezielt habe."

"Taró?", fragte jetzt der jüngere Mann. "Meint Ihr Taró, den Waldläufer?"

"Ja", antwortete die junge Frau eifrig und ihr Herz begann vor Hoffnung schneller zu schlagen. "War er bei Euch? Hat er Euch alles gesagt? Und Euch auch das Schreiben gezeigt?"

"Nein, er war nicht bei mir", sagte Silver und schüttelte seinen Kopf.

"Oh", war alles, was Syreene sagen konnte. Tiefe Traurigkeit erfüllte ihr Herz, und sie ließ niedergeschlagen die Schultern sinken.

"Unser Vater hatte uns von Taró erzählt", sprach der junge Mann hilflos. Er bereute seine Worte von vorhin, da sie wohl in der jungen Frau eine unerfüllte Hoffnung geweckt hatten.

"Dieser junge Heißsporn ist mein Bruder Kid", sprach Silver, während er auf den jungen Mann an seiner Seite zeigte.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von: abgemeldet
2006-03-13T18:26:36+00:00 13.03.2006 19:26
War wieder ein klasse Kapi! Die Story ist genau nach meinem Stil! Freu mich schon wenns weiter geht!
*knuff*

LG


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