Interview mit dem Vampir
Rally kam die Treppe hoch, und ging in den Verkaufsraum. May
wartete dort bereits auf sie. Sie ass Pizza.
"Hey, konntest du nicht auf mich warten?", fragte Rally.
"Die wäre sonst nur kalt geworden", meinte May.
"Und da wolltest du sie in deinem Magen wärmen, oder was?"
Rally nahm sich selbst ein Stück. Befriedigt stellte sie fest,
dass es noch einigermassen warm war.
"Und? Hat er gesungen?", fragte May.
"Mmm" Rally nickte, und schluckte. "Viel mehr weiss ich jetzt
allerdings auch nicht. Dieser Stevenson, den Cogan zu erpressen
versuchte, ist sein Boss. Oder zumindest gewesen."
"Er hat versucht, seinen Boss zu erpressen? So ein Idiot."
"Tja" Rally vernichtete den letzten Rest ihres Pizzastücks, und
nahm sofort ein weiteres. "Die ganze Geschichte könnte aber von
Vorteil für uns sein. Ich habe Cogan versprochen, ihn vor
Stevenson zu schützen. Im Gegenzug hat er mir den Standort des
Drogenlabors verraten."
"Du hast doch nicht etwa vor..."
"Wir könnten uns zumindest mal umsehen." Rally bis herzhaft in
ihr neues Stück Pizza.
"Das könnten wir auch der Polizei überlassen."
Rally schluckte den Bissen hinunter. Sie schüttelte den Kopf.
"Die Polizei wird das Labor nicht hochgehen lassen, nur weil
Cogan behauptet, es sei dort. Dazu ist er zu unglaubwürdig. Und
bevor ich seine Geschichte bestätige, will ich selbst wissen, ob
sie stimmt."
May schaute Rally misstrauisch an. Rally reagierte nicht.
Seelenruhig ass sie den Rest des Pizzastücks.
Als sie nach dem dritten, und letzten, griff, fragte sie: "Was
ist eigentlich mit dem Gewehr?"
May deutete auf einen Stapel Kataloge. "Die hab ich durchsucht",
sagte sie.
"Und?"
"Nix."
Das hatte Rally befürchtet. Sie verkaufte eigentlich nur Sport-
und Jagdgewehre. Darum hatte sie nur wenige Kataloge von
Sturmgewehren.
"Ich habe gedacht, du kennst dich vielleicht besser aus",
erklärte May. "Daher habe ich die Silhouette aufgezeichnet. Aber
wo hab ich die bloss hingelegt..."
Schliesslich fand May die Zeichnung wieder. Sie hatte die
Pizzaschachtel darauf gestellt. Daher hatte es jetzt einige
Fettflecken. Rally nahm die Zeichnung mit einem leicht
vorwurfsvollen Blick entgegen.
"Ach bevor ichs vergesse:", sagte May. "Ich glaube, der Schütze
hat beim Weggehen den Kolben eingeklappt."
Rally schob sich den Rest der Pizza in den Mund, kaute kurz und
schluckte. "Ja", sagte sie schliesslich. "Diese Gewehre haben
serienmässig einklappbare Kolben."
"Du weisst, welches es ist?"
"Ich denke schon. Komm mal mit."
Sie gingen zum Lagerraum hinüber. Rally schaute sich kurz um, und
nahm dann ein Gewehr vom Gestell.
"Ja, genau das ist es!", rief May. "Wie hast du das so schnell
herausgefunden?"
"Ganz einfach. Das Gewehr hier ist durchaus bekannt. Die
SWAT-Abteilung der Polizei verwendet es."
"Der Schütze sah aber nicht wie einer vom SWAT aus."
"Das war ganz sicher keiner. SWAT-Leute arbeiten niemals alleine.
Aber das Gewehr ist vielleicht eine Spur. Ausserhalb der SWAT
verwendet es kaum einer."
"Tatsächlich? Warum denn? Die SWAT kauft doch sicher keinen
Schrott."
"Tja, weisst du, May, das Gewehr ist zwar sehr präzise, aber auch
sehr pflegebedürftig. Das schreckt die meisten ab. Es ist
eigentlich mehr ein Scharfschützen- als ein Sturmgewehr."
Plötzlich verfinsterte sich Rallys Blick.
"Moment mal", sagte sie. "Da stimmt was nicht." Dann fragte sie:
"Wie weit entfernt war der Schütze?"
May überlegte kurz. "Um die zweihundert Meter würde ich sagen. Du
meinst, auf diese Distanz..."
Rally nickte. "Er hätte Cogan treffen müssen. Wenn er kein
völliger Stümper war hätte er ihn treffen müssen."
Am nächsten Morgen. Robert ging den Flur entlang. Er hasste das.
Wenn irgendwas geklaut wurde, musste *er* Meldung machen. Wenn
ein Deal platzte, musste *er* Meldung machen. Und jetzt diese
Sache mit Cogan. Wer wurde geschickt, um dem Boss Bericht zu
erstatten? Er natürlich. Robert atmete tief durch. Dann klopfte
er an die Tür, die mit 'F. Stevenson' beschriftet war. "Herein!",
hörte er Stevenson rufen. Er trat ein.
Stevenson schaute in missmutig an. "Oh, je. Robert", meinte er.
"In diesem Fall sind es wohl schlechte Nachrichten."
Robert seufzte. Sogar der Boss war mittlerweile dran gewöhnt.
"Ja", gab er zu. "Wir haben den Bericht über Cogan."
"Ist er etwa entwischt?"
"Nicht wirklich. Als wir gestern Nacht bei der Hütte ankamen, war
Cogan verschwunden. Die Tür war von Schüssen durchlöchert, und in
der Hütte roch es noch nach frischem Pulverdampf."
"Also ein Feuergefecht."
"Die Löcher in der Tür waren nach aussen ausgefranst. Sie stammen
also vermutlich von Cogan selbst. Was uns aber beunruhigt, ist,
dass die Fensterscheibe auch ein Loch hat. Die Scherben liegen
innen, also kam der Schuss von aussen. Nur ein Schuss. Entweder
hat Cogan sich sofort ergeben, oder er ist tot. Es hat allerdings
kaum Blutspuren."
"Tot?" Stevenson schüttelte den Kopf. "Das glaube ich nicht.
Ausser mir will niemand Cogan tot sehen. Sucht weiter nach ihm."
"Ja, Sir", sagte Robert, und ging.
Stevenson dachte nach. Er wusste von niemandem, der Cogan tot
sehen wollte. Aber es fiel ihm auch niemand ein, der in fangen
wollte. Eine Abrechnung vielleicht? Aus einem Konflikt, von dem
er nichts wusste? Schon möglich. Dann durchfuhr es Stevenson: Es
könnte die Polizei gewesen sein! Cogan könnte auf die Idee
kommen, sein Wissen gegen Straffreiheit zu tauschen. Dann
beruhigte er sich wieder. Sein Maulwurf hatte nichts in der Art
gemeldet. Trotzdem war Stevenson beunruhigt. Er griff zur
Gegensprechanlage.
"Ja?", knarzte es aus dem Lautsprecher.
"Hör zu, Tom. Wir könnten Ärger bekommen wegen dieses Verräters
Cogan. Das Labor wird geschlossen. Sorg dafür, dass das Kerosin
abtransportbereit ist."
"Ziehen wir um?"
"Nein. Aber ich will, dass alles vorbereitet ist, falls es dazu
kommen sollte."
"Aye, Sir!"
Ausserhalb des Gebäudes, ein paar Blocks weiter die Strasse
runter, sass Rally in ihrem Cobra. Sie war wieder allein. May
hatte natürlich eine Szene gemacht. Aber Rally wollte diskret
sein. Und Diskretion war nicht gerade eine von Mays Stärken. Sie
fand das von Cogan bezeichnete Gebäude in einem kleinen
Wohnquartier. Es war eine typische Arbeitersiedlung. Kaum jemand
war auf der Strasse zu sehen. Um so mehr fiel das Gebäude auf:
Die Rolläden waren überall unten, und eine bewaffnete, zivile
Wache sass neben dem Eingang. Anscheinend hatte Cogan einen
Volltreffer gelandet. Auch wenn Rally nur zu gern wüsste, woher
er diese Information hatte. Sie nahm ein Fernglas, und
betrachtete die Szenerie eingehend. Sie währe nicht so ruhig
gewesen, wenn sie gewusst hätte, was hinter ihrem Rücken vor sich
ging.
100 Meter hinter ihrem Rücken, um genau zu sein. Dort endete die
Strasse nämlich in einer T-Kreuzung. Dahinter stand eine
Bauruine, in der jemand Stellung bezogen hatte. Der Mann holte
seinerseits ein Fernglas hervor, um damit den Cobra zu
betrachten. Er erkannte Rally darin. Der Mann stellte das
Fernglas auf den Boden, und rief jemanden mit seinem Handy an.
"Posten 3 hier... Ja, sie ist eingetroffen... Ja... Verstanden."
Der Mann legte auf. Dann öffnete er einen grossen Koffer, den er
bei sich trug. Darin war ein Gewehr. Eine Spezialanfertigung. Er
wusste, dass er so schnell keine zweite Chance erhalten würde.
Daher ging er sehr sorgfältig vor. Zuerst wählte er den Standort,
um das Gewehr aufzustellen. Dann nahm er ein Magazin, und prüfte,
ob es die richtige Munitionsart enthielt. Er schaute nochmals zum
Wagen. Um einen sicheren Schuss anzubringen, würde er erst das
Rückfenster zerstören müssen. Er entfernte die oberste Patrone
des Magazins, und ersetzte sie durch eine SH-Kugel. Das weiche
Geschoss würde das Fenster zersplittern, aber nicht durchdringen.
Schliesslich lud er das so präparierte Magazin. Dann brachte er
das Gewehr in Anschlag, und entsicherte es. Erst ganz am Schluss
öffnete er die Abdeckung des Zielfernrohrs.
Rally lehnte sich zurück. Das sah ihr nach einem hübschen Ziel
aus, um der Kerosinindustrie einen schmerzhaften Stich zu
versetzen. Vielleicht konnte sie Roy, einem befreundeten
Polizeioffizier, sogar eine Beförderung verschaffen. Irgend etwas
blitzte im Rückspiegel auf. Verwundert sah sie genauer hin. Sie
erkannte den typischen Wiederschein eines Zielfernrohrs.
"Scheisse!", rief sie. Ihre Hand fuhr zum Zündschlüssel. Der
Starter heulte auf. Rally hörte noch, wie das Rückfenster
zersplitterte. Dann wurde alles schwarz. Ihre Hand fiel leblos
herunter. Die Zeit hatte noch nicht einmal gereicht, den Motor zu
starten.
Auf dem Tisch standen zwei dampfende Kartonbehälter. Den dritten
hatte May gerade Cogan vorbeigebracht. Es war chinesischer
Fastfood. Wie immer, wenn May das Essen bestellte. Die Jahre in
Chinatown hatten eben doch ihre Spuren hinterlassen. May selbst
stand etwas abseits am Telefon, und schielte sehnsüchtig zum
Essen herüber. "Mann Rally, nimm endlich ab. Ich hab Hunger",
murmelte sie. Schliesslich hängte sie auf. "Jetzt reichts. Wer
nicht will, der hat schon."
Als Rally erwachte, sass sie gefesselt in einem Stuhl. Ihr war so
übel, dass sie glaubte, sich jeden Moment übergeben zu müssen.
"Narkosenachwirkungen", stellte sie fest. Sie versuchte, sich zu
bewegen. Dass erwies sich aufgrund der Fesselung als schwierig.
Wirklich bewegen konnte sie nur den Kopf. Aber sie konnte
immerhin feststellen, dass sie den Körper wieder unter Kontrolle
hatte. Bis auf den rechten Arm. Der fühlte sich seltsam dumpf an.
Wie wenn ihn jemand in Watte gepackt hätte. Rally versuchte, den
Ablauf zu rekonstruieren. Zuerst hatte sie gehört, wie das
Rückfenster des Cobra zersplitterte. Dann hatte sie noch kurz
gefühlt, wie etwas in ihre rechte Schulter eindrang. Das musste
ein Betäubungsgeschoss gewesen sein. Der Treffer war wohl nahe am
Nacken, sonst wäre das Projektil von der Panzerweste aufgefangen
worden. Alles in allem sehr Profimässig. Nachdem Rally gesehen
hatte, wie auffällig Stevensons Labor war, hatte sie ihn erst als
Anfänger eingestuft. Sie hatte ihn wohl unterschätzt. Die
Übelkeit wurde allmählich unerträglich. Rally würgte. Ihr Mund
füllte sich mit säuerlicher Magenflüssigkeit. Angewidert
schluckte sie sie wieder runter. Sie atmete schwer. Erleichtert
stellte sie fest, dass es etwas besser ging. Sie schaute sich um.
Das Zimmer war ein Büro. Ein Einzelbüro. Ein Pult mit Stuhl, ein
Wandschrank, eine Lampe. Und der Stuhl, auf dem Sie sass. Mehr
gab es nicht. Sie schaute die Möbel etwas genauer an. Alles sehr
elegant und teuer. Und dann ein Spannteppich. Richtig weich. Gute
Qualität. Rally stutzte. Warum konnte sie den Teppich fühlen?
Natürlich. Sie trug keine Schuhe. Und überhaupt... die Kleider
die sie trug... das waren doch nicht ihre Strassenkleider. Das
war ein schwarzer Pyjama. "Die haben mich umgezogen!", schoss es
ihr durch den Kopf. Sie fühlte, wie ihr Herzschlag beschleunigte.
Ihr wurde etwas schwindlig. Sie drückte die Augen zu, und zwang
sich zur Ruhe. Allmählich normalisierte sich der Herzschlag.
Rally öffnete die Augen wieder. Dann fiel ihr noch etwas auf: Der
Raum war völlig fensterlos. Das ging irgendwie nicht auf. Von der
Möblierung her gehörte das Büro einer wichtigen Person. Das eine
solche freiwillig auf ein Fenster verzichtete, sah Rally zum
ersten mal.
Eine Tür hinter Rallys Rücken öffnete sich.
"Ah, sie sind erwacht", sagte jemand mit ruhiger Stimme.
Rally konnte den Kopf nicht weit genug drehen, um die Person zu
sehen. "Mr. Stevenson?", fragte sie.
"Nicht doch", meinte der Mann leicht amüsiert.
Rally war verwirrt. Wer könnte es dann sein? Sie wusste keine
Antwort.
"Sie fragen sich vermutlich, wer ich bin, und wo sie sind", sagte
der Mann, und ging nach vorne.
Rally konnte jetzt den Rücken sehen. Wer immer es war, er hatte
einen seltsamen Kleidungsstil. Er trug eine weisse Jacke, eine
weisse Hose... ja sogar die Schuhe waren weiss. Was Rally aber am
meisten auffiel waren die schulterlangen, schneeweissen Haare.
"Mein Name ist Hal Vector", fuhr der Mann fort. "Man nennt mich
auch 'der Vampir'. Ich bin der Geschäftsführer der 'Vector
Problemlösungen GmbH'."
"Der Vampir also?", fragte Rally schnippisch. "Haben Sie darum
Angst vorm Sonnenlicht?"
Vector hielt im Schritt inne. "Bitte?", fragte er.
"Na, ich sehe doch, dass sie keine Fenster haben."
Das schien Vector weiter zu amüsieren. "Gut beobachtet, Miss
Vincent", sagte er. "Nun, ich habe nicht gerade Angst vorm
Sonnenlicht, aber..." Er setzte sich auf den Stuhl hinter dem
Pult. "...ich muss schon vorsichtig sein."
Rally war erstaunt. Vectors Haut war ebenfalls völlig weiss. Der
einzige Kontrast waren seine beinahe leuchtend roten Augen. "Sie
sind ein Albino", sagte sie.
"Ganz Recht", antwortete Vector. "Mir fehlt die natürliche
Pigmentierung. Daher kann ich nicht einfach so ans Sonnenlicht.
Ich hätte sofort einen Sonnenbrand."
"Ja, das ist mir bekannt", meinte Rally. "Aber zusammen mit Ihrer
Grösse verleiht es Ihnen eine gewisse, natürliche Autorität,
nicht wahr? Ich meine, Sie haben schon eine imposante Statur. Ich
würde Sie etwa auf 2 Meter schätzen."
"1 Meter 96", bestätigte Vector. "Sie scheinen die Dinge ja
schnell zu durchschauen. Fast schon wie er... Na gut. Ich denke,
die Frage, wer ich bin, ist damit wohl geklärt. Zur Frage, wo Sie
sind: Das hier ist mein Büro im Geschäftssitz meiner Firma."
"Ehrlich gesagt, mich würde es mehr interessieren, warum ich hier
bin. Ihr Scharfschütze hätte mich ohne weiteres töten können.
Aber er hat mich statt dessen hergebracht. Sie wollen also
irgendwas von mir." Rallys Stimme wurde unvermittelt schärfer.
"Ausserdem würde ich gerne wissen, warum man mich umgezogen hat."
Aufgrund der Aufregung beschleunigte Rallys Herzschlag wieder,
und es wurde ihr wieder schwindlig. Aber diesmal würde sie nicht
so rasch nachgeben. Erst wollte sie eine Antwort.
"Ach, das hatte ich ja fast vergessen", meinte Vector. "Keine
Sorge. Es wurde von Frauen erledigt. Wir haben ein paar in
unserer Organisation."
Rally war mit der Antwort nicht zufrieden. Sie schaute Vector
weiter mit einem stechenden Blick an.
"Hören Sie, Miss Vincent. Das Betäubungsmittel im Projektil war
ziemlich stark. Es hat zu einer sofortigen Entspannung fast aller
Muskeln geführt. Auch derjeniger, die sie... üblicherweise auf
dem stillen Örtchen benutzen. Glauben Sie mir. Sie hätten nicht
in Ihren Strassenkleidern hier sitzen wollen."
Rallys stechender Blick machte einem leicht Überraschten Platz.
Sie errötete etwas.
"Ausserdem sehen sie hübsch aus in dem Pyjama."
Rally errötete weiter. Dann setzte sie wieder einen wütenden
Blick auf. "Sie...", begann sie. Weiter kam sie aber nicht, denn
das Schwindelgefühl wurde übermächtig. Schwer atmend versuchte
Rally, sich wieder zu beruhigen.
"Vorsicht, Miss Vincent. Die Nachwirkungen werden noch eine Weile
anhalten."
Das Schwindelgefühl wich wieder von Rally. Sie stellte fest, dass
sich Schweissperlen auf ihrer Stirn gebildet hatten. Sie fasste
sich, und sagte: "Na schön. Verraten Sie mir jetzt, warum ich
hier bin?"
"Selbstverständlich", antwortete Vector. "Ich habe da nämlich ein
kleines Problem. Es geht um Stevenson."
"Das habe ich mir beinahe gedacht."
"Tja. Was wissen Sie über ihn?"
Rally wollte mit den Achseln zucken, aber die Fesselung liess das
nicht zu. "Nicht all zu viel", sagte sie schliesslich. "Er
scheint der Boss eines Syndikats zu sein, das im grossen Stil mit
Kerosin handelt. Ich hab bis gestern noch nichts von ihm gehört.
Ist wohl neu im Geschäft."
Vector nickte. "Ja, stimmt alles. Ich will sie mal weiter
aufklären. Stevenson war früher mal ein hohes Tier bei einer
Handelsfirma. Er hat seine Position missbraucht, und war dumm
genug, sich erwischen zu lassen. Damit hat er sich so ziemlich
alle Karrieremöglichkeiten verbaut. Also hat er versucht, ein
eigenes Syndikat zu gründen. Er war sogar ganz erfolgreich. Alles
in allem ist er aber nur ein kleiner Fisch. Natürlich", erklärte
Vector grinsend, "glaubt er der Hecht im Karpfenteich zu sein."
Rally musste ebenfalls grinsen. Irgendwie war das am Anfang immer
so. Auch sie hatte sich am Beginn ihrer Karriere für *die*
Schützin und *die* Prämienjägerin gehalten. Bis sie mal tüchtig
auf die Schnauze fiel.
Vector fuhr fort: "Wie dem auch sei. Als Gordi verschwand, und
die primäre Kerosinquelle mit ihr, hielt Stevenson es für eine
gute Gelegenheit, zu den Grossen aufzusteigen. Über einen
Strohmann liess er sich etwas Kerosin besorgen. Es gelang ihm,
den Stoff zu analysieren. Dann hat er das Zeug kilogrammweise
hergestellt, tüchtig gestreckt, und schliesslich eingebunkert.
Anschliessend hat er geduldig gewartet, bis der Markt
ausgetrocknet, und der Strassenpreis entsprechend hoch war. Jetzt
verkauft er die Ware. Weil er sie nicht mühsam importiert,
sondern selbst hergestellt hat, kann er sie billig abstossen. Die
Qualität ist zwar schlecht, aber das interessiert bei diesen
Preisen niemanden. Er hat gute Chancen, den Markt an sich zu
reissen."
"Und jetzt seht ihr eure Felle davonschwimmen. Alles klar."
"Nein."
"Nein? Aber was..."
"Mein Firma ist normalerweise nicht in den Drogenhandel
involviert. Eigentlich ist es uns völlig egal, wer den Markt
beherrscht." Vector machte eine rethorische Pause. "Die Aufgabe
meiner Firma ist es, Probleme zu beseitigen."
Rally ging ein Licht auf. "Ach sooo ist das. Sie meinen, ihr
macht gegen die Bezahlung die Drecksarbeit für die anderen
Syndikate." Sie erntete dafür einen vernichtenden Blick von
Vector, aber damit konnte man Rally nicht beeindrucken. "Ein
Punkt für mich", dachte sie.
"Wenn Sie es so sehen wollen", brummte Vector schliesslich.
"Wie auch immer", meinte Rally. "Sie haben den Auftrag bekommen,
Stevenson samt Syndikat aus dem Weg zu räumen, nicht wahr?"
"So ist es."
"Und was hat das mit mir zu tun?"
"Idealerweise gar nichts."
Vector fixiert Rally. "Ich nehme an, Sie wissen bereits um die
Erpressung von Stevenson durch Cogan. Sonst hätte mein Schütze
sie wohl kaum bei seinem Drogenlabor aufgegriffen."
"M-Hm", sagte Rally, und nickte.
"Aber hat Cogan ihnen auch verraten, woher er die Information
hat?"
"Nein."
"Nun, er hat die Information von mir."
Diesmal war Rally wirklich verblüfft. Sie konnte ihr Erstaunen
nicht verbergen, wie sie am befriedigten Gesichtsausdruck von
Vector ablesen konnte.
"Ich will Ihnen mal was über Cogan erzählen", fuhr Vector fort.
"Er wurde bereits früh von Stevenson angeheuert, und agierte als
Mittelsmann zwischen dem Syndikat und den Strassendealern."
"Ach darum hatte er 10 Kilogramm bei sich."
"Ach sie meinen, als er damals von der Polizei geschnappt wurde?
Ja, da hatte er gerade eine frische Lieferung erhalten. Kennen
Sie übrigens die Umstände der Verhaftung?"
"Er ist in einer Strassensperre hängengeblieben."
"Ja", meinte Vector belustigt. "Sie haben seinen Wagen
durchsucht, weil er seinen Führerschein nicht dabei hatte."
Rallys Augen weiteten sich. "Oh, mein Gott. Wie kann man nur so
behämmert sein." Sie schüttelte den Kopf. "Stevenson war sicher
sauer."
"Und wie. Aber er hatte alle Hände voll zu tun, und auch nur
wenige, professionelle Schläger. Also hat er Cogan einfach
rausgeschmissen. Und er hat ihm natürlich das verlorene Kerosin
in Rechnung gestellt. Cogan fühlte sich aber ungerecht behandelt.
Er war so richtig sauer auf Stevenson. Dazu kommt noch, dass
Cogan den Stoff nie direkt beim Labor erhalten hatte. Er wusste
also nicht, wo das Labor war. Das alles machte ihn perfekt für
meinen Plan."
Rally nickte. "Verstehe. Sie haben ihm also den Standort des
Labors verraten, in der Hoffnung, dass er Stevenson erpresst.
Aber wozu?"
"Es war mein Plan, das Kerosin mitlaufen zu lassen, und danach
die Polizei die Hauptarbeit erledigen zu lassen. Das Problem ist,
dass die Polizei fast täglich irgendwelche Geheimtipps über
Drogenlabors, -verstecke usw. bekommt. Hätten wir die Information
einfach so zugespielt, oder Cogan bei der Polizei singen lassen,
wären sie wahrscheinlich gar nicht erst nachschauen gegangen.
Oder sie wären so auffällig vorgegangen, dass Stevenson genug
Zeit gehabt hätte, zu verschwinden. Also überlegte ich mir etwas
dramatischeres. Ein Informant von mir machte Cogan ausfindig. Wir
übermittelten Cogans Aufenthaltsort an Stevenson. Der schickte
einen Killer. Weiter sah der Plan vor, dass nach Cogans Tot ein
unserer Organisation angeschlossener Notar der Polizei einige
kompromittierende Papiere übergab. Dabei sollte er sagen, dass er
von Cogan den Auftrag habe, diese Papiere der Polizei zu
übergeben, falls Cogan etwas zustossen sollte."
"Was für ein Schmierentheater", sagte Rally. "Sie wollten einen
Menschen töten, nur um Ihre Geschichte plausibler zu machen?"
"Um ein Syndikat zu zerschlagen", berichtigte Vector. "Warum auch
nicht? Es sind schon Leute für weniger umgebracht worden. Für
viel weniger. Dass Sie noch leben, Miss Vincent, haben Sie einem
meiner Informanten zu verdanken."
Rally blickte Vector fragend an.
"Ich habe Cogan von ihm überwachen lassen. Er hat Sie gesehen,
als Sie Cogan verhafteten. Und seither hat er Sie beobachtet.
Jeder andere hätte nur Ihren Wohnort gemeldet. Aber das liess
seine Berufsehre nicht zu. Er musste natürlich herausfinden, *wer*
Sie sind. Das hat Ihnen das Leben gerettet."
Rally blickte immer noch verwundert. Was war den so besonders an
ihr?
"Rally Vincent, einer der bekanntesten Prämienjäger der Stadt,
ist eine Frau, knapp über 20, und führt einen kleinen
Waffenladen. Ich muss zugeben, dass ich recht überrascht war, als
ich den Bericht erhielt. Jedenfalls sind Sie zu bekannt, als das
ich Sie einfach aus dem Weg räumen könnte."
Das war es also. Vector liess Rally nur am Leben, weil er
befürchtete, jemand könnte einen genaueren Blick auf die Sache
werfen. Rally war klar, an welch seidenem Faden ihr Leben hing.
Vector hatte mit Sicherheit Mittel, sie auszuschalten, ohne das
irgendeine Spur zu ihm führte. Es war nur eine Frage des
Aufwands.
"Wie dem auch sei", begann Rally mit etwas unsicherer Stimme,
"wenn es nur darum geht, Cogans Geschichte glaubwürdig zu machen,
hätten Sie mich einfach weitermachen lassen können. Ich hatte
vor, seine Angaben bei der Polizei zu bestätigen."
"Und Ihnen hätte die Polizei geglaubt?", fragte Vector.
"Ich habe meine Beziehungen", erwiderte Rally vieldeutig.
"Ja, ich weiss. Aber ich führe trotzdem lieber meinen neuen Plan
durch."
"Und was soll ich dabei tun?"
"Nicht sehr viel. Erstens: Ich existiere nicht, und dieses
Gespräch hat nie stattgefunden. Zweitens: Behalten Sie Cogan noch
zwei, drei Tage in Arrest. Unser Notar wird dann sagen, Cogan sei
verschwunden. Liefern Sie Cogan einfach erst, nachdem Stevenson
verhaftet wurde. Drittens, und das ist sehr wichtig: Lassen Sie
sich nicht mehr bei Stevenson blicken. Unser Maulwurf hat
berichtet, dass Stevenson wegen der Sache mit Cogan nervös ist.
Er hat seine gesamten Kerosinvorräte abtransportbereit gemacht.
Noch so eine Sache, und er verschwindet."
Vector sagte nichts weiter. "Das ist alles?", fragte Rally nach
einer Weile.
"Ja", war die knappe Antwort.
Rally wunderte sich ein wenig, warum Vector solch ausschweifende
Erklärungen abgegeben hatte. "Wenn die Sache vorbei ist, was
geschieht dann mit mir?"
"Sie sind für uns jetzt natürlich ein Sicherheitsrisiko. Aber
solange sie kooperieren, werden wir darüber hinwegsehen. Es liegt
also an Ihnen."
"Das klingt nicht sehr überzeugend."
"Sie können natürlich auch ablehnen", sagte Vector in einem
bedauernden Tonfall. Er öffnete eine Schublade, nahm daraus eine
Spritze, die mit einer durchsichtigen Flüssigkeit gefüllt war,
und legte sie auf den Tisch. "Das Gift ist nicht nachweisbar",
erklärte er. "Ausser, man sucht explizit danach."
"Schon gut, ich habe verstanden", maulte Rally.
"Dann sind wir uns einig?", fragte Vector.
Rally sagte nichts. Sie nickte nur kurz, wobei Sie sich Mühe gab,
Vector so vorwurfsvoll wie irgend möglich anzuschauen. Vector,
freilich, durchschaute das Spiel. Er lächelte, und nahm eine
zweite Spritze aus der Schublade. Sie war identisch mit der
ersten, ausser, dass sie mit einem blauen Ring gekennzeichnet
war. Dann kam er auf Rally zu.
"He, Moment mal!", rief sie.
"Das ist nur ein Schlafmittel", beruhigte sie Vector. "Sie werden
sich gründlich ausschlafen, und morgen Vormittag erwachen. Bis
dahin sollten auch die Narkosenachwirkungen verflogen sein."
Vector setzt die Spritze an Rallys linkem Unterarm an.
Reflexartig verspannte sie sich.
"Lockerlassen, sonst tuts weh", sagte Vector.
"Sie haben leicht reden", warf Rally ein.
Vector seufzte, und setzte die Spritze am rechten Unterarm an. Er
wusste natürlich, dass Rally diesen noch nicht ganz unter
Kontrolle hatte. Tatsächlich fühlte Rally noch nicht einmal die
Injektion. Nur die Müdigkeit wurde plötzlich stärker. Rally liess
sich einfach übermannen, und schlief ein. Sie wusste, dass es
sinnlos war, dagegen anzukämpfen.