Zum Inhalt der Seite

Wenn du die Welt nicht mehr kennst

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Kapitel 2 bis 10

talöle

da es mir auch bei dieser ff, wie bei ihr Geheimnis geht, gibt es nun mehrere Kapis zum lesen in einem großen Animexx Kapitel

viel Spaß damit
 

LG JT
 

Kapitel 2
 

Gegenwart

Gibbs streckte sich, soweit seine Glieder es zuließen und starrte anschließend wieder auf den Bildschirm. Seit sechs Monaten, seitdem sie von einen Tag auf den anderen einfach verschwunden war, versuchte der Special Agent seine Freundin, Kollegin und Vorgesetzte zu finden. Doch anscheinend hatte sie die Erde wortwörtlich verschluckt. Keine Kreditkartenabrechnungen oder sonstige Beweise, dass sie noch irgendwo am Leben war. Immer öfter fragte er sich, ob er überhaupt noch hoffen konnte, sie irgendwann lebend wieder zu finden oder ob er nicht schon längst nur noch nach ihrer Leiche suchte. Er rieb sich über das Gesicht und ließ den Kopf in den Nacken fallen. Wo steckte sie nur? Warum war sie einfach verschwunden, ohne eine Nachricht zu hinterlassen? Warum meldete sie sich nicht? Weil sie nicht konnte. Weil sie daran gehindert wurde. Vielleicht war sie entführt worden. Doch wer entführte den Direktor einer Bundesbehörde und forderte dann kein Lösegeld? Ihr ganzes Verschwinden war ein einziges Mysterium, wo es keinen Anfang und kein Ende gab. Er schloss laut seufzend die Augen und dachte an ihr Lächeln. Er vermisste es. Ihr Lächeln, wenn sie stritten, die Vertrautheit. Sie gehörte einfach dazu, so wie Tony, Abby oder Ducky. Sie gehörte zu den Personen, bei denen er sich geschworen hatte sie zu beschützen. Jenny, sein Team, Ducky und Hollis. Hollis Mann, ein Army Lieutenant Colonel, hatte sein Herz erobert und ihn zu einem wieder beziehungsfähigen Mann gemacht. Er konnte ihr Parfum schon riechen, als sie das Arbeitszimmer leise betrat. Sie näherte sich wie auf Samtpfoten und begann ihn sanft zu massieren, als sie hinter ihm stand. Er brummte leise, als Bestätigung, dass es ihm gefiel.

„Es ist Sonntag. Sonntag gehört mir.“, flüsterte sie an seinem Ohr und gab ihm einen Kuss auf dieses. Er lächelte und nickte leicht.

„Ich weiß, Hollis. Ich wollte nur sehen, ob es was Neues gibt.“, antwortete er und die ausgebildete Soldatin konnte die Wehmut in seiner Stimme hören. Sie wusste, dass das Verschwinden seiner Chefin dem Special Agent ziemlich an die Nieren ging. Die Zwei waren gut befreundet, hatten sogar vor Jahren mal eine heiße Affäre. Jethro hatte ihr erzählt, dass es ihm anfangs schwer gefallen war, ihr nicht wieder deutliche Avancen zu machen. Er hatte es bei Anspielungen belassen, auf die Jenny Shepard gerne eingegangen war. Aber mehr entwickelte sich zwischen ihnen nie wieder. Im Gegenteil schien ihre Beziehung nach seinem begrenzten Ausstieg eher schlechter geworden zu sein. Zumindest meinte Jethro, dass er das Gefühl hätte, dass sie ihm nicht mehr so vertraute wie früher. Ob es so war oder anders, konnte sie selbst nicht beurteilen. Ihr war nur aufgefallen, dass die Direktorin des NCIS sie anfangs nicht wirklich leiden konnte, ihr dann aber trotzdem ein Jobangebot machte. Trotzdem beließ es Jenny Shepard dabei, die Soldatin wenn möglich zu ignorieren und die Gespräche nur mit Jethro zu führen.

„Komm, fahr den PC runter.“, bat Hollis den Grauhaarigen, der sich vorbeugte und die nötigen Knöpfe betätigte. Sie warteten, bis der Bildschirm schwarz wurde und verließen das Arbeitszimmer. Hollis zog Jethro hinter sich her ins Wohnzimmer, wo sie sich auf die Couch sinken ließ und ihn ebenfalls zwang, sich zu setzen. Verliebt sah sie ihn an und mit einem leisen Seufzen zog er sie an sich, um ihr einen Kuss zu stehlen. Sonntags genossen sie die Zweisamkeit und verbrachten die Zeit meist im Bett mit Kuscheln. Manchmal machten sie auch einen Ausflug. Hollis kuschelte sich eng an ihn und genoss seine Streicheleinheit, während Jethro sie von oben herab betrachtete. Er hatte mit dieser Frau großes Glück und er hoffte inständig, dass sich dies niemals ändern würde. Schließlich hatte er schon viel Pech gehabt und nun würde er sein neu gewonnenes Glück nicht so einfach gehen lassen. Nach Shannon und zum Teil auch Jenny, war er das erste Mal wieder wirklich über beide Ohren verliebt.
 

Gespannt stand Tony auf dem Gang des Krankenhauses und wartete darauf, zu erfahren, wie es Jenny ging. Endlich nach sechs Monaten war sie aufgewacht und die Ärzte machten einen Checkup. Er freute sich schrecklich darüber, dass sie sich für das Leben entschieden hatte. Leider anscheinend nicht für ihres. Sie hatte ihn minutenlang vollkommen desorientiert angesehen und dann gefragt, wer er sei. Er hoffte, dass dieser Gedächtnisverlust nur zeitlich begrenzt sein würde. Wenn er daran dachte, dass er jetzt Gibbs und den anderen erklären musste, dass er die ganze Zeit gewusst hatte, wo Jenny sich befand, würde das schon genug Ärger geben. Doch wenn sie dann noch nicht mal wusste, wer die anderen waren. Er hätte sich selbst für seine Angst und Verschwiegenheit in Arsch beißen können.

„Tony.“ Er drehte sich um und entdeckte Jeanne, die zwar lächelte, doch nicht wirklich glücklich aussah. Langsam kam er zu ihr, sah sie an, schaute dann in das Zimmer, in dem Jenny leicht aufgerichtet im Bett saß und aus dem Fenster starrte. Jeanne folgte seinen Blick und atmete tief durch.

„Sie hat ihr Personengedächtnis verloren. Sie hat nicht nur dich nicht erkannt. Sie weiß auch nicht, wer sie selbst ist, wo sie wohnt, wie alt sie ist. Tut mir leid, dass ich dir nichts Besseres sagen kann, Schatz.“ Tony nickte und lächelte.

„Schon gut, Jeanne. Du kannst ja nichts dafür.“, meinte er leise und betrachtete seine eigentliche Chefin. Ihre Haare waren ein gutes Stück gewachsen und zeigten nun einen blonden Ansatz. Sie war etwas blass und ihr Blick schien sich irgendwie ins Nichts zu richten. Er versuchte sich vorzustellen, wie es für sie sein musste, nicht zu wissen, wer sie war. Doch das konnte man sich nicht vorstellen, wenn man es nicht selbst erlebte.

„Wird sie sich irgendwann erinnern?“

„Das kann man nicht sagen. Das ist bei jedem Menschen anders, Tony.“ Wieder nickte der Special Agent und fragte seine Freundin nur mit einem Blick, ob er zu ihr konnte. Jeanne nickte leicht und strich ihm mit einem Lächeln über den Arm, bevor sie wegging. Langsam ging Tony an die offene Tür und klopfte leicht. Jenny wand ihren Kopf zu ihm, blickte aber gleich wieder zum Fenster, was Tony so auffasste, dass es ihr egal ist, ob er eintrat oder nicht. Er nahm sich wieder seinen Stuhl, auf dem er tag täglich ausgeharrt hatte, und setzte sich neben das Bett. Er wollte ganz einfach da sein, falls sie ihn etwas fragen wollte. Er würde das Gespräch nicht beginnen, sich ihr nicht aufdrängen. Es vergingen bestimmt zwanzig Minuten, wo sich keiner der Beiden rührte und Tony machte sich schon bereit zu gehen. Er erhob sich, drückte stumm ihre Hand und ging langsam zur Tür.

„Die Ärztin meint, sie wissen, wie ich heiße.“, hörte er plötzlich doch ihre Stimme. Sie zitterte und er konnte die Angst spüren, etwas zu erfahren, dass sie nicht wissen wollte. Er drehte sich zu ihr und lächelte.

„Hat man das noch nicht gesagt?“ Sie schüttelte den Kopf und bedeutete ihm stumm, sich wieder zu ihr zu setzen. Ein weiteres Mal an diesem Tag ließ er sich in den Stuhl sinken.

„Du heißt Jenny, Jenny Shepard.“, lächelte er und sie nickte, wobei sie versuchte ein Lächeln auf ihre Lippen zu zaubern.

„Und du?“, wollte sie wissen.

„Anthony DiNozzo. Ich werde aber Tony genannt.“ Sein typisches Grinsen erhellte sein Gesicht, was nun endlich ein richtiges Lächeln auf Jennys Gesicht brachte. Sie schien zwar noch immer unsicher und auch etwas schüchtern, doch fasste sie wohl auch Vertrauen zu dem für sie unbekannten Mann.
 

Kapitel 3
 

Ziva saß bereits seit sechs Uhr an ihrem Schreibtisch und kontrollierte die letzten Berichte auf Schreib- und Grammatikfehler. Die junge Frau hielt es die letzte Zeit nicht lange im Bett. Ihre Schlafzeit lag bei höchstens vier Stunden und trotzdem war sie voller Elan. Es war, als würde sie jemand ständig unter Strom stellen. Wenn sie ehrlich war, ging ihr das allerdings ziemlich gegen den Strich. Sie seufzte und unterschrieb gerade den letzten Bericht, als ihr Bildschirmschoner ansprang. Ein trauriges Lächeln legte sich auf ihre Lippen, denn es war ein Photo von Jenny und ihr bei einem Auftrag in Europa zu sehen. Bis zum Verschwinden der Freundin war es ihr Lieblingsbild gewesen. Beide lächelten und ihre Haare standen wirr vom Kopf ab. Sie erinnerte sich, dass sie ein Hotelzimmer geteilt hatten und ein Kollege, mit dem sie sich gut verstanden und der leider später erschossen wurde, sie morgens geweckt hatte und meinte, sie sähen so zum Lachen aus, dass er unbedingt ein Photo machen müsste. Nun, wo man von Jenny keine Spur fand, machte sie das Bild irgendwie melancholisch. Sie verstand einfach nicht, wieso ihre Freundin einfach verschwunden war. Vielleicht hatte sie es etwas mit der Jagd nach Grenouille übertrieben und seine Leute hatten sie aus dem Weg geräumt. Aber wenn es so wäre, würde dieser Typ vom CIA, Trent Kort, doch sicher davon wissen und ihnen Bescheid geben. Zumindest schätzte Ziva ihn so ein. Abermals seufzte sie. Sie hatte ein paar Freunde beim Mossad gebeten, die Augen offen zu halten, falls Jenny auf die Schnapsidee gekommen war, sich auch bei Grenouille einzuschleichen. Doch bisher fehlte jegliche Spur von ihr. Ziva spürte wie ihr mal wieder Tränen in die Augen stiegen. Sie vermisste ihre Freundin und hoffte inständig, dass sie nicht nach einer Leiche suchten. Sie wünschte sich, dass Jen irgendwo saß und sich Gedanken darüber machte, wie sie wieder auftauchen und sich entschuldigen konnte. Denn eine Entschuldigung war dringend nötig, wenn sie zurückkam. Als sie das altbekannte Pling des Fahrstuhls hörte, wischte sie schnell über ihr Gesicht und lächelte den Neuankömmling freundlich zu.

„Morgen Boss. Hattest du ein gutes Wochenende?“, begrüßte sie den Grauhaarigen, der ihr mit einem Hauch von einem Lächeln zu nickte und zu seinem Schreibtisch ging.

„Morgen Ziva. Ja, hatte ich und du?“ Es waren eigentlich nur Plattitüden, die sie austauschten, um nicht auf das Thema zu kommen, was insgeheim jeden rund um die Uhr beschäftigte.

„Es geht. Bin halt allein.“, grinste sie schief und packte die Berichte zusammen. Gibbs nickte schwach und bedachte sie mit einem mitleidigen Blick. Er wusste, dass es sie nicht störte allein zu sein. Doch wusste er auch, dass Ziva am Wochenende öfters al etwas mit Jenny unternommen hatte. Sein Blick fiel auf ihren Bildschirm und ein wehmütiges Lächeln erfasste seine Lippen, als er das Bild sah. Ziva bemerkte dies war, aber da jedem bekannt war, dass sie dieses Photo als Bildschirmschoner gewählt hatte, machte sie keine Anstalten es zu entfernen. Stumm sahen sie sich an und jedem war bewusst, was der andere gerade dachte. Was war passiert, dass sie nicht mehr von ihr mit Aufträgen betraut wurden oder einen Rüffel bekamen? Doch aussprachen tat es keiner. Den ersten Monat hatten sie über fast nichts anderes gesprochen. Haben alle ihre Mittel ausgeschöpft, um auch nur die kleinste Spur von ihr zu finden. Ziva und Tim hatten Jennys Haus regerecht auf den Kopf gestellt, Abby die Spuren ausgewertet, Gibbs war mit Cynthia alle Termine der letzten Wochen durchgegangen und hatte mit Bekannten telefoniert, ob die wüssten, wo Jenny abgeblieben war. Und Tony hatte sich zur Aufgabe gemacht, die Krankenhäuser und Leichenhallen abzutelefonieren. Sie blieb vom Erdboden verschluckt. Irgendwann einigten sie sich wortlos darauf, das Thema ruhen zu lassen. Nicht mal, weil sie es wollten, sondern weil es ihnen der neue Direktor verbat. Deputy Direktor Collin Pollack war wohl der unsympathischste Mensch, den sie alle je begegnet waren. Er war vollkommen unnahbar und sah immer auf jeden von oben herab. Wenn das Thema auf Jenny kam, verteilt er regelrechte Giftblicke. Tim hatte irgendwann mal mitbekommen, dass Pollack glaubte, dass Jenny auf die andere Seite gewechselt war und nun die USA verriet. Wie er auf diese Idee kam, konnte sich niemand vorstellen, denn jeder wusste, dass Jennifer Shepard ihren Job über alles liebte und niemals ohne guten Grund einfach gehen würde. Aber wie auch immer, Jenny war das große Tabuthema im NCIS. Offen durfte nicht über sie gesprochen werden, was niemanden davon abhielt, doch mal in Erinnerungen zu schwelgen oder wie Gibbs, die Suche weiterzuführen.

„Morgen!“ Tim ging lächelnd an Zivas Schreibtisch vorbei, nickte Gibbs zu und ließ sich in seinen Stuhl fallen. Er spürte die Aura sofort. Es herrschte immer eine gewisse Spannung in der Luft, wenn das Thema auch nur in den Köpfen existierte. Er tauschte stumme Blicke mit seinen Kollegen und schaltete dann seinen PC an. Tim gehörte zu den meisten Menschen im NCIS, die nicht so ein enges Verhältnis zu der Direktorin gehabt hatten. Gibbs war früher ihr Mentor gewesen und das Gerücht, sie hätten damals etwas miteinander gehabt, hielt sich auch nach ihrem Verschwinden hartnäckig. Ziva arbeitete seit dem elften September mit ihr zusammen und hatte eine tiefe Freundschaft zu ihr aufgebaut. Tony war einer der wenigen gewesen, die sie in den Geheimauftrag ‚LaGrenouille’ eingeweiht hatte. Ducky kannte sie so lange wie Gibbs und war wohl, wie für die meisten von ihnen, auch für sie der seelische Mülleimer gewesen. Eigentlich verband nur Abby und ihn zu wenig mit ihr, als dass sie sagen konnten, sie war unsere Freundin, wir vermissen sie. Doch genauso war es. Er und Abby vermissten die Direktorin genauso wie Gibbs, Ziva und Tony. Dazu waren sie halt ein eingespieltes Team. Einmal, zum Anfang, hatte Tim Abby sogar weinen sehen, weil die Goth in den ‚Beweismitteln’ einfach keine brauchbare Spur finden konnte. Sicher es waren Tränen der Wut gewesen, doch auch ein bisschen Traurigkeit.

„Es ist zehn nach acht. Wo steckt DiNozzo?“, polterte plötzlich Gibbs und holte den MIT-Absolventen aus seinen Gedanken. Er und Ziva zuckten nur unwissend mit den Schultern. Tony war seit dem Verschwinden der Direktorin auch so eine Nummer für sich. Irgendetwas verheimlichte er, doch was dies war, bemühte Tim sich nicht, heraus zu finden. Wenn der Halbitaliener darüber sprechen wollte, hätte er es wohl schon laut in die Welt posaunt.
 

Mit schnellen Schritten ging Tony den Gang des Krankenhauses entlang und steuerte auf das ihm allzu bekannte Zimmer zu. Er hoffte, dass Jenny schon wach war, denn er hatte es verdammt eilig. Bereits jetzt war er viel zu spät dran und Gibbs würde ihn sicher den Kopf abreißen. Nach einem kurzen Klopfen öffnete er die Tür und entdeckte Jenny aufrecht im Bett. Sie lächelte ihn schwach an, als sie ihn erkannte und er kam näher an sie heran.

„Morgen. Ich habe dir etwas mitgebracht.“, lächelte er und zog sich schnell den Stuhl heran, um sich einen Moment zu ihr zu setzen.

„Morgen. Was denn?“ Ihre Stimme war dünn, was Tony einen regelrechten Stich ins Herz versetzte. Diese ansonsten so starke Frau hier sitzen zu sehen, ohne Erinnerungen an ihr Leben und so schwach, war wahrlich eine Qual für den Specialagent. Er nahm einen Umschlag und legte ihn auf ihre Beine.

„Das sind Photos. Was ich halt gestern so finden konnte. Ich weiß, dass du die Gesichter kaum erkennen wirst, aber vielleicht ist da ja doch eine Idee in deinem Kopf. Ich muss jetzt zur Arbeit, aber heute Mittag komm ich wieder vorbei.“, erklärte er kurz, bevor er ihre hand drückte und wieder aufstand, nachdem sie genickt hatte. Er seufzte leise, als er das Zimmer verließ und sich beeilte zurück zu seinem Auto zu kommen. Jenny starrte den Umschlag vor sich lange an. Mit zitternden Fingern öffnete sie ihn nach Minuten und schüttete die Bilder auf ihr Bett.
 

Kapitel 4
 

Vollkommen durcheinander lagen mindestens zwanzig Photos vor ihr, alle mit dem Bild nach unten. Sie wusste nicht, ob sie sich diese wirkliche ansehen sollte. Was, wenn ihr nicht gefiel, was sie sehen würde. Das einzige, was sie bisher über sich wusste, war, dass sie Jenny Shepard hieß, was auch nicht hundert Prozent stimmte, wie sie am Vortag noch auf ihrem Krankenblatt gesehen hatte. Ihr vollständiger Name war Jennifer Shepard. Vermutlich wurde sie von allen nur Jenny genannt, weshalb Tony ihr diesen Namen genannt hatte. Vielleicht wusste er aber auch gar nicht, dass sie Jennifer und nicht nur Jenny hieß. Sie spürte, dass sie diesem Fremden vertrauen konnte. Trotzdem hatte sie Bedenken, dass ihr Gefühl sie täuschte. Schließlich konnte er sonst wer sein, zumindest für sie. Manche Menschen wünschten sich, nichts mehr von ihrem Leben zu wissen. Doch hatten sie eine Ahnung, wie das überhaupt war? Sie empfand es als furchtbar. Sie sah in den Spiegel und eine vollkommen Fremde sah sie an. Sie sprach mit Tony, der so vertraut mit ihr umging, und sie konnte sich nicht erinnern, warum es diese Vertrautheit gab. Hatten er und sie mal etwas miteinander? Waren sie nur gute Freunde oder Arbeitskollegen? Er war so unglaublich fremd, dass es ihr die Tränen der Verzweiflung in die Augen trieb. Schnell wischte sie über ihr Gesicht. Sie wollte wissen, wer sie war und was sie getan hatte, bevor sie hier erwachte. Mit zitternden Fingern griff sie nach dem obersten Photo und hob es langsam hoch. Bevor sie es umdrehte, atmete sie noch einmal tief ein und betrachtete es dann. Es zeigte eine junge Frau mit dunklen Locken und fast schwarzen Augen, die freundlich, aber irgendwie kühl in die Kamera lächelte. Eine Weile starrte sie es an, doch nichts rührte sich in ihrem Innern, also legte sie es beiseite und nahm das nächste Bild. Diesmal war ein Mann zu sehen. Er hatte schwarze Haare und ebenso dunkle Augen, wie die Frau auf dem vorigen Bild und auch wenn sie nicht wusste warum, hatte Jenny das Gefühl, dass diese Zwei auf irgendeine Weise zusammengehörten. Deshalb legte sie das Bild zu dem anderen, bevor sie sich das Nächste holte. Darauf erkannte sie Tony. Er grinste blöd und seine Haare standen zu allen Richtungen ab. Irgendwie sah es so aus, als würde er gerade aus dem Bett kommen und Jenny musste ein Lachen unterdrücken. Sie griff nach einem weiteren Photo. Es war ein Gruppenbild. Die Frau von dem ersten Photo, Tony, sie selbst und vier Weitere lächelten in die Kamera. Sie sahen vertraut aus und glücklich. Eine eigenartige Traurigkeit erfasste sie, um so länger sie sich das Bild und jeden einzelnen ansah. Ob das alles ihre Freunde waren? Sie konnte es nicht sagen. Schnell legte sie es beiseite, um das Nächste zu nehmen. Es waren zwei Leute zu sehen, wie sie sich anscheinend gegenseitig ärgerten. Ein junger Mann mit hellen Haaren und ein Frau mit schwarzen Rattenschwänzen und dem Outfit eines Goths. Irgendwie gefiel Jenny das Bild. Es strahlte so viel Fröhlichkeit aus. Die Beiden lachten, trotz der anscheinend feindlichen Situation. Man merkte, dass sie nur Spaß machten. Mit einem Lächeln legte Jenny dieses Photo separat. Auf dem Bild, das sie sich nun nahm, war ein älterer Herr mit Brille zu sehen. Er strahlte eine angenehme Ruhe aus und Jenny packte das Gefühl, dass er wohl zu den Menschen gehört haben könnte, mit denen sie gerne gesprochen hatte. Als sie es weglegte und nach dem nächsten Photo griff, erfasste sie bereits ein undefinierbares Gefühl, als sie es nur berührte. Sie war plötzlich nervös und drehte es nur langsam um. Es zeigte einen Mann mit graublauen Augen und grauen Haaren. Sein Gesicht wirkte hart, seine Augen streng, doch sein leichtes Lächeln war irgendwie sehr warm. Jenny spürte eine eigenartige Vertrautheit zu diesem Mann. Es gab Gedankenfetzen, die zu schnell erschienen und verschwanden, als dass sie sie hätte fassen können. Doch sie bewirkten eine wilde Mischung aus Gefühlen. Vollkommen von diesen übermannt, wischte sie die gesamten Photos vom Bett und rollte sich in ihrer Decke zusammen. Sie wollte sich erinnern, wollte wissen, wer diese Menschen waren und was sie mit ihnen verband. Sie fühlte sich plötzlich schrecklich elend, weil sie niemanden erkannte. Leise begann sie zu schluchzen, während sich heiße Tränen einen Weg über ihre Wangen suchten.
 

Unentschlossen stand Jeanne vor dem Telefon und starrte es nachdenklich an. Sie wusste nicht was sie tun sollte. Tony kümmerte sich gut um diese Jenny. Doch vielleicht war es doch besser, wenn sie richtige Hilfe bekam. Nur was war die richtige Hilfe für diese Frau. Die, die Tony ihr bat oder die andere Möglichkeit, die sie kannte. Mit einem Seufzen nahm sie den Hörer ab und wählte die so vertraute Nummer.

„Ja?“, erklang am anderen Ende nach zweimaligen Klingeln eine angenehme tiefe Männerstimme.

„Dad. Jenny Shepard ist aufgewacht.“, meinte sie leise. Noch immer war sie sich nicht sicher, ob sie das Richtige tat, in dem sie seiner Bitte folgte und ihm Bescheid gab.

„Wirklich. Das ist wunderbar. Ich werde morgen jemanden vorbei schicken, der sie abholt.“

„Ich weiß nicht, ob das so gut ist. Es gibt hier jemanden, der sich gut um sie kümmert.“, widersprach sie, wobei sie bereits vorher wusste, dass ihr Vater dieses Argument nicht interessieren würde. Er war ein eigensinniger Mensch und ein knallharter Geschäftsmann.

„Und wer sollte ihr besser helfen können, als ich, der sie bereits als Kind kannte?“, fragte er jedoch mit leichter Belustigung in der Stimme.

„Mein Freund. Er meint, sie kennen sich gut. Er hat ihr heute Morgen sogar Photos gebracht. Ich denke, er würde es schaffen, sie wieder gut einzugliedern.“, gestand Jeanne und war darauf vorbereitet von ihrem Vater in ihre Schranken verwiesen zu werden. Eigentlich beunruhigte sie sein starkes Interesse an dieser Frau. Normal zeigte er dies nur, wenn es um seine Geschäfte ging. Selbst wenn er sie schon solange zu kennen schien, was hatte er vor? Warum hatte sie das Gefühl, ihm in dieser Sache nicht vertrauen zu können?

„Sie kann die Photos ja mitnehmen. Ich denke, es ist wohl erstmal wichtig, wenn sie etwas über ihre Vergangenheit erfährt, als von der Gegenwart. Ihr Gedächtnis muss erst wieder aufgebaut werden. Morgen kommt jemand und holt sie.“ Damit war das Thema erledigt. Ihr Vater hatte aufgelegt. Wie sollte sie es nur Tony erklären, wenn seine Bekannte plötzlich spurlos verschwunden ist? Jeanne ließ sich auf den Stuhl sinken, der neben dem Tisch stand, auf dem sich das Telefon befand. Sie hatte einen Fehler gemacht, vermutlich den größten ihres Lebens. Wenn Tony das erfuhr, würde sie ihn wahrscheinlich verlieren. Aber das wollte sie nicht, nie im Leben. Sie entschied sich zu schweigen. Jenny Shepard würde morgen verschwinden und sie würde so tun, als hätte sie nichts mitbekommen. Das war die beste Lösung.
 

Völlig außer Atem hechtete Tony aus dem Fahrstuhl und zu seinem Platz.

„Morgen Boss. Entschuldige bitte die Verspätung.“, japste er und stellte seinen Rucksack ab, bevor er dem Teamleiter seine Aufmerksamkeit schenkte. Dieser funkelte ihn bedrohlich an.

„Ich habe eine wirklich gute Erklärung.“, sah er ihn um ‚Entschuldigung angenommen’ haschend an.

„Dann lass mal hören.“, brummte der Grauhaarige und Tony befürchtete, dass dieser ihm gleich an die Kehle springen würde.

„Jenny ist gestern aufgewacht. Leider hat sie ihr Personengedächtnis verloren, weshalb ich ihr heute Morgen noch Photos gebracht habe, in der Hoffnung sie helfen ihr, sich zu erinnern.“, erklärte der Halbitaliener und bevor er den Satz überhaupt zu Ende gesprochen hatte, merkte er, dass er sich gerade in eine noch größere Scheiße geritten hatte. Sowohl Gibbs, als auch Ziva und Bambino sahen ihn mit aufgerissenen Augen an und im Gesicht seines Bosses konnte er sehen, wie sich pure Wut entwickelte. Eigentlich konnte er mit seinem Leben jetzt abschließen. So schnell kam er da jetzt nicht lebend raus.
 

Kapitel 5
 

Wenn Blicke töten könnten, würde Tony jetzt tausend Tode sterben. Gibbs und Ziva funkelten ihn derart böse an, dass er am liebsten im Boden versinken würde. Bambino schaute seinen Kollegen mit solchem Entsetzen und Abscheu ihm Gesicht an, dass Tony an seinem gesunden Menschenverstand zweifelte. Er wusste, dass er einen Fehler begangen hatte, indem er ihnen verschwieg, dass er wusste, was mit Jenny war. Und dass es ein Fehler war, bekam er nun voll zu spüren. Er war in der Vertrauensreihe gerade um unendlich viele Stufen nach unten gerutscht und seine Kollegen würden es ihm immer vorhalten.

„Du wusstest die ganze Zeit, wo die Direktorin ist?“ Gibbs hatte wahrlich Mühe seine Stimme unter Kontrolle zu halten. Tony atmete tief ein. Er musste jetzt die Nerven behalten. Am besten er spielte weiter den Unwissenden. Er fing an zu lachen und für einen Moment sahen ihn seine Kollegen irritiert an. Gibbs schien allerdings, nach dem er sich gefasst hatte, nur noch wütender zu werden.

„Das ist ein Missverständnis, Boss. Meine Bekannte, die im Koma lag, heißt auch Jenny. Deswegen habe ich bisher nie ihren Namen gesagt. Weil ich wusste, dass ihr so reagiert.“, erklärte er und hoffte inständig, dass sie es ihm abkaufen würden. Gibbs’ Augen verengten sich zu Schlitzen, die den Specialagent bis auf die Knochen durchleuchteten, während ihr Besitzer ungehalten schnaufte. Ziva atmete aus und Tony konnte sehen, wie enttäuscht sie nun doch war. Die Israelin ließ sich zurück in ihren Stuhl fallen und starrte zurück auf ihren Bildschirm. Der Halbitaliener wusste, dass sich dort ein Photo von ihr und Jenny befand und er hatte das Bedürfnis, sich mal wieder in den Arsch zu treten. Auch McGee machte sich betrübt wieder an seine Arbeit.

„Tut mir leid, Leute.“, meinte Tony leise und setzte sich auf seinen Stuhl. Gibbs schoss ihm noch einen tödlichen Blick zu, bevor er aufstand und im Fahrstuhl verschwand. Das hätte er ja mal wieder toll gemacht. Die Laune war mal wieder auf dem Tiefpunkt und wenn Tony daran dachte, was passierte, wenn sie erfuhren, dass er sie zweimal angelogen hatte, wurde ihm ganz schlecht. Was war denn nur mit ihm los, dass er es nicht schaffte, ihnen die Wahrheit zu sagen? So schwer konnte das ja kaum sein. Aber irgendetwas hinderte ihn daran. Vielleicht war es das Bedürfnis seine Kollegen zu schützen. Doch wovor sollte er sie denn in diesem Fall beschützen? Am Anfang eventuell davor, dass sie Jenny so sahen, so schwach, so verletzt. Doch nun gab es keinen Grund mehr dazu, ihnen nicht zu erzählen, was passiert war und wo Jenny sich befand. Oder vielleicht doch? Weil sie nicht die geringste Ahnung hatte, wer sie war, wer die Leute waren, die sie dann besuchen würden, wenn er die Wahrheit erzählte. Wie er es auch schob und wendete, es lief zwangsläufig auf die Erkenntnis heraus, dass er wieder einen Fehler gemacht hatte.
 

Mit gesenktem Blick betrat Gibbs das Reich seines besten Freundes. Ducky stand über eine Leiche gebeugt und redete so wie immer mit ihr. Ein kurzes Lächeln huschte Gibbs bei dem Anblick über die Lippen, bevor sein Geicht wieder einfror und er sich kurz räusperte. Ducky richtete sich auf und sah zu seinem langjährigen Freund. Wieder einmal musste Gibbs feststellen, dass auch der Pathologe immer älter wurde. In seinem Gesicht wurden die Falten von Tag zu Tag tiefer und das lag nicht nur an der anstrengenden Arbeit, die dem alten Mann ja den meisten Spaß bereitete. Vor einigen Wochen war die Mutter des Mannes gestorben und dies schien dem armen Freund gar nicht zu bekommen. Gibbs sorgte sich um ihn. Irgendwie fand er im Moment nur in Hollis einen Grund wirklich ehrlich lächeln zu können. Alles andere um ihn herum brachte nur tiefe Sorgenfalten in sein Gesicht.

„Was kann ich für dich tun, Jethro?“, erkundigte sich der Pathologe mit einem Anflug eines Lächelns. Dass seine Mutter tot war, war nicht das Einzige, was ihm zu schaffen machte. Auch er dachte über die Möglichkeiten nach, die es gab, dass Jennifer Shepard nicht irgendwann auf einem seiner Tische landete. Immerhin war die Direktorin auch für ihn eine gute Bekannte und, das wollte er nicht zu sagen vermögen, vielleicht auch eine gute Freundin.

„Nur reden.“, meinte Gibbs mit rauer Stimme und Ducky bedeutete ihm, sich auf einen der Stühle zu setzen. Gibbs tat dies mit einem Seufzen und Ducky kam zu ihm, nachdem er sich die Hände gewaschen hatte. Eine Weile sahen sich die Freunde nur stumm an.

„Ich hätte eben fast Tony umgebracht.“, meinte der alternde Agent und Duckys Augen weiteten sich erschrocken.

„Er meinte, Jenny wäre aufgewacht.“

„Jenny? Er weiß, wo sie ist?“, fragte Ducky mit ehrlicher Überraschung in der Stimme, bevor auch sein Blick sich etwas verfinsterte. Gibbs seufzte tief und schüttelte den Kopf.

„Nein. Seine Freundin, die im Koma liegt, lag, heißt zufällig auch Jenny.“, erklärte Gibbs, während er auf einen imaginären Punkt auf den Boden starrte. Ducky nickte verstehend. Plötzlich war da ein Hoffnungsschimmer und dann stellte er sich doch als nicht existent heraus. Der Pathologe fragte sich, warum das Verschwinden dieser Frau der versammelte Mannschaft so zu schaffen machen konnte. Vielleicht weil sie der erste Direktor des NCIS war, mit dem man auch mal persönlich reden konnte. Sie war einfach greifbarer, als die bisherigen. Wesentlich greifbarer als der Neue, der sich als regelrechtes Ekel herausgestellt hatte. Wie auch immer, es machte alle fertig und brachte sie an den Rand eines Nervenzusammenbruchs. Mitfühlend legte Ducky eine Hand auf Gibbs’ Schulter.

„Das wird schon. Wir finden sie.“, versuchte er ihn aufzumuntern.

„Ja. Aber wenn wird sie wohl tot sein. Sonst hätte sie sich doch schon längst gemeldet.“, meinte Gibbs mit verbitterter Stimme. Der Senioragent stand auf und verließ das Reich des Pathologen. Dieser sah ihm seufzend hinterher. Wie sehr er das Gegenteil erhoffte, so musste er doch zugeben, dass Jethro wohl Recht behalten würde. Die Chancen, die schöne rothaarige Frau lebend wieder zu sehen, standen nicht sehr gut. Was war ihr nur zugestoßen, dass sie spurlos verschwand und sich, wenn es ihr gut gehen sollte, bei niemandem meldete. Denn dass sie dies tun würde, dem war sich Ducky ganz sicher. Er wusste, dass Jenny ein verantwortungsvoller Mensch war, der wusste, was er seinen Freunden bedeutete und dass sie sich um sie sorgen würden.
 

Kapitel 6
 

Noch immer lagen die Photos auf dem Boden verstreut, als Tony mittags das Krankenzimmer von Jenny betrat. Sie selbst saß im Bett und starrte anscheinend vollkommen Gedanken verloren aus dem Fenster. Es regnete und in etwa so sah es auch in ihrem Gesicht aus. Auch wenn sie nun nicht mehr weinte, konnte der Specialagent die Tränenspuren auf ihren Wangen sehen. Ihre Augen waren noch immer rot. Mit einem leisen Seufzen ging er zum Bett und sammelte die darum liegenden Photos ein und tat sie zurück in den Umschlag, welchen er auf ihren Nachttisch legte. Dann setzte er sich leise auf den Stuhl. Er sah sie mitleidig an. Er konnte sich nicht vorstellen, wie sie sich fühlen musste. Ihr ganzes Leben fehlte, alle Erlebnisse, Verwandte, Freunde, Kollegen. Sie musste sich wirklich schrecklich fühlen. Tony kam sich wie ein Idiot vor. Vielleicht hätte er ihr erstmal etwas erzählen sollen, bevor er ihr Photos von Menschen bringt, die sie sowieso nicht erkennt. Vorsichtig griff er nach ihrer Hand, strich sanft mit den Fingern drüber. Doch sie zuckte nicht mal. Von ihrer Seite kam keinerlei Reaktion auf seine Anwesenheit. Er hatte fast das Gefühl, als würde sie wieder im Koma liegen. Diese rein einseitige Bewegung musste er sechs Monate aushalten und nun schien sie wieder in die Schwebe verfallen zu sein. Nur diesmal brauchte sie sich nicht zwischen Leben und Tod zu entscheiden. Dieses Mal schien es viel schwieriger. Nun erstreckte sich die Entscheidung nur auf das Leben. Ob sie ihr Leben wieder haben wollte oder ein neues startete, das alte einfach hinter sich ließ und keinen Gedanken daran verschwendete. Tony konnte verstehen, dass sie vermutlich Angst hatte, Dinge zu erfahren, die zu schmerzhaft waren, als das man sich daran erinnern wollte. Zärtlich drückte er ihre Hand. Wie auch immer sie sich entscheiden mochte, er nahm sich vor, für sie da zu sein. Denn einen Punkt, wo sie halt fand, würde sie brauchen und vielleicht kam ihr Gedächtnis ja von ganz allein wieder, ohne dass sie etwas dafür tun musste.
 

Abby und Ziva saßen in einem kleinen Café nicht weit des Hauptquartiers. Seit einiger Zeit gingen sie öfters mittags zusammen essen. Ab und zu wurden sie auch von McGee begleitet, wenn dieser nicht die Zeit nutzte, um an seinem neuen Buch zu schreiben. Seit dem Verschwinden der Direktorin waren sich die zwei Frauen näher gekommen und konnten sich inzwischen wohl gute Freunde nennen. Es war schon eigenartig, dass das Verschwinden einer gemeinsamen Bekannten einander so nahe bringen konnte. Sie redeten über alles, über Gott und die Welt, über ihr Liebesleben oder regten sich über einen der Herren auf. Im Moment regte besonders Tony und seine ewige Geheimnistuerei sie dazu an, sich über ihn zu beschweren. Nicht nur, dass er anscheinend eine Freundin hatte, von der er niemanden zu erzählen vermochte, nein es gab auch eine Frau in seinem Leben, die ebenfalls Jenny hieß und seit Monaten im Koma gelegen hatte. Irgendwie kam es den Frauen doch sehr spanisch vor, wie er aus seinem Liebesleben plötzlich ein so großes Geheimnis flocht.

„Ich weiß nicht. Diese Euphorie, als er heute Morgen meinte, Jenny sei aufgewacht. Sie hätte gepasst, wenn es unsere gewesen wäre. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass er Tag für Tag zu einer Frau ins Krankenhaus geht, von der er noch nie erzählt hat. Von seiner ominösen Freundin mal ganz zu schweigen.“, meinte Ziva nachdenklich und nippte an ihrem Glas Cola. Abby zog die Gabel aus dem Mund und sah ihr Gegenüber ebenso nachdenklich an. Sie wusste, was die Israelin meinte. Früher bereitete es dem Halbitaliener eine riesige Freude mit seiner neusten Flamme anzugeben. Doch seit einigen Monaten schien er ein Buch mit Sieben Siegeln zu sein.

„Du denkst, er lügt? Dass es sich doch um die Direktorin handelt, die er die letzten Monate täglich im Krankenhaus besucht hat?“ Wieder schob die Goth eine Gabel mit Salat in ihren Mund und wartete die Antwort von Ziva ab. Diese zuckte mit den Schultern und atmete tief ein.

„Ich weiß es nicht. Ich hätte auch keine Idee, warum er uns das verheimlicht haben sollte.“, brummte sie und aß ihrerseits etwas von ihrem Salat. Es war wirklich eine verzwickte Situation, die einfach niemanden gefallen und noch weniger akzeptieren wollte. Jeder hoffte auf eine Lösung, doch je mehr Tage vergingen so unwahrscheinlicher schien es, dass es ein Happyend dieser Sache geben würde.

„Na ja, wenn es sich wirklich um die Direktorin handelt und sie sechs Monate im Koma gelegen hat, wollte Tony vielleicht einfach nicht, dass wir sie so sehen.“, meinte Abigail und zupfte an ihren Zöpfen, doch Ziva sah sie zweifelnd an.

„Das erklärt aber nicht, warum er uns nicht wenigstens jetzt die Wahrheit sagt. Selbst wenn sie ihr Gedächtnis verloren hat.“ Abby seufzte vernehmlich und die zwei Frauen sahen einander traurig und erschöpft an. Alles, was sie hatten waren Spekulationen, die sie nicht beweisen konnten, solange sie Tony nicht zur Rede stellten. Doch so wie dieser momentan drauf war, würde er es ihnen nicht mal sagen, wenn sein Leben davon abhinge. Geheimnisse gehörten irgendwie inzwischen zum Alltag des Teams. So wussten sie zum Beispiel lange Zeit nicht, dass etwas zwischen Gibbs und Colonel Mann lief, wobei es wohl kaum zu übersehen war.
 

Noch immer strich Tony sanft über Jens Hände, doch ihr Blick blieb weiter stur nach draußen gerichtet. Irgendwie fühlte er sich mit jeder Minute mehr fehl am Platz. Sie schien ihn gar nicht bei sich haben zu wollen und wenn er überlegte, wie er sich am Morgen seinen Kollegen gegenüber verhalten hatte, so war er doch sehr allein. Wenn er es ihnen erzählt hätte, auch wenn es dafür mächtigen Ärger gegeben hätte, so würde er jetzt wenigstens Unterstützung haben und nicht alleine mit dieser verzweifelnden Situation zu Recht kommen müssen.

„Du hast gesagt, ich heiße Jenny. Auf meinem Krankenblatt steht aber Jennifer.“, ertönte mit einem Mal doch ihre Stimme. Erschrocken zuckte der Halbitaliener zusammen und hob den Kopf. Sie schaute ihn nicht an, aber er konnte die Zweifel in ihrem Gesicht erkennen.

„Ich weiß. Wir nennen dich aber alle nur Jenny oder Jen.“ Tonys Stimme war leise und mitfühlend. Er wollte, dass sie ihm weiter vertrauen konnte, ohne Zweifel hegen zu müssen. Langsam wand sie den Kopf zu ihm und er musste erschrocken feststellen, dass sie irgendwie schlecht aussah. Wenn er sie so betrachtete, kam er zu dem Schluss, dass sie wohl den ganzen Vormittag geweint hatte. Diese Tatsache versetzte ihm einen Stich ins Herz. Er hatte ihr die Photos gebracht, um ihr zu helfen und erreichte wohl das ganze Gegenteil.

„So wurdest du mir auch vorgestellt. Director Jenny Shepard. Ich glaube, niemand nennt dich Jennifer, nicht mal Gibbs oder Ducky.“, sprach er weiter und setzte ein leichtes Lächeln auf die Lippen, das sie mit einem schwachen Nicken beantwortete.

„Erzähl mir von den Leuten auf den Photos.“ Sie streckte die Hand aus und holte den Umschlag auf ihren Schoß, wobei sie ihn wieder ausschüttete. Tony nickte und schaute etwas zwischen den Bildern herum, bevor er das Gruppenbild nahm.

„Also erst mal solltest du wissen, dass wir alle für den NCIS arbeiten und du bist unsere Direktorin.“ Jennys Augenbrauen zogen sich in die Höhe. Sie hatte weder eine Ahnung, was der NCIS war, noch konnte sie glauben, dass sie diese Sache leitete. Tony schien zu wissen, wo ihr Problem lag und grinste sein typisches DiNozzo-Grinsen.

„NCIS – Naval Criminal Investigative Service.“

„Wir arbeiten für die Navy? Und ich bin die Chefin?“ Noch immer sah die schöne Rothaarige ihr Gegenüber ungläubig staunend an.

„Ja. Wir lösen Fälle, bei denen Navyangehörige zu schaden gekommen sind. Du diskutierst dann gerne mal mit dem Direktor des FBI über die Zuständigkeit oder ähnliches.“, meinte er mit einem leicht ironischen Unterton in der Stimme, der Jen ein leichtes Lächeln auf die Lippen lockte.

„Das Team, in dem ich bin, besteht aus Leroy Jethro Gibbs, Ziva David, Timothy McGee und natürlich mir.“ Während er ihr dies erzählte, deutete er auf dem Photo auf jede einzelne Person.

„Unterstützt werden wir bei den Ermittlungen von der Forensikerin Abigail Sciuto und dem Pathologen Donald Mallard. Allerdings haben die meisten von uns Spitznamen. Tony, Abby, Ducky, Tim, den ich gerne auch Bambino nenne, und Gibbs wird eigentlich wenn nur Jethro genannt. Er ist der Leiter des Teams und dein Mentor.“ Jen nickte und schaute sich die einzelnen Leute auf dem Photo genau an, um sich ihre Namen merken zu können. Jetzt, wo sie wusste, wer der Silberhaarige war, konnte sie sich auch ein bisschen verstehen, dass ihre Gefühle am Vormittag mit ihr Achterbahn gefahren waren. Es erklärte lange nicht alles, aber einiges, worüber sie die ganze Zeit gegrübelt hatte.

„Soweit ich weiß, bist du ´96 seinem Team zugeteilt worden. Daher kennen Ducky und er dich auch am längsten. Gibbs hat dir alles beigebracht, was man braucht, um eine guter Agent zu sein. Es sind nur Gerüchte, aber ihr sollt euch näher gestanden haben, als es erlaubt war.“ Jens Augen weiteten sich kurz, bevor sich ein Rotschimmer auf ihre Wangen legte und sie verlegen lächelnd auf die Bettdecke schaute. Tony grinste breit, als er es bemerkte. Selbst in ihrem Zustand, ohne Gedächtnis, schien sie dieser Gedanke zu berühren. Vielleicht gab es ja doch noch Hoffnung auf ein Happyend, in dem sie ihr Gedächtnis wieder erlangte und zurück ins Hauptquartier kam.
 

Kapitel 7
 

Wieder einmal sah sie nachdenklich aus dem Fenster. Es war ungefähr elf Uhr und in ein paar Stunden würde wieder Tony kommen. Irgendwie freute sie sich darauf. Vieles hatte sie am Vortag über einen Teil ihres Lebens erfahren. Es klafften zwar noch immer riesige Lücke in ihrem Kopf, doch zumindest wusste sie nun in etwa, was in den letzten zwei Jahren geschehen war. Sie überlegte die ganze Zeit angestrengt, ob sie sich an Gesprächsfetzen erinnern konnte, doch leider rührte sich dies bezüglich nichts in ihren grauen Zellen. Langsam schloss sie die Augen und seufzte tief, als sie hörte, wie sich die Tür zu ihrem Zimmer öffnete. Tony konnte es ja nicht sein und die Schwestern hätten geklopft. Unsicher öffnete sie die Augen und sah zu ihrem Besucher. Ein Mann, sicher eins achtzig groß, mit Fastglatze stand in der Tür und lächelte matt. Sie hatte keine Ahnung warum, aber er kam ihr bekannt vor. Langsam legte sie den Kopf schief, während er sie anscheinend nachdenklich musterte. Schließlich schloss er die Tür und kam langsam an ihr Bett. Fragend blickte sie ihn aus ihren grünen Augen an. Wieder glitt dieses matte Lächeln über ihre Lippen und eine gewisse Vertrautheit breitete sich in ihr aus.

„Miss Shepard. Ich bin Trent Kort. Ich habe den Auftrag sie abzuholen.“, erklang seine Stimme. Sie war irgendwie beruhigend und beängstigend zugleich. Sie verband gegensätzliche Gefühle mit ihm, doch die Vertrautheit überwog irgendwie. Scheu nickte sie und abermals lächelte er leicht.

„Ich warte draußen. Bitte beeilen sie sich.“ Er tätschelte kurz ihre Hand, und ein Schauer lief ihr über den Körper, bevor er mit bedachten Schritten zurück zur Tür ging und aus dem Zimmer verschwand.
 

Tony hatte heute ausnahmsweise mal einen Blumenstrauß gekauft. Irgendwie hoffte er, dass dies Jen etwas aufmuntern würde. Die verschieden farbigen Nelken glänzten im Sonnenlicht und er lächelte zufrieden, während er den Weg zum Eingang des Krankenhauses hochging. Am vergangenen Tage hatte er ihr eine ganze Menge über den NCIS erzählt. Wie sie mit den einzelnen Leuten klar kam? Was es mit Ari und Kate auf sich hatte. Die meiste Zeit hatte sie nur stumm zugehört und ab und an mal genickt. Nach circa zwei Stunden, er hatte selbst die Zeit aus den Augen verloren, schien sie schließlich nicht mehr wirklich zuzuhören. Sie schaute nachdenklich aus dem Fenster und Tony entschied sich schließlich, sich von ihr zu verabschieden. Natürlich versprach er ihr heute wieder vorbei zu kommen. Als er dann endlich mit fast dreistündiger Verspätung wieder ins Büro kam, erhielt er einen mächtigen Anschiss von Gibbs und wurde wütend von Ziva und Tim angefunkelt. Den Rest des Tages hatten sie nur mit ihm gesprochen, wenn es nötig war und auch diesen Morgen schienen sie nicht gut auf ihn zu sprechen zu sein. Nun hatte er mal wieder Mittagspause. Er hoffte, dass er sich dieses Mal nicht wieder festredete. Kurz blinzelte er noch in die Sonne, ehe er das Krankenhaus betrat. Vielleicht würde er mit Jenny ja etwas in den Park gehen, schön genug war das Wetter ja.
 

Mit aufmerksamen braunen Augen sah Ziva ihrem Kollegen hinter einem Baum hervor hinterher, bevor sie Abby ein Zeichen gab, dass sie zu ihr kommen konnte. Die zwei Frauen hatten sich entschieden, Tonys Geschichte nun doch mal auf den Grund zu gehen, da es einfach zu viele offene Fragen gab. Weshalb sie sich bei Gibbs für eine etwas längere zeit entschuldigt hatten. Der Teamleiter war erst gar nicht davon begeistert, dass nun auch die Damen eine längere Mittagspause verlangten, gab schließlich aber nach einen treudoofen Hundeblick seiner Ziehtochter klein bei. Nun standen sie an einem Baum vor dem Krankenhaus und beobachteten Tony, wie er gerade mit einem großen Blumenstrauß das Krankenhausgebäude betrat. Irgendwie kamen sie sich ja schon komisch vor, ihm hinterher zu spionieren, doch ihre Neugier war einfach viel zu groß. Sie musste unbedingt gestillt werden. Schließlich folgten sie ihm und sahen gerade noch wie er im Fahrstuhl verschwand. Eine Weile lang warteten sie, bis sie sahen in welchem Stock er hielt, dann nahmen sie die Treppe, um ihm zu folgen.
 

Mit einem lauten Klopfen kündigte der Halbitaliener sein Kommen an und öffnete mit Schwung die Tür, ohne auf eine Antwort seiner kranken Chefin zu warten. Er strahlte übers ganze Gesicht, da er erwartete, dass sie ihn heute mal ausnahmsweise direkt anschaute. Doch schon in der nächsten Minute erstarb sein Lächeln. Das Bett war leer, sogar ordentlich gemacht. Irritiert blickte er sich um. Er ließ den Strauß sinken und betrat das Zimmer. Nichts, rein gar nichts deutete daraufhin, dass Jenny je in diesem Zimmer gelegen hatte. Er seufzte. Wahrscheinlich hatte man sie einfach verlegt. Er drehte sich um, schloss die Tür sorgfältig hinter sich und sah dann den Flur hinab. In ihm machte sich ein eigenartiges Gefühl breit, so als würde etwas nicht stimmen. Tief sog er die Luft in die Lungen, als er eine Krankenschwester entdeckte. Er ging auf sie zu und fasste ihr vorsichtig an die Schulter. Trotzdem leicht erschrocken drehte sie sich zu ihm und sah ihn fragend an.

„Entschuldigung. Jenny Shepard, wurde sie verlegt?“, erkundigte er sich mit seinem typischen DiNozzo-Lächeln. Die Schwester bedeutete ihm zu folgen und verschwand kurz darauf im Schwesternzimmer. Der Specialagent seufzte. Ein Blick auf die Blumen verriet ihm, dass sie langsam Wasser gebrauchen könnten, was seine Ungeduld nur noch mehr steigerte. Es vergingen zwar nur ein paar Minuten, doch dann trat endlich wieder jemand auf ihn zu. Als er den Kopf hob, lächelte er. Zwei blaue Augen strahlten ihn freundlich und zugleich auch hoch erfreut an.

„Hallo Jeanne.“, flüsterte er und gab ihr einen sanften Kuss auf die Wange. Die junge Ärztin errötete leicht und ihr Lächeln wurde noch breiter.
 

Ziva und Abby standen in der Tür zum Treppenhaus und schielten um die Ecke in Richtung Tony. Er wartete auf irgendjemanden oder irgendwas vor dem Schwesterzimmer und als eine junge, brünette Ärztin auf ihn zukam, begann er zu lächeln. Die zwei Damen vom NCIS runzelten die Stirn und musterten de fremde Frau genauestens. Als Tony ihr dann auch noch einen sanften Kuss gab, sahen sie einander mit hochgezogenen Augenbrauen und einem süffisanten Lächeln an. Bei der jungen Frau schien es sich anscheinend um seine groß geheim gehaltene Liebe zu handeln. Sie mussten zugeben, irgendwie passte sie wirklich in Tonys Beuteschema. Wobei es trotzdem unglaublich war, dass er seit Monaten nur mit ihr ausging. Plötzlich änderte sich die Stimmung allerdings. Sie hatte ihm etwas gesagt und Tonys Blick wurde irgendwie entsetzt und ungläubig.
 

„Sie wurde abgeholt? Von wem?“, fragte Tony seine Freundin vollkommen irritiert. Es gab nur zwei Personen, die wussten, dass sie sich hier befand und das waren sie Zwei. Jeanne zuckte mit den Schultern.

„Ich war nicht auf Station, als der Mann da war. Zu dem Zeitpunkt, wo ich nach ihr schauen wollte, war sie bereits, wie ich von einer Schwester erfuhr, seit einer halben Stunde weg.“ Tony verstand nur Bahnhof. Was zum Teufel war hier los? Irgendwie lief das hier gerade aus dem Ruder. Als wäre ihr Koma und die Amnesie nicht kompliziert genug gewesen, verschwand sie nun auch noch und anscheinend wusste niemand, von wem sie abgeholt worden war. Er dachte an die Sache, an der er und sie seit Monaten gearbeitet hatten. Die Jagd nachdem Frosch. Er vermutete, dass es auch seine Männer gewesen waren, die seine Chefin so zugerichtet hatten und nun befürchtete er, dass diese Menschen sie wohl gefunden hatten. Hätte er vor sechs Monaten nicht eingegriffen, wäre sie vermutlich schon damals gestorben. Wenn die sie nun in ihrer Gewalt hatten, konnte er kaum damit rechnen sie lebend wieder zu sehen. Wütend feuerte er den Strauß auf den Boden und biss die Zähne fest zusammen. Jeanne blickte ihn mitleidig an und in ihr machten sich ernsthafte Zweifel breit, ob sie mit dem Anruf bei ihrem Vater das Richtige getan hatte. Aber wie sollte sie denn auch ahnen, dass sie nicht einen Dozenten für Filmgeschichten, sondern einen NCIS-Agent, der auf sie angesetzt worden war, vor sich hatte.
 

Abby zog Ziva ein Stück von der Tür weg und blickte sie scharf an. Die Mossadagentin verstand, auf was die junge Forensikerin hinaus wollte, trotzdem musste sie es noch mal in Worte fassen.

„Also, selbst wenn es Jen gewesen ist, können wir das nicht mehr herausfinden, weil sie nun spurlos verschwunden ist, abgeholt von einem unbekannten Mann.“ Abby nickte zustimmend. Irgendwie war das doch eine sehr vertrackte Situation. Sie hatten eine Vermutung, die sie nicht bestätigen konnten, weil der Gegenstand der Vermutung nicht mehr existierte, zumindest nicht da, wo er sein sollte. Vielleicht hatten sie sich auch nur in etwas verrannt und es war doch purer Zufall, dass die Komafreundin von Tony ebenfalls Jenny hieß. Ziva ließ sich an der Wand des Treppenhauses hinabsinken und starrte minutenlang vor sich hin, ehe Abby sich mit einem Räuspern und einem Blick auf die Uhr bemerkbar machte. Sie mussten zurück ins Büro, wenn es ging vor Tony, damit er nicht mitbekam, dass sie ihn verfolgt hatten. Langsam erhob sich die Israelin. Sie spürte, dass die Anspannung, ob sie hier Jen antreffen würde, von ihr gewichen war und sie wieder diese eigenartige Leere ausfüllte. Auch Abby war enttäuscht, dass sie ohne jeglichen Erfolg zurückkehren mussten. Sie nahm Zivas Hand und zog sie gemächlich die Treppen hinab. Anscheinend würden sie die rothaarige Direktorin niemals wieder sehen.
 

Kapitel 8
 

Tony verstand es nicht. Es war ihm einfach nur ein Rätsel, wer Jen aus dem Krankenhaus abgeholt haben könnte. Die ganze Zeit, seitdem der das Krankenhaus verlassen hatte, dachte er schon darüber nach. Wenn es wirklich jemand aus Grenouilles Umfeld gewesen war, woher wussten sie, dass Jenny sich in diesem Krankenhaus befand. Immerhin war dies seit Monaten ein eigentlich gut gehütetes Geheimnis gewesen. Er starrte nachdenklich vor sich hin. Schon die ganze Zeit malte er mit dem Stift auf einem Blatt Papier. Eigentlich hatte er irgendeinen Auftrag von Gibbs bekommen. Da er ihn aber nicht mal richtig verstanden hatte, ließ er es dabei, sich weiter über sein Problem Gedanken zu machen.

„Tony. DINOZZO!“, drang plötzlich die Stimme seines Bosses an sein Ohr. Langsam hob er den Kopf. Er konnte sich nur schwer von seinen Gedanken lösen, so dass er den Grauhaarigen ziemlich bedröppelt ansah. Gibbs stand vor dem Schreibtisch des Halbitalieners und bohrte seinen Blick in ihn. Sofort fühlte Tony sich ziemlich ertappt. Der Grauhaarige hatte ihn so und so schon auf dem Kieker und irgendwie ritt er sich immer tiefer in die Ungnade seines Vorgesetzten. Gibbs’ Hand griff nach dem Stück Papier und starrte es an. Langsam ließ er sich die Namen auf dem Blatt durch den Kopf gehen. Es entwickelten sich Fragen in ihm. Immer wieder schaute er zu Tony, der ihn unwissend anschaute. Anscheinend schien der Macho selbst nicht zu wissen, was er da zu Papier gebracht hatte. Noch einmal las Gibbs die Namen.

Jenny, Grenouille, Jeanne, Trent Kort, wieder Jenny, Jeanne und immer wieder Jeanne.

„Wer ist Jeanne?“, stellte er schließlich seine dringendste Frage. Ziva und McGee sahen nun auch zu den Zweien. Die Israelin runzelte die Stirn, während sie beobachtete, wie Tony langsam nervös wurde. Seine Finger spielten mit einander, sein Blick huschte zwischen dem Blatt und Gibbs hin und her. Plötzlich schien es ihn allerdings wie ein Schlag zu treffen. Seine Augen weiteten sich, sein Mund klappte vor anscheinendem Entsetzen auf. Tonlos kam ein ‚Oh Gott’ über seine Lippen. Sie konnte es nicht sehen, sich aber denken, wie sich Gibbs’ Augenbrauen in die Höhe schraubten, während sich seine blauen Augen noch tiefer in den Ermittler vor ihm bohrten.

„Er weiß es von Jeanne.“, flüsterte Tony schließlich und ließ den Kopf mit einem enttäuschten Seufzen in die Hände sinken. Dass er von Gibbs und seinen Kollegen gemustert wurde, schien er bereits wieder völlig vergessen zu haben. Er konnte es einfach nicht glauben, aber es war die einzige Möglichkeit. Jeanne musste ihren Vater angerufen haben und daher wusste er, wo Jenny sich befand. Sie stellte eine Gefahr für ihn dar, deswegen musste er sie jetzt, wo sie wieder aufgewacht war, aus dem Weg schaffen.

„DiNozzo! Wer weiß was von wem?“ Gibbs’ Stimme war scharf und schnitt sich ohne Rücksicht in die Gedanken des Halbitalieners. Wieder hob er den Blick. Er sah verletzt und irgendwie extrem gequält aus, als er noch immer ungläubig den Kopf schüttelte.

„Agent Gibbs!“ Die tiefe und kalte durchdringende Stimme von Deputy Direktor Collin Pollack schwang von der Treppe zum Team hinab. Der Angesprochene ließ von seinem Agent ab und schaute zu dem verhassten neuen Chef hinauf. Die Blicke der zwei Männer trafen sich und jeder im Raum konnte die Feindseligkeit der Zwei spüren, wenn nicht sogar die Funken sprühen sehen.

„Ich habe gerade einen Anruf vom CIA bekommen. Sie haben Jennifer Shepard gefunden.“ Der Mann mit den kalten braunen Augen spukte den Namen seiner Vorgängerin regelrecht in den Raum. Gibbs’ Augen weiteten sich hingegen. Er hielt unwillkürlich die Luft an. Lebte sie? Wo war sie? Er spürte, wie sich alles in ihm verkrampfte. Auch Ziva schaute ungläubig zu dem Mann hinauf, der keinerlei Respekt für seine Untergebenen hatte. Schwer konnte sie verhindern, dass ihr Tränen der Erleichterung in die Augen stiegen, als er weiter sprach.

„Sie befindet sich in Kanada und ist in guter Verfassung. Allerdings hat sie ihr Gedächtnis verloren, weshalb sie nicht allzu bald wieder hier sein wird.“ Bei dem letzten Satz umspielte ein zufriedenes Lächeln seine Lippen. Ohne das Team eines weiteren Blickes zu würdigen, ging er die Treppe wieder hoch und verschwand im MTAC. Gibbs schnaufte wüten. Am liebsten würde er diesem Typen den Hals umdrehen. Was hatte man sich nur dabei gedacht, den Kerl auf so einen Posten zu setzen? Trotzdem machte sich große Erleichterung in ihm breit. Jenny lebte, auch wenn ihr Zustand wohl nicht ganz in Ordnung war. Gerne wüsste er, was überhaupt passiert war, aber da brauchten sie wohl kau darauf zu zählen, es von Pollack zu erfahren.

Auf Zivas Gesicht hatte ein glückliches Lächeln Platz gefunden. Man sah der jungen Israelin an, wie sehr sie sich freute, nun zu wissen, dass es ihrer Freundin, bis auf ein Gedächtnisproblem, was sich hoffentlich bald lösen würde, gut ging. Mit einem unterdrückten Jauchzer stand sie auf und strahlte Gibbs an.

„Ich werde Abby und Ducky Bescheid geben.“, meinte sie und verschwand im nächsten Moment im Fahrstuhl. Tim schaute ihr grinsend hinterher. Auch ihm war ein Stein vom Herz gefallen, als er die Worte des Direktors gehört hatte. Aufgrund der guten Nachricht konnte er sogar verwinden, dass Pollack so ein Blödmann war, um es milde auszudrücken. Er konnte sich richtig vorstellen, wie Abby sich freuen wird, wenn Ziva ihr diese Erleichterung erzählte.

Nur Tony schien nicht ganz so von der Rolle zu sein, wie seine Kollegen. Pollack hatte gerade gelogen. Er fragte sich, ob der Direktor wusste, dass Jen eigentlich die ganze Zeit in den USA gewesen war, oder ob der CIA ihm auch eine Lüge diesbezüglich aufgetischt hatte? Auf jeden Fall stand für den Halbitaliener nun fest, dass es wohl Trent Kort gewesen sein musste, der Jenny abgeholt hatte. Aber immer noch blieb die Frage, ob Jeanne etwas damit zu tun hatte und wo Jen sich nun befand? Er seufzte tief und starrte auf den Zettel, den Gibbs noch immer in den Händen hielt. Immer wieder hatte er in Gedanken Jeanne aufgeschrieben, so als wüsste er tief in sich, dass sie etwas damit zu tun hatte. Was war nur in den letzten Monaten geschehen, dass er seinen eigenen Gefühlen nicht mehr so vertraute wie früher? Er zweifelte plötzlich an allem. An seinem Verstand, an seiner Arbeit, an seiner Liebe zu Jeanne. Und dass alles nur wegen eine Lüge, die er selbst entworfen hatte. Langsam hob er den Kopf und blickte zu Gibbs. Die Erleichterung war ihm anzusehen und auch McGee strahlte mal wieder. Lange war es her, dass so eine gute Stimmung im Büro geherrscht hatte.
 

Kapitel 9
 

Tony starrte nachdenklich auf seinen Bildschirm. Es waren inzwischen drei Wochen vergangen, seitdem Pollack ihnen mitgeteilt hatte, dass der CIA Jenny in Kanada gefunden hatte. Die Stimmung im Team hatte sich um einiges verbessert. Abby war den Rest des Tages nur noch gehüpft und auch Ducky hatte nach langer Zeit mal wieder öfters gelächelt. Was Jeanne betraf, so konnte er sie leider nicht auf seine Vermutung ansprechen. Die junge Ärztin war zu einer zweimonatigen Fortbildung und am Telefon wollte der Special Agent seine Freundin nicht mit den Vorwürfen konfrontieren. Es wurmte ihn trotzdem schrecklich, dass er nicht wusste, ob sie nun etwas mit Jens Verschwinden zu tun hatte. Er war alles noch mal durchgegangen, jede Sekunde seitdem sie aufgewacht war, ja sogar schon seitdem er sie damals mit Jeanne zusammen gefunden hatte. Doch irgendwie kamen ihm keine Ungereimtheiten in den Sinn. Leider landete er immer wieder bei ihr. Auch wenn anscheinend der CIA die ehemalige Direktorin aus dem Krankenhaus abgeholt hatte, konnte immer noch Grenouille und somit auch Jeanne dahinter stecken. Ein Seufzen verließ seine Lippen und er rieb sich über die müden Augen.

Ziva sah auf und blickte zu ihrem Kollegen, der so tief seufzte, als würde er Massen an Tonnen schleppen. Sie legte den Kopf schief. Natürlich war ihr damals aufgefallen, dass Tony der einzige zu sein schien, der sich nicht darüber freute, dass Jenny gefunden wurde. Er schien einfach mehr zu wissen, als er zugab. Erst vor wenigen Tagen hatte sie mit Gibbs darüber gesprochen. Auch der Dienstälteste teilte ihre Meinung, nur leider kamen sie zu dem Schluss, dass es keine Möglichkeit gab, diese Informationen aus dem Halbitaliener zu entlocken, solange er sich weigerte, etwas zu verraten, beziehungsweise bestritt, irgendetwas zu wissen.

„Was ist los, Tony? Macht dich das Berichte lesen so fertig?“ Ein freches Grinsen umspielte ihre zarten Lippen und ihre dunklen Augen blitzten vorwitzig. McGee hob nun auch den Kopf und schwenkte seinen Blick zu seinem Kollegen. Stirn runzelnd hob er die Augenbrauen. Er und Abby hatten nach dem ‚Wiederauftauchen’ der Direktorin und dem seltsamen Verhalten von Tony noch mal alle Beweise durchforstet. Doch sollte es wirklich Unregelmäßigkeiten gegeben haben, so musste der junge Agent alles beseitigt haben.

Tony blinzelte kurz und sah zu der jungen Israelin. Lange starrte er sie stumm an und in der jungen Frau machte sich ein eigenartiges Gefühl breit.

„Ich habe an Jenny gedacht. Ich frage mich, wie sie sich fühlt, so vollkommen ohne Gedächtnis. Sollte sie nicht gerade deswegen bei uns sein? Immerhin sind wir wohl diejenigen, die sie am besten kennen.“, meinte er leise und bohrte seinen Blick in seine Kollegin. Diese schluckte trocken und legte den Kopf schief. Irgendwie hatte er schon Recht. Was konnte der CIA ihr erzählen, was sie nicht auch tun konnten. Immerhin würde sie sich hier sicher wesentlich wohler fühlen, bei Menschen, die sie kennen, zumindest sicher besser, als der CIA.

„Vermutlich hast du Recht DiNozzo.“, erklang plötzlich Gibbs’ tiefe Stimme. Der alternde Agent stand hinter dem Schreibtisch seines dienstältesten Agent und schaute auf sein Team.

„Leider verrät Pollack nicht, wo genau Jen sich befindet. Ich fürchte, er weiß es nicht mal.“ Ein leises Seufzen verließ seine Lippen und er nippte an seinem Becher Kaffee, der noch immer dampfte. Die drei Agents sahen ihren Boss an und nickten verstehend. Es blieb einfach ein riesiges Mysterium, was sich mit jeder Minute nur noch mehr zu verstricken schien.
 

Kapitel 10
 

Es regnete. Das erste Mal, seit sie hier war, regnete es. Der Himmel war Wolken verhangen grau und die schweren, dicken Tropfen fielen auf die aufgeheizte Erde, verdampften auf dem glühenden Asphalt. Bisher hatte sie die meiste Zeit an der Luft verbracht, die gleißende Sonne von Südfrankreich genossen. War durch die Straßen von Marseille geschlendert und hatte sich an den Schaufensterscheiben wie ein kleines Kind die Nase platt gedrückt. Wenn ihr die Hitze zu viel wurde, ließ sie sich im Schatten eines Schirmes vor einem kleinen Café nieder und kühlte ihr Gemüt mit einem wunderschön angerichteten Eisbecher, bevor sie ihren Spaziergang fortsetzte. Die Sonne vertrieb all ihre Sorgen und Ängste, ließ sie in den Tag leben ohne sich übers Morgen Gedanken machen zu müssen.

Doch heute, an diesem regnerischen Tag, saß sie Gedanken verloren auf dem Fensterbrett ihres Zimmers. Die Stirn an die kühle Scheibe gelehnt, glitt ihr Blick hinaus, folgte einzelnen Tropfen, die hilflos an die Scheibe klatschten und an ihr hinunter rannen. So hilflos die Tropfen waren, so breitete sich ein Gefühl in ihr aus. Ihre Gedanken drifteten ab, schwammen durch die Dunkelheit ihrer Erinnerungen. Erinnerungen, die nicht ihre waren. Erzählungen, wie ihr Leben vor dem Überfall war. Ihre Fingerspitzen glitten über die raue Oberfläche von Photos. Tony, ein gut aussehender junge Mann, vermutlich italienischer Abstammung, hatte sie ihr gebracht, am Morgen nach ihrem Erwachen aus dem Koma. Photos von Menschen, die irgendwie eine Rolle in ihrem Leben gespielt hatten, bevor sie ihr Leben nicht mehr kannte.

Langsam senkte sie den Blick. Ihre Augen fixierten das Gesicht auf dem Photo. Der Mann, der bei ihr ein Schwall von so unterschiedlichen Gefühlen hervorgerufen hatte. Gibbs, Leroy Jethro Gibbs. Ein Seufzen trat über ihre zartrosa Lippen. So sehr wünschte sie sich, einen Hauch von dem zu wissen, was sie mit ihm verband. Ahnen zu können, was für ein Mensch sie war, welche Freunde sie gehabt hatte. Ob sie überhaupt welche hatte. Denn die Photos waren alle von Menschen, die für sie arbeiteten. Sie fragte sich, ob sie sich um sie sorgten. Dachten sie an sie, wollten wissen, wo sie sich befindet.

Wieder richtete sich ihr Blick hinaus. Ihr Körper war in eine eigenartige Starre verfallen. Eine Schwere lag auf ihren Gliedern, die sie sich nicht erklären konnte. Ihr war, als würde der Regen in sie kriechen, die dunklen Wolken sie umhüllen. Das Wetter spiegelte nicht ihr Gemüt. Ihr Gemüt war wie das Wetter. Es passte sich an, färbte die Trübheit nach, die vor den Fenstern herrschte. Einsam stahl sich eine Träne aus ihrem Augenwinkel. Ein Teil des untergründigen Schmerzes rollte bedacht über ihre Wange und hinterließ eine feuchte, salzige Spur. Ihr Körper erbebte schwach unter einem Schluchzen, während sich immer mehr feine Tränen sich ihren Weg aus ihren Augenwinkel suchten. Sie schloss die Augen, doch nichts hielt den Schmerz der Einsamkeit in ihr. Ihr Schluchzen wurde lauter, ließ ihren Körper aus der Starre erwachen und immer mehr zittern.

Still stand er an der Tür, sah zu ihr hinüber und kam sich so hilflos vor. Er konnte sich nicht vorstellen, wie sie sich fühlte. Wie sie Tag für Tag versuchte zu verdrängen, dass sie keine ihr bekannte Vergangenheit besaß. Wie es ihr gelang damit umzugehen. An sonnigen Tagen, die sie bisher hier nur erlebt hatte, schien es kaum ein Problem für sie zu sein, einfach in den Tag zu leben und ihre Fröhlichkeit all der Welt zu zeigen. Doch heute, wo sie nicht die Sonne genießen konnte, schien sie zurück in diese Melancholie gefallen zu sein, die ihren Körper und ihre Gedanken beherrscht hatte, als er sie vor gut drei Wochen aus dem Krankenhaus geholt hatte.

Er war gekommen, um sie zu essen zu holen. Doch auf sein Klopfen hatte sie nicht reagiert. So war er einfach eingetreten, aber in der Bewegung verharrt, als er sie so niedergeschlagen am Fenster entdeckte. Sie zitterte und immer wieder traten die feinen, durchsichtigen Tränen aus ihren Augen, rann über die Wangen und tropften schließlich auf das helle Shirt, das sich mit ihnen vollzog.

Geräuschlos atmete er tief ein und stieß die Luft wieder aus. Was sollte er nun tun? Sie einfach in Ruhe lassen. Ihrem Gastgeber und seiner Tochter mitteilen, dass sie das essen heute ausfielen ließ. Oder doch zu ihr gehen. Seinem Drang nachgehen, diese Frau, die so augenscheinlich litt, beruhigend in den Arm zu nehmen. Doch würde sie dies überhaupt zu lassen? Mehrmals hatte er sie zwar schon auf ihren Streifzügen durch Marseille begleitet, um ein Auge auf sie zu haben, wie sein ‚Boss’ es freundlich ausdrückte. Dabei sollte er nur darauf achten, dass sie nicht abhaute. Trotz dieser häufigen Zweisamkeit bezweifelte er noch immer, dass sie ihm vertraute.

Ihr Schluchzen holte ihn aus den Gedanken und endlich rang er sich durch und tat einen Schritt nach dem anderen auf sie zu. Sie bemerkte ihn nicht, war zu sehr mit sich und ihrem leiden beschäftigt. Ein Leiden, das er ihr viel zu gerne einfach abgenommen hätte. Dicht neben ihr blieb er stehen, blickte auf sie herab, setzte ein aufmunterndes Lächeln auf. Langsam hob er die Hand, strich vorsichtig über ihre tränennasse Wange. Sie zuckte zusammen, sah ihn erschrocken an. Wie konnte sie so nachlässig sein und nicht aufpassen. In ihr wuchs eine Scham darüber, dass er sie ausgerechnet so entdeckt hatte.

Doch ihm schien das vollkommen gleich zu sein. Ohne etwas zu sagen, wanderte seine Hand zu ihrer Schulter und zog sie behutsam an sich. Sie sollte sich wehren können, wenn sie wollte. Aber nichts dergleichen geschah. Noch immer von Schluchzern geschüttelt, sank ihr Kopf an seine Brust. Zärtlich strich er über ihr Haar, blieb jedoch ganz still. Kein Wort kam ihm über die Lippen, denn allein seine Anwesenheit schien ihr zu genügen, nachdem sie sich darauf eingelassen hatte.

Er wusste nicht wie lange er so bei ihr stand, sie an ihn gelehnt weinte und er sie beruhigend streichelte. Doch schließlich schien sie sich wieder zu beruhigen. Die Schluchzer verstummten, die Tränen versiegten. Endlich hatte sie sich mal allen Schmerz von der Seele geweint. Stumm lehnte sie an ihn, genoss die wohltuende Zuwendung, die er ihr ohne Worte entgegen brachte.

Als er sich sicher war, dass es ihr wieder besser ging, schob er sie ein Stück von sich und hob ihren Kopf an. Sanft wischte er mit dem Daumen die letzten Tränenspuren von ihren Wangen, während ein leichtes Lächeln über seine Lippen glitt.

„René und Jeanne erwarten dich zum Essen.“ Er verstummte einen Moment, bevor er leise hinzufügte: „Chérie.“

Sie nickte leicht und ließ die Beine vom Fensterbrett baumeln. Mit einem letzten Anflug eine Lächeln trat er zurück und ging zur Tür.

„Sag ihnen, ich komme gleich. Ich mache mich nur noch mal frisch.“, sagte sie leise und sah nur noch ein Nicken, bevor er aus ihrem Zimmer verschwunden war.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück