Überraschungen und andere Unannehmlichkeiten
Rally entsicherte die Waffe, und öffnete vorsichtig die Tür, durch
die Tanner eben gegangen war. Tanner war nicht zu sehen. Vermutlich
war er bereits nach oben gegangen. Leise schloss Rally die Tür
wieder, und sah sich kurz um. Sie stand in einem Gang, der gerade von
der Eingangstür wegführte, und an der gegenüberliegenden Hauswand
endete. An der rechten Seite hatte es verschiedene Türen, die
vermutlich zu ehemaligen Büros führten. Ganz hinten rechts war ein
Treppenhaus. An der linken Seite hatte es lediglich zwei Durchgänge.
Einen gleich beim Eingang, und einen gegenüber des Treppenhauses.
Rally hörte ein Geräusch von links oben. Vorsichtig ging sie durch
den Durchgang neben ihr. Unvermittelt stand sie in einem grossen,
praktisch leeren Lagerraum. Ein kurzer Rundblick zeigte, dass, wer
immer auch das Geräusch verursacht hatte, bereits wieder weg war.
Auch hier sah sich Rally kurz um. Der Lagerraum nahm drei Stockwerke
ein. Im Erdgeschoss befand sich eine grosse Schiebetür, die jedoch
zugenagelt worden war. Im ersten und zweiten Stock waren jeweils
Laufgänge, die rund um den Raum führten. Sie waren, wie im
Erdgeschoss, mit je zwei Durchgängen mit dem anderen Gebäudeteil
verbunden. Ausserdem hatte es beim Durchgang, durch den Rally gerade
gekommen war, sowie in der Ecke schräg gegenüber, jeweils eine
Leiter. Am Durchgang im zweiten Stock, auf halber Strecke zwischen
der hinteren Leiter und dem hinteren Durchgang, hatte jemand ein Seil
befestigt, welches jetzt von dort bis zum Boden des Raums
herunterhing.
"Tanner durchsucht das Gebäude vermutlich von unten nach oben",
dachte sich Rally. "Wenn ich also von oben nach unten suche, können
wir Tom in die Zange nehmen."
Rally kletterte die Leiter hoch in den zweiten Stock. Von dort aus
ging sie auf den Gang hinüber. Auch hier waren Bürotüren auf der
rechten Seite. Rally wollte die Zimmer einzeln prüfen. Sie ging zur
ersten Tür, um sie rasch und lautlos zu öffnen. Leider hatten die
Scharniere schon bessere Tage gesehen. Die Tür schwang zwar auf, aber
ein lautes Quietschen liess sich nicht vermeiden. Der Raum wahr leer.
Rally schloss die Tür wieder, und ging zur nächsten. Gerade, als sie
die Tür öffnen wollte, hörte sie Schritte im Treppenhaus. Sie ging
ein paar Schritte zurück, damit sie Notfalls im Durchgang Deckung
nehmen konnte. Aber es war nur Tanner, der da heraufkam. Er hatte das
Gewehr nicht im Anschlag. Aber so, wie er es hielt, war dies nur eine
Frage eines Sekundenbruchteils. Keine Frage: Er wusste, wie man damit
umgeht.
"Sie hatten mir doch versprochen, sich da rauszuhalten", sagte er,
während er zu Rally hinüberging.
Er sagte dies nicht vorwurfsvoll. Eher schon im Tonfall einer
sachlichen Feststellung.
"Tut mir leid", entschuldigte sich Rally.
"Jedenfalls sollten sie nicht den Cobra nehmen, wenn sie jemanden
verfolgen", meinte Tanner.
"Der Wagen ist wohl etwas zu auffällig", sagte Rally etwas verlegen.
"Allerdings", bestätigte Tanner leicht schmunzelnd.
In diesem Moment wurde die Bürotür beim Treppenhaus eingetreten. Tom
stürmte heraus, und zielte mit einer Uzi auf Rally. Tanner, der zu
diesem Zeitpunkt etwa in der Mitte des Gangs stand, fuhr herum, und
zielte auf Tom. Rally tat es ihm gleich.
"Schau an, wenn das nicht Rally Vincent ist", brüllte Tom. "So siehst
du also wirklich aus."
"Hallo Tom. Neue Waffe?", erwiderte Rally.
Tanner gab sich ebenfalls unbeeindruckt. "Mr. Martin, Sie sind
verhaftet", sagte er schlicht.
"Nun mal langsam, Freundchen. Sonst ist deine Kollegin hier nur noch
als Sieb zu gebrauchen", meinte Tom.
"Ich glaube nicht", konterte Rally. "Du schätzt deine Lage falsch
ein."
"Ach, ist das so? Inwiefern denn?", fragte Tom.
"Nun, du hattest die Wahl, entweder auf mich oder auf Mr. Tanner zu
zielen. Das du auf mich zielst, ist eine ziemliche Dummheit."
Rally demonstrierte, was sie meinte, indem sie durch den Durchgang
sprang, und auf dem Laufgang abrollte. Tom war damit seines Zieles
beraubt. Aus dem Gang hörte Rally einen Gewehrschuss, und dann wie
jemand alles andere als lautlos die Treppe hinunterstürmte. Rally
kletterte die Leiter hinunter ins Erdgeschoss, und rannte wiederum
durch den Durchgang. Gerade noch rechtzeitig, um Tom aus dem
Treppenhaus stürmen zu sehen. Tom sah Rally ebenfalls, und rannte
geradewegs weiter in den Durchgang beim Treppenhaus. Rally stürmte
wiederum zurück, aber Tom war nicht im Lagerraum. Sie lief in den
Gang zurück, aber dort war er ebenfalls nicht. Er war im Durchgang
stehengeblieben, wie Rally klar wurde, als Tom eine Salve auf den ihn
über die Treppe verfolgenden Tanner abfeuerte.
"Geben Sie auf, Martin!", rief Tanner mit seltsam nasaler Stimme.
"Du kannst mich mal!", rief Tom zurück.
"Sie können nicht ewig hier bleiben."
"Das gilt aber auch für euch! Mal sehen wer länger durchhält!"
Rally war in der Zwischenzeit in die Lagerhalle gegangen, und der
Wand entlang zum Durchgang geschlichen, in dem sich Tom verbarg.
Jetzt sprang sie mit entsicherter Waffe hervor. Aber Tom war viel
schneller als erwartet. Er sprang seinerseits in den Gang, und rannte
zum Ausgang. Rally sprang ihm hinterher, und feuerte einen Warnschuss
zu seiner Linken.
"Hier kommst du nicht raus!", rief sie.
Tom rannte durch den Durchgang bei der Tür. Rally fluchte, und rannte
ihrerseits zurück in den Lagerraum. Sie konnte gerade noch sehen, wie
Tom die Leiter hinaufkletterte, und hörte Schritte auf dem Laufgang
im ersten Stock.
"Er ist oben!", rief sie Tanner zu.
Dann rannte sie zur Leiter gegenüber, die jetzt näher war. Als sie
bis in den ersten Stock geklettert war, hörte sie wiederum Schritte
auf dem Laufgang im zweiten Stock, der von der Leiter zum Durchgang
führte. Rally machte ein paar Schritte auf den anderen Laufgang, so
dass sie freies Blickfeld nach oben hatte. Es war Tom. Er war
wirklich extrem schnell. Rally brachte die Pistole in Anschlag.
"Keine Bewegung!"
Tom fuhr herum, und zielte auf Rally. Doch diesmal war Rally
schneller. Ihre Kugel drang schräg in den Lauf der Uzi ein, und
machte die Waffe unbrauchbar. Ein zweiter Schuss riss die Waffe aus
Toms Hand.
Der zweite Schuss stammte nicht aus Rallys Waffe. Es war Tanner, der
Tom mittlerweile gefolgt war. Er kam gerade, mit dem Gewehr im
Anschlag, auf den Laufgang heraus. Nun konnte Rally sehen, warum
Tanners Stimme vorhin so nasal geklungen hatte. Tanner hatte zwei
Schläuche in der Nase, die aussahen, als ob sie zu einem Atemgerät
gehören würden.
"Geben Sie auf", forderte Tanner. "Auch eine kugelsichere Weste nützt
Ihnen nichts gegen diese Kugeln."
Da hatte Tanner vermutlich recht. Gegen .223-er Gewehrkugeln, wie er
sie verwendete, hilft nur eine Weste, die zusätzlich mit
Keramikplatten verstärkt worden ist. Tom ging kein Risiko ein, und
hob die Hände. Er sah zur Uzi hinüber, die sich im Geländer des
Laufgangs verfangen hatte. Der Verschluss war sauber durchschossen
worden. Genau wie damals, als Rally aus dem Labor flüchtete.
"Zwei auf einen Streich", murmelte Tom.
Langsam drehte er sich um, so dass er Tanner den Rücken zeigt.
"Ich habe nichts von umdrehen gesagt", sagte Tanner.
Tom sprang. Mit Händen und Füssen griff er die Aussenseite der
Leiter, und liess sich hinabgleiten. Tanner reagierte schnell. Aus
einer Innentasche seiner Jacke holte er ein Bremsseilrolle, und
hängte diese an dem Seil ein, das am Laufgang hing. Rasch liess er
sich hinunter. Doch Tom war etwas schneller gewesen, und erwartete
ihn unten bereits. Mit einer schnellen Bewegung schlug er Tanner das
Gewehr aus der Hand. Es schlitterte quer durch die Halle. Tanner
revanchierte sich mit einem Tritt in Toms Bauch, doch dessen
Bauchmuskulatur schien aus Stahl zu bestehen. Tom taumelte lediglich
etwas zurück, und griff dann sofort wieder an. Rally konnte nicht
einschreiten, denn sie hatte zwar eine freie Sichtlinie, in dem
Gerangel aber kein klares Ziel. Das Problem war, dass ihre Kugeln Tom
problemlos durchschlagen konnten. Und sie wollte Tanner auf keinen
Fall gefährden. Andererseits war es überdeutlich das Tanner Tom
unterlegen war. Er wich immer weiter zurück... in Richtung seines
Gewehrs, wie Rally plötzlich erkannte. Als er nur noch zwei Schritte
davon entfernt war, drehte er sich um, und wollte das Gewehr
aufheben. Tom aber hatte seine Absichten durchschaut, und hielt ihn
an der Jacke fest. Als Tanner sich wieder umdrehte, um sich zu
befreien, liess Tom unvermittelt los. Tanner verlor das
Gleichgewicht. Er war zwar sofort wieder auf den Beinen, aber
inzwischen hatte sich Tom das Gewehr geschnappt. Und natürlich stand
er genau zwischen Tanner und Rally.
Tom nahm das Gewehr locker in Anschlag, und hielt es gegen Tanner.
"Und nun?", fragte er höhnisch.
"Das Gewehr ist gesichert", erwiderte Tanner.
"Sehr witzig."
"Nicht wirklich."
Ein gezielter Tritt Tanners in die rechte Hand von Tom entwaffnete
diesen wieder. Das Gewehr wirbelte herum. Tanner wollte es auffangen,
aber da traf ihn eine rechte Gerade Toms mitten ins Gesicht. Er
taumelte zur Wand zurück. Die Schläuche in seiner Nase färbten sich
rot. Tom, wohl wissend, dass Rally leicht auf ihn schiessen konnte,
wenn er zu weit von Tanner weg war, liess das Gewehr liegen, und
baute sich direkt vor Tanner auf. Aus seinem Gürtel zog er einen
kleinen Colt 25, den er Tanner vors Gesicht hielt. Rally machte sich
bereit zu schiessen, denn jetzt war es nicht mehr so wichtig, ob
Tanner ebenfalls verletzt wurde. Aber sie musste eine Stelle treffen,
die höchstwahrscheinlich nicht geschützt war, und die Tom sofort
ausser Gefecht setzen würde. Da bemerkte sie, wie Tanner seine Jacke
etwas zurückzog.
"Okay, Tom, du hattest deinen Spass!", rief Rally. "Jetzt steck brav
deine Pistole wieder ein, und nimm die Hände hoch."
"Ich denke nicht daran", rief Tom, ohne sein Gesicht von Tanner
abzuwenden. "Ich glaube nämlich, ich bin hier in der stärkeren
Position."
"So? Soll ich dich vielleicht in Notwehr erschiessen? Jedes Gericht
der Welt würde das in dieser Situation akzeptieren."
"Und deinen Freund hier? Den willst du doch nicht verletzen, oder?"
"Wenn es nicht anders geht..."
Tom drehte den Kopf zu Rally. "Also hör mal!", rief er.
Genau darauf hatte Tanner gewartet. Blitzschnell zog er das Messer,
das er unter der Jacke versteckt hatte, und rammte es längs in Toms
Handgelenk.
Kurz darauf traf die Polizei ein, um Tom einzusammeln. Aber es
dauerte noch eine halbe Stunde, bis der Tatbestand aufgenommen, und
die Spurensicherung abgezogen war. Tanner diskutierte draussen, mit
einem Polizisten, während Rally in der Lagerhalle stand, und
versuchte, einem anderen Polizisten die Situation zu erklären.
"Also, sie standen da oben auf dem Laufgang, und Martin und Tanner
kämpften hier unten, richtig?", fragte er.
"Genau", bestätigt Rally.
"Und während des Kampfes hat dann Martin Tanner das Gewehr
entrissen."
"Nein! Martin hat Tanner das Gewehr gleich zu Beginn des Kampfes aus
der Hand geschlagen."
"Aber sie haben doch gesagt, Martin habe mit dem Gewehr auf Tanner
gezielt?"
"Ja, nachdem Martin es wieder aufgelesen hatte."
"Warum hat Tanner es denn nicht aufgelesen."
"Weil er nicht ran gekommen ist, verdammt!"
"Ganz ruhig, Miss Vincent. Aufregen bringt sie hier auch nicht
weiter. Also, danach wurde Tanner gegen die Wand geschlagen, und dann
haben sie von dort oben aus auf Martin geschossen."
Es ging noch eine ganze Weile so weiter. Als der Polizist
schliesslich darauf beharrte, Rally mit auf die Wache zu nehmen,
hätte sie ihn am liebsten erwürgt. Zum Glück kam da gerade der andere
Polizist, der mit Tanner geredet hatte, herein. Dieser meinte knapp,
es sei nicht nötig Rally oder Tanner auf die Wache zu nehmen, zumal
beide bei der Polizei bekannt waren. Rallys Polizist war zwar
offensichtlich nicht damit einverstanden, fügte sich aber in sein
Schicksal. Missmutig ging er nach draussen. Rally folgte ihm.
Draussen waren mittlerweile die meisten Wagen wieder verschwunden.
Ausser der Polizeiabsperrung deutete nichts mehr auf die Ereignisse
hin. Tanner lehnte sich gegen die Hauswand. Er sah etwas mitgenommen
aus. Zwei rote Striche unter der Nase zeugten vom Nasenbluten. Sein
Gewehr lehnte an der Wand. Die Jacke hatte er ausgezogen, und auf den
Boden gelegt. Denn Ausbuchtungen nach zu schliessen, enthielt sie
recht viel Ausrüstung. Rally konnte jetzt sehen, dass Tanner ziemlich
gut gepanzert war. Unter seinem ärmellosen Hemd trug er anscheinend
eine ziemlich dicke, schusssichere Weste. Auch die Arme waren durch
etwas, dass wie 'schusssicherer Ärmel' aussah, geschützt. Nur die
Gelenke waren frei.
"Ah, Miss Vincent", sagte Tanner. "Sie sehen etwas mitgenommen aus."
Rally stutzte einen Moment. Dann antwortete sie: "Ach, der Kerl hat
mich ein bisschen durch die Mangel genommen." Sie deutete auf den
Polizisten, der gerade in den letzten, bereitstehenden Polizeiwagen
eingestiegen war. "Ich mache mir mehr sorgen um Sie."
"Wieso, wegen des Faustschlags? Ich hab schon schlimmeres erlebt. Ich
glaube, Toms Schrei hat mir fast mehr geschadet."
"Naja, immerhin haben Sie ihm ja auch ins Handgelenk gestochen. Das
tut ganz schön weh."
"Ich denke eigentlich, ich war ziemlich nett zu ihm. Ich habe nur
seine Fingersehnen durchtrennt, so dass er die Waffe losliess.
Immerhin hätte ich ihn ja auch töten können."
Der andere Polizist kam aus dem Gebäude. Er hielt das Seil, dass an
den Laufgang gehängt war, aufgewickelt in der rechten Hand.
"Da hast du dein Seil zurück, Donald", sagte er, und warf das Seil
Tanner zu.
"Danke Paul", erwiderte dieser. "Aber sag deinem Azubi, er soll
künftig nicht mehr so übereifrig sein."
"Geht klar", meinte Paul grinsend. "Dein Messer ist leider
Beweisstück. Das kann ich dir nicht aushändigen."
"Das ist Verbrauchsware. Behaltet es als Souvenir."
"Okay. Für die Bestätigung musst du dich noch auf der Wache melden.
Bis dann!"
Dann stieg Paul ins Auto, und fuhr weg. Auch Tanner machte sich
daran, zu gehen. Er legte das Seil um seine Schulter.
"Ich... wollte mich noch entschuldigen", sagte Rally.
"Wofür?", fragte Tanner.
"Nun ja, weil ich mich in Ihren Fall eingemischt habe."
Tanner zuckte mit den Schultern. "Solange das Ergebnis stimmt..."
"Naja. Unter einem perfekten Ergebnis hätte ich mir vorgestellt, Tom
zu schnappen, ohne das jemand von uns verletzt wird."
"Ach was..."
"Hm. Ein Indianer kennt keinen Schmerz, was?"
Die Luft um Tanner schien schlagartig abzukühlen. Rally fragte sich,
ob sie nicht etwas falschen gesagt hatte.
"Da irren sie sich, Miss Vincent", sagte Tanner ernst. "Schmerzen
sind mir sehr wohl bekannt."
Er öffnete den Ärmel an seinem linken Oberarm. Darunter kam eine
riesige Brandnarbe zum Vorschein. Rally erschrak.
"Tut... tut mir leid", stammelte sie.
"Schon gut. Das konnten sie ja nicht wissen."
Tanner schnallte den Ärmel wieder an. Dann nahm er seine Jacke und
sein Gewehr, und ging zu seinem Wagen. Auch Rally ging zu ihrem
Cobra, der immer noch in der Seitengasse geparkt war. Kaum sass sie
drinnen, da läutete auch schon das Autotelefon. Verwundert nahm es
Rally ab.
"Du hast es vermasselt!", brüllte Beckys Stimme aus dem Hörer.
"Oh Hallo Becky. Was meinst du mit..."
"Tu nicht so. Ich beobachte dich seit einer Viertelstunde. Glaubst
du, ich sei nicht fähig, Polizeifunk abzuhören? Wir sehen uns bei
dir! Und ich hoffe, du hast ein paar gute Erklärungen zur Hand!"
Becky legte auf. Rally tat es ihr gleich.
"Toll!", dachte sie sich. "Genau das, was mir zum krönenden Abschluss
eines erfolgreichen Tages noch fehlt."
Die Stimmung zuhause war nicht die beste. Becky war sauer, May war
sauer und Misty schien beunruhigt zu sein. Nur Ken machte einen
ziemlich unbeteiligten Eindruck. Rally machte sich auf ein paar
unangenehme Fragen gefasst. Sie sollte nicht enttäuscht werden.
"Also?", fragte Becky. "Darf ich mal erfahren, was dein Alleingang
sollte?"
"Alleingang?", fragte Misty noch mehr beunruhigt also vorher.
"Rally! Du hast doch nicht etwa...", rief May.
Rally hob beschwichtigend die Hände. "Ja. Ich habe Tanner gesehen,
wie er gerade Tom verhaften wollte. Und ich habe in den Kampf
eingegriffen", gab sie zu.
"Na, das ist mal wieder typisch", meinte May. "Ich darf hier das
ganze Haus nach Wanzen durchwühlen, und du machst dich auf die Jagd.
Die Action findet mal wieder ohne mich statt, was?"
"Die Action? Ein Glück dass du nicht dabei warst!", warf Becky ein.
"Was bitteschön soll das jetzt wieder heissen?"
"Du hättest alles noch schlimmer gemacht! Wahrscheinlich hättest du
das ganze Haus gesprengt."
"Na Und?"
"Was heisst da, na und? Der Trick beim observieren ist es, unbemerkt
zu bleiben. Nicht, mitten rein zu spazieren."
"He, he, beruhigt euch", beschwichtigte Rally. Dann fuhr sie fort.
"Tut mir leid, Becky. Aber als Tanner so offen auf den Hauseingang
zuging, dachte ich, er sei Tom vielleicht nicht gewachsen. Und ich
glaube nicht, dass dein Auftraggeber noch an den Informationen
interessiert ist, wenn Tanner tot ist. Ausserdem hatte Tanner meinen
Wagen schon vorher erkannt."
"Dann nimm halt nicht den Cobra. Der ist für solche Sachen ja wohl
nicht geeignet. Und was Tanners Fähigkeiten betrifft: Weist du
wieviele der schon eingelocht hat? Der Kerl ist ein Profi!"
"Ja, *das* ist mir auch klar geworden. Aber Tom ist auch nicht gerade
langsam. Er ist viel besser, als es den Anschein macht."
"Also, nach allem, was ich im Polizeifunk mitgekriegt habe, hat
Tanner Tom ausgeschaltet, nicht du."
"Ja. Tanner hat ihm ein Messer ins rechte Handgelenk gerammt. Können
wir jetzt das Thema wechseln?"
Becky war anscheinend nicht einverstanden. Rally erkannte das. "Habt
ihr noch Wanzen gefunden, May?", fragte sie, bevor Becky einen
Einwand bringen konnte.
"Nein", antwortete May knapp.
"Nein?", fragte Rally überrascht.
"Wir haben ein paar gefunden", erklärte Ken, wobei er geflissentlich
Beckys Versuche, das Gespräch wieder an sich zu reissen, ignorierte.
"Aber bei allen waren die Batterien leer. Von der Leistung des
Senders und der Grösse der Batterie her geschätzt, würde ich sagen,
dass die Dinger nicht länger als zwei Wochen durchhalten."
"Hmmm, sind wohl zur kurzfristigen Überwachung gedacht", meinte
Rally.
"Und genau das macht mir Sorgen", fuhr Ken fort. "Misty hat nämlich
eine gefunden."
"Genau", sagte Misty nervös, und legte besagte Wanze auf den Tisch.
"Die hier klebte an der Ladentheke."
"Ich habe die Batterie abgetrennt", sagte Ken, "aber vorher war sie
noch aktiv. Es ist derselbe Typ, wie die anderen. Sie muss also
relativ neu sein."
"Die ist definitiv neu", meinte May. "Die Theke hab ich sicher drei
mal gründlich abgesucht. Die wäre mir nicht entgangen."
"Hmmm...", sagte Rally, und betrachtete die Wanze genauer. Es war
wirklich derselbe Typ wie diejenigen, die sie schon früher gefunden
hatten. "Hast du irgendwas bemerkt, Misty?"
Misty schüttelte den Kopf. "Vielleicht hat sie einer der Kunden
angebracht, aber ich habe nichts bemerkt."
"Einer der Kunden", echote Rally. "Könnte es sein..."
"Sagt mal, bin ich eigentlich Luft!?", rief Becky dazwischen.
"Schon gut, Becky, beruhige dich wieder", sagte Rally, und steckte
die Wanze ein. "So tragisch ist die Sache nicht. Tanner hat keinerlei
Anzeichen gegeben, dass er vermutet, ich sei wegen ihm dort gewesen.
Wahrscheinlich glaubt er, ich sei ebenfalls hinter Tom her gewesen."
"Das hoffe ich für dich", brummte Becky, gab sich aber zufrieden.
"Die Frage ist eher, wie weiter", fuhr Rally fort. "Ich habe keine
Anhaltspunkte mehr. Wie siehts bei dir aus?"
"Ich habe die Kreditkartennummer einem Insider gegeben. Aber noch
habe ich nichts zurück bekommen. Ausserdem habe ich von Tanners Narbe
eine Fotografie gemacht. Die zeige ich mal einem Doktor."
"Hm? Was denn für eine Narbe?", fragte May dazwischen, die sich nicht
an eine Narbe erinnern konnte.
"Tanner hat eine grosse Brandnarbe am linken Oberarm", erklärte
Rally. "Ach und Becky: Im Kampf hatte Tanner zwei Schläuche in der
Nase, die nach einem Atemgerät aussahen. Vielleicht hilft das auch
noch weiter."
Becky nickte. "Ja, das könnte helfen. Hoffentlich erbringt dass eine
Spur. Naja, vielleicht hast du ja auch mehr Glück als Verstand, und
Tanner kreuzt nochmals in deinem Laden auf."
"Ich denke schon", murmelte Rally. "Ich hab so das Gefühl, dass er
das tun wird..."