Schwäche
New Seaside-Dome Tokio (Japan), Mitte November
…„Ähhh ja…ähhh…diese Runde geht an die Phoenix. Somit steht es eins zu null. Wenn keine Einwände bestehen, starten wir nun die zweite Runde…“, stammelte der DJ mitgenommen und richtete sich den Kragen.
Unmittelbar danach richtete sich der junge Halbrusse von seinem Sitzplatz auf und schritt mit gnadenlos kaltem Lächeln auf den Lippen in Richtung des Bey-Stadiums. Beiläufig ließ er seine Zunge hinausschnellen und leckte sich unauffällig über die kleine Wunde, jene er von der kleinen Auseinandersetzung mit Mina davongetragen hatte. Sie hatte inzwischen aufgehört zu bluten, doch die betroffene Stelle kibbelte leicht und wies einen metallenen Geschmack auf.
Möglicherweise hatte er es mit seinem gezielten Mobbing zu weit getrieben, auch wenn er seine Absichten dafür hatte. Doch langsam aber sicher begann er sie tatsächlich zu hassen.
Er spürte, wie ihn ihr Blick verfolgte, sich langsam in sein Rückrad bohrte und ihn schließlich durchdrang. War es ihr Zorn oder doch etwas anderes, das sie dazu bewegte, ihn so anzustarren? Irritiert wandte sich der Silbehaarige um und erwiderte ihr Augenspiel.
Wirklich, sie war schon ein eigenartiges Geschöpf. Etwas älter als er selbst und dennoch die Jüngste der Phoenix, stark und auch ein kleines bisschen Kampflustig…und doch irgendwie traurig…
…geheimnisvoll…
Stopp! So etwas durfte er nicht denken. Und erstecht nicht während seinem Rachefeldzug. Die Blauhaarige war nichts anderes als sein Werkzeug. Er MUSSTE sie hassen. Und er tat es bereits. Er konnte regelrecht spüren, wie die Verbitterung in ihm aufstieg.
Minas Opale ließen urplötzlich von ihm ab. Sie sagte irgendetwas zu Alex, der neben ihr saß, dann stand sie auf und begab sich zügig in Richtung Ausgang.
Desinteressiert wandte Kai sich wieder zu Arena um und stieg die paar Stufen auf das Podest hinauf. Der DJ erwatete ihn bereits und er entnahm seine Tasche das Equitment für den bevorstehenden Kampf. Sollte er diese Runde gewinnen – und das würde er – wäre eine Dritte überflüssig und er musste sich nicht noch länger in der abscheulichen Gegenwart der Menschenmassen aufhalten.
Suchenden Blickes stürmte die junge Frau durch die Gänge des Stadions, sah sich hastig um. Ihre Schritte wirkten schwächlich, ihr Blick war leer.
„Macht euch bereit für den Kampf!“, hallte Jazzmans Stimme durch die gewaltige Halle, „und 3…“
Wieder dieser stechende Schmerz
„2…“
Diese quälende Enge
„1…“
Dieses tiefschürfende Stechen, bodenlos in ihrer Seele vergraben
„Let it Rip!“
Atemlos presste sich die junge Frau gegen die Wand, ihre Finger krallten sich im Stoff ihres Oberteils fest. Beinahe hätte sie das Gleichgewicht verloren, hätte sie sich nicht an der Mauer abgefangen. Benommen sah sie sich nach Schaulustigen um, die die nun menschenleeren Gänge glücklicherweise zu mieden schienen. Dennoch eilte sie weiter zur Damentoilette, um nicht entdeckt zu werden – nicht in dieser Verfassung!
Dranzer schnellte dicht gefolgt von seinem Kontrahenten durch die Arena, machte eine Kehrtwende und hämmerte gnadenlos auf ihn ein.
Zitternd ließ sich die Transsylvanierin gegen die gekachelte Wand sinken, schloss die Augen, da sie ohnehin nur noch verschwommene Bilder wahrnahmen, und war bemüht, nicht zu Boden zu sinken.
Nein. Sie stand das nicht mehr länger durch.
Dieser Aufgabe war sie nicht gewachsen. Zu viel hing inzwischen davon ab, als dass sie einfach alles aufgeben konnte. Und zu sehr zehrte jeder Tag, jede Begegnung mit den jungen Mann an ihren Kräften. Jemand anderes musste ihre Pflichten übernehmen, nur für eine Weile…bitte!
„Wo ist Mina hin verschwunden?“, erkundigte sich Brian wild um sich blickend. Der Amerikaner gab ihm eine bewusst ruhige Antwort, damit der Rotschopf nicht auf sein Lügen aufmerksam wurde. „Ich hab keine Ahnung…“, brummte er, ohne von der großen Videoleinwand abzublicken. Zwar interessierte ihn das Match nicht sonderlich, aber der junge Mann neben ihm sollte nicht mitbekommen, wie beschäftigt er mit seinen Gedanken war. Irgendetwas stimmte nicht mit der jungen Frau, doch er hatte versprechen müssen, ihr nicht zu folgen.
Kai hingegen war, wenn auch etwas gelangweilt, auf den Kampf fixiert. Er liebte dieses Gefühl der absoluten Überlegenheit, auch wenn das Match dadurch monoton und ohne jeden Reiz war. Und dennoch genoss er es jedes Mal, alle anderen seiner überragenden Macht unterzuordnen. Entschieden setzte Dranzer nun zu einer letzten großen Attacke an, holte gekonnt aus und beförderte seinen Kontrahenten mit einem vergleichsweise harmlosen Schubs aus der Arena. Alles in Allem hatte diese Battle nur wenige Minuten gedauert.
Seelenruhig begab er sich zurück zu den restlichen Phoenix…
…und bekam (wie bereits einige Tage zuvor) einen gewaltigen Schrecken. Regungslos verharrte er, einen Augenblick lang blieb er einfach nur stehen und starrte wie gebannt in die wundervollen, tiefblauen Augen vor sich.
Sie stand einige Meter von ihm entfernt in einem Durchgang zu den Korridoren des Gebäudes. Ruhig und ausgeglichen erwiderte sie seinen Blick, schenkte ihm ein sanftes Lächeln und trat einige Schritte zurück, bis sie die Dunkelheit verschluckte. Geistesabwesend und doch voll und ganz auf ihre Erscheinung konzentriert folgte er ihr zögerlich, ignorierte die fragenden Blicke der beiden Herren auf der Bank, die die Ursache seines eigenartigen Verhaltens nicht hatten sehen können.
„Was…machst du hier?“, flüsterte der Silberhaarige. Die weibliche Gestalt packte ihn schweigend am Arm, ließ ein leichtes Kribbeln unter seine Haut jagen und machte ihn nahezu willenlos, als sie ihn vorsichtig, dann immer schneller mit sich zog…
„Was war das denn?“, murmelte Brian verblüfft, wendete dann seinen Blick vom Durchgang ab und starrte in das ebenfalls irritierte Gesicht des jungen Amerikaners. Dieser stand nach einiger Zeit plötzlich auf und stürmte hinterher.
Ein befremdender Verdacht überkam ihn, irgendetwas stimmte hier nicht. Hatte Kais eigenartiges Verhalten etwas mit Minas Flucht zutun?
Im Dauerlauf erreichte er die Tür der Damentoilette und riss ohne groß nachzudenken die Tür auf. Der Raum war leer – zum Glück, wie ihm erst jetzt bewusst wurde. Doch zwischen einem der Spiegel und der Wand steckte ein Zettel mit eindeutig identifizierbarer Handschrift. Der Siebzehnjährige nahm ihn an sich und überflog ihn zügig. Dann schüttelte er den Kopf. Anscheinend hatte die Blauhaarige keinerlei Schamgefühl.
Alex
Mir war übel, also bin ich nach Hause. Hab meine Tage.
Weißt ja, wie das ist.
Nimm´s mir nicht übel.
Mina
Was währe gewesen, wenn jemand anderes den Zettel vor ihm gefunden hätte?
Kopfschüttelnd vernichtete er den Wisch, indem er ihn in kleine Fetzen zerriss, und warf die Überbleibsel in den Mülleimer des gekachelten Raumes. Dann hörte er hinter sich wieder das nervenaufreibende Geräusch von Brians Stimme.
„Bist du lebensmüde? Das ist das Mädchenklo…wenn dich eine von den Bitches erwischt…“, grunzte er, „wobei…wenn du dich zu Frauenhygiene hingezogen fühlst…“, ein gezielter Ellenbogencheck in die Magengrube brachte ihn zum Schweigen. Der Amerikaner zog ihn aus dem Raum hinaus und sicherheitshalber noch einige Meter von der Tür weg. „Mina ist nachhause gegangen, fühlt sich nicht wohl.“, erklärte er seinem Gegenüber. Das diverse „Thema“, das auf dem Zettel angesprochen war, verschwieg er bewusst, da es sich offensichtlich um eine Ausrede handelte. Die junge Dame war einfach zu unempfindlich, um sich von solch einer Kleinigkeit in die Knie zwingen zu lassen. Irgendetwas machte ihr zu schaffen. Und womöglich hatte es mit ihrer und Kais Auseinandersetzung von eben zutun…vielleicht war sie auch einfach nur gestresst und in die Schmiede zurückgekehrt, um bei der harten Arbeit Aggression abzubauen.
„Hallo? Erde an Ami“, der Muskelprotz winkte mit einer Handfläche vor den Augen des Blondhaarigen hin und her. „Träumst du etwa?“
Etwas aus der Bahn geworfen und zermürbt starrte ihn der Siebzehnjährige mit einem ungewohnten Giftblick an, was jedoch nach hinten losging. „Du wirst dich doch nicht etwa in mein Sugar Babe verguckt haben?“, grinste der Rothaarige und kniff ihn in die Seite. Aufkeuchend stieß er seine Griffel von sich weg und entgegnete „sie ist gar nicht mein Typ, das weißt du doch.“
„Ach komm, für wie blöd hältst du mich?“
„Könnte ich dich auch fragen. Du würdest mich wahrscheinlich windelweich prügeln, wenn ich mit ihr was anfange…“, murmelte Alex, drehte sich um und machte sich auf den Weg, das Stadion zu verlassen.
„Wo willst du hin?“, rief ihm der Philippine nach.
„Mina ist zuhause, Kai ist auch weg,…was hält uns bitte noch hier? Oder willst du hier bleiben und dich mit Tyson abgeben?“, hallte die Antwort des jungen Mannes zurück. Der Achtzehnjährige musste sich eingesehen, dass er wohl Recht hatte, und so rief er ein übertrieben lautes „Warte!“ hinterher.
