Entscheidung
Leider konnte einem keine göttliche Fügung, wie toll sie auch war, Entscheidungen abnehmen. Chiaki musste
selbst entscheiden, ob er diese intimen Erlebnisse vom Freitagnachmittag Rikumi und den anderen Mädchen
anvertraute. Er war schon kurz davor, denn immerhin wollten sie ihm ja helfen und hatten ein edles Ziel: Einen
perversen Lehrer zu enttarnen und ihm die Unterrichtsgenehmigung zu entziehen. Jedoch war dieser perverse
Lehrer vielleicht gar nicht so triebtäterhaft und sie taten ihm die ganze Zeit unrecht? Genauso gut konnte es
aber auch sein, dass er direkt in sein Unglück hineinstürzte und dem Falschen half, indem er Herrn Shikaidou
deckte und die ganze Spionage der Mädels zunichte machte. Er hatte die komplette Handlung der Geschichte
in der Hand... und so wie er momentan agierte, verhalf er seinem Lehrer dazu, sich an ihn ranmachen zu
können. Er handelte aus egoistischen Motiven, denn er wusste genau, was passierte, wenn sie den Lehrer
wegen sexueller Belästigung dran bekamen: Entweder sie hatten der Welt etwas gutes getan oder aber er
hatte seiner unschuldigen Liebe vors Schienbein getreten und konnte sich ein gemeinsames Leben in Einklang
und Harmonie abschminken, genauso wie sein Make-up und seine falschen Wimpern und die Weiber-
Klamotten, die er nach diesem Desaster bestimmt auch ablegen würde. Da hatte es ja nun keinen Sinn mehr,
sie zu tragen. Das Objekt der Begierde war fort.
Dies war wohl der entscheidende Grund, den Mädchen nicht allzu ausführlich von der letzten Nachhilfestunde
zu erzählen, immerhin ging es hier um sein Herz... und nach dem entschied er. Herr Shikaidou war vielleicht
etwas pervers und nutzte es aus, wenn eine neue Schülerin in die Klasse kam, jedoch hatte er ihnen nichts
böses gewollt und auch ihm wollte er nichts tun. Die Mädchen konnten bestimmt nicht abstreiten, dass sie
auch ein bisschen verliebt in den rothaarigen, jungen und gutaussehenden Lehrer waren, der seinen
Unterricht so nett und witzig gestaltete, so gut das eben mit so einem trockenen Fach wie Geschichte ging.
Gekränkt waren sie, weil er sie zurückweisen musste - schließlich ging das gegen die Vorschrift, keinen
intimen Kontakt mit den Schutzbefohlenen zu haben, sodass sie sich solche Schauermärchen einfallen ließen -
aber nichts weiter.
Warum malte er sich eigentlich gerade Chancen aus, dass er das Herz des Lehrers für sich gewinnen konnte?!
Wieso hatte er keine Angst davor, ebenso enttäuscht zu werden wie die anderen Mädchen? Er war doch ein
Junge... auf ihn stand Herr Shikaidou doch gar nicht und er hatte es nur einem Zufall zu verdanken, dass er
so weiblich aussah. Er müsste sich nicht einmal sonderlich verkleiden und würde als sehr flachbusiges
Mädchen durchgehen, das einen etwas zerzausten Eindruck machte. Trotzdem war seine Anatomie die eines
Mannes: Er hatte weder breite Hüften noch eine ausgeprägte Taille - und zwischen seinen Beinen baumelte
etwas, was kein Mädchen hatte. Sein Geschlechtsteil konnte er sich ganz bestimmt nicht abreißen, um
weiblicher zu sein...
Verdammt...
"Chiaki, ist dir nicht gut?", fragte Rikumi besorgt und streichelte dem Blonden über den Rücken. Er seufzte tief
und schüttelte den Kopf, um ihr damit das Besorgnis aus dem Gesicht zu wischen und hatte sogar recht guten
Erfolg. Riku lächelte ihn liebevoll an und umarmte ihn dann völlig unerwartet.
"Wir sind ja so stolz auf dich! Wir hätten ja nie gedacht, dass du es fertig bekommst, die Kamera zu
installieren! Wenn die Woche um ist, kannst du sie wieder mitnehmen und wir schauen uns das Material an,
ja? Wir können uns bei mir treffen - ich kann die Bilder zur Not noch etwas mit dem Computer aufmöbeln,
wenn es sein muss."
'Oh, bitte nicht... du siehst eh nur den Rand eines Blumentopfes!'
Trotzdem hatte Chiaki ein schlechtes Gefühl dabei, dass Riku solche guten Kenntnisse in Sachen Video hatte,
denn so konnte er sie nicht hinters Licht führen, wenn sie etwas entdeckte und er sich nicht aus der Affäre
ziehen konnte.
"Schade dass die Kamera keinen Ton hat", seufzte Malice leise, "dann hätten wir noch viel mehr
Beweismaterial, weißt du?"
Chiaki nickte zustimmend, doch in seinem Kopf breitete sich eine Woge des Glücks aus, dass sie keine bessere
Kamera hatten. Dann hätte er es nicht so leicht, wie er es jetzt eigentlich hatte. Warum beschwerte er sich
eigentlich? Die Sache mit der Kamera lief doch wie geschmiert: Wenn er sie über die ganze Woche
ausgeschaltet ließ, konnte er seine Aufgeregtheit immernoch als Grund davor schieben - er konnte ja die
ganze Woche einfach nicht bemerkt haben, dass das Gerät aus war - das konnte ja jedem passieren! Und in
der nächsten Woche würde er sie zwar einschalten, aber genauso wieder positionieren, sodass sie nichts
sehen konnten. So hätte er insgesamt zwei Wochen Zeit geschindet und konnte in dieser Zeit vielleicht die
Gunst des Lehrers auf sich ziehen.
Vielleicht hatte er die ja schon. Immerhin war er ihm heute auf dem Gang begegnet und wenn er sich nicht
täuschte - was allerdings leicht sein konnte, weil er so eine dicke rosarote Brille trug - hatte ihm Herr
Shikaidou zugezwinkert, so dass nur er, Chiaki, es sehen konnte.
Allerdings machte er sich mal wieder große Sorgen um die Zukunft. Ja, wer hatte die nicht?! Aber wenn man
ein Junge in Mädchenkleidern war, der nicht enttarnt werden sollte, aber mit einem anderen Mann eine intime
Beziehung eingehen wollte, so war das etwas problematisch. Denn Intimität setzte meist auch einen
erheblichen Grad an Nacktheit voraus, den er nicht bieten konnte, ohne zu zeigen, dass der Schein trog.
Entweder war seine sich hoffentlich bald erfüllende Liebe dazu auserkoren, sich niemals zu ereignen oder aber
er musste sich als Junge zeigen. Je mehr er darüber nachdachte, desto mehr Lust hatte er, sich mal wieder
als Junge auf der Straße zu zeigen. Ja... endlich wieder eine Hose für Männer tragen, ein Hemd, bei dem er
die oberen Knöpfe auflassen konnte, damit jeder seine MÄNNLICHE Brust sah - ja, auf einmal fühlte er sich
richtig süchtig nach dem Gefühl, ein Mann zu sein.
Dumm nur, dass er gerade Sportunterricht hatte und den Anweisungen der Turnlehrerin folgen musste, die der
kleinen Mädchengruppe rhythmische Sportgymnastik beibringen wollte. Er stellte sich ja ehrlich gesagt nicht
schlecht dabei an, aber momentan hatte er eher Bock auf ein Football-Spiel oder so. Irgendwas was Jungs
machten. Er war nun schon fast eine Woche als Mädchen herumgelaufen, doch langsam reichte es ihm... fürs
erste, denn wer wusste denn schon, ob Shikaidou nicht doch auf seine weibliche Variante stand.
Zuhause angekommen wurden die Schulsachen wie Wegwerfspielzeug in die Ecke geworfen und der Blonde
schälte sich eiligst aus dem Rock und dem engen T-Shirt, was er an den richtigen Stellen ausgestopft hatte.
Er entfernte die Stoffbahnen, die er sich heute um den Hintern und somit auch an der Vorderseite seines
Körpers über sein Geschlecht gebunden hatte, seufzte erleichtert auf. Endlich war diese Qual - zumindest für
heute - vorbei. Er würde jetzt wieder ganz einfach wie ein Junge auf die Straße gehen und irgendwo ein Bier
trinken - männlicher ging es ja wohl kaum. Vielleicht sprach er ein Mädchen an... nein, das war schon wieder
/zu/ männlich. Dass er nicht auf Mädchen stand, dafür konnte er ja nichts. Aber er würde so männlich sein,
wie er nur konnte.
Schnell hatte er sein Gesicht - schon fast routiniert - von Make-up und seine Fingernägel von Nagellack
entfernt, damit auch nichts mehr darauf hinwies, dass er gerade eben noch ein Mädchen gewesen war -
zumindest äußerlich. Dann zog er sich eine dunkelblaue Jeans und dazu ein beigefarbenes Hemd an, was sich
auf der Haut samtig anfühlte. Es hatte auf der rechten Brusttasche eine Stickerei in Form eines Tigers, der
Flügel hatte und diese spreizte. Es war eines seiner Lieblingshemden, die er eigentlich nur zu besonderen
Anlässen trug. Doch so ein Anlass war jetzt, denn schließlich feierte er einen Nachmittag lang, wieder ein
Junge zu sein. Er freute sich schon, auf die Männertoilette gehen zu können, als würde er nach langer Zeit in
seine Heimatstadt zurückkehren. Endlich wieder diese typisch männliche Geruch auf diesen besonderen
öffentlichen Einrichtungen... aber gut, das waren nun wieder zu viele Informationen.
Es verschlug ihn in die Stadt, wo er ziellos herumlief, hier und da in ein paar Läden schaute und sich aber
hauptsächlich nach einer Bar oder Kneipe umsah, wo er sich hinsetzen und etwas trinken konnte. Vielleicht
auch irgendwen kennenlernen... was auch immer geschehen mochte.
Was ihm aber dann noch an diesem Nachmittag passieren sollte, damit hätte er nie und nimmer gerechnet.
Eine Kneipe war doch recht schnell gefunden und er hatte es sich direkt an der Bar gemütlich gemacht. Hier
war das Licht gerade richtig - nicht zu dunkel, aber auch gemütlich warm, der Barkeeper war ein lustiger Kerl,
der am laufenden Band Witze und urkomische Sprüche zum besten gab, sodass Chiaki nach kurzer Zeit eben
diese vergaß und es ihm sogar schon egal war, dass er mit niemandem direkt sprach. Dafür war er in kürzerer
Zeit mit den anderen Männern und Frauen an der Bar auf Du und Du gestellt und sie erzählten sich
Geschichten aus ihrem Leben und tranken nebenbei sehr gut. Natürlich dachte Chiaki nicht im Traum daran,
seine Geschichte mit der Verkleidung als Mädchen zu erzählen, denn so viel er auch trank - es war ihm am
wichtigsten, dass niemand diesem Geheimnis auf die Spur kam.
Inzwischen war sein Alkoholpegel drastisch gestiegen und auch seine Übel ahnenden Gedanken an den
morgigen Schultag waren wie weggespült. Es interessierte ihn gar nicht mehr, dass er morgen früh aufstehen
und sich wieder als Mädchen verkleiden musste. Das lag alles in weiter Ferne. Die fröhlichen, ausgelassenen
Menschen um ihn herum hatten ihn vollends in ihren Bann gezogen. Er war in Feierstimmung und hatte das
Gefühl, grenzenlose Macht in seinen Händen zu halten.
Als dann eine unbestimmte Zeit später an diesem Abend schon etwas länger ein junger, großer Mann mit ihm
quatschte und sie sich immer besser verstanden, sah er das als ganz normal an. Zwar hatte ihn der Name
Hijiri an irgendwas erinnert, aber was zählte, was das gute Gespräch, was sie führten. Es ging um Gott und
die Welt, Existenzängste - und vor allem die Liebe. Chiaki wusste zwar nicht mehr, was der andere an
Klamotten trug, aber er wusste noch ganz genau, dass sie sich mit ihren Blicken ziemlich heiß umgarnt hatten.
Und er musste immernoch lachen, als er an das Gesicht dachte, was der Rothaarige gemacht hatte, als er ihm
seinen Namen verriet. Es sah so aus, als würde der andere überlegen - als hätte er diesen Namen schon
einmal gehört, aber dann war er auch wieder voll auf ihr Gespräch konzentriert. Es ging ihm scheinbar
genauso wie Chiaki, der auch bei Hijiris Namen einen Blitz in seinem Kopf hatte zucken sehen.
Doch was genau das bedeutet hatte, wusste Chiaki erst wieder, als er am nächsten Morgen in der Schule
über den Gang lief und ihm Herr Shikaidou entgegenkam. Erneut durchdrang seine Gedanken ein gleißender
Blitz und er musste sich beeilen, um in sein Zimmer zu kommen, denn er musste sich dringend setzen.
Außerdem war er auf den Gedanken gekommen, dass Herr Shikaidou ihm vielleicht ansehen konnte, dass er
etwas viel getrunken hatte und deswegen heute aussah wie ein Guppy im Mixer. Und davon könnte der Lehrer
ja schließen, dass seine weibliche Identität und der Junge von gestern eine und dieselbe Person waren.
Schließlich brauchte es nicht viel, ihn äußerlich in ein Mädchen umzuwandeln - und es brauchte auch nicht
viel Fantasie, in seinem weiblichen Auftreten den Jungen wiederzuerkennen. Deswegen sollte er lieber Vorsicht
walten lassen.
Das Glück war auch auf seiner Seite und Hijiri bemerkte ihn wahrscheinlich gar nicht, denn er ging weiter,
ohne anzuhalten oder sich zu ihm zu drehen. Chiaki seufzte erleichtert und ging in das rettende
Klassenzimmer. Zum Glück hatte er heute keinen Geschichtsunterricht, denn dann wäre er seinen Blicken ja
ausgeliefert gewesen - was ja an sich keine schlechte Sache war, aber nicht in diesem Moment. Denn Herr
Shikaidou war ein guter Menschenkenner - wie er ja gestern in diesem hervorragenden Gespräch
mitbekommen hatte - und würde bald bemerken, dass Chiaki mehr als ein bisschen müde war. Ungut.
Der Schultag verging schnell und Chiaki nahm sich vor, den Nachmittag und Abend wieder als Junge zu
verbringen. Seitdem er gestern wieder die Sau - oder besser gesagt den Eber, um beim Thema zu bleiben -
rausgelassen und sich so gut mit den vielen netten Menschen in der Bar verstanden hatte, ohne etwas
vorzuspielen, konnte er gar nicht genug von der Freiheit kriegen, die zwar eigentlich für jeden normal war, die
er sich aber selber genommen hatte, um sein Ziel zu erreichen. Jedoch wollte er heute nicht ausgehen,
sondern zuhause bleiben, einfach ein bisschen den Rest des Tages genießen - und seine tolle Hose, die zwar
eng saß, aber nicht weiblich war - und die er deswegen ganz besonders mochte.
Später am Abend, als er sich zuvor im Supermarkt noch etwas leckeres zu trinken - einen Rosé-Wein aus
Frankreich - und eine große Packung Tiefkühlpizza gekauft hatte, saß er nun auf seiner großen, bequemen
Couch, aß genüßlich Pizza und trank dazu den Wein. Das passte zwar nicht wirklich zusammen, aber ihm
schmeckte es ausgezeichnet. Außerdem war es doch egal, schließlich war er ein Junge und durfte sich so
einen faux pas leisten. Gut, als Mädchen vielleicht auch, aber er war einfach nur froh und fühlte sich
wahnsinnig wohl so. Als dann aber so ein paar Minuten vor um acht seine Türklingel schellte, war er schon
etwas angepisst, da er sich eigentlich einen gemütlichen Abend leisten wollte. Wenn es so ein bekloppter
Versicherungsvertreter war oder so ein Typ, der ihm einen günstigen Telefontarif verticken wollte, knallte er
einfach die Tür zu.
Aber es war weder ein Versicherungsvertreter noch ein Typ von der Telekom, sondern Herr Shikaidou. Chiakis
Gesicht wurde erst kalkweiß, dann ungesund rot, bis es sich wieder einigermaßen normalisierte. Also es war
rosig. Seine Augen flackerten nervös und er sagte:
"Äh... ja?"
Der Rothaarige lehnte am Türrahmen und blinzelte Chiaki belustigt an, weil er seine Ratlosigkeit bemerkt
hatte:
"Chiaki! Guten Abend. Du siehst ja ganz schön verdattert aus... hast du etwa vergessen, dass ich dich heute
besuchen kommen wollte? Wir wollten unser Gespräch fortsetzen, weil du gestern abend meintest, dass du
nicht mehr in der Lage wärst, meinen Gedanken zu folgen."
Hijiri grinste leicht, doch dann lächelte er verständnisvoll.
'Ja klar, ich glaube, das war ich schon eher', dachte Chiaki immernoch geschockt und bat dann schließlich den
Rothaarigen herein.
"Entschuldigen Sie, aber ich hab das wirklich ganz vergessen - oder gar nicht erst mitgekriegt", versuchte
Chiaki sich zu entschuldigen. Sein eigentlicher Lehrer, der davon aber gar nichts wusste, grinste ihn jetzt
wieder an:
"Da hast du wahrscheinlich doch einiges über den Durst getrunken... ach übrigens, wir waren schon beim Du."
Das darauffolgende Lächeln war wieder so ein Moment für Chiaki, der sein Herz höher schlagen ließ. Verlegen
hustete er und geleitete seinen unverhofften Gast dann ins Wohnzimmer, wo noch eine halbe Pizza auf einem
Teller auf dem Tisch stand. Daneben war die fast zur Hälfte geleerte Weinflasche, aus der er direkt getrunken
hatte. Warum auch nicht? Schließlich war er ja allein. Bis jetzt natürlich.
"Setz dich ruhig... und entschuldige die Unordnung."
Chiaki war wirklich heftig verwirrt, dass Hijiri für heute Abend sein Gast war, denn das war etwas, was er sich
nicht erträumt hätte. Wahrscheinlich hatte es sich auch so ergeben, denn meistens geschahen die Dinge,
wenn man gar nicht daran dachte. Alles Zufälle.
"Kann ich etwas von dem Wein haben?"
"Ja, natürlich, ich..."
Bevor Chiaki dem Älteren ein Glas anbieten konnte, hatte dieser schon die Flasche angesetzt und trank einen
kräftigen Schluck. Der Blonde musste unwillkürlich lachen und grinste dann:
"Ich hätte ja beinahe auch vergessen, dass ich nicht der einzige war, der wie blöde gebechert hat. Aber du
hast mich gerade wieder daran erinnert."
Seine Stimme klang fröhlich und nicht vorwurfsvoll. Jetzt, wo die ersten qualvollen Minuten des unverhofften
Besuchs vorbei waren, traute Chiaki sich auch, neben den anderen auf die Couch zu setzen.
"Wollen wir das von gestern nun fortsetzen? Wo du dich schon hingesetzt hast?", meine Hijiri plötzlich und aus
heiterem Himmel. Chiaki sah ihn etwas verwirrt an und blinzelte, keine Ahnung habend, was Hijiri damit meinte.
Als er in den Augen des anderen nach einer Antwort suchte, traf er dort auf keine Hilfe - der Blick verdutzte
ihn noch mehr. Was sollte das denn?! So etwas konnte man keinem sagen, der unkeusche Gedanken hegte!
Das gab viel Stoff für Missverständnisse!
"W-wie meinst...?"
Einfach mal versuchen, eine Frage zu stellen. Er musste ja antworten - schließlich war er wohl erzogen, dieser
Herr Shikaidou. Man sollte es zumindest hoffen - in dieser Hinsicht.
"Na, ich hatte dir doch gestern gesagt, dass du einer meiner Schülerinnen ähnelst. Und als ich das zur
Sprache brachte, warst du so verwirrt, dass du gesagt hast, dass wir das lieber auf heute verschieben."
Ungeahnt breitete sich Enttäuschung in Chiaki aus. Dieses Gefühl war echt gemein. Er trank einen Schluck
aus der Weinflasche, doch es half nichts. Es fühlte sich immernoch beschissen an. Warum hatte er denn auch
daran geglaubt, dass sich sein Lehrer für einen Jungen interessieren würde?! Binnen von Sekunden hatte sich
seine Euphorie und Hoffnung in ein tiefes schwarzes Loch verwandelt, was ihn nun zu verschlingen drohte.
Wenn der Rothaarige kein Interesse an Jungs hatte, würde er wohl nie eine Chance bei ihm haben - egal wie
gut er sich als ein Mädchen verkleiden konnte. In seinem tiefsten Inneren und seinen eigentlichen
Äußerlichkeiten würde er immer ein Mann bleiben, der keine Chance bei Hijiri haben würde.
Scheiß Zufall. Scheiß Schicksal.
Scheiß Roséwein.
"Du heißt ja auch noch wie sie...", sinnierte Hijiri gerade, als er keine Antwort bekam und nur sah, dass Chiaki
sich den Wein hinterkippte.
"Das ist schon ein ganz schöner Zufall."
"Ja."
Chiaki hatte - etwas wortkarg - seine Sprache wiedergefunden und wollte wieder etwas mit dem anderen
kommunizieren. Sonst dachte der bestimmt, dass etwas mit ihm nicht stimmte oder dass er ihn verärgert
hatte. Letzteres stimmte zwar, aber Chiaki wollte seinen Ärger nicht so deutlich zeigen.
"Und weißt du, was mich am meisten verwirrt?"
"Was denn?", fragte Chiaki, nicht uninteressiert.
"Dass ihr die gleiche Adresse habt."
Chiaki schwieg entsetzt. Er hatte gestern Hijiri seine richtige Adresse gegeben - und in den Schulakten stand
sie natürlich auch. Das war ein beschissenes Problem. Denn es gab nämlich keinen Ausweg aus der Misere.
"Wieso verwirrt dich das?"
Wenn er anhand der Tatsache überrascht war, würde Hijiri gleich bemerken, dass er etwas verbarg. Aber
wenn er den Rothaarigen nun einen Grund gab, damit er nicht mehr verwirrt sein musste?
"Schließlich ist sie meine Cousine!"
Ob Hijiri ihm das abkaufen würde? Chiakis Blick war fest auf den des anderen gerichtet und er hoffte, dass
seine Entschlossenheit, diese blöde Lüge durchzuziehen, auch seinen Blick beeinflusste.
"Sie ist deine Cousine?!"
Okey, der Blonde hatte nicht wirklich gehofft, dass ihm Hijiri seine Märchen sofort abkaufen würde, doch dass
es so schwer sein würde, diesem durchdringenden Blick des Menschen standzuhalten, in den man auch noch
über beide Ohren verknallt war - das war hart.
"Ja. Meine Tante, also ihre Mutter, hatte mit ihrer Schwester - also meiner Mutter - ausgeheckt, dass sie uns
den gleichen Namen geben könnten. Es war auch irgendwie ein Zeichen ihrer Verbundenheit als Schwestern.
Das hat mir meine Tante mal erzählt... da war meine Mutter aber schon nicht mehr da..."
Ja, es war fies, jetzt den Tod seiner Mutter in die vollkommen erfundene Geschichte einzubinden, doch es war
eine sichere Methode, Hijiris Aufmerksamkeit jetzt wieder nur auf ihn zu lenken. Er sprach auch nicht davon,
um Mitleid zu erregen - zwar war der Verlust seiner Mutter immernoch so, als hätte er seinen Gott, seine
sichere Behausung verloren, doch es war schon viele Jahre her und er hatte sich so langsam daran gewöhnt.
Er brauchte keine Tränen und keine lieben Worte. Wenn es sein musste, weinte er selber.
Hijiri sagte zu seinem Erstaunen - oder hatte er es gehofft? - gar nichts zu dieser Sache und nahm nur einen
Schluck aus der Flasche.
"Also bist du sozusagen nur zu Besuch hier?"
"Genau."
Chiaki war erleichtert, dass der Rothaarige seine Geschichte akzeptierte. Ob er sie glaubte, was sein Brot -
dem Blonden ging es auf jeden Fall besser. Hijiris Stimme klang nicht mehr so interessiert wie am Anfang des
Gespräches, deswegen empfand es Chiaki als das Beste, das Thema zu wechseln.
"Und du bist also Lehrer?", fragte er, nicht ohne die Antwort zu kennen. Als Hijiri nickte, fragte er nach seinem
Fach und nach den Klassenstufen, die er unterrichtete. Er erfuhr, dass es die komplette Oberstufe seiner
Schule war, die in den Genuss kam, von Hijiri unterrichtet zu werden. Wie viele wohl das Vergnügen hatten,
mit ihm auf der Couch zu sitzen, Wein zu trinken und sich gut zu unterhalten? Und wie viele von denen, die
das konnten, waren in den Rothaarigen verliebt...? Wie viele hatten sich schon von ihm verführen lassen? Wie
vielen Versuchungen hatte er widerstehen können... wollen?
Die weiteren Konversationen des Abends waren trotz Roséwein von keinerlei Tiefgang und Chiaki fühlte sich
richtig beschissen. Es war zwar schön, mit seinem Angebeteten hier bei sich zu Hause zu sitzen, doch da er
wusste, dass es sowieso zu keinerlei tiefgründigen Tätigkeiten kam, verging ihm langsam die Lust. Nicht dass
er nur mit Hijiri in die Kiste hüpfen wollte - das zwar auch - aber ihm fehlte heute irgendwie das besondere
Etwas an ihrer Konversation... was war - ausgenommen des Alkohols - gestern in der Bar anders gewesen?
Das ungezwungene Ambiente? Die anderen Leute?
Er fühlte sich plötzlich auf die Couch gedrückt und aus seinen Gedanken gerissen, als Hijiris Lippen an seinen
saugten.
Ja! Das war es gewesen! Das hatte gefehlt...
Chiaki erinnerte sich plötzlich wieder an den gestrigen Abend - in allen Farben und Facetten...! Hijiri und er
hatten sich eine stille Ecke in der Kneipe gesucht, ein Tisch für zwei in den hinteren Räumen der
Gastronomieeinrichtung... fernab von der Bar und den lauten Menschen. Und dort hatten sie nur noch ihre
Lippen sprechen lassen. Sie hatten zwar das Gespräch über Hijiris Schülerin namens Chiaki abgebrochen
beziehungsweise verschoben, aber sie waren danach nicht ihres Weges gegangen, wie Chiaki erst
angenommen hatte. Nun hatten sie erst richtig angefangen zu "reden".
Chiaki seufzte in den Kuss hinein und bemerkte mit Entsetzen, dass er fast schon gestöhnt hatte. Hastig stieß
er Hijiris Zunge wieder zurück in dessen Mund, doch dieser sah das als ein neues Spiel auf und kämpfte sich
wieder zurück. Dem Blonden wurde ganz heiß von diesem Hin und Her, sodass sein ganzes Gesicht glühte.
Schließlich gab er dem Älteren aber doch zur Genüge zu verstehen, dass er nicht mehr lange so unterdrückt
atmen konnte und sie lösten sich voneinander.
"Das war aber plötzlich...", stammelte Chiaki, nur um die Stille zu unterbrechen und war selbst von seinen
Worten erstaunt. Dass er so ehrlich sein würde, hätte er nicht gedacht. Hijiris Arm umschlang vorsichtig und
wärmend um seine Taille, so als hätte auch er keine Ahnung, ob Chiaki all das wirklich gefiel, was sie taten.
"Naja, hätte ich es mit Worten einleiten sollen?"
Chiaki überlegte kurz und schüttelte dann den Kopf:
"Nein... das hättest du nicht."
"Das beruhigt mich", lächelte Hijiri und neigte seinen Kopf zu Chiakis. Der Junge dachte, dass sie sich wieder
küssen würden und reckte ihm seinen Mund entgegen, doch Hijiri legte bloß seine Stirn an die des Blonden und
sah ihm in die Augen.
"Ich hoffe, das ging dir alles nicht zu schnell... vor allem wo ich es so schamlos ausgenutzt habe, dass du
dich nicht mehr an so viele Dinge von gestern erinnern konntest. Aber ich mag dich sehr..."
Chiaki konnte vor Freude gar nichts sagen und schwieg nur glücklich. Das war alles zu viel für ihn. Von einem
Moment auf den anderen war seine Liebe in Erfüllung gegangen... und er stellte fest, dass er dazu nicht
einmal als Mädchen in die Schule hätte kommen müssen...
Es gab schon seltsame Dinge im Leben...