Bombenlegen für Fortgeschrittene
Am späten Nachmittag fanden Rally und May sich bei Ken ein. Der
zeigte ihnen seine Arbeit. Die Bombe war eine kleine Metallbox,
etwa so gross wie zwei aufeinander gestapelte Videokassetten. Die
einzigen Bedienelemente waren ein Knopf und eine LED. Ken
erklärte, wie sie funktionierte:
"Das ganze ist sehr einfach gehalten. Wichtig ist nur, das ihr
die Bombe gut platziert. Wenn sie scharf ist, darf sie sich auf
keinen Fall mehr bewegen. Sonst geht sie sofort los. Sorgt also
dafür, das sie einen sicheren Stand hat, gut aufgehängt ist, oder
was auch immer."
"Alles klar. Ein empfindlicher Bewegungssensor also", sagte May.
"Nicht nur das. Im inneren befindet sich ein Netz aus
Kleinstdrähten, die bei einem gewaltsamen Öffnen reissen. Bei
einem Temperatursturz geht ebenfalls ein Sensor los, so das
Tricks mit flüssigem Stickstoff nicht greifen. Der eigentliche
Zündmechanismus basiert auf einer simplen Metallfeder, und geht
los, wenn die Elektronik ausfällt."
May zog die Augenbrauen hoch. "Kann man die überhaupt
entschärfen?", fragte sie.
"Kaum", erwiderte Ken. "Man könnte versuchen, die Aussenschale so
vorsichtig zu entfernen, das weder die Drähte verletzt, noch der
Bewegungssensor ausgelöst wird. Aber ich würde die Finger davon
lassen."
May war einen Augenblick lang still. Sie schaute Ken mit einem
scheelen Blick an.
"Nicht zu entschärfen", sagte sie schliesslich.
Ken nickte.
"Wieso?"
"Es ist einfacher, eine Bombe zu bauen, die sich nicht
entschärfen lässt, als eine, die sich schwer entschärfen lässt.
Normalerweise lasse ich mir eine Hintertür offen. Aber diesmal
war ich in Eile, also..."
May seufzte. "Na schön. Wie macht man sie scharf?"
Ken deutete auf den Knopf an der Bombe. "Einfach hier drücken.
Als Bestätigung sollte die LED kurz aufleuchten. Wenn sie mal
scharf ist, gibt es zwei, voneinander unabhängige Zünder. Der
erste ist an die verschiedenen Sensoren gekoppelt. Der
zweite...", Ken gab May einen Funkauslöser, "...wird hiermit
ausgelöst. Das Signal ist stark genug, um durch mehrere Mauern
Stahlbeton zu dringen. Ausserdem geht die Bombe in spätestens
drei Tagen von selbst los. Dann ist nämlich die Batterie alle,
und die Elektronik fällt aus."
"Alles klar." May nahm die Bombe und den Zünder entgegen.
"Sei vorsichtig damit", warnte Ken. "Das Ding ist gefährlich."
May nickte nur.
"Was passiert eigentlich, wenn die Bombe ausgelöst wird?", fragte
Rally, der Mays Unbehaglichkeit natürlich nicht entgangen war.
"Nun, für etwa zehn Sekunden wird der Raum mit Aerosol gefüllt.
Dann wird es gezündet. Das Feuer sollte die Drogen verbrennen,
bevor ein Feuerlöscher vor Ort ist."
Rally konnte daran nichts finden, was May beunruhigen könnte. Sie
würde bei Gelegenheit nachfragen.
Als die Sonne unterging, war alles bereit: Rally und May trugen
immer noch die Verkleidungen vom Nachmittag, und sie benutzten
wieder den Fiat. May bestand darauf, zu fahren. Immerhin war es
ihr Wagen. Für Notfälle hatte Rally Ken beauftragt, etwa einen
Kilometer weiter mit dem Cobra zu warten. Schliesslich kamen
Rally und May in der Nähe von Stevensons Hauptquartier an.
Während May die Bombe aus dem Kofferraum holte, prüfte Rally ihre
Waffen. Wegen der Verkleidung konnte sie nicht beliebig viel
mitnehmen. Sie hatte sich für ihr Lieblingsstück, die CZ-75,
entschieden. Ausserdem hatte sie zwei volle Ersatzmagazine dabei,
wodurch sie immerhin über 46 Schuss verfügte. Desweiteren hatte
sie ihre DUO auf der Schiene im Ärmel versteckt. Die gute, alte
22.-er hatte sie schon mehr als einmal gerettet. May hatte es
sich natürlich nicht nehmen lassen, ein paar Granaten
mitzunehmen. Rally gefiel das gar nicht, denn sie wollte
möglichst unentdeckt bleiben. Granaten waren dafür ein schlechtes
Mittel. Immerhin konnte sie May überreden, sich auf vier Stück
mit reduzierter Sprengkraft zu beschränken.
Der Einstieg erwies sich als einfach. Das Fenster war immer noch
entriegelt. Auch die erneute Überbrückung der Alarmanlage war
nicht entdeckt worden, wie May zufrieden feststellte. Rally
zückte die Waffe und entsicherte sie. Nach Mays Aussagen glaubte
sie zwar nicht, das die Zimmer hier oben überhaupt benutzt
wurden. Aber es bestand immer die Möglichkeit, dass sie einer
Patrouille begegneten. Sie horchte an der Tür. Dann öffnete sie
sie vorsichtig. Der Gang war dunkel. Rechts konnte Rally das
Treppenhaus erkennen.
"Und jetzt?", fragte sie leise. "Da runter?"
"Ich denke schon", flüsterte May. "Es gibt noch ein zweites
Treppenhaus, aber das ist vermutlich blockiert. Und heute Morgen
sind hier zwei Wachen hochgekommen. Es ist wohl schon der
richtige Weg."
Rally drehte sich zu May um. Es war zu dunkel, um Rallys
Gesichtsausdruck zu erkennen. Aber von irgendwo her wusste May,
dass sie gerade ziemlich böse angefunkelt wurde.
"Sie haben dich entdeckt, nicht wahr?", zischte Rally.
May wollte entrüstet Antworten. Im letzten Moment fiel ihr ein,
wo sie sich befanden. Sie wählte einen leiseren Tonfall:
"Sie haben mich nicht entdeckt. Sie haben... sie haben nur
gemerkt, das jemand da war."
Rally schüttelte den Kopf. "Das hättest du sagen müssen", seufzte
sie. "Die sind jetzt gewarnt. Wir müssen vorsichtig sein."
Leise stiegen Rally und May die Treppen hinunter. Sie kamen ohne
Schwierigkeiten bis in den zweiten Stock. Im ersten Stock
allerdings, soviel war von oben zu sehen, brannte das Licht.
Rally ging daher besonders vorsichtig nach unten. Als sie halb
unten war, konnte sie einen Blick in den ersten Stock erhaschen.
Ihre Vorsicht war nicht umsonst gewesen: Ein ziemlich massiger
Typ, Marke Schwarzenegger, sass auf einem Stuhl vor der Treppe,
und 'las' eines jener Blätter, die im Kiosk meist ganz oben auf
den Regalen zu finden waren, damit die Kinder sie nicht so
einfach erreichten. Es war natürlich Tom, der Sicherheitschef.
Aber das wusste Rally nicht. Sie wusste nur eines: Irgendwie
mussten Sie an dem Kerl vorbeikommen. Es gab zwei Möglichkeiten:
Erstens, sie gingen hier nach unten. Diese Möglichkeit gefiel
Rally nicht. Nicht so sehr, weil sie dazu Tom überwinden mussten,
sondern vielmehr, weil sie so wahrscheinlich Aufsehen erregen
würden. Und genau das wollte Rally um jeden Preis vermeiden. Die
andere Möglichkeit war, sich einen anderen Abgang zu suchen.
"May", fragte Rally leise, "gibt es noch einen anderen Weg nach
unten?"
May machte ein etwas enttäuschtes Gesicht. Offensichtlich hätte
sie lieber etwas Radau gemacht. Aber sie war sich über die
Situation durchaus im Klaren. Sie überlegte: "Wie ich schon
gesagt habe, gibt es noch eine zweite Treppe auf der anderen
Seite des Hauses. Aber soweit ich gesehen habe, ist die
blockiert."
"Blockiert?"
"Ja, mit einer Holzplatte."
"Hmmmm..."
Rally dachte einen Moment nach. Viel Zeit dazu hatte sie
allerdings nicht, denn auf einmal konnte sie von unten Schritte
hören. Vorsichtig schaute sie wieder in den ersten Stock hinab.
Sie konnte erkennen, das zwei Männer gerade auf die Treppe zu
kamen.
"Nanu?", sagte einer der beiden. "Du sitzt immer noch hier?"
Tom sah missmutig zu ihm auf. "Hast du nicht gehört? Wir hatten
heute einen Eindringling! Vielleicht sollte ich deine Sinne mal
auf Trab bringen."
"Wir hatten heute *Morgen* einen Eindringling. Und soviel ich
gehört habe, hast du den armen Hawkins durch das halbe Gebäude
gehetzt, bis du überzeugt warst, dass er weg ist."
"Und wer sagt dir, dass er sich nicht immer noch irgendwo
versteckt?"
Toms Gesprächspartner schüttelte nur den Kopf. "Du bist ja
paranoid", sagte er.
"Mag sein", erwiderte Tom. "Aber bisher hat uns diese Paranoia
immer gut beschützt."
"Bisher... gab es nichts wovor sie uns beschützen müsste."
"Das reicht jetzt aber! Los, ab ins Körbchen, ihr beiden, oder
ich prügle euch dorthin!"
Mit diesen Worten jagte Tom die beiden lachenden Männer die
Treppe hoch. Rally reagierte schnell. Sie rannte die Treppe hoch,
wobei sie May mit sich riss, und stürmte oben in das erstbeste
Zimmer. Erst zog sie May hinein, und dann die Tür zu. Sie
versuchte, ihren Atem zu bändigen, während die Schritte näher
kamen.
"Du Rally", flüsterte May.
"Nicht jetzt", zischte Rally.
"Als ich das erste mal hinaufstieg, da habe ich..."
"Scht!"
"Ich habe eine leere Matratze gesehen."
Rally gab auf. "Und?", seufzte sie.
"Sie ist nicht mehr leer."
Rally sah sich um. Tatsächlich schlief jemand auf der Matratze.
Innerlich fluchend horchte sie an der Tür. Keine Chance. Die
Schritte waren bereits zu nahe. Rally hielt den Atem an, aber die
Männer gingen einfach am Zimmer vorbei. Sie lachten immer noch.
"Ach herrje", sagte einer. Vermutlich derselbe, der unten stumm
geblieben war. "Nächstes Mal nehmen wir besser den anderen Weg."
"Welchen anderen Weg denn? Es gibt keinen anderen Weg."
"Oh, hab ich etwas von einem anderen Weg gesagt?"
Beide lachten wieder. Allmählich verhallten die Schritte im Gang.
Rally und May verliessen das Zimmer. Vorsichtig schlossen sie die
Tür hinter sich. Erst dann wagten sie es, auf zu atmen.
"Das war knapp", sagte May.
"Allerdings", bestätigte Rally. "Aber immerhin wissen wir jetzt
sicher, das es noch einen anderen Weg geben muss."
May zuckte mit den Schultern. "Vielleicht ist die andere Treppe
nur im Erdgeschoss blockiert."
"Schauen wir nach", sagte Rally. Langsam schlichen sie sich durch
den Gang. Immer bereit, in eines der Zimmer zu springen. Aber sie
kamen ohne weitere Zwischenfälle auf die andere Seite. Leider war
die andere Treppe aber auch hier blockiert.
"War wohl nix", meinte May enttäuscht.
Rally sagte nichts. Sie schaute nur angestrengt auf die
Holzplatte. Dann drückte sie leicht. Nichts passierte. Sie
schaute noch einmal genauer hin, und drückte an einer anderen
Stelle. Es knirschte leicht. Rally lächelte triumphierend. Sie
drückte stärker, und plötzlich löste sich ein Teil des Brettes.
Rally fing es auf, bevor es lärmend in das Treppenhaus fallen
konnte.
"Das war es also", sagte sie.
"Ein geheimer Durchgang", meinte May erstaunt. "Vielleicht um
unbemerkt an der Wache vorbei zu kommen?"
"Egal. Jedenfalls kommen wir so viel leichter nach unten. Komm
schnell."
Rally setzte die Platte wieder vorsichtig an ihren Platz, bevor
sie und May nach unten gingen. Es war stockdunkel, aber May hatte
eine kleine Taschenlampe dabei. Tatsächlich waren auch die
anderen Stockwerke blockiert. Durch die Dunkelheit im Treppenhaus
konnte man aber auch erkennen, das alle Platten gleich präpariert
waren, denn von aussen schimmerte Licht durch die Ritzen. Im
Keller war allerdings nichts zu erkennen. Vermutlich war das
Licht im Gang ebenfalls abgeschaltet. Rally liess sich davon
nicht stören. Sie tastete das Brett ab, und stellte fest, das
auch dieses präpariert war. Sie horchte kurz, und als nichts zu
hören war, öffnete sie auf die gleiche Weise wie oben den
Durchgang. Im Gang schauten sie sich kurz um. Er sah aus, wie die
Gänge oben. Ausser, das hier Rohre von der Decke hingen, und das,
wie Rally bereits richtig vermutet hatte, das Licht ausgeschaltet
war.
"So", sagte sie. "Jetzt müssen wir nur noch das Lager finden."
Sie versuchte die Tür gegenüber. May leuchtete mit der
Taschenlampe herum. Der Raum enthielt jede Menge Geräte, wobei
einige offensichtlich abtransportbereit waren. Aber es lagen
keine Drogen herum.
"Das muss das Labor sein", sagte May. "wir könnten die Bombe auch
hier platzieren." Rally schüttelte den Kopf. "Was bringt es, wenn
wir das Labor zerstören? In ein oder zwei Tagen ist die Bande
sowieso aus dem Geschäft."
"Stimmt auch wieder."
May und Rally schauten sich die Räume daneben und gegenüber an,
aber sie waren alle leer.
"Seltsam", sagte May. "Es ist doch nicht üblich, die Drogen weit
vom Labor entfernt zu lagern, oder?"
"Vielleicht wollen sie umziehen", erwiderte Rally. "Umziehen?",
fragte May verdutzt. "Wie kommst du darauf?"
"Vector hat erwähnt, das Stevenson nervös ist. Und ausserdem
waren einige der Geräte im Labor transportfertig. Sie werden die
Drogen wohl irgendwo hin gebracht haben, wo sie schnell wegzuschaffen
sind."
"Meinst du, sie liegen im Erdgeschoss?"
"Kaum. Das Risiko wäre zu gross."
"Also noch im Keller." May überlegte: "Vielleicht bei der anderen
Treppe... Der Notausgang ist gleich darüber... Was meinst du?"
Rally blickte May erstaunt an. "Na klar! Das ist es!", sagte sie.
"Gut gedacht, May."
Zum Glück konnte Rally Mays siegreiches Grinsen in der Dunkelheit
nicht sehen. Sie hätte ihr Lob womöglich bereut.
Zurück auf der anderen Seite sahen sie, das Licht im Treppenhaus
brannte. Misstrauisch und vorsichtig schauten sie nach oben. Aber
es war niemand zu sehen. Also gingen sie zur Tür gegenüber. Rally
horchte kurz daran, dann öffnete sie sie schnell, aber
geräuschlos. Sie sah sich schnell um. Es war niemand da, aber der
Raum war nicht leer. Ganz und gar nicht. Er war Stapelweise mit
kleinen grauen Päckchen gefüllt.
"Ach du...", sagte May etwas zu laut.
Erschrocken schaute sie zur Treppe. Aber sie schien nicht gehört
worden zu sein. Leise kam sie hinter Rally her in den Raum, und
schloss die Tür. Sie leuchtete etwas herum. Schliesslich fand sie
den Lichtschalter. Als sich ihre Augen an die plötzliche
Helligkeit gewöhnt hatten, sah sie, dass sie sich nicht getäuscht
hatte: Der Raum enthielt hunderte von den Päckchen.
"Ach du meine Güte", vervollständigte sie den begonnen Satz,
diesmal leiser. "Wenn das wirklich alles Drogen sind, dann ist
das Zeug hier ein Vermögen wert."
Rally hatten einen entschlossenen Gesichtsausdruck angenommen.
Sie nahm sich eines der Päckchen, und öffnete es. Es enthielt ein
gräuliches Pulver. Rally versuchte davon.
"Und?", fragte May.
"Ich bin kein Experte," sagte Rally, "aber das sind ziemlich
sicher Drogen. Wenn auch grosszügig mit Zucker gestreckt."
"Schlechte Qualität was? Der Markt ist wohl ausgetrocknet."
"Der Markt *ist* ausgetrocknet", bestätigte Rally. "Und er wird
es gleich noch etwas mehr sein. Aber das ist nicht unser
Problem."
Sie schloss das Päckchen wieder, und legte es zurück. Dann drehte
sich zu May um: "Jetzt bist du drann."
"Alles klar", sagte May, und begann sich nach einem geeigneten
Platz für die Bombe umzusehen.
In diesem Moment schnappte das Türschloss zu.