Zum Inhalt der Seite

Lost Things

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Das Schicksal

Ein dumpfer Aufprall! - Metall schmetterte auf dem Asphalt! - Räder rutschten auf der regennassen Straße! - Ein wildes Zucken durchfuhr den Fahrer, welcher durch die Luft geschleudert wurde! - Dann Blaulicht und Sirenen! - Viele Töne auf einmal, ohne einen Punkt, von woher aus diese kamen! - Und das Blut floss in eine Pfütze! - Es schimmerte herrlich rot!
 

"Vic? Vicky, was hast du?", fragte Leif und Vic zuckte aus ihrer Vision auf.

"Hast du etwas gesagt?", wollte sie wissen und sie durchfuhr plötzlich ein ungewolltes Zittern.

"Ich wollte nur wissen, wann du dich endlich fertigmachst."

"Bitte sei nicht sauer, aber ich will nicht mit in die Bar."

In ihrer Stimme hatte ein Hauch von Angst gelegen, welcher ihn dazu anhielt auf sie zuzugehen. So sehr er jedoch zu ihr wollte, er konnte das unmittelbare Schaudern, welches durch seinen Körper jagte, wenn er jenes Zimmer betrat in dessen Mitte sie stand, nicht verhindern. Leif sog tief etwas Luft in seine Lunge und schritt schnell mit zusammengedrückten Augen auf Vic zu. Es kam ihm fast vor als wäre er ein Ertrinkender und sie sein rettendes Land. Er wusste, wenn er sie fassen konnte, dann brauchte er sein Augenmerk nicht mehr auf das ihm verhasste Zimmer zu richten.

Sanft legte er seine Arme um ihre Schultern und atmete aus. Sein Herz schlug aufgeregt und er versuchte keines der Möbel zu berühren, da er so wenig Kontakt wie möglich mit dem Zimmer haben wollte. Schon, dass seine Füße den weichen Teppich berührten, störte ihn. Er war nicht gern hier.

"Schatz, was machst du schon wieder hier drin?", fragte er an und atmete den Geruch ihrer blonden Haare tief ein.

Vic hatte den Kopf gesenkt und stieß mit den Fingerspitzen ganz leicht an den Rand der neben ihr stehenden Wiege, welche sacht zu schaukeln begann. Noch nie hatte in ihr ein Kind gelegen.

Seufzend meinte Vic:

"Ich stelle mir, wie es hätte sein können."

"Connor meint, dass es womöglich besser wäre, wenn wir umziehen würden. Dann könntest du auf andere Gedanken kommen."

Leif löste sie aus seiner Umarmung und sogleich wandte sich Vic zu ihm um. Sie hatte blutrote Tränen in ihren Augen und starrte ihn fassungslos an. Ihr Mund war zu einer Antwort geformt, aber heraus kam kein einziger Ton. Nur ein piepsiger, leiser Schrei wagte es, sich Gehör zu verschaffen. Nie hätte sie erwägen können auch nur an einen Umzug zu denken. Hier stand doch die Wiege, die für ihr Kind bestimmt gewesen war!

"Aber was soll dann aus den ganzen Dingen werden?", stellte sie ihn zur Rede und war sich selbst über die Absurdheit ihrer Frage bewusst.

Stillschweigend sah Leif sie bittend an und verstand schon ihren Schock über den Vorschlag. Doch er selbst litt ebenso darunter wie sie. Doch wollte er die Geschichte nicht mehr so intensiv vor Augen geführt bekommen, so wie sie in diesem Raum, der das Geschehen mitverfolgt hatte, widergespiegelt wurde.

Gequält rang er sich ein Lächeln ab und wirkte beschämt durch ihre tränenverhangenen Augen.

Victorias Hals krampfte sich augenblicklich zusammen und schwer begann sie zu schlucken. Sein Lächeln jagte ihr einen Stich durchs Herz und automatisch umfasste ihre Hand den Rand der Wiege und fühlte das warme, glatte Holz. Ihr Griff verfestigte sich und sie gebot dem Ding aus Holz ihr Halt zu gewähren, da ihre Beine sie nicht mehr tragen konnten. Kraftlos ließ sie sich zu Boden sinken und schluchzte hemmungslos. Mit ihrer anderen Hand verdeckte sie ihre Augen.

Sie war so traurig. Leif konnte es kaum mit ansehen. Ihm war ebenfalls wieder zum Weinen zumute, aber er versuchte standhaft zu bleiben. Seine Tränen ließ er nach innen rollen, damit er der Starke war. Damit er derjenige war, der ihr Trost spenden konnte. Damit er derjenige war, der ihr helfen konnte.

"Vic, ich glaube, wir sollten Connors Vorschlag in Betracht ziehen. Du machst dich vollkommen fertig mit deinen Schuldgefühlen und mich auch."

Vic versuchte ihre Stimme wieder zu finden und anklagend brachte sie hervor:

"Connor! Connor! Connor! Er redet als hätte er mein Baby verloren. Er spielt sich als Gott auf und du parierst ohne mit der Wimper zu zucken."

"Vicky, du weißt, dass es richtig wäre.", gab er ruhig zurück und bemerkte, dass sich ein Kloß in seinem Hals gebildet hatte. Er schluckte nur noch ganz sacht, damit sie nicht merkte, dass er fast mit ihr weinte.

"Was wäre, wenn es wäre?", meinte sie schlicht.

Er hockte sich zu ihr herunter und sagte sanft:

"Du wärst in Gesellschaft und könntest den Schock erst einmal richtig verdauen."

Victoria schaute beklommen auf. Ihr verzweifelter Blick traf den seinen. Leif hatte Mühe seine Tränen zurückzuhalten, denn genau diesen Blick hatte sie gehabt als sie die Nachricht von der Todgeburt des Babys gehört hatte.

"Leif, ich will mein Baby haben!", schluchzte sie und fiel ihm um den Hals. Sie weinte sogleich los und auch Leif konnte ein leises Wimmern nicht verhindern.

"Ich doch auch. Glaub mir, bitte. ", beteuerte er ihr und eine heiße Blutträne rann über seine Wange und tropfte in Vics blondes Haar. Sie hinterließ eine leichten roten Film und während er schluckte, maß er diesem zarten Fleck soviel Bedeutung zu. Er sah ihn als Zeichen der Geburt, als Zeichen des Lebens und, leider, auch des Todes. Alles hatte er durch sein eines Kind schon erfahren müssen. In einer Zeitspanne von nicht mehr als einem Jahr.

"Leif, wo haben sie ihn hingebracht?", wollte Vic weinend wissen. Diese Frage hatte sie ihm schon so oft gestellt, dass er bereits aufgehört hatte zu zählen. Und auch die Antwort darauf war immerzu dieselbe gewesen.

"Ich weiß es nicht, Vic, ich weiß es nicht."
 

Schweig still, schwarze Seele, dachte Leif in seinem Herzen, sage ihr kein böses Wort zu. Sie hat ein so reines Gemüt und ist es wert, dass man sie lieben muss. Ihre schlechten Dinge, die sie sagte, prallen an mir ab, wie der Regen vom Glas. Ich vergebe ihr. Sie kann nichts dafür. Sie hat, soviel durchlitten und hat so eine lange Zeit geschwiegen, dass es schon beinahe verspätet ist, dass sie ihren traurigen Neigungen nachgeht und diese mit ihrer Verzweiflung überzieht.

Manchmal ist sie nicht so an mich gebunden und schickt mich aus dem Raum oder gar aus der Wohnung um zu weinen und um Vergebung zu betteln vor dem Gott, dem wir entsagten. Sie bittet um Vergebung für die scheußlichen Dinge, die ihrer Kehle entfliehen und schwört, dass sie sie nicht so wie gesagt gemeint hatte. Das arme Geschöpf! Und obwohl sie schwankt zwischen schwach und stark sind die weichen Knie, die ich in ihrer Gegenwart bekomme, noch immer dieselben. Ich bin noch immer verliebt in sie, die mich den sanften Weg lehrte und trotzdem beleidigend hart ist, wenn man sie genauer betrachtet. Mein schwarzes Herz ermaß sie als wunderbares Gegenstück zu meiner eigenen Litanei des Lebens. Ich genieße, wenn sie sich mir so nahe gibt und liebe es weggestoßen zu werden, wodurch ich ihrer noch mehr begehre.

Ach du, mein Liebstes, mein dunkler Engel. Gib mir die Nacht, meine Seele zehrt von deiner Liebe im Lichte der dunkelsten Schatten.
 

Während sie so nah beisammen saßen und ihr Leid beklagten, da schellte es an der Tür. Die beiden wollte zunächst den Besucher ignorieren und hatten vor, strikt auf ihrem Fleck sitzen zu bleiben und sich nicht anwesend zu stellen. Doch die Person schien nicht zu täuschen zu sein, denn sie begann in Sturm zu klingeln und wollte wohl schon den Knopf in die Wand einhämmern, so läutete es.

Das ganze Zimmer schien zu echoen und widerwillig löste sich Leif von Victoria. Entnervt knurrend erhob er sich und schritt bestimmt auf die Wohnungstür zu. Von der eben noch überwältigenden Demut war nun kein Fetzen mehr übrig geblieben und kühl öffnete er die Tür.

Ein junger Mann stand draußen. Seine Augen waren wie zwei glühende Fackeln, doch sein Blick selbst wie ein Speer härtesten Eises. Das Haar war rabenschwarz und kurz. Er war groß gewachsen; ein ganzes Stück größer als Leif. Einen schwarzen Rucksack trug er auf einer Schulter, welcher nicht besonders auffiel, da sein absichtlich überlegenes Lächeln einen widerwärtigen Blickpunkt bildete.

Obwohl nun diese Gestalt nicht wirklich eine vertrauenswürdige Seele war, was nicht nur sein Aussehen verriet, betrachtete Leif dieses Wesen als einen Freund.

"Du lässt dir zu viel Zeit, Leif. Mit deinen Kräften hättest du schneller sein müssen. Ich gehe somit davon aus, dass du nicht öffnen wolltest.", stellte der Mann fest und der herrische Blick, den er dabei aufsetzte, stach regelrecht vor Mordlust.

"Was willst du?", fragte Leif und verengte seine Augen zu Schlitzen. Er wollte ihm nicht signalisieren, dass er ihn bestimmen konnte.

Der Befragte lächelte ihm nun zu und wirkte erheitert:

"Aber, aber! Darf ich denn nicht einmal bei euch vorbeikommen, ohne mich großartig anzumelden? Wir sind doch wie Brüder, du und ich."

"Dein Kommen verheißt schlimme Dinge, Connor.", meinte Leif und trat dabei etwas nach draußen um die Tür zu schließen. Er wollte verhindern, dass Connor Vic schluchzen hörte. Er versuchte sein Tun mit größter Vorsicht zu begehen. Er durfte nicht hören, wie sie klagte. Leif befürchtete, dass Connor sonst wieder eine seiner Grausamkeiten an ihr auslassen würde, sehe er sie so angreifbar. Er musste sie schützen.

Aber Connor hatte bereits seine Ohren auf die Geräusche innerhalb der Wohnung gespitzt und lauschte dem süßen Klang der weinenden Frau. Er kannte nur zu gut den Grund ihrer Traurigkeit und mochte nichts lieber als noch mehr in ihrer Wunde herumzustochern. Er kannte jedoch ein Limit: Wenn sie vollkommen außer sich geriet und anfing um Gnade zu betteln, dann ließ er ab von ihr, dann ließ er immer von ihr ab und betrachtete mit der Feinfühligkeit eines Künstlers seine Schöpfung. Leif nannte ihn wegen dieses furchtbaren Sinneszuges heimlich Sadist. Doch Connor wusste auch dieses. Es erfreute ihn regelrecht auf Leif einen solchen Effekt auszuüben, trotz der Tatsache, dass er ihn eigentlich mochte. Dieser Zorn, der zwischen ihnen lag, konnte sich nur als launenhafter Zeitvertreib rechtfertigen, welcher Connor eine langweilige Freundschaft ersparte und eine Beziehung voller Überraschungen und unerwarteter Wendungen bescherte. Und um dieses Ziel zu erreichen musste er seinen Freund an seiner empfindlichsten Stelle greifen, welche zweifellos Victoria war.

"Sie flennt schon wieder, hab ich Recht?", fragte er grinsend und Leif hielt die Klinke fester in seiner Hand, wobei versuchte die Tür mit seinem Körper zu blockieren. Sein Blick hatte sich noch um einiges verfinstert und somit wusste Connor, dass er goldrichtig lag.

"Ich habe etwas bei mir, dass sie sicherlich etwas aufmuntern wird.", er deutete auf seinen Rucksack und schelmisch verzog er seine Lippen. Vor lauter Vorfreude schlug ihm das Herz in der Brust wild wie eine Herde Antilopen.

"Lass sie endlich zu frieden, Connor.", entgegnete Leif, "Sie hat genug durchgemacht, auch ohne dass du es ihr immer wieder ins Gesicht schmieren müsstest."

"Dummes Gerede.", kicherte der andere und versuchte ihn beiseite zu schieben. Aber Leif dachte nicht im Entferntesten daran, ihn gewähren zu lassen und versperrte ihm den Weg.

"Mein Freund, das bringt nichts.", meinte Connor überlegen. Er verharrte einige Sekunden regungslos vor ihm und stieß dann mit der Faust in die Magengrube seines Hindernisses. Leif krümmte sich sogleich und konnte ihn nicht mehr aufhalten in die Wohnung zu gehen. Nur der lastende Schmerz war in diesem Moment in seinem Hirn präsent. Er hörte das Blut in seinem Ohren tosen und musste sich ernsthaft bemühen normal zu atmen. Er taumelte ein-zwei Schritte und stützte sich mit der Schulter haltsuchend an den Türrahmen, wo er verblieb und wenige Augenblicke später nur eintönige Schwärze vor den Augen wahrnahm. Mehr war nicht mehr präsent.

Währenddessen konnte Connor in aller Gelassenheit an ihm vorbei schlendern. Er kicherte amüsiert und schritt schnell in den Raum, wo das Objekt seiner Begierde auf ihn wartete. Sofort trat er nicht ein. Er verharrte kurz im Türrahmen und betrachtete die Weinende. Sie bemerkte ihn nicht, da sie ihr Gesicht in den Händen vergraben hatte und ihr Schluchzen andere Geräusche verstummen ließ. Connor war fasziniert. Das Gegenlicht, das zart durchs Fenster schien, ließ ihr Haar wie reinstes Gold erscheinen. Aber nicht wie das Gold eines einfachen Eherings. Nein, dies war das Gold, welches nur Engelslocken schmücken konnte, wie ein Lichtkranz, der als Heiligenschein um die Köpfe der Auserwählten prangte. Wie viel Anmut doch noch in ihrer Haltung geblieben war, obwohl sie doch so gepeinigt auf dem Boden saß. Connor konnte sich kaum satt sehen an dem lieblichen Geschöpf.

Ihm war das schöne Bild schon fast perfekt, aber etwas fehlte ihm noch und dieses musste er selbst noch hinzufügen. Etwas, was er als Schock identifizierte. Das leidliche Bild brauchte dringend noch diesen speziellen Schock von einem Eingeweihten, wie ihm. Doch durfte der Schock nicht willkürlich zugefügt werden, sondern er bedurfte einer bestimmten Laufrichtung, um ihren Schmerz in die richtige Bahn zu lenken. Aber er durfte dabei auch nicht die Grenze überschreiten und ihr das Herz vollständig in Stücke zerschlagen. Schließlich wollte er sich noch eine Weile an ihr erfreuen.

Was er vorhatte war riskant. Connor war sich selbst nicht sicher gewesen, ob er es wirklich tun wollte. Doch die Tat war so einfach zu bewerkstelligen gewesen, dass er es sich nicht nehmen ließ, seinen Plan bis hierhin an genau diesen Punkt zu treiben. In seinem Rucksack befand sich das Bindeglied, welches sie hart erwischen würde, vielleicht noch härter als alles zuvor gewesene. Aber die Neugier auf ihre Reaktion, ihren Ausbruch, ihren Blick, die Worte, die sie ausspeien würde - denn er war sich sicher, dass sie ihm danach am liebsten ins Gesicht kotzen würde -, aber vor allem die Entwicklung ihres Hasses ihm gegenüber reizten ihn die Tat zu begehen und sich erst zu einem viel, viel späteren Zeitpunkt Gedanken darüber zu machen. Connor wollte sich austesten und demonstrieren, wie grausam und behilflich er zugleich sein konnte, in einem von ihm geschaffenen Spiel. Die Vorstellung ein Gott zu sein, der hierbei die Fäden in der Hand hatte, war eine krankhafte Angewohnheit von ihm, aber er liebte und pflegte sie.

Er schloss seine Betrachtung ab und begann sanft zu pfeifen. Die Melodie klang etwas vertraut und zugleich entfremdet. Etwas europäisch und zugleich exotisch.

Vic schreckte von diesem unheilschwangerem Ton auf und blickte mit verweintem Gesicht in seine Augen. Sofort versuchte Victoria ihre Trauer zu eliminieren und wischte sich die Tränen aus den Augen. Er sollte sie nicht so ansehen.

Connor ließ sein Lied verstummen und trat näher auf sie zu. Absichtlich blieb er unmittelbar vor ihr stehen und hockte sich zu ihr.

"Hallo mein Liebchen. Wir haben uns seit ein paar Tagen nicht mehr gesehen.", begann er im schmeichlerischen Ton, der sie zum Wegrutschen befähigte, um Abstand von ihm zu bekommen.

"Unser letztes Treffen hatte ein wirklich elendes Ende. Das hat mich etwas mitgenommen, Vicky."

Er pausierte und wartete auf eine Antwort, von der er wusste, dass sie nicht folgen würde. Aber sie so indirekt mit in das Gespräch einzubeziehen, war ihm eine kleine Höflichkeit.

Nach einer kurzen Zeit ihres Schweigens fuhr er fort zu reden und begann dabei den Inhalt seines Rucksacks auszupacken:

"Ich will mich nicht bis zur Unendlichkeit mit dir streiten, liebes Vickylein. Also möchte ich dir ein Versöhnungsgeschenk überreichen. Ein absolut persönliches Versöhnungsgeschenk."

Er hob etwas schweres und großes aus dem Rucksack und stellte es vor Vic, welcher sich sogleich die Augen weiteten.

Das Ding, welches er angeschleppt hatte, war ein Präparatgefäß. Es war mit einer gelbliches wirkenden Flüssigkeit gefüllt und hatte die Form eines Zylinders. Und darinnen befand sich eine Art menschliches Wesen. Es hatte zwei Augenhöhlen, aber keine Augen waren darin. Es hatte normale Hände, aber die Finger daran waren an jeder Hand verwachsen und hatten anstatt halbrunden Nägeln regelrechte Krallen. Seine Füße waren verdreht und die Zehen schrecklich verkrüppelt. Am schönsten anzusehen war der Rumpf, welcher vollendet und normal war; sogar ein Rest der Nabelschnur war noch am Bauchnabel. Das Gesicht allerdings hatte nichts von dieser Schönheit des Rumpfes. Schmerzlich verzerrt starrte es bewegungslos zu seinen Betrachtern. Der geöffnete Mund, der einen stummen Schrei auszustoßen schien, besaß merkwürdig trockene Lippen, welche auf ihre Art zart geschwungen und hinreißend waren. Die kleine Nase darüber erinnerte Vic, welche voller Entsetzen auf dieses Ding starrte, ein wenig an die von Leif. Es war ihr unbegreiflich, wie dieses Monster, das zugleich doch ein Mensch zu sein schien, sie so sehr an ihren Mann erinnerte. Es war ein scheußlicher Anblick, doch sie fühlte sich von ihm angezogen; war fasziniert und angewidert; und dennoch peinlich berührt. Ihr Herz schlug nervös in der Brust und ihr wurde heiß. Ihr glich der Raum plötzlich wie eine Sauna und sie war fast soweit gewesen die Fenster aufzureißen und etwas von der kühlen Luft einzuatmen, welche draußen herrschte.

"Es war nicht einfach daran zu kommen, kann ich dir sagen.", begann Connor und beobachtete gespannt die Auswirkung seines Präsents.

"Was … Was ist das für ein Wesen?", stotterte Vic perplex und warf Connor einen kurzen Blick zu, bevor sie wieder das Ding betrachtete.

"Erkennst du es etwa nicht?", er sprach es mit einer höhnischen Betonung aus, dass sie ihn abrupt wieder ansah und die Brauen senkte; doch er fuhr gelassen fort, "Das da, meine Süße, ist dein eigen Fleisch und Blut in Glas gefasst."

Victoria presste sich die Hände auf den Mund und unterdrückte ihren Schrei, der ihr entfliehen wollte. Sie schaute abwechselnd von dem Ding zu Connor, bis sie nach einigem Hin und Her bei Connor verharrte und ihn entsetzt und mit geweiteten Augen anstarrte. Sie glaubte sich verhört zu haben. Etwas derart Scheußliches konnte unmöglich aus ihrem Bauch gekommen sein oder überhaupt darin herangewachsen sein. Es war zu grotesk! Es war ein Monster, welcher in dem Glas vor ihr in seiner ekligen Brühe schwamm und ihr entgegen zu schreien schien.

"Warum so aufgebracht? Es ist dein Kind, Schnecke, gar kein Zweifel. Ich habe mich umgehört und vor allem - das ist ein kleines Insidergeheimnis - habe ich das Ding gesehen kurz nach seiner Geburt. Das Faszinierendste dabei war, dass es kurz nach der Geburt echt gelebt hat. Endgeil!", frönte Connor und warf begeistert den Kopf in den Nacken. Vic war vor Schreck wie erstarrt.

Plötzlich erklangen Schritte vom Flur her und Leif betrat geschwind das Zimmer. Der Schlag von Connor hatte ihn doch härter erwischt als er es erwartet hätte, denn er konnte sich minutenlang nicht rühren. Nun stand er im Türrahmen und war sich nicht sicher, wie er das Bild vor sich deuten sollte. Vic schien paralysiert und hielt sich die Hand vor den Mund; Connor saß ihr gegenüber und grinste vor sich hin und zwischen ihnen stand das Präparat.

Leif sah ein paar Sekunden auf den Zylinder mit der gelben Flüssigkeit und realisierte schnell den gräulichen Inhalt.

"Oh Gott!", stieß er hervor und lief zu Vic. Sobald er sie erreicht hatte und sich zu ihr runtergebeugt hatte, klammerte sie sich hilfesuchend an ihn und schluchzte heftig. Er strich ihr übers Haar und warf dabei Connor einen giftigen Blick zu, den dieser lächelnd entgegennahm.

"Vorsichtig weinen, Vic. Du machst deinem Mann ein paar nette Blutflecken aufs T-Shirt.", sagte Connor lachend. Er spielte mit seiner Hand an der Naht seiner Jeans und machte ein schabendes Geräusch dabei. Er war sehr erheitert über den Zorn und die Wut und vor allem über die Missgunst, die er säte. Er war stolz auf seinen einschlagenden Erfolg. Ganz zu schweigen von dem Glücksgefühl in seiner Magengegend, dass er es gewagt hatte.

Leif stierte ihn an. Sein Inneres grölte und donnerte unaufhörlich, bei jeder Sekunde, die er ihn und sein Lachen ertragen musste. Dass er Victoria durchs Haar fuhr, nahm er nur nichtig zur Kenntnis. Er hätte diesem Schwein an den Hals springen können! Aber die Neugier nach dem Präparat dämpfte entschieden seinen Hass. Er besah sich dies Ding, was da vor ihm war und er konnte kaum fassen, dass er es wiedererkannte. Er hätte nie erwartet, es noch einmal so nahe vor Augen zu haben. Es war sein Kind. Sein Sohn. Er hatte ihn noch einmal auf dem Arm gehabt bevor ihn die Ärzte weggenommen hatte; zu diesem Zeitpunkt war das Kind allerdings schon tot gewesen.

Leif konnte sich jedoch nicht erinnern, dass er etwas unterschrieben hatte, wo er sich dazu bereit erklärt hätte, dass man sein Kind in ein Glas steckt und zur Schau stellt. Aber er wusste, dass ihn die Todesnachricht dermaßen aus der Bahn geworfen hatte, dass er nicht einmal mehr wusste, wie viele Formulare er an jenem Tag noch unterzeichnet hatte, geschweige denn deren Zweck zwei Minuten behalten hatte. Es verlief wie in einem Traum, wo alles was man weiß nichtig ist. Klar war am Ende nur, dass es aus war mit dem jungen Leben und dass alle Formalitäten erledigt waren. Nicht etwa, um den für sie bestimmten Sinn erfüllen zu können, sondern um erledigt zu sein. Leif hatte es damals schnell hinter sich bringen wollen, ohne seine Gedanken über kurz oder lang darum kreisen zu lassen. Und nach einer geraumen Zeit, das merkte er jetzt erst, war er aus diesem monotonen Traum erwacht und stellte sich seiner Aufgabe, Victoria auch wieder zu erwecken. So musste es gewesen sein, vermutete er und sah in das augenlose Gesicht seines entstellten, toten Sohns. In diesem Zustand hatte er ihn zum ersten Mal gesehen, nur war da noch der kleine Körper mit Blut verschmiert gewesen.

Ja, Blut; die Kraft des Lebens; die Nahrung des Lebens. Ein Vampir konnte ohne diese Gabe des Herrn nicht sein. Er benötigt es. Leif floss das Wasser im Maul zusammen, wenn er an das blutverschmierte Paket dachte, das ihm die Schwester damals für ein paar Sekunden in den Arm gelegt hatte, weil er sie dazu gedrängt hatte, denn die Dame wollte ihm den scheußliche Anblick ersparen. Damals hatte ihn das Blut angeekelt, nun aber fand er es regelrecht appetitlich.

Leif war nicht mehr wie damals. Er hatte sich seitdem gewandelt. War stark geworden und gefährlich. Ein Wesen des Übernatürlichen. Es war ein Vampir.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück