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太陽 に 心

Taiyô ni Kokoro
von

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出合い に 動悸 の 一刻 [sogu ni doki no ikkoku]

Immer schneller hastete er die Straße entlang. Warum hatte er sich gleich noch mal dazu verleiten lassen, dem dicken Bürgermeister die prallgefüllte Brieftasche zu stehlen?

„Bleib stehen, du dreckiger Dieb!“, schrieen die Soldaten hinter ihm, während sie versuchten, ihn in ihren Rüstungen einzuholen. Das blank polierte Silber warf das schwache Sonnenlicht auf die Häuserwände zurück. Die Waffen schepperten mit jedem Schritt und das Keuchen der Männer war kaum zu überhören.

Kwon-Eri sah zurück. Eigentlich wollte er sich nicht umdrehen, aber irgendwie zwang ihn eine unsichtbare Kraft dazu. Vielleicht war es eine kalte Hand, die ihm zeigen wollte, was er angerichtet hatte? Oder ihm zeigte, dass das Klauen eine schlechte Angewohnheit war? Jetzt war es sowieso zu spät. Er konnte nicht stehen bleiben und plötzlich meinen, dass es ein Witz gewesen wäre, und den Soldaten die Brieftasche geben. Er würde am Galgen landen, wenn die fünf Männer ihn erwischten! Eine Entschlossenheit schlich sich in seinen Blick, die er selbst kaum für möglich hielt. Seine Schritte wurden schneller und er flog beinahe über die grauen Pflastersteine.

Als er aus der Seitengasse hinaus auf eine der vielen Hauptstraßen dieses verzweigten Dorfs rannte, rutschten seine übergroßen Stiefel auf einer besonders glatten Stelle aus und er fiel hin. Er wollte gar nicht wissen, wie dämlich das ausgesehen haben musste, deswegen hielt er den Kopf gesenkt. Außerdem spürte er die Blicke so oder so und das Lachen war kaum zu überhören. Warum passierte ihm so etwas auch gerade auf einer der belebteren Straßen? Die Schadenfreude in dieser Stadt dominierte über die Hilfsbereitschaft. Es gab ja sonst nichts mehr zu lachen.

Kwon-Eri rieb sich das Gesäß und stand vorsichtig auf. Er musste weiter. Das Scheppern wurde immer lauter und kündigte die vollkommen abgehetzten Soldaten an. Die Gefahr rückte Schritt für Schritt näher.

Mit einem letzten Blick auf die Soldaten drehte Kwon-Eri sich um und lief los. Wenn er mal so über seine Beute nachdachte, dann wurde ihm klar, was für ein großer Fang das werden würde! Das Geld würde lange reichen. Für den Bürgermeister vielleicht nur ein paar Tage, aber der kleine Junge wusste, wie man sparsam mit Geld umging. So viel Geld und alles nur für ihn! Oder zumindest fast nur für ihn. Er musste seinem Kumpel noch etwas davon abgeben. Der hatte ja schließlich mitgeholfen. Debirian würde sicherlich wieder alles haben wollen. Geldgieriger Debirian. Herzloser Debirian. Hinterhältiger Debirian. Es gab so viele Namen für diesen gleichaltrigen Jungen, dass Kwon-Eri sich gar nicht entscheiden wollte, wie er ihn am besten bezeichnen sollte.

Von dem Geld konnte er sich Essen kaufen. Vielleicht auch endlich richtige Kleidung, passend für seine Größe und der Jahreszeit entsprechend. Das Hemd, das ihm bis über die Knie reichte, war eigentlich ein alter Kartoffelsack mit jeder Menge Dreck. Außerdem entsprach die Farbe einem hässlichen Braun und der Stoff war so grob gewebt, dass man den Körper des Jungen dadurch sehen konnte. Die Stiefel waren von irgendeinem Müllberg geklaubt. Sie hatten wahrscheinlich irgendeinem breiteren niederen Bürger gehört, der sie irgendwann achtlos in den Müll geworfen hatte. Nun erfreute sich Kwon-Eri an den furchtbar stinkenden, viel zu großen, zerschlissenen Lederstiefeln, die eigentlich nicht mehr Stiefel genannt werden konnten – so wie sie jetzt aussahen. Hinzu kam, dass die Farbe kaum noch zu sehen war, stattdessen wirkte das ehemalige Grau mehr wie die Farbe menschlicher Exkremente. Dann kam die Wollhose, die ihrer Größe entsprechend vielleicht einem 40 Jährigen gepasst hätte, aber nicht ihm. Es war eine Sommerhose, dementsprechend also nur bis zu den Knien und sehr leicht gewebt. Sie hielt kaum warm und kratzte höllisch. Ihre Farbe wäre ein eigentlich schönes Schwarz gewesen, aber sie war ausgeblichen und war nun mausgrau. Mit einer selbstgedrehten Kordel hielt immerhin der Hosenbund – wie auch immer das möglich war.

Kwon-Eri freute sich auf eine warme Abwechslung und einen vollen Magen, doch bis er das erreichen würde, musste er noch einen langen Weg hinter sich bringen. Erst mal musste er diese Soldaten loswerden, dann würde er sich mit Debirian treffen und das Geld aufteilen. Um schließlich das Geld legal ausgeben zu können, musste er in ein anderes Dorf wandern und dort die Dinge kaufen, die er brauchte. Hier wäre das unmöglich, weil die Meisten wussten, dass all das Geld gestohlen war.

Erst jetzt bemerkte er, dass seine Schritte in den leeren Gassen wieder hallten und die Dunkelheit der Seitengänge und Schlupfwinkel nur noch beängstigender machten. Was sollte er nur tun? Ihm war klar, dass die fünf Männer hinter ihm nicht aufgeben würden. Sie verfolgten ihn immer noch, auch wenn ihnen inzwischen sicher schon die Puste ausging. Das änderte leider nichts an der Tatsache, dass es Kwon-Eri nicht anders erging. Bloß nicht aufgeben und erst recht nicht nachgeben! Doch egal, wie oft er sich einredete, dass alles gut gehen würde, seine Beine wurden unvermeidlich schwerer. Wie steife Holzklötze, dachte er sich insgeheim und wusste sofort, dass ihm außerdem tierisch kalt war. Der kalte Angstschweiß veränderte seine Lage nicht und sobald das Wasser an die kalte Luft kam, kühlte es sich stark ab und rann seinen Körper hinab. Jedes Mal lief ihm dann ein eiskalter Schauer über den Rücken und er bekam eine schlimme Gänsehaut.

Um diese Ecke, nur um diese Ecke, Kwon-Eri, und du kannst in der nächst besten Menge untertauchen, redete er weiter auf sich ein. Nur Mut, nur noch ein kleines Stück und du bist am Ziel deiner Träume!

Einfacher gesagt, als getan. Denn als er um die Ecke lief, bremste er vor Schreck ab. Seine Stiefel rutschten auf den glatten Pflastersteinen aus und Kwon-Eri schlitterte mehrere Meter direkt in die Menge hinein. Als er dieses Mal mit jemandem zusammenstieß, wusste er instinktiv, dass alles vorbei war. Der ganze Marktplatz war voller Soldaten gewesen. Er verlor den Halt und fiel zum zweiten Mal auf seinen Hintern.

„Oho!“, rief einer der Soldaten aus und zeigte triumphierend auf ihn.

„Endlich haben wir die diebische Elster!“, schrie ein anderer.

„Nun, mein Kleiner, du wirst außerdem dafür büßen müssen, dass dein dreckiger Freund uns entkommen ist. Mach dich auf jede Menge Ärger gefasst, wertlose Kreatur!“, brüllte ihm der Mann entgegen, mit dem er zusammengestoßen war. Seine fleischigen Finger streckten sich nach dem Jungen aus und schlossen sich um dessen Hals. Kwon-Eri war immer noch viel zu perplex, um überhaupt auf diese Aktion reagieren zu können. Ihm fiel seine missliche Lage erst auf, als er keine Luft mehr bekam. Und mit jeder Sekunde die verstrich, drückte der Soldat stärker zu.

Vollkommen geschockt versuchte Kwon-Eri erstmal sich loszureißen. Etwas Besseres fiel ihm gerade nicht ein. Debirian hatte gesagt, der Plan wäre narrensicher! Sagte er das nicht immer und am Ende war es Kwon-Eri, der im Loch saß? Er war schon wieder auf Debirians Pläne hereingefallen!

Wütend trat er nach dem Schienbein des schwer gerüsteten Mannes, verfehlte es aber um Zentimeter. Der ließ sich nicht beeindrucken und lachte gehässig. Seine Fingernägel bohrten sich in Kwon-Eris Hals und hinterließen dort halbmondförmige Abdrücke, aus denen es leicht blutete.

Der Soldat kniete sich neben den kleinen Jungen und drückte ihn mit dem Rücken auf den Boden. Dann begann er im Beisein von Schaulustigen und Soldatenkumpanen mit einer Hand in Kwon-Eris Hosentasche zu wühlen. Die Andere hielt ihn immer noch fest auf der kalten und vor allem durch den Schnee nass gewordenen Erde gedrückt. Es dauerte eine kleine Weile, bis der Mann erfolgreich war und die Brieftasche des Bürgermeisters fand. Als er sie hervor zog und sie einem seiner Untergebenen zuwarf, sagte er:

„Da ist sie. Gib sie dem Bürgermeister und sag ihm, das Vögelchen wird keinen Mucks mehr von sich geben, wenn ich mit ihm fertig bin! Vielleicht beendet auch der Galgen diese Angelegenheit, dann muss ich mir nicht die Finger dreckig machen.“

Kwon-Eri versuchte erneut, die Finger von seinem Hals zu lösen, doch je stärker er zog und zerrte, desto mehr Druck wurde auf sie ausgeübt. Das bisschen Luft, das er bekam, reichte nicht mehr, weswegen er begann, seltsame Atemgeräusche von sich zu geben. Beinahe flehentlich sah er sich um, doch keiner der Umstehenden machte den Anschein, sich gegen die mesfarianische Staatsgewalt zu wenden.

Der kleine Junge würgte und seine Sicht begann zu verschwimmen. War er am Ersticken? Es fühlte sich danach an. Kwon-Eri stöhnte und zappelte ängstlich herum. Egal, was er versuchte, der Mann war zu stark.

„Bitte …“, stieß er zwischen seinem Keuchen hervor, doch die Soldaten lachten nur und einer meinte:

„Diebe sollen verrecken!“

Zustimmendes Gemurmel von vielen Seiten war zu hören. Das hatte ihm jetzt auch noch gefehlt! Tränen schossen Kwon-Eri in die Augen. Er wollte nicht sterben, nicht hier und nicht jetzt! Mit zitternder Stimme und bebenden Lippen begann er noch einmal flehentlich zu sprechen:

„Bitte! Lasst mich doch …“

Er schluckte und versuchte mit der übrig gebliebenen Kraft, die Finger von seinem Hals zu lösen, doch auch dieses Mal ließ der Soldat nicht los. Noch einmal würgte Kwon-Eri und als er kurz davor war, sich zu übergeben, wich die Umklammerung und der gerüstete Mann erhob sich. Sein Schatten fiel bedrohlich auf den am Boden liegenden Jungen, der keuchend nach Luft schnappte.

„Schade um dich ist es ja nicht, dreckiger Dieb, aber irgendwie macht es keinen Spaß, dich nur zu erwürgen oder deiner Hinrichtung beizuwohnen!“

Die umstehenden Bürger wichen erschrocken zurück und warfen dem Soldaten und seinen Kumpanen ängstliche Blicke zu. Die ließen sich jedoch nicht beirren und rückten näher an Kwon-Eri heran, um die Sicht auf ihn zu versperren. Niemand sollte sehen, was dem kleinen Jungen nun bald zustoßen würde. Das würde nur unnötig Panik verbreiten, auch wenn diese unheilvolle Aktion andere Dieben vielleicht abschrecken würde.

„Ein paar Aggressionen los zu werden, ist schon etwas Feines!“

Zuerst trat einer der jüngeren Soldaten zu. Der Tritt traf den kleinen Jungen direkt in die Seite und nahm ihm kurzzeitig den Atem. Erst als der erste Schritt getan war, begannen auch die restlichen gerüsteten Männer auf Kwon-Eri einzuschlagen und zu treten. Ihm blieb nichts anderes übrig, als sich zusammenzurollen und abzuwarten. Eigentlich versuchte er ja nur noch, seinen Kopf vor dem Schlimmsten zu bewahren.

Ein stechender Schmerz ließ ihn aufschreien. Einer der vielen Soldaten hatte ihn kurz oberhalb des Magens getroffen und eine Rippe erwischt. Keuchend schnappte Kwon-Eri nach Luft. Mehrere Tritte in den Rücken quetschten ihm weitere Rippen, während die Schläge der Fäuste ihm viele blaue Flecke beibrachten. Er fühlte seine gesamten Knochen geradezu ächzen.

Ein Tritt in den Bauch, ein zweiter in die Seite, der dritte verfehlte nur knapp seinen Schritt, lachend prügelten die Männer auf ihn ein. Ihnen schien das wirklich Spaß zu machen und sie waren wie ausgewechselt. Ihre Aggressionen waren tatsächlich verflogen.

Kwon-Eri schloss die Augen. Es war beinahe unmöglich den Schmerz zu ignorieren, der ihm unermüdlich die Tränen in die Augen trieb. Das Schlimme war, dass er auch noch nachhallte, was die ganze Sache auch nicht erleichterte.

Irgendwann begann er zu weinen, herzzerreißend. Er konnte einfach nicht mehr. Sein Schluchzen drang durch den engen Kreis der Soldaten und an die Ohren der Männer und Frauen, die immer noch ängstlich um die Gerüsteten herumstanden. Es war eine der Töchter des Bürgermeisters, die erschrocken rief:

„So helft ihm doch! Ich flehe euch an! Eilt ihm zu Hilfe, irgendwer!“

Doch auch daraufhin rührte sich niemand. Die Angst war jedem in die Glieder gekrochen und hatte sich da breit gemacht. Einige sahen sich Hilfe suchend um, andere drehten sich weg und huschten scheinheilig davon. Manche nahmen ihre Kinder bei Seite und erzählten ihnen, dass sie so etwas nie machen durften, sonst würden sie genauso enden wie der Junge.

Die Tochter bekam Tränen in die Augen und lief näher an die Soldaten heran. Sie versuchte angestrengt, sich Gehör zu verschaffen. Würde ihre Bitte erfüllt werden?

„Hört doch auf! Er ist nur ein kleiner Junge, der versucht zu überleben! Lasst ihn doch in Frieden!“

Ein paar Soldaten drehten sich um und schauten die Frau neugierig an. Davon wiederum ließen Einige von dem Jungen ab und sprachen auch ihren Nachbarn ins Gewissen. Es half. Langsam aber sicher löste sich der Kreis um Kwon-Eri auf. Der lag benommen am Boden und rührte sich nicht. Für ihn sah die Welt gerade sehr schwarz aus.
 

Wie lange hatte er nun schon so gelegen? Er hatte es vergessen.

Wann waren die Soldaten verschwunden? Er hatte es vergessen.

Wann war der Schmerz abgeflaut? Er hatte es vergessen.

Das Einzige, das er mitbekam, war diese Stimme. Ein Rütteln an seinen Schultern brachte den Schmerz zurück, dann kamen seine Sinneswahrnehmungen. Es roch nach Blut, Blut und Schweiß. Das Bett unter ihm war kalt und nass. Sein Blick war verhüllt und er hatte den Geschmack von Eisen im Mund. Kwon-Eri würgte und versuchte, blinzelnd seine Sicht wieder zu gewinnen. Noch einmal sprach ihn jemand an. Hören. Fühlen. Schmecken. Riechen. Tasten.

Er drehte sich auf den Rücken, bereute es aber sofort. Ein sengender Schmerz schoss durch seine Glieder. Halb erfroren und übersäht mit blauen Flecken, Prellungen und Beulen entfuhr seiner Kehle ein Schrei.

„Kwon-Eri, du dummer Wicht!“

Kwon-Eri wusste, wer ihm da regelmäßig und ohne Rücksicht zu nehmen, diese Schmerzen zufügte. Das hatte ihm jetzt noch gefehlt. Es war Debirians Stimme. Ohne Zweifel.

Immer noch keuchend konzentrierte Kwon-Eri sich und versuchte angestrengt, etwas zu erkennen. Es funktionierte ein wenig. Er erkannte undeutlich ein Gesicht über sich.

„Dummer, dummer Wicht! Wach auf, du Zwergennase!“, brüllte Debirian ihm ins Gesicht. Eine Ohrfeige nach der anderen holte Kwon-Eri in die Wirklichkeit zurück.

„Bist du bescheuert? Noch zu retten? Du bist der schlechteste Dieb, den ich jemals gesehen habe. Da kümmert man sich um dich, bringt dir sämtliche Geheimtricks bei und was machst du? Lässt dich von einem Haufen Soldaten zusammenschlagen.“

„De … bi … riaaan?“

„Immerhin scheint dein Gehirn unter der Prügelei nicht alle grauen Zellen verloren zu haben, blöder Zwerg“, spottete Debirian und gab Kwon-Eri noch eine Ohrfeige. Der versuchte, sich unter großer Anstrengung aus dem festen Griff seines Lehrmeisters zu winden und schließlich aufzusetzen. Ihm war schwindelig und er sackte ein wenig zusammen. Als er endlich aufrecht dasaß, stützen ihn Debirians Arme. Der dickliche Junge murrte und sagte:

„Bin ich froh, dass diese olle Kuh von Bürgermeistertochter dazwischen gegangen ist. Obwohl … hätte mich nicht gestört, dich bei deiner Verscharrung das nächste Mal zu sehen.“

„Klappe.“

„Selber. Du hast mir außerdem heute erstmal gar nichts zu sagen! Sei froh, dass Maeli und ich dich von der Straße gepflückt haben. Die Bewohner waren ja immerhin so freundlich und haben dich vor die Stadttore geworfen.“

„Klappe.“

„Für diese dreckige Leistung bekommst du nichts von der eigentlichen Beute ab.“

„Klappe.“

„ICH konnte dem Bürgermeister nämlich sämtliche Schmuckstücke vom Körper stehlen. Ich muss mich loben. Ich war ziemlich geschickt.“

„Klappe!“, schrie Kwon-Eri wütend seinem eigentlich besten Kumpel ins Gesicht. War ihm doch egal, was der alles konnte. Kwon-Eri konnte nicht stehlen. Er konnte auch nicht lügen. Er konnte eigentlich gar nichts. Oder doch! Da war etwas. Das Bogenschießen. Das konnte Kwon-Eri gut. Und mit dem Schwert konnte er auch recht passabel umgehen. Wen interessierte dann schon das Stehlen oder Lügen? Er wusste sogar, wie man Tiere erlegt, häutet und ausnimmt. Aber das Jagen in fremden Jagdgebieten war vor einem Jahr verboten worden und alle, die das noch versuchten und erwischt wurden, kamen an den Galgen.

„Solltest du dich besser fühlen, kannst du ja wieder hinausgehen und dann versuchen, dir etwas vom Müll zu holen. Ich verzieh mich dann mal. Mach’s gut, Kumpane.“

Debirian huschte aus dem kleinen Zimmer und ließ Kwon-Eri mit seinen Gedanken allein. Der verlor keine Zeit und schwang die Beine aus dem Bett. Er war doch tatsächlich in einem der vielen Baumhäuser der Baummenschen und seine Wunden waren auch versorgt worden. Irgendwie machte ihn das traurig. Er fiel immer allen Leuten zur Last, ganz egal, was er tat oder erledigen sollte.

Als er aufstand, fasste er den Entschluss, für den Rest des Tages sein eigener Wirt zu sein. Er würde dann halt einfach im Müll kramen und sicherlich etwas Brauchbares finden. So hatte er auch die letzten Jahre überleben können. Da gab es nichts zum Falschmachen.

Kwon-Eri sah an sich hinab. Einige blaue Flecke waren groß, doch sie schmerzten nicht halb so sehr wie die kleinen. Langsam fuhr er mit dem Zeigefinger seiner linken Hand über seinen Bauch, der gerade wieder knurrte. Das letzte Mal hatte er gestern etwas zu Essen bekommen. Eine der Bäuerinnen vom Bauernhof neben dem Wald war ihm über den Weg gelaufen und hatte ihm einen Laib Brot zugesteckt. Eigentlich war sie ja keine Bäuerin. Kwon-Eri wusste genau, dass sie die Tochter einer der Frauen war. Außerdem war sie im gleichen Alter wie er und schien ein besonderes Interesse an ihm zu hegen. Es war ihm tatsächlich aufgefallen, ohne dass ihm jemand den springenden Punkt ins Ohr geflüstert hatte. Das machte ihn verlegen. Er mochte es nicht, wenn Leute sich für ihn interessierten. Er wusste nicht, was ihnen an ihm gefiel, was sie von ihm erwarteten und was sie von ihm dachten.

Kwon-Eri streckte seine Hand nach dem Stuhl aus, auf dem zuvor Debirian gesessen hatte. Oh ja, Debirian hatte sich auch heute wieder von seiner besten Seite gezeigt. Er hatte sich nicht nur über ihn lustig gemacht und ihm wehgetan, nein, er hatte es sich auch nicht nehmen lassen, sich fett und brammig auf Kwon-Eris Kleidung zu setzen.

Murrend griff Kwon-Eri nach dem Kartoffelsack, der sein Hemd darstellte. Als er ihn sich überzog, bemerkte er, dass er auch unten herum nichts anhatte. Wer auch immer ihn ausgezogen hatte, Kwon-Eri würde ihm die Hammelbeine lang ziehen.

Erst nachdem er vollständig angezogen war, stolzierte er unter Schmerzen im Raum herum, nur um festzustellen, ob auch wirklich alles in Ordnung war. Zufrieden nickend schritt er hinaus in die kalte Luft und hangelte sich an einer Leiter von der Plattform, auf der das Baumhaus stand, hinab.

Nichts wie weg hier, dachte er und verschwand zwischen den Bäumen, ohne dass einer der hier lebenden Menschen etwas bemerkt hatte. Mit grummelndem Magen huschte er die Straße entlang auf den Bauernhof zu, auf dem das Mädchen lebte. Doch da es schon dämmerte, konnte er sich von ihr nichts erhoffen. Es würde nichts mehr zum Essen geben. Erst wollte er weitergehen, blieb dann aber doch stehen, um noch einmal den Abfall des Tages durchzusehen.

Seine Hände wühlten in dem stinkenden Haufen herum und zogen abwechselnd nützliche und unnützliche Dinge hervor. Er brauchte Kleidung und Essen. Wasser konnte er sich jederzeit aus den Bächen und Seen holen, die es hier zuhauf gab.

Müde rieb er sich die Augen. Heute würde er auch nicht früh ins Bett können. Bis spät in der Nacht würde er heute wieder den Müll der Bürger durchwühlen, um ja das Beste abzubekommen, bevor am nächsten Tag der Rest in einer der Müllentsorgungsanlagen verschwand. Er zog, endlich fündig geworden, eine kleine Baumwollmütze hervor. Sie hatte oben ein Loch, war aber noch zu retten, wenn man sich Mühe gab. Kwon-Eri freute sich. Ihre Farbe war noch als ein Schwarz zu identifizieren. Ein guter Fang. Morgen würde er Maeli fragen, ob sie ihm die Mütze nähe.

Als er hörte, wie im Haus ein Mann meinte, er würde mal schauen, welche Katze nun wieder im Hausmüll wühle, sprang Kwon-Eri auf und lief quer über den Hof davon. Trotzdem sah er sich noch einmal um, bevor er hinter der Steinmauer verschwand, und entdeckte ein Gesicht am Fenster im ersten Stock. Das Mädchen stand da und sah ihm beim Weglaufen zu! Kwon-Eri errötete und hastete in den Graben neben der Steinmauer, die den Bauernhof umgab. Gerade noch rechtzeitig, denn im nächsten Moment kam der Bauer aus der Tür und schaute zu dem Müllberg, an dem er kurz zuvor noch gewerkelt hatte.

Im Gänsemarsch wanderte Kwon-Eri in dem Matsch, der sich am Boden des Grabens gesammelt hatte, herum. Dann fasste er sich ein Herz und kletterte schnell über die Mauer auf die andere Seite und ließ sich dort auf den gefrorenen Boden fallen. Die neue Mütze hielt seine Ohren warm, schaffte es aber nicht die Kälte zu vertreiben, die immer noch in seinen Gliedern steckte.

Er lief frierend die Straße entlang. Schon nach den ersten Metern begann seine Nase zu laufen und rot zu werden. Seine Augen tränten vom beißenden Wind und seine Hände wurden starr. Seine Beine wehrten sich gegen die Anstrengung des Laufens und wollten einfach stehen bleiben, doch Kwon-Eri zwang sie dazu, weiter zu laufen.

Als er endlich in die Stadt kam, knurrte sein Magen nur um so lauter. Jetzt würde er sicherlich noch jede Menge Essen finden. Er verlangsamte seinen Schritt und tauchte in die Seitengassen ein. Mühsam kämpfte er sich wieder auf die Hauptstraße, auf der er mit den Soldaten zusammengestoßen war, und folgte ihr vorsichtig bis an die Villa des Bürgermeisters. Der aß jeden Abend viel und ließ die Überreste wegschmeißen. Kwon-Eri musste nur schneller als die Ratten und das restliche streunende Viehzeug sein.

Er schlich sich in den Hinterhof auf das Fenster der Küche zu. Schon von weitem roch er das köstliche Abendessen, das auch dieses Mal auf dem Haufen im Hof gelandet war. Als er den Berg erreichte, scheuchte er sämtliche Tiere fort und suchte nach etwas Essbarem.

„Da!“, entfuhr es ihm, als er eine angeknabberte Hühnchenkeule erblickte. Er griff nach dem fettigen Hühnerbein und biss hinein. Es schmeckte wie immer vorzüglich.

Kwon-Eri erschrak, als hinter ihm etwas umfiel. Er drehte sich hastig um, entdeckte aber nur einen Bettler, den er heute in der Stadt gesehen hatte.

„Komm her, ist genug da“, flüsterte er dem mittel alten Mann zu und winkte. Dann wandte er sich wieder dem Müllhaufen zu und suchte mehr.

Nach weniger als zehn Minuten war er satt, stand auf, verabschiedete sich von dem Bettler, der sich immer noch über die Überreste hermachte, und schlich davon. Wenn er jetzt noch jemanden überfallen und dessen Geld nehmen würde, könnte er sich eine Jacke kaufen oder einen Umhang.

Schließlich tauchte er auf der Hauptstraße wieder in die Schatten ein und beobachtete alle Passanten wachsam. Wen konnte er ausrauben, ohne dass der es merken würde?

Kwon-Eri entdeckte zwei Männer. Einen etwas Älteren und eine Mittelalten. Der alte Mann trug eine Tasche, eine prall gefüllte Tasche. Die Augen des jungen Diebs glänzten wie die einer Elster und er huschte näher an die beiden heran. So lange, bis er direkt neben ihnen ging und selbst ihre geflüsterte Unterhaltung belauschen konnte.

„…wirklich, dass es dort sein wird?“

„Jujako sagte, dass es in Malvenna sein wird. Zumindest wird er uns dorthin führen. Ich frage mich, ob man erkennt, dass die Königin dort gelebt hat.“

„Orima? Glaubst du, dass wir den Thronerben so einfach finden werden?“

„Hoffe es mal, Bolba. Hoffe es. Dann werden wir mehr Macht gegen Groß-General Amphetaron in der Hand haben.“

Kwon-Eri stutze. Thronerbe? Die beiden suchten nach dem wahren Thronerben von Aerien! Sie versuchten den jetzigen Herrscher zu stürzen! Sie waren auf der gleichen Seite von Mesfarian. Malvenna? War das nicht die Stadt, in der Kwon-Eri früher gewohnt hatte? Er hatte mit dem Thronerben in einem Dorf gelebt! Doch wer oder was war Jujako? Ein Mensch, der Informationen über den Aufenthalt des Thronerben hatte? Kwon-Eri hörte wieder genauer hin.

„…ein Junge sein wird.“

„Das wünsche ich unserem Land auch. Aerien hat lange genug gelitten.“

„Ich bin froh, dass Jujako uns hilft. Aber wir müssen vorsichtig sein. Die Meisten kennen ihn als „Dabachoje“, den Messer werfenden Gaukler. Wir dürfen uns nicht verplappern!“

Kwon-Eri zog eine Augenbraue hoch. Die beiden durften sich nicht verplappern, waren aber auch nicht wirklich vorsichtig mit der Information. Na ja, immerhin wusste er jetzt, dass Dabachoje in Wirklichkeit Jujako hieß und den Rebellen Aeriens angehörte. Das machte den Messer werfenden Gaukler doch sehr sympathisch.

Langsam wollte er aber nicht mehr weiter mit in diese Angelegenheit hinein gezogen werden und machte sich bereit. Er dehnte seine Finge und massierte die Kälte aus seinen Beinen. Dann und vollkommen überraschen schmiss er sich auf den älteren der beiden Männer und entriss ihm die Tasche. Der erschrak sich furchtbar und fiel rittlings auf den Hintern. Der andere Mann versuchte zuerst noch, Kwon-Eri aufzuhalten, gab aber irgendwann auf und half lieber seinem geschockten Kumpanen. Flink wie eine Maus verschwand der kleine Junge so schnell wie er gekommen war wieder im Schatten einer Gasse und freute sich über diesen geglückten Diebstahl. Fröhlich lief er die Straße entlang und tat ernsthaft so, als gehöre diese volle Tasche ihm.
 

Als er an die Decke des Baumhauses starrte, weil er mal wieder wach da lag, fiel ihm das Gespräch der zwei Männer ein, die er bestohlen hatte. Sie hatten so viele Dinge gesagt, die er nicht verstanden hatte. Von denen er nichts wusste und auf einmal doch.

Kwon-Eri drehte sich auf die Seite und sah die Tasche an. Am Abend hatte sie sich als Reinfall herausgestellt. Er konnte nicht lesen, deshalb war es ihm unmöglich erschienen, die ganzen Dokumente zu verstehen. Außerdem hatte in der Brieftasche eine gähnende Leere vorgeherrscht und der Umhang, der ordentlich zusammengefaltet ebenfalls in der Tasche gelegen hatte, war ihm zu lang. Deshalb fiel es auf, dass er geklaut war.

Wütend setzte Kwon-Eri sich auf. Hatte der alte Mann denn wirklich nur nutzloses Zeugs mit sich herum geschleppt? Er ballte eine Faust und schlug auf die Bettdecke ein, die eigentlich für den ganzen Schlamassel nichts konnte.

Dann kam ihm die rettende Ablenkung in den Sinn. Malvenna. Es wurde mal wieder Zeit, dort vorbei zu schauen. Kwon-Eri stand auf und zog sich an. Er nahm den großen Umhang und legte ihn sich an. Egal, ob er zu groß war oder nicht, ihn wärmen tat er trotzdem.

Er verließ das Zimmer, nicht ohne die Tasche vorher komplett ausgeleert zu haben und sie in diesem Zustand hinter sich herzuschleifen. Sie könnte ja irgendwann nützlich sein.

Malvenna war ein vier Stundenmarsch weit entfernt und der würde ihm die Hälfte seiner Schlafzeit stehlen, aber irgendwie hatte Kwon-Eri das Gefühl, dass es doch etwas bringen würde, wenn er dorthin zurückkehrte.

Schließlich hangelte er sich wieder an der Leiter hinab und ging den üblichen Weg durch den Wald davon. Fast keiner der Baummenschen wusste, was Kwon-Eri zum Überleben tat, was er arbeitete oder wie er all die Verletzungen bekam. Sie sollten auch nicht wissen, warum er so aussah. Er wollte es nicht. Er wollte nicht, dass die wussten, was für ein Versager er war und wie oft er schon hätte sterben können.

Jujako würde die beiden Männer, wie waren ihre Namen noch gleich gewesen?, nach Malvenna führen. Und Kwon-Eri würde sie beobachten und weiter ausspionieren. Er wollte herausfinden, ob er den Thronerben kannte.

Seine Stiefel blieben ein paar Mal im Matsch stecken und jedes Mal zeigte Kwon-Eri, dass sie nicht für ihn gemacht waren. Außerdem war er noch nie so lange gelaufen, weswegen nach geraumer Zeit seine Beine anfingen zu schmerzen. Es war kein angenehmes Gefühl zu wissen, dass man noch mehr als die Hälfte des Wegs vor sich hatte.

Er erschrak sich immer häufiger, je länger er durch die Dunkelheit abseits der Straße wanderte. Die Bäume knackten, manchmal brachen sogar Zweige, der Wind raschelte in den wenigen Blättern, die den Weg zur Erde noch nicht angetreten hatten, und außerdem heulte er unangenehm laut. Kwon-Eri hörte ein paar Mal sogar Tiere. Er wollte gar nicht erst wissen, welcher Rasse sie angehörten.

Schnaufend und von Angst gepackt lief der kleine Junge schneller. Jetzt wurde ihm der Wald zu bunt. Er meinte inzwischen, Stimmen zwischen den hohen Bäumen ausmachen zu können. Das empfand er als nicht angenehm, weswegen er zur „Ich-Renn-Davon-Methode“ griff und seine Beine in die Hand nahm. Dass er ein Angsthase war, war ihm nicht fremd. Doch solche Fantasien zu spinnen, nur weil man nachts unterwegs war, war schon ein wenig komisch. Außerdem machte ihm das Sorgen. Vielleicht begann er ja bald zu zittern, wenn er nur irgendein seltsames Geräusch hörte.

Dann, nachdem er schon ein paar Mal aufgegeben und wieder Mut gefasst hatte, erblickte er einen kleinen Lichtstrahl zwischen den Wipfeln der Bäume. Der Mond! Der Wald wurde lichter und ließ endlich wieder das lang ersehnte Licht hindurch. Und dass der Wald lichter wurde, war ein Zeichen für das Ende der Reise. Malvenna musste gleich hinter dem großen Hügel, der direkt vor dem kleinen Jungen begann, sein. Vorausgesetzt war natürlich, dass sich Kwon-Eri nicht verlaufen hatte.

Schneller und immer schneller rannte er die kleine Anhöhe hinauf und oben angekommen, blickte er sich um. Es war, als würden diese warmen Lichter der Häuser ihn willkommen heißen; ihm zurufen, dass er zu ihnen hinab kommen und mit ihnen in Erinnerungen schwelgen sollte.

Ein Lächeln schlich über sein Gesicht. Er liebte Malvenna wie nichts sonst auf dieser Welt. Niemand konnte mit seiner Heimat konkurrieren, oder? Kwon-Eris Wangen erröteten, als er etwas darüber nachdachte. Na vielleicht mochte er Maeli genauso gern. Er schüttelte den Kopf, um sich auf andere Gedanken zu bringen. Doch jetzt, da er an das gleichaltrige Mädchen gedacht hatte, schaffte er es nicht mehr, an etwas anderes zu denken. Feuerrotes Haar, das ihr Temperament stark unterstrich, die grünen Augen, die so unschuldig und doch so klug wirkten, und Sommersprossen, die über die Wangen verteilt auftraten und jedem einen kindlichen Eindruck gaben. Außerdem war Maeli so unglaublich dünn. Wenn Kwon-Eri sich recht erinnerte, konnten Erwachsene ohne Probleme beide Hände um die Hüften legen und dennoch berührten sich die Fingerspitzen.

Er bekam eine Gänsehaut, als er daran dachte, wie Maeli beim Lachen aussah. Die schwungvollen Lippen und …

„Nicht daran denken, Zwergennase!“, schrie Kwon-Eri in den Wind und klatschte sich ein paar Mal mit den flachen Händen auf die Wangen. Er würde Maeli niemals bekommen, zumindest solange Debirian ebenfalls ein Auge auf sie geworfen hatte.

Müde rieb er sich die Augen und begann mit dem Abstieg vom Hügel. Mit jedem Schritt kam er dem äußeren Rand des Dorfes näher. Und schon kamen ihm Erinnerungen in den Sinn, die er eigentlich schon längst vergessen hatte.

Kwon-Eri schwieg, als er endlich die Dorfgrenze von Malvenna überschritt. In solchen Zeiten war er einfach nur andächtig. Wann würden die Männer kommen? Morgen erst. Solange musste er noch hier bleiben. Wo würden sie Dabachoje treffen? Er musste erstmal abwarten. Aber wo? Die Hauptstraße war wohl der beste Ort, um jemanden im Geheimen abzufangen und ein zwielichtes Geschäft zu betreiben. Marktplatz oder Stadtmitte? Egal, dachte sich Kwon-Eri. Irgendwo werden die beiden schon vorbei kommen müssen.
 

Hätte er gewusst, wie lange er würde warten müssen, dann hätte er sich diese ganze Idee mit Malvenna aus dem Kopf geschlagen. Und außerdem: Wen interessierte eigentlich, was die Rebellen von Aerien planten? Die Meisten würden stillschweigen und so tun, als hätten sie keine Ahnung. Niemand wollte mit Feinden Amphetarons in Verbindung stehen, weil alle wussten, dass die Galgen auf den Stadtmauern immer hungrig waren.

Kwon-Eri bibberte und rieb sich mit den Händen die Arme. Wenn er sich nicht täuschte, hatte sich das knackige Rot seiner Finger bereits in ein kühles Blau verwandelt. Langsam wurde ihm klar, dass er mit der Zeit nicht mehr ohne Handschuhe auskommen würde. Das Wetter spielte manchmal so verrückt, dass Mesfarian oft tagelang lahm lag. Warum musste er also ohne ausreichenden Schutz auskommen?

Die Sonne war vor einigen Stunden aufgegangen und der wöchentliche Markt war eröffnet worden. Es roch herrlich. Die verschiedensten Düfte der unterschiedlichsten Stände vermischten sich zu einer verlockenden Wolke. Der Geruch war so schwer, dass man eigentlich nur die Hand ausstrecken und zugreifen musste, um einen Teil davon zu ergreifen. Dort war ein Käsestand mit vielen Käsesorten aus vielen Ländern, da war eine Bäckerei mit frischem Brot. Es gab selbst frisch gepresste Früchte, die durch massenweise Importe nach Mesfarian gebracht worden waren. Dann gab es Kleiderstände, an denen man als armer Mann die kostbarsten Dinge betrachten konnte. Ledertaschen, Lederhüte, Ledermäntel, Lederhandschuhe. Man konnte es kaum aufzählen.

Müde rieb sich Kwon-Eri die Augen. Debachoje, er brauchte den Gaukler nur finden und ihm für den Rest des Tages folgen. Der Messer werfende Gaukler war allseits bekannt und verursachte häufig große Massenaufläufe. Nichts war leichter, als ihn zu finden. Man musste nur erstmal eine Spur von ihm haben.

Kwon-Eri mischte sich unter das Volk und hielt mehr oder weniger auffällig Ausschau nach dem jungen Mann, der ihm vor Urzeiten einmal einige Schriftzeichen beigebracht hatte. Der kleine Junge konnte sich kaum mehr daran erinnern, wie diese ausgesehen hatten. Sie waren für ihn schon damals nur Schnörkeleien gewesen. Wenn man zu wenig zu tun hatte, vertrieb man sich die Zeit mit irgendwelchen Kreisen und Strichen, um hinterher stolz vor anderen prahlen zu können, wie gut man das Alphabet beherrschte. Da die Mehrzahl der Menschen im Land nicht lesen geschweige denn schreiben konnte, erbrachte einem diese Leistung aber auch kein besonderes Ansehen. Wenn man ein Dokument beim Bürgermeister einreichen musste, tat man das mündlich und ließ es von einem extra dafür ausgebildeten Gelehrten am Ende in der unendlichen Bibliothek des Wissens einkatalogisieren. Mal ehrlich: Wen interessierte denn schon, wie das Gasthaus hieß, in dem man beinahe täglich seine Probleme mit Alkohol ertränken wollte, und am nächsten Tag so mancher nicht einmal mehr wusste, was am Vorabend, wie und wo passiert war.

Debachoje hatte feuerrotes Haar. Es fiel aber zwischen all den anderen rothaarigen Leuten aus Mesfarian kaum besonders auf, daher konnte sich der Gaukler ziemlich gut im Hintergrund halten. Er war wie beinahe jeder Mesfarianer ziemlich groß und schlank. Hinzu kam die Tatsache, dass er eine kurze Zeitspanne in der Armee des Landes verbracht hatte und daher über gute Kenntnisse des Messerwerfens, der Bogenschießerei und des Schwertkampfes verfügte. Doch nicht jeder wusste, dass Debachoje in Wirklichkeit ein verdammt guter Dieb war. Unter den Dieben, die in und um Malvenna ihr Unwesen trieben, wurde gemunkelt, dass Debachoje sich für keine wertvollen Dinge interessierte. Stattdessen, sagte man, klaue er nur Dinge, die zuvor in einem Auftrag an ihn angekündigt worden waren. Auftragsdiebe. Sie wurden von den Auftraggebern bezahlt und erhielten oft einen Anteil des Preises der Beute als zusätzlichen Aufschlag. Solche Diebe lebten gut, aber ihr Ruf als wahrer Gauner war so ziemlich dahin. Die Ehre, die sich hinter dem eigentlichen Beruf verbarg, wurde von ihnen missachtet. Sie besaßen eigentlich gar keine Ehre mehr – zumindest in den Augen der wirklichen Schurken.

Kwon-Eri sah sich um und suchte weiter. Ihm war klar, dass es einen Großteil seiner Zeit in Anspruch nehmen würde, Debachoje zwischen all diesem bunten Volk zu entdecken. Die beiden Männer vom Vortag waren aber auch kein guter Anhaltspunkt. Er hatte vergessen, wie sie ausgesehen hatten. Alt und mittel alt. Das half ihm aber auch nicht weiter. Für die nächste Zeit musste er halt einfach nach Debachoje suchen.

Die Mittagssonne stand schon hoch am Wolken verhangenen Himmel, als Kwon-Eri das erste Mal einen kurzen Blick auf den Auftragsdieb werfen konnte. Nach unendlich langem Suchen, wie es ihm vorgekommen war, hatte er ein Gespräch zweier Frauen belauscht und erfahren, dass Debachoje zuvor in der Stadtmitte am zugefrorenen Brunnen aufgetaucht war und sich nun mit einigen Kindern abgab. Also hatte sich der kleine Junge unauffällig in den Hauptstraßenstrom gemischt und war zum genannten Ort gegangen. Ohne jegliche Probleme fiel ihm dann der Rotschopf ins Auge, der inzwischen ein beachtliches Massenpublikum angelockt hatte. Heute schien der junge Mann aber nicht in der Laune zu sein, seine üblichen Streiche mit den Messern zu spielen. Er wirkte nervös und seine Miene war aufgesetzt. Doch nur ein recht erfahrener Beobachter hätte das entdecken können. Kwon-Eri musste sich selbst loben. Er hatte schon sehr früh gelernt, die kleinsten Zeichen zu deuten. Daher konnte er auch jetzt die Unruhe in den Bewegungen Debachojes erkennen.

„Debachoje! Debachoje! Mama sagt, dass du Messer essen kannst!“, rief ein vielleicht fünf Jahre alter Junge dem Dieb, der auf einem kleinen Holzpodest stand, entgegen. Die einzige Reaktion des jungen Mannes war ein kurzes Lächeln, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder in die Ferne richtete.

Kwon-Eri schmunzelte. Keiner der Menschen hier wusste von dem unglaublichen Vorhaben der Rebellen Aeriens. Nur er. Ganz allein er und die drei Männer. Konnte man diese um Geld oder Kleidung erpressen? Er hatte ja schließlich eine ganze Menge gegen sie in der Hand. Kwon-Eri schüttelte sich den Gedanken aus dem Kopf. Seine verstorbene Mutter hätte sich im Grabe umgedreht, wüsste sie, was er gerade gedacht hatte.

Plötzlich lenkte etwas seine Aufmerksamkeit auf sich. Da waren diese zwei Männer vom Vortag. Debachoje und sie schienen sich bereits auf den Weg gemacht zu haben, während Kwon-Eri seinen Gedanken nachgehangen hatte. Beinahe hätte er sie verloren! Der kleine Junge beeilte sich und ging hastig hinter ihnen her. Es fiel überhaupt nicht auf, dass er dieser kleinen Gruppe folgte. Sie gingen die Hauptstraße hinab, also mussten sie damit zurechtkommen, dass andere Menschen auch in ihre Richtung gingen. Daher schienen sie sich ihrer ziemlich sicher zu sein. Kwon-Eri konnte sein Lächeln gerade noch verbergen, bevor irgendein Fremder ihn als verdächtig anprangerte. Der kleine Junge näherte sich den drei Männern, um ihr Gespräch mit anhören zu können. Sie flüsterten, weswegen er kaum etwas verstand, denn der Lärm der Stadt übertönte ihre Stimmen.

„… Malvenna?“

„Gibt …? Bist du dir sicher?“

„Voll und ganz.“

„Eigenartig.“

„Warum? Ich habe … ein Auge auf … geworfen. Er ist …“

Kwon-Eri biss sich auf die Lippe. Den wichtigsten Teil hatte er schon einmal verpasst. Auf wen hatte Debachoje bitte ein Auge geworfen? Wäre doch bloß dieser Lärm nicht da! Dann hätte er auch nicht solche Schwierigkeiten die Sätze zu verstehen. Mit gespitzten Ohren folgte er den Dreien weiter. Wenn er doch bloß näher an sie heran kommen könnte.

„Oh! Nanu? Wen haben wir denn da?“

Der kleine Junge zuckte entsetzt zusammen, als er bemerkte, dass er soeben entdeckt worden war. Debachoje stand mit einer neckisch in die Taille gestemmten Hand vor ihm und hatte eine Augenbraue hochgezogen. Das gruselige Lächeln, das seinen Mund umspielte, wirkte auch nicht gerade einladend.

„Wo wollten wir denn hin, Kleiner?“

„Eh … zum … z-z-zum M-marktplatz!“, stotterte Kwon-Eri und drehte sich auf dem Absatz seiner Stiefel um, bevor er schnell weglief. Das konnte er sowieso am besten.

„Du entkommst mir niemals, Zwergnase!“, rief Debachoje und hatte den kleinen Jungen im Nu eingeholt. Mit einem geschickten Handgriff schaffte es der junge Mann, Kwon-Eri ohne weitere Probleme auf den Rücken zu werfen und ihn am Boden festzunageln.

„Was hast du da getrieben?“

„Nichts! Ich schwöre! Was soll ich da denn schon machen?!“

„Uns belauschen, zum Beispiel. Ich hatte schon die ganze Zeit so ein ungutes Gefühl. Was passiert? Uns folgt eine kleine Zwergnase! Überraschung?“

Kwon-Eri schluckte. Er hatte Debachoje noch nie wirklich leiden können, auch wenn der junge Mann eigentlich ganz nett war. Der kleine Junge fand die Ironie in den Worten seines Gegenübers nur äußerst unangenehm. Zu all dem kam die Tatsache hinzu, dass der Auftragsdieb ganz schön ungemütlich werden konnte, wenn ihm etwas tierisch auf die Nerven ging.

„Moment mal, warst du nicht der Dieb, der mir gestern meine Sachen geklaut hat?“, fragte der alte Mann neben Debachoje plötzlich. Der mittel alte Mann gesellte sich dazu und begutachtete Kwon-Eri, bevor er nickte.

„Du hast was?!“, schrie Debachoje diesem ins Gesicht.

„Was hätte ich denn machen sollen, hä? Der Alte hat doch selbst Schuld, ne! Er hat die blöde Tasche doch so herumgetragen, dass man sie ja stehlen musste!“, verteidigte sich Kwon-Eri ängstlich, doch die Wut auf dem Gesicht des jungen Mannes schien nicht verschwinden zu wollen. Stattdessen wuchs sie nach diesem Kommentar beträchtlich an.

„Spinnst du? Da waren wichtige Unterlagen drin. Wo sind sie?! Raus mit der Sprache!“

„Such sie doch, wenn du sie haben willst!“, schrie der kleine Junge zurück, bereute es aber sofort, als er mehrere Schläge ins Gesicht bekam. Seine Nase fing an zu bluten, doch Debachoje verpasste ihm ungehindert noch ein paar weitere Ohrfeigen, bevor der alte Mann entsetzt einschritt.

„Yujako! So hör doch auf! Das hat doch keinen Sinn. Mit Kindern -“

„ICH bin kein Kind!“, brüllte Kwon-Eri und zappelte hilflos unter dem starken Griff des Auftragdiebes.

„Halt die Klappe, Bastardkind!“, hauchte Debachoje ihm ins Gesicht und lächelte süßlich. Ein kalter Schauer lief dem kleinen Jungen über den Rücken.

„Yujako!“

„Ja, ist ja schon in Ordnung“, nörgelte dieser nach dem Befehl des alten Mannes und ließ Kwon-Eri los, bevor er selbst sich aufrichtete und die verlassene Seitengasse entlang sah. Der kleine Junge setzte sich auf und rieb seine immer noch blutende Nase in den geklauten Umhang. Seine Nase schmerzte höllisch und er schmeckte Eisen.

„Alles in Ordnung, Kleiner?“, fragte der alte Mann besorgt und reichte ihm mit einem liebevollen Blick ein Taschentuch. Doch Kwon-Eri empfand es als eine Qual, von einem alten gebrechlichen Mann bemitleidet zu werden, und schlug die helfende Hand beiseite.

„Verreck doch dran, alter Sack!“, schimpfte er, bevor er sich mühsam aufrichtete und sich vorsichtig einige Schritte zurückzog.

„Mein Name ist nicht ‚alter Sack’. Ich bin Bolba und ich bin erfreut dich kennen zu lernen!“

„Ach, hör doch auf mit dem Gewäsch. Das Gelaber will eh keiner hören, oder siehst du hier wen, den’s interessiert?“

Bolba lächelte und nickte, bevor er antwortete: „Du scheinst dich dafür zu interessieren, andernfalls wärst du ja jetzt nicht mehr hier, habe ich Recht?“

Kwon-Eri stutze und sah den alten Mann misstrauisch an. Ihm gaben zwar viele Widerspruch, aber selten war einer dabei so freundlich - oder vielmehr förmlich. Irgendwie fand der kleine Junge das ganz und gar nicht witzig. Es verletzte ihn mehr als eine Pöbelei.

„Wie ist denn dein Name, Kleiner. Wenn ich den erfahren dürfte?“

„Ku …“

„Ku?“

Debachoje stöhnte und höhnte dann: „Hast du deine Stimme verloren, Prinzesschen?“

Kwon-Eri strafte den jungen Mann mit einem bösen Blick ab und wandte sich wieder Bolba zu, der immer noch auf eine Antwort zu warten schien.

„Kwon-Eri.“

„Oh! Was für ein seltener Name!“, frohlockte der alte Mann und klatschte aufgeregt einmal in die Hände. Debachoje rollte mit den Augen und meinte trocken:

„Die kleine Zwergnase heißt aber nicht Kwon-Eri.“

„Nicht?“, fragte Bolba erstaunt und drehte sich zu Yujako um.

„Nein. Das ist nur ein Spitzname, aber dieses Bastardkind will seinen wahren Namen nicht verraten. Angeblich weil der peinlich ist.“

Kwon-Eri zog die Nase hoch und schrie wütend: „Aber selbst! Heißt in Wirklichkeit Yujako und nennst dich Debachoje, ne! Also halt du bloß dein Schandmaul. Hast hier nix zu melden.“

„Ich komm gleich mal ’rüber!“, knurrte Yujako gefährlich.

Der kleine Junge zog den Kopf ein und murrte beleidigt in seinen Kartoffelsack. Er war müde, inzwischen auch durchgefroren und durchnässt. Gab es noch etwas Schöneres? Kwon-Eri hoffte, dass er irgendwo ein warmes Plätzchen erwischte und dort übernachten konnte. Ihn interessierte es inzwischen weniger, was die Rebellen Aeriens für die nahe Zukunft planten. Er wollte eigentlich nur noch zurück zu den Baummenschen. Heim in seine eigene Hütte, die wenigstens windgeschützt war.

Außerdem hatte die alte Stammesführerin der Baummenschen ihn gewarnt und ihm erklärt, dass er sich den braunen Farbstoff aus den Haaren waschen sollte, andernfalls würden sie für immer diese Farbe annehmen. Das musste er heute noch erledigen. Gründlich jede einzelne Strähne mit ordentlich Seife einschäumen und dann auswaschen. Dann würde er für eine Woche, oder manchmal sogar länger, keinen Farbstoff mehr in die Haare mischen und seine ursprüngliche Farbe würde zurückkehren. Schließlich könnte er am Ende ohne Probleme die Haare wieder braun färben.

Der alte Mann lächelte und fragte Debachoje: „Wo ist das nächste Gasthaus? Ich würde gerne ein schön heißes Bad nehmen. Ich bin es nicht gewohnt, du verstehst.“

„Der Winter kann alten Leuten ganz schön in die Glieder fahren, nicht wahr, Bolba?“, spottete der Auftragsdieb und meinte anschließend: „Ist aber eh besser so. Ich wollte euch sowieso den Weg zu einem abgelegenen Ort zeigen, damit ihr dort die Nacht verbringt. Es wird ja schon dunkel. Da nützt es nichts, sich durch das Schwarz zu quälen. Wir machen morgen weiter. Stattdessen können wir die Lage drinnen besprechen. Ist mir auch lieber. Es wird ziemlich kalt, wenn die Nacht anbricht.“

Bolba wirkte erleichtert und ächzte: „Ah, wie sehr ich mich auf ein warmes, weiches Bett freue.“

Orima erkundigte sich mit einem etwas misstrauischen Tonfall: „Und wo ist der abgelegene Ort?“

„Keine Bange, keine Bange“, versicherte Debachoje den beiden Männern hastig und fuhr fort: „Es ist ein vollkommen vertrauenswürdiges Fleckchen! Sehr friedlich und abseits der Hauptstraße.“

Der alte Mann nickte fröhlich und sagte: „Fein! Dann nehmen wir diese Gelegenheit doch wahr und machen es uns gemeinsam gemütlich, Yujako!“

„Natürlich! Nur zu, nur zu.“

„Aber nicht ohne den Kleinen!“, erwiderte Bolba und nahm Kwon-Eri in den Arm. Dem schien das aber gar nicht zu gefallen, weswegen er sich große Mühe gab, aus dem eisernen Griff des alten Mannes loszukommen.

„Ich geh da nicht hin! Was soll ich denn da. Ich hab weder die Kohle, noch die Lust an so einem Ort zu vergammeln. Seh’ ich aus wie einer dieser reichen Schleimer?“

„Aber, aber, Kleiner. Du bist eingeladen!“, wisperte der alte Mann und lächelte liebevoll, bevor er Yujako folgte, der immer wieder beängstigend böse Blicke über die Schulter warf. Dem Dieb schien es gar nicht zu gefallen, dass sie einen weiteren Mitreisenden gefunden hatten. Kwon-Eri hingegen kam sich vor wie ein Stück einer tonnenschweren Last.
 

Das Gasthaus war wirklich an einem abgelegenen Ort. Es verstrahlte eine einladende Aura, die viele Gäste anlockte. Von außen war es eher unscheinbar. Zugeschneit wie jedes andere Haus in dieser Stadt, verschlafen und friedlich. Nichts Auffälliges, keine Menschenseele. Als sie in das Innere traten und die schwere Holztür hinter ihnen zugefallen war, wurde ihnen das Gegenteil bewiesen. Hier saßen tatsächlich viele Reisende und tranken ihr abendliches Bier. Musik gab es sogar von einer hauseigenen Gruppe!

Kwon-Eri hatte noch nie ein solches Spektakel miterlebt. Um ehrlich zu sein, war er auch noch nie in einem Gasthaus gewesen. Jeder Dieb wusste, dass es hier nicht oft etwas zu holen gab. Die Leute, überwiegend männlich, lachten und spaßten miteinander, während sie den Tänzerinnen zusahen. Einige der schlimmeren Sorte versuchten stets, einer der Damen unter den Rock zu schauen, doch das gelang nur selten. Die Frauen selbst trugen oben herum eng geschnittene Blusen und ab der Hüfte lange Röcke, die oft auf dem Fußboden schliffen. Es gab diese Version in mehreren farblichen Ausführungen. Ob die Frauen, zum Teil waren es auch Mädchen, nun arm oder reich waren, sah man nur an der Menge und Beschaffenheit der Stickereien. Diese Kunst hatte schon immer viel Bewunderung geerbt.

„Kleiner, lass uns einen Raum nehmen und schnell aus dem Hauptraum heraus“, flüsterte Bolba und schob den erstaunten Jungen vor sich her. Am Tresen angelangt, beugte sich Yujako vor und rief, die Musik übertönend, dem Wirt zu: „Wir sind vier Mann. Dementsprechend vier Betten, einen Waschraum und Aufenthaltsraum.“

„Wurde zuvor von einem Boten reserviert?“

„Jawohl.“

„Auftragsnummer.“

„134-586-678, Kennwort braucht Ihr nicht.“

„Gut. Ich werde nachschauen, ob es einen solchen Auftrag gibt. Habt etwas Geduld, der Herr“, antwortete der Wirt und verschwand mit einem neugierigen Blick auf Kwon-Eri im Hinterstübchen, das eigentlich nur als Arbeitszimmer diente.

Der kleine Junge beobachtete Yujako der immer wieder nervös auf der Unterlippe herumkaute. Der junge Mann schien wohl oder übel ziemlich gut gelogen zu haben, denn der Wirt kam wieder und meinte: „Verzeiht, aber ein Bote kam hier nicht an. Ich könnte Euch jedoch ein solches Zimmer geben.“

Während Kwon-Eri den Blick im Raum schweifen ließ, fiel ihm auf, dass Orima und Bolba sich ab und zu Blicke zuwarfen, als würden sie still miteinander reden. Es war nicht einfach die anderen Gedanken zu lesen oder zu verstehen, doch die Beiden schienen die Kunst gut zu beherrschen. Manchmal nickte der Eine, dann wiederum der Andere. Es war eigentlich ganz lustig mit anzusehen, weswegen der kleine Junge mitunter bis über beide Ohren lächelte. Als Bolba auffiel, dass Kwon-Eri sie beobachtete, lächelte der alte Mann und meinte: „Eine meiner absoluten Spezialitäten, kleiner Mann.“

Die Treppenstufen in den ersten Stock knarrten ziemlich laut, als die kleine Reisegemeinschaft hinaufging. Vom Wirt durch die Gänge geführt, schlenderten die Männer und der Junge langsam auf ihre Räume zu. Erst jetzt fand Kwon-Eri die Zeit, den Wirt zu beäugen. Ein alter Mann, sogar älter als Bolba, mit vielen tiefen Falten im Gesicht. Er hatte einen kleinen Buckel und hielt ständig eine Hand als Stütze an sein Rückrad. In seiner anderen Hand war ein Gehstock, der in einem gleichmäßigen Rhythmus auf den alten Holzboden klopfte. Wann immer der Wirt eine Stufe erklomm, ächzte er Angst einflößend. Das war kein gutes Zeichen. Vielleicht sollte der alte Mann die Möglichkeit bedenken, sein Gewerbe weiterzuvererben und sich zur Ruhe zu setzen.

„Wir sind da. Ich wünsche Euch einen angenehmen Aufenthalt. Sollte es Probleme oder besondere Wünsche geben, so seid so frei und kommt zu mir“, meinte der Wirt und schloss die Zimmertür auf, bevor er zur Seite trat, um die Gemeinschaft einzulassen. Yujako verneigte sich leicht und erwiderte: „Ich denke, dass wir dieses Angebot, wenn nötig, in Betracht ziehen. Vielen Dank, werter Herr.“

„Gute Nacht, die Herren.“

„Gute Nacht“, antworteten die Vier und warteten, bis der Wirt am Ende des Gangs verschwunden war. Erst dann traten sie in das Zimmer und sahen sich um. Kwon-Eri grummelte und fragte sich insgeheim, wieso er nun eigentlich hier gelandet war. Jetzt musste er doch tatsächlich die Nacht mit drei vollkommen fremden Leuten verbringen, die ihm zudem nicht mal geheuer waren.

Orima hatte sich an den kleinen runden Tisch in der Mitte des Raumes gesetzt. Er stellte seine Tasche auf dem Fußboden ab und lehnte sich in dem Stuhl zurück, bevor er zu den anderen hinüber sah. Auch Yujako testete die Möbel im Raum und hatte sich probehalber auf einem Bett niedergelassen. Es quietschte, als er darauf sitzend auf und ab hüpfte. Dann drehte er sich zu Bolba um und sagte mit einer einladenden Geste: „Willkommen im Reich der Gasthäuser von Malvenna.“

„Oh, vielen Dank!“, rief Bolba aus und lächelte wieder sein liebevolles Lächeln.

„Das Bad ist da. Ein Kumpane erzählte mir, dass man die Tür sogar versperren kann, falls es denn unbedingt nötig ist“, erzählte Yujako mehr seinen nackten Füßen, nachdem er seine Stiefel ausgezogen hatte.

„Nun gut, vielen Dank. Ich denke, ich werde das Schloss nicht brauchen. Dennoch warne ich euch, wir sollten trotzdem auf der Hut sein!“

„Natürlich. Das ist jawohl selbstverständlich. Solche Leute wie wir können und dürfen niemandem vertrauen.“

Kwon-Eri schwieg und ließ sich in einer Ecke des Zimmers auf dem Fußboden wieder, um alle Personen in diesem Raum im Blick zu haben. Er zog die Beine an den Körper und schlang seine Arme um die Knie, bevor er anfing, die Männer misstrauisch zu beäugeln. Sie schienen das nicht zu bemerken, stattdessen erläuterten sich Orima und Yujako gegenseitig ihren derzeitigen Standpunkt, während Bolba im Bad war.

Es dauerte eine ganze Weile, bis der alte Mann schließlich wieder in den Aufenthaltsraum kam und einen erschöpften Seufzer von sich gab. Orima lächelte aufmunternd und erhob sich, um ebenfalls ins Badezimmer zu gehen.

„Ah, ich denke, das hat gut getan!“, stieß Bolba aus und ließ sich auf ein anderes Bett fallen. Es befand sich in der Nähe des Fensters und war vollkommen in Mondschein gehüllt.

„Bolba, du wirkst erschöpft. Bist du dir sicher, dass du das durchhältst?“, fragte der junge Mann, während er sich genüsslich auf seinem Bett ausstreckte.

„Ich tue das ja eigentlich auch für mich. Ganz aus Eigennutz. Also bin ich mir ziemlich sicher, dass ich hier nicht scheitern werde!“

„Das ist gut. Ich zweifele manchmal an meinem Durchhaltevermögen, weißt du.“

„Yujako, das wird schon.“

Orima trat aus dem Bad und winkte Yujako zu sich hin. Der stand auf und ging an dem mittel alten Mann vorbei, um sich ebenfalls im Waschraum den Schmutz des Tages abzuwaschen. Seufzend legte sich Orima auf das Bett neben dem des Auftragdiebes. Da die vier Betten je zwei zu zwei aufgeteilt und gegenüber aufgestellt worden waren, blieb für Kwon-Eri nur noch das Bett gegenüber von Yujakos übrig. Der kleine Junge beobachtete immer noch misstrauisch die beiden Männer, die sich abgekämpft auf ihren Betten ausgestreckt hatten.

„Kwon-Eri?“

„Hm“, antwortete der Junge leicht erschrocken, weil jemand mit ihm sprach und ihn nicht völlig ignorierte. Bolba lächelte und meinte:

„Möchtest du dich auch gleich waschen?“

„Seh ich so aus, als hätte ich’s nötig?“, warf der kleine Junge zurück.

„Natürlich! Sieh nur, wie schmutzig du bist!“

„Na und? So bin ich halt! Es hat noch nie jemanden gestört, also warum muss ich nur wegen euch mein Verhalten ändern, hä?“

„Nun, du wurdest von uns eingeladen, deswegen musst du jetzt auch ein braver Gast sein und uns keine Schwierigkeiten machen. So schmutzig darfst du nicht ins Bett.“

„Als wollte ich, dass ihr mich einladet! Ich hätte auch woanders übernachten können.“

„Halt die Klappe, Zwergnase!“, schimpfte Yujako, nachdem auch er seinen Badezimmeraufenthalt beendet hatte, und rieb sich seine Haare mit einem Handtuch trocken. Mit einem süßlichen Grinsen fuhr er fort: „Waschen! Und zwar sofort!“

„Ach, Yujako, sei doch nicht so!“, meinte Bolba ein wenig zurückhaltend.

„Hätte der Kleine uns nicht belauscht, hätten wir nicht das Problem, was wir mit ihm machen sollen! Also darf ich ihn dafür abstrafen!“

Mit einigen großen Schritten hatte der junge Mann den Aufenthaltsraum durchquert und zog Kwon-Eri am „Kragen“ des Kartoffelsacks auf die Beine. Dann, unter geringerer Gewaltanwendung, zwang er den kleinen Jungen ins Badezimmer und rief durch die geschlossene Tür: „Wenn du dich nicht sauber machst, lass ich dich da drinnen verschimmeln.“

Bolba seufzte und blickte zu Orima hinüber, der ebenfalls nur einen Seufzer ausstieß, bevor er sich aufsetzte und an die Holzwand lehnte. Es herrschte für einige Minuten ein betretenes Schweigen, das niemand unterbrechen wollte. Yujako hatte sich letztendlich auf einen Stuhl am Tisch gesetzt und starrte nun verträumt aus dem Fenster, das neben Bolbas Bett war.

Es dauerte nicht lange, da fragte Orima interessiert: „Sagt mal, seid ihr sicher, dass der Kleine sich wäscht? Ich höre nichts.“

„Wahrscheinlich sitzt er irgendwo in einer Ecke des Raumes und schmollt“, stellte Yujako verächtlich fest und blickte hinüber zur Badezimmertür. Von deren anderer Seite man tatsächlich nichts vernehmen konnte.

„Soll ich nachsehen? Ihr könnt euch ja schon einmal ausruhen“, schlug Bolba vor und stand von seinem Bett auf. Mit einem leisen Ächzer setzte er sich in Bewegung und ging zur Tür hinüber. Als er diese öffnete und gerade etwas fragen wollte, blieb ihm das Wort im Hals stecken. Er riss die Augen auf und sog die Luft ein.

„Was ist?“, fragte Orima alarmiert und sprang von seinem Bett auf, nachdem er nach einem Dolch gegriffen hatte, den er immerzu in seinem Gürtel bei sich trug.

„Mein Gott“, flüsterte Yujako und starrte ebenfalls ins Bad, als er einen Blick hineinwerfen konnte.

Die Männer waren wie festgenagelt und sahen einfach nur auf den kleinen Jungen, der nicht minder erstaunt zu den Dreien aufsah. Er hätte alles dafür gegeben, jetzt irgendwo in einer der Hütten der Baummenschen zu sein und dort in Frieden schlafen zu können, doch das war ihm wohl nicht gegönnt worden. Stattdessen musste er sich von irgendwelchen Männern anstarren lassen. Er fand das ziemlich unheimlich.

„Was ist?!“, fauchte er, nun plötzlich wütend geworden. Doch die Männer schienen sich nicht wieder fassen zu können. Besonders Bolba war zu Stein erstarrt und konnte einfach nichts anderes machen, als dort dumm herum zu stehen und den kleinen Jungen anzuschauen. Selbst Orima, den man nicht so leicht aus der Fassung bringen konnte, war geschockt. Yujako blickte nicht minder beeindruckt zwischen Kwon-Eri, Bolba und Orima hin und her.

„Ich denke, damit hat sich das Suchen erledigt“, flüsterte er und wandte sich ab, um sich wieder an den runden Tisch zu setzen. Er lehnte sich in dem Stuhl zurück und knabberte am Daumennagel. Die beiden anderen Männer schienen wie aus einer Trance aufzuwachen und der mittel alte Mann schüttelte sich die Steifheit aus dem Kopf. Dennoch blieb Orima dort stehen, wo er war, während Bolba vorsichtig Schritt für Schritt auf Kwon-Eri zu machte. Mit einem gehauchten Stottern fragte er: „Kwon-Eri?“

„Wer denn sonst?!“, fauchte der und zog sich zurück. Er hatte auf dem Boden gesessen. Oben herum war er entblößt und um seine Hüften war ein Handtuch gewickelt. Das war ziemlich unangenehm, so entdeckt zu werden. Ihm war es auch ein wenig peinlich, denn irgendwie hatten die Männer seine Privatsphäre gebrochen und ihn beim Baden – oder vielmehr Waschen – erwischt.

„Bist du wirklich … Kwon-?“, hakte Bolba noch einmal nach, wurde aber von Kwon-Eri unterbrochen, der nun fuchsteufelswild war und wütend schrie: „Ja, ja, ja! Sehe ich nicht so aus wie Kwon-Eri oder warum schaut ihr mich so an, hä?!“

„Aber doch, du siehst aus wie er, nur du siehst auch aus wie ER!“, beschwichtigte Bolba ihn und kniete sich auf den Boden, bevor er mit einer Hand nach dem Gesicht des kleinen Jungen griff und es am Kinn anhob. Nun sahen sich die Beiden gegenseitig in die Augen und alle schwiegen.

„Wie wer?!“

„Wie Difimian, Kleiner. Du weißt schon …“

„Spinnst du?! Ich und der?! Nie im Leben! Was soll ich denn mit dem?!“

Bolba lächelte verzweifelt und ganz langsam schlich sich eine tiefe Trauer in seinen Blick. Für ein paar Sekunden schien er andächtig den Kopf zu senken und ernsthaft ein Totengebet abzuhalten, doch dann hob er den Kopf und begann zu lachen. Mit einer stürmischen Freude umarmte der alte Mann Kwon-Eri und drückte ihn ganz fest an sich. Der kleine Junge empfand das als sehr angenehm, auch wenn er ja eigentlich nackt und das irgendwie schon pervers war.

„H-hör auf damit … Das stimmt doch nicht. Woher wollt ihr überhaupt wissen, dass ich der Richtige bin?“

„Das werden wir jetzt herausfinden!“, meinte Orima und hob Kwon-Eri vom Boden hoch. Bolba stand ebenfalls auf und ging mit seiner ‚rechten Hand’ in Richtung Yujako. Der kaute immer noch leicht angespannt am Daumennagel und sah interessiert zu seinen drei Mitreisenden, bevor er seinen Zweifel Kund gab: „Und wie das?“

„Das Kaiserhaus von Aerien –“, versuchte Bolba zu antworten, als Kwon-Eri ihn unterbrach und ihm ins Wort fiel: „Hä? Kaiserhaus?! Ich dachte Difimian wäre ein Groß-König.“

„Ist das Gleiche“, erwiderte der alte Mann mit einem Lächeln und sprach dann weiter: „Also, das Kaiserhaus von Aerien hat ein kleines, aber feines Markenzeichen.“

„Und das wäre?“, fragte Yujako und setzte sich gerade hin, um etwas besser sehen zu können, was nun passieren würde. Orima hatte Kwon-Eri hingegen schon auf dem Tisch abgesetzt und wartete ebenfalls auf ein Zeichen seines Organisationsleiters.

„Kwon-Eri, wir müssen deine Privatsphäre leider etwas verletzen, wenn du nichts dagegen hast“, erläuterte Bolba mit einem fragenden Blick zu dem Jungen, der mit einer hochgezogenen Augenbraue das Geschehen beobachtet hatte. Als er nun diesen Satz hörte, verdunkelte sich sein Gesicht und er zog das Handtuch enger um seine Hüften.

„Inwieweit?“, knurrte er und senkte den Kopf, damit man seine rot angelaufenen Wangen nicht sehen konnte.

„Direkt nach der Geburt wird dem männlichen Thronerben eine kleine Brandmarke gegeben, die ihn sein Leben lang als solchen ausgibt. Sie kann ganz leicht versteckt werden, sollte es eventuell zu Schwierigkeiten kommen.“

„Und was ist, wenn ich sie aus irgendwelchen Gründen nicht habe? Wie wollt ihr dann bitte beweisen, dass ich nicht zufällig aussehe wie Di-dingsbums da?“

„Difimian“, mischte sich Yujako entnervt ein und rollte mit den Augen.

„Dann weiß ich auch nicht weiter. Das wäre enormes Pech“, räumte Bolba ein und sah mit einem verzweifelten Blick hinüber zu Orima, der ebenfalls eine ernste Miene aufsetzte, um diese Möglichkeit zu überdenken.

„Dürfen wir deine Privatsphäre denn überhaupt verletzen?“, hakte der Auftragsdieb, der inzwischen angefangen hatte zu kippeln, mit einem verächtlichen Blick auf Kwon-Eri nach. Der fühlte sich sofort beleidigt und antwortete: „Nein.“

Dann stand er auf und schlang das Handtuch wieder enger um seine Hüften, bevor er misstrauisch zu Yujako sah und sich dann einen Schritt von ihm entfernte. Zu spät bemerkte er, dass der junge Mann nur als Ablenkungsmanöver gegolten hatte und die wahren Feinde Bolba und Orima waren, die ihn jetzt mit grober Gewalt hochhoben und auf den Tisch nagelten.

„Verzeih meine Unhöflichkeit, aber wir haben weder Zeit noch Geduld, um uns auf falschen Stolz einzulassen!“, nuschelte der mittel alte Mann ihm ins Ohr und hielt ihn mit dem Rücken auf die Tischplatte gedrückt. Yujako stand auf und übernahm das Fußende, bevor er mit einem fiesen Grinsen zu Bolba meinte: „So einfach ging das. Da habt ihr aber jede Menge zu tun, wenn ihr ihm zeigen wollt, wo’s lang geht.“

„Wohl wahr, wohl wahr. Wir werden jetzt erst einmal schauen, ob du das Zeichen hast. Wenn nicht, lassen wir dich ohne Umschweife gehen. Wenn doch, dann müssen wir dich mitnehmen.“

Kwon-Eri starrte die drei Männer aus aufgerissenen Augen an. Sein Angstschrei war ihm im Hals stecken geblieben und er war viel zu schwach, um sich großartig gegen den starken Griff eines der Männer zu wehren. Außerdem füllten sich seine Augen mit Tränen, auch wenn er versuchte, sie zu verbergen. Er hatte sich ziemlich erschrocken, denn im ersten Moment hatte er gedacht, dass dieses gesamte Gerede von Rebellen nur ein einziger Scherz gewesen war. Doch jetzt half ihm der Gedanke, dass alles Realität war, auch nicht weiter, denn er bemerkte, wie weit seine Privatsphäre verletzt wurde. Man hatte ihm das Handtuch abgenommen und untersuchte nun seinen Schambereich.

„Hört sofort auf damit!“, murmelte Kwon-Eri erschöpft und drehte den Kopf auf die Seite, um nicht hinsehen zu müssen. Er kniff die Augen zusammen und wartete auf irgendetwas Unangenehmes, aber es kam nicht. Stattdessen meinte Bolba ganz ruhig in die Runde: „Wunderbar. In einer Woche brechen wir nach Aerien auf!“

Plötzlich hörte der kleine Junge ein Aufatmen von allen Seiten und stellte fest, dass die Männer auf einmal sehr glücklich aussahen. Doch irgendwie fand Kwon-Eri das nicht ganz so spannend. Er bemühte sich lieber, sein Handtuch an sich zu reißen und sich in Sicherheit zu bringen. Ihm hatte das nicht gefallen, was diese Leute ihm angetan hatten. Erstens hatten sie einfach mal eben so seine Privatsphäre verletzt, zweitens hatten sie ihn gewaltsam zu Dingen gezwungen, zu denen er zuvor ‚nein’ gesagt hatte, und drittens hatte er sich sowieso schon die ganze Zeit unwohl gefühlt. Dann kamen noch sein lautes und schnelles Herzklopfen, die plötzlichen Hitzewallungen und die vielen Schocks hinzu. Heute war wirklich nicht sein Tag gewesen.

Kwon-Eri spürte, wie ihn die Männer losließen und sich hinsetzten, um glücklich und erschöpft vor sich hinzuschauen. Er griff hastig nach seinem Handtuch und rannte quer durch den Raum ins Badezimmer. Dort angekommen, schloss er sich ein und atmete erstmal ganz tief durch. Die Röte aus seinem Gesicht wollte nicht verschwinden und auch das flaue Gefühl im Magen war noch da.

„Kwon-Eri?“, fragte Bolbas Stimme von irgendwo auf der anderen Seite der Tür. Doch der kleine Junge hatte nicht vor, sich noch einmal zu den Dreien zu gesellen. Stattdessen dachte er darüber nach, solange in diesem Raum zu bleiben, bis die Männer aufgaben. Dabei war er aber leider im Nachteil.

Er schlang die Arme um die Beine und legte den Kopf auf die Knie. Auch jetzt war ihm immer noch heiß. Er fühlte sich auch nicht sehr wohl in seiner Haut. Sie kribbelte und zwickte unangenehm. Ihm war noch nie jemand so nah getreten, wie diese Männer es eben getan hatten. Wenn er also tatsächlich der Thronerbe von Aerien war, dann musste er solche peinlichen Situationen von eben wohl noch öfters durchstehen, weil man für alle noch so kleinen Dinge Diener hatte. Zumindest hatte Kwon-Eri das von anderen Menschen gehört, die etwas mehr Ahnung vom Königshaus hatten.
 

Er schreckte hoch, als jemand leise an die Tür klopfte und flüsterte: „Kwon-Eri? Es ist spät. Ist alles in Ordnung?“

Es war Bolba, der sehr besorgt klang. Seine Stimme hatte er gesenkt, damit er niemanden aufweckte. Orima und Yujako schienen zu schlafen, denn von ihnen hörte man nichts mehr. Kwon-Eri bemerkte sofort, dass er wohl eingenickt war. Die Nacht schien schon lange angebrochen zu sein, denn Bolba flüsterte weiter: „Ich habe die dritte Nachtwache übernommen.“

„Aha“, nuschelte der kleine Junge und sah zu der großen Badewanne gegenüber der Tür. Sie funkelte im hellen Mondlicht, das durch das kleine Seitenfenster in den Waschraum eindrang. Er hörte ein Rascheln auf der anderen Seite der Holztür und spitzte die Ohren.

„Deine Kleidung, die du getragen hast, die bewahren wir auf. Ich habe hier ein sauberes Hemd, das du anziehen kannst, wenn du magst. Wir haben es aus Aerien mitgebracht.“

Kwon-Eri dachte das erste Mal seit ein paar Tagen wirklich nach. Wenn er jetzt die Tür aufmachte, dann konnte er seinen geschundenen, steifen Rücken entlasten und das erste Mal in einem richtigen Bett schlafen. Er würde ein Hemd tragen, das für den Thronerben Aeriens erstellt wurde.

Der kleine Junge biss sich auf die Lippe. Das klang verlockend, weil er müde war und liebend gern tief schlafen wollte. Doch er wollte den Verlockungen nicht nachgeben und konzentrierte sich auf andere Dinge. Ihm fiel auf, dass die Hitze von vor einigen Stunden verschwunden war. An ihrer statt war ihm jetzt kalt. Natürlich, er hatte bis eben nur im Handtuch eingewickelt auf dem Fußboden eines Waschraums ohne Beheizung gesessen und in einer Halbschlafphase gelegen.

„Kwon-Eri? Bitte. Ich weiß, dass es ungeschickt von uns war, aber wir mussten das tun!“

„Ist schon in Ordnung“, antwortete der kleine Junge leise und stand auf. Als er die Tür öffnete, schenkte Bolba ihm ein warmes Lächeln. Der alte Mann drückte ihm ein samtiges Hemd in die Hand und drehte sich um, bevor er auf Zehenspitzen zurück zu seinem Bett schlich. Kwon-Eri zog das Hemd an und bemerkte, dass es ihm bis kurz über die Knie reichte. Es war tatsächlich zu groß, aber gemütlich und warm.

Müde rieb er sich die Augen und spazierte auf sein Bett zu. Als er sich hineinlegte, musste er seufzen. Es war wirklich so gemütlich, wie die Menschen in der Stadt diese Betten beschrieben hatten. Doch egal, wie oft Kwon-Eri sich umdrehte und hin und her wälzte, er fand keinen Schlaf. Als er endlich wegnickte, musste er einen kurzen aber schlimmen Alptraum ertragen, weswegen er schon bald wieder aufwachte.

„Du kannst nicht schlafen?“, fragte Bolba von links. Als Antwort nickte der kleine Junge lediglich, stieß dann aber später ein eindeutiges ‚Ja’ aus und sah zweifelnd zu dem Organisationsleiter, der aufrecht in seinem Bett saß und an der Wand lehnte.

„Komm her“, flüsterte Bolba und winkte Kwon-Eri zu sich. Der reagierte sofort und kletterte aus seinem Bett, um hinüber zu dem alten Mann zu gehen, der schon wieder liebevoll lächelte. Ein wenig peinlich berührt, stand der kleine Junge am Bettrand und sah auf seine nackten Füße. Er fror ein bisschen, doch das war nichts im Vergleich zu der Kälte, die in den Baumhütten vorherrschte.

Bolba zog den Jungen in sein Bett und umarmte ihn leicht, bevor er sagte: „So besser?“

„Hm“, nuschelte Kwon-Eri, kuschelte sich enger an den warmen Körper des Mannes und schloss die Augen. Als er gerade wieder so richtig müde wurde, fragte der alte Mann: „Wie ist dein Name?“

„Kwon-Eri.“

„Ich meine deinen richtigen Namen.“

„Versprichst du, dass du nicht lachst?“

„Warum sollte ich?!“

„Weil der Name peinlich ist.“

„Das werden wir ja sehen!“

Kwon-Eri seufzte und schaute Bolba an, der im Mondlicht plötzlich uralt und gleichzeitig sehr jung aussah. Als der alte Mann ihn wieder mit einem warmen liebevollen Lächeln beschenkte, schloss der kleine Junge die Augen und murmelte seinen Namen in die Bettdecke, sodass nur Bolba ihn verstand und breiter lächelte:

„Aerien.“



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von: abgemeldet
2008-05-17T13:53:00+00:00 17.05.2008 15:53
Ui, supiiii
hab mich total verspätet und ist irgendwas in der vergessenheit geraten, nya auf jeden fall bin ich da^^
und ich find es wieder supii, besser als das andere kappi, so gesagt du hast dich noch mehr verbessert, also ich meiine, man bin verwirrt, ich find es super wie du schriebst und deine idee erst xD

Sa-chan


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