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Stadt der Engel

Schatten und Licht, Band 1
von

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Unbarmherzige Stimmen

„Er steht dir wirklich ausgezeichnet.“, sagte Merle. Hitomi, die sich in dem hautengen, schwarzen Overall nicht allzu wohl fühlte, betrachtete sich skeptisch im Spiegel.

„Du erwartest doch hoffentlich nicht, dass ich das jeden Tag trage?“, fragte sie.

„Nein, natürlich nicht. Nur wenn du flüchten musst und auch nur, wenn es dunkel ist.“

„Gut. Dieser Anzug überlässt nun wirklich nichts der Fantasie.“

„Ein Grund mehr für dich nicht gesehen zu werden.“, erwiderte Merle grinsend. „Komm! Ich hab noch ein bisschen mehr für dich.“

„Noch mehr?“

Seitdem sie aus dem Lagerraum der Katzenpranke zurückgekommen war, hatte sie für ihre Freundin allerlei kleine Überraschungen hervor gezaubert, wie auf Gaia übliche Alltagskleidung und eine kleine Gürteltasche, gefüllt mit medizinischer Grundausrüstung und einem Kompass.

„Erst einmal brauchst du etwas, um das ganze Zeug zu verstauen.“, meinte Merle und präsentierte Hitomi ihre Sporttasche.

„Meine Tasche? Oh, Merle, du bist super!“, rief Hitomi überglücklich.

„Bedank dich bei Van. Er hat sie mitgebracht.“, klärte Merle sie auf. Hektisch riss Hitomi den Verschluss auf und inspizierte den Inhalt. Ihre Schuluniform, ihre Sportsachen, ihr Pieper und ihr CD-Player, in dem sich noch immer die CD befand, die sie in Palas auf einen Markt gefunden hatte, alles war noch da…fast alles. Wenig überrascht registrierte sie, dass auf den Pieper dutzende Nachrichten eingegangen waren und dass die Salzstangen fehlten.

„Merle?“, fragte sie streng. Diese lächelte viel sagend zurück. Hitomi entschied, es dabei zu belassen, und wandte sich wieder ihre Tasche zu. Als sie den Grund ihrer Tasche durchsuchte, merkte sie, dass sich das Material ganz anders anfühlte, als sie es gewohnt war.

„Ich hab ein Stück Stoff über den Taschenboden nähen lassen. Darunter kannst du flache Gegenstände verstecken. Leider konnte ich kein Stoff finden, der dem Material deiner Tasche gleicht.“, offenbarte Merle ihr.

„Merle, was soll ich damit? Ich bin keine Geheimagentin.“, zweifelte Hitomi.

„Aber du bist auf der Flucht. Praktisch gesehen ist es ein und das Selbe.“, erwiderte Merle Schulter zuckend. „Du darfst niemandem vertrauen!“, warnte sie eindringlich. „Die offenherzige Art, mit der du selbst Falken begegnet bist, ist ab jetzt absolut tabu.“

„Das Volk des Drachengottes vertraut mir sosehr, dass ich auf ihr Schiff darf. Wie kann ich ihnen dann mit Misstrauen begegnen?“, fragte Hitomi entrüstet.

„Du musst!“, verlangte Merle. „Selbst auf dem Schiff…Gerade auf dem Schiff solltest du dir immer einen Fluchtweg offen halten. Ich meine, woher willst du wissen, dass sie dich wirklich beschützen und nicht gefangen nehmen wollen? Woher willst du wissen, dass sie dich überhaupt auf ihr Luftschiff lassen? Wir haben nur die Zusage von einem Mann, der wahrscheinlich tausende Jahre nicht dort war, geschweige denn mit ihnen geredet hat.“

„Oh, Antigonos hat mit ihnen geredet!“, bekräftigte Hitomi. „Ich deutlich gespürt, wie er seine Gedanken ausgesandt hat.“

„Weißt du auch, was er ihnen gesagt hat?“, hakte Merle nach.

„Nein, er schickt seine Gedanken zwar in alle Richtungen, doch scheint er deren Inhalt verschlüsseln zu können. Alles, was ich wahrgenommen habe, war unverständliches Gebrabbel. Allerdings waren es jedes Mal unterschiedliche Gedanken. Also muss ein Gespräch stattgefunden haben.“, erläuterte Hitomi.

„Das beruhigt mich jetzt nicht wirklich.“, entgegnete Merle trocken.

„Ich bin kein Kind mehr, Merle.“, belehrte Hitomi sie. „Ich kann selbst auf mich aufpassen.“

„Das gleiche dachte ich auch über Siri.“, sagte Merle traurig lächelnd. „Sie zeigte einen solchen Hang zur Selbstständigkeit, dass ich dachte, sie wäre bereit selbst ihre Erfahrungen zu machen. Ich dachte, nur so könnte sie noch etwas lernen. Stattdessen ließ sie sich von einem bekannten Frauenheld einwickeln und in eine Marionette verwandeln.“ Eine Träne kullerte über Merles rechte Wange. „Sie war noch nicht soweit! Ich hätte sie niemals gehen lassen dürfen. Sie hätte in Farnelia bleiben sollen.“ Sie fing an zu schluchzen. Langsam umarmte Hitomi das Katzenmädchen und drückte sie sanft an sich. „Ich frag mich, wie ihre Mutter mir ins Gesicht sehen konnte. Ich frag mich, wie ich ihr ins Gesicht sehen konnte. Ich frage mich wie du mir noch ins Gesicht sehen kannst. Es ist alles meine Schuld!“, schluchzte Merle.

„Sana weiß, dass du nichts falsch gemacht hast, genau wie ich. Für das, was mit Ryu und Siri geschehen, bist du nicht verantwortlich.“, tröstete Hitomi sie. „Ganz im Gegenteil. Wir beide haben großes Vertrauen in dich. Warum sonst hätten wir dir die Schlüsselrolle der Aufklärungsmission überlassen sollen.“

„Ich denke, ich soll mit Allen zusammenarbeiten.“, wunderte sich Merle, während sie sich aus der Umarmung löste.

„Natürlich!“, sagte Hitomi schief grinsend. „Aber ich denke, er wird sehr schnell feststellen, dass die direkte Art, mit der er und Van die Dinge anpacken, für die unauffällige Beschaffung von Information nicht sehr nützlich ist. Allen wird sich einiges von dir abschauen müssen.“

Ohne zu wissen, warum, atmete Merle erleichtert auf.

„Wie ist er eigentlich so?“

„Wer?“

„Na, Allen! Ihr beide wart doch mal in einander verliebt.“

Hitomi dachte einige Augenblicke nach, ehe sie antwortete.

„Weißt du, ich glaube nicht, dass wir wirklich verliebt waren. Ich weiß nicht, wie Allen das sieht, aber ich schwärmte eigentlich nur von ihm. Ich meine, im Vergleich zu Van war er sehr höflich, vorzeigbar, elegant und überaus fürsorglich. Er war wie ein Anker, der verhinderte, dass der Strom der Ereignisse mich fortriss. Außerdem erinnerte er mich an jemanden vom Mond der Illusionen, für den ich ebenfalls etwas empfand.“

„Wenn du damals nicht zum Mond der Illusionen zurückgekehrt wärst, hättest du dann seinen Heiratsantrag angenommen?“, fragte ihre Freundin neugierig.

„Ich weiß es nicht.“, antwortete Hitomi ehrlich. „Damals, als er mich fragte…ich war so durcheinander. Ich konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen.“ Sie sah Merle lächelnd an. „Als ich zurück auf der Erde war, stellte ich fest, dass mein Schwarm eigentlich schon vergeben war…und dass meine Gefühle für ihn und Allen nicht echt waren. Bis ich merkte, dass ich Van wirklich und wahrhaftig liebe, verging noch mehr Zeit.“

„Aber du wusstest es bereits, als ihr beide Abschied nahmt. Wieso bist du nicht bei im geblieben?“, erkundigte sich Merle.

„Damals war ich erst vierzehn. In meiner Welt treffen Kinder in diesem Alter noch keine Entscheidungen, die ihr ganzes Leben bestimmen. Sie leben praktisch nur für die nächste Prüfung. Ich war noch nicht bereit, mich von diesem doch recht komfortablen Leben zu trennen.“

„Hier auf Gaia ist vierzehn für ein Mädchen ein normales Alter fürs Heiratet.“, merkte Merle an.

„So? Warum bist du noch nicht verheiratet? Du bist doch bestimmt schon fünfzehn.“, fragte ihre Gefährtin.

„Wer sagt, dass ich es nicht bin?“, erwiderte Merle. Hitomi glotzte sie an. „Das war nur ein Scherz. Für mich war einfach noch nicht der richtige dabei. Und da ich keine Eltern oder Verwandte habe, die mich vermitteln können, habe ich die Qual der Wahl.“ Sie hielt einen Moment lang inne und fuhr dann fort. „Eigentlich“, erzählte sie. „hatte ich bis jetzt überhaupt keine Wahl, denn es gab noch keine Anwärter.“

„Warum nicht?“

„Ich glaube, dass liegt an meinem Wesen. Tiermenschen sind nicht sonderlich beliebt, weißt du. Und dann ist da noch meine Arbeit…“

„Man hat dich doch immer sehr freundlich in Farnelia behandelt.“

„Ja, aber wenn es um die Erhaltung der Art geht, bleiben die Menschen gerne unter sich.“

„Und außer Van gibt es niemanden, der dir gefällt?“, erkundigte sich Hitomi.

„Nein.“, kam es wie aus der Pistole geschossen. Merle fühlte, wie der wissender Blick ihrer Freundin auf sie lastete und beschloss das Thema zu wechseln. „Lass uns mal nachsehen, was ich noch für dich habe.“, drängte sie und holte rotes, mit goldenen Fäden geschmücktes Gewand aus einem der Schränke. Dazu zauberte sie ein Dokument hervor, welches das offizielle Siegel von Farnelia trug.

„Dies ist ein Gewand, wie es unsere wenigen Abgesandten bei diplomatischen Anlässen tragen. Das Dokument weißt dich ebenfalls als Diplomatin aus. Zeige es nur, wenn du sicher bist, dass die Allianz nichts davon erfährt!“

„Aber Farnelia hat mit dem Volk des Drachengottes doch noch nicht einmal diplomatische Beziehungen aufgenommen. Wie soll ich ohne entsprechende Verträge dort als Diplomatin anerkannt werden.“, fragte Hitomi verwundert.

„Indem du ordentlich auf den Putz haust.“, schlug Merle grinsend vor. „Versprüh einfach ein bisschen Autorität.“

„Du hast gut reden.“, beschwerte sich Hitomi. „ Als ob das so einfach wäre.“

„Als zukünftige Königin von Farnelia solltest du das können.“, hielt Merle dagegen, woraufhin Hitomis Augen feucht wurden. „Hey, was ist denn los?“, erkundige sich Merle besorgt.

„Ach, nichts. Ich hatte nur fast schon den Gedanken aufgegeben, dass Van und ich eines Tages gemeinsam in Farnelia leben könnten.“

„Mach jetzt nicht schlapp! Ihr seid soweit gekommen. Du darfst das nicht aufgeben!“

„Ja, ich weiß.“, sagte Hitomi und rieb sich die Tränen aus den Augen. Jemand klopfte an die Tür. Merle wusste schon anhand der Aura, wer es war, und rief: „Herein!“ Sofort, nachdem Van die Tür geöffnet hatte, fiel sein Blick auf Hitomi und ihrem nur von dem dünnen Overall bedeckten Körper. Er pfiff begeistert.

„Gefällt es dir?“, fragte sie und drehte sich langsam um ihre eigene Achse.

„Wäre ich doch nur einer der Häscher, die dich verfolgen.“, wünschte er sich gaffend.

„Dann müsste ich dich ja töten.“, scherzte Merle.

„Dieser Anblick ist es auf jeden Fall wert.“, bekräftigte er. Sanft schlang er seine Arme um Hitomis zarten Körper und küsste sie leidenschaftlich. Merle gluckste.

„Ich lass euch Turteltauben besser allein.“, verabschiedete sie sich und schloss hinter sich die Tür. Van und Hitomi beachteten sie nicht. Stattdessen überließen sie sich ganz dem Tanz ihrer Zungen und ihren forschenden Händen. Keiner von beiden wusste, wie viel Zeit vergangen war, als sich ihre Lippen voneinander trennten um Luft zu holen. Fasziniert sahen sie in die kristallklaren Augen des Gegenübers.

„Komm mit mir!“, bat Van leise.

„Ich kann nicht. Das Kopfgeld…“, erwiderte Hitomi traurig.

„Natürlich kannst du.“

„Nein, dann bringe ich alle in Gefahr. Dich, Merle, Farnelia…“

„Dann lass uns irgendwo hingehen, wo uns niemand kennt! Wo es nur uns beide gibt.“, forderte er eindringlich, doch sie schüttelte mit dem Kopf.

„Wenn ich das tue, gebe ich der Stimme nach, die mir rät, nur an mich selbst zu denken. Außerdem…“, widersprach sie.

„Na und?“, sagte er. „Ständig sorgst du dich nur um andere. Du sollest jetzt mal an nur dich und mich denken.“

Entschlossen schob Hitomi Van von sich weg.

„Das darf ich nicht. Ich würde der Stimme nachgeben. Ich würde dem Verlangen nachgeben, alle anderen Stimmen zum Schweigen zu bringen.“

„Was meinst du damit?“, fragte er verwirrt.

„Ich kann sie hören! Die Gedanken der Menschen auf Gaia. Ich kann hören, wie sie leiden und vor Schmerzen schreien. Sie klagen mich an, rauben mir den Schlaf und lassen mich nicht zu Ruhe kommen.“, sagte Hitomi verzweifelt.

„Dann schirm dich doch ab! Ich kann dir zeigen, wie das geht.“, schlug Van vor.

„Du verstehst mich nicht. Trias hatte Recht. Ich könnte mit der Kraft meiner Gedanken einen Krieg heraufbeschwören, der alles Leben vernichtet. Jedes Mal, wenn ich mich abwende, wenn ich mir selbst sage, dass mich das Schicksal der Menschen von Gaia nicht interessiert, komme ich diesem letzten Schritt immer näher. Deshalb kann ich nicht mit dir kommen.“

„Aber du kannst dich auf dieses Luftschiff verdrücken.“, konterte er wütend.

„Alles, was ich weiß, ist, wie ich Leben zerstören könnte. Von deinem Volk möchte ich lernen, wie ich mit der Kraft meiner Gedanken den Menschen helfen kann. Wenn ich das weiß, kehre ich auch wieder zu dir zurück.“, begründete sie ihre Entscheidung. Van ergriff die Hand, mit der Hitomi über seine Wange strich und presste sie an sich.

„Ich weiß nicht, ob ich ohne dich zu Recht komme. Wenn du nicht bei mir bist…“

„Ich werde immer bei dir sein.“, erschallte Hitomis Stimme in seinem Kopf, obwohl sich ihre Lippen gar nicht bewegten. „Keine Macht und keine noch so große Distanz könnte uns jetzt noch voneinander trennen.“

„Hilfst du mir packen?“, fragte sie heiter.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Doena
2010-11-29T18:31:28+00:00 29.11.2010 19:31
hach wie schön *seufz*


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