Der magische Regenschirm
Ich erinnere mich noch an den Vorfall mit dem Regenschirm, als wäre es erst gestern gewesen.
Zu der Zeit musste ich noch sehr klein gewesen sein, denn, damals glaubte ich noch daran, dass der Regen die Tränen der Engel war.
* * *
Es regnet schon wieder.
Immer wenn es geregnet hatte, hatte Vater sich den Regenschirm geschnappt und gesagt: „Komm, wir gehen raus!“
Und damit hatte er erreicht, dass ich den Regen mochte. Ihn sogar als eine Art Freund ansah.
Denn diese gemeinsame Minuten unter dem Regenschirm waren es, die ich geliebt hatte. Ich konnte über alles mit Vater reden und ihm auch jedes Geheimnis erzählen. Der Regen, der um uns herum niederprasselte und dabei einen Schleier bildete, gab mir das Gefühl, in einer eigenen kleinen Welt zu sein.
Eines Tages stellte ich die Frage: „Wieso passen wir beide immer genau unter diesem Regenschirm, Papa?“
„Wie willst du denn wissen, dass wir beide genau darunter passen?“
Ich antwortete mit Vierjährigenlogik: „Weil ich überhaupt nicht nass bin, obwohl du den Schirm hältst. Und du bist ja auch nich nass, oder?“
„Nein, bin ich nicht.“
„Siehst du“, triumphierte ich und hakte nach. „Wieso ist das so?“
„Hmm...“Vater hatte gelacht. „Na ja, weil das ein magischer Regenschirm ist.“
Magie. Ein Wort, bei dem alle Kinderaugen unwillkürlich größer werden.
„Wirklich?“ Ich traute mich kaum zu atmen.
Vater nickte. Und ich war stolz, dass wir einen magischen Schirm besaßen. So stolz, dass ich es sofort einem Mädchen, von dem ich damals dachte, dass sie meine beste Freundin sei, erzählte.
„Schau“, hatte ich ganz stolz gesagt und den Regenschirm aufgeklappt. „Wenn ich jetzt den Regenschirm über uns beide halte, dann wird keine von uns nass!“
Und ich bereute später, dass ich das gesagt hatte. Denn es klappte überhaupt nicht. Zwar wurde ich nicht nass, aber das andere Mädchen wurde es und sie heulte und bezeichnete mich als Lügnerin.
Ich konnte es nicht verstehen, bei mir und Vater hatte es doch geklappt!
Zuhause erklärte eben dieser mir dann, dass der Zauber des Regenschirms nur bei einigen bestimmten Menschen funktionierte. Und dass ich dieses Geheimnis ja nicht weitererzählte.
Ach so. Nur bei bestimmten Menschen. Leicht enttäuscht versprach ich ihm, es keinem weiterzuerzählen.
* * *
Die Zeit verging wie im Fluge.
Viele Menschen gingen in mein Leben ein und aus, hinterließen dabei keine einzige Spur und es gab diese Stunden unter dem Regenschirm, in denen ich alleine war und mich einsam fühlte.
Ich versuchte, mir vorzustellen, wie es war, als Vater den Schirm gehalten hatte und mit mir geredet hatte. Es gelang mir nicht.
Und ich blieb weiterhin einsam und konnte nur den Regentropfen lauschen, wie sie auf der gleichen Art und Weise den Boden berührten wie vor so vielen Jahren.
Die Magie des Regenschirms hatte ich schon längst verdrängt. Ebenso wie alle anderen Märchen, Träume und schönen Sachen, die einem im Weg standen, um erwachsen zu werden.
Bis ich ihn eines Tages fand. Und die Geschichte mit dem magischen Regenschirm plötzlich wieder eine Bedeutung fand.
Wir liefen die Straße entlang und er hielt den Regenschirm in seiner Hand, in der anderen hielt er die meine. Und wieder kam mir die Frage in den Kopf, wieso wir beide unter diesem Regenschirm passten.
Nur diesmal stellte ich die Frage nicht. Ich wollte keinem die Geschichte vom magischen Regenschirm erzählen, weil ich Angst hatte, genauso bitter von der Wahrheit enttäsucht zu werden wie an dem Tag, an dem mir beigebracht wurde, dass der Regen nicht aus Engelstränen bestand.
* * *
„Mama, es regnet.“
Die Zeit ist wirklich schnell vergangen. Man kämpft sich durch das Leben, bemüht sich, erwachsen und vernünftig zu werden und plötzlich greift eine kleine Hand nach einem und sagt verwundert: „Mama, es regnet.“
Ich klappe den Regenschirm auf und will ihn zuerst über meinem Kopf halten, bis mir einfällt, dass direkt neben mir noch ein kleiner Wuschelkopf steht und erwartungsvoll zu mir hochschaut.
Ich halte den Regenschirm in unsere Mitte.
Ich sehe, wie die Regentropfen immer noch auf den kleinen Kopf neben mir fallen.
Ich halte den Regenschirm über ihn, ohne mir groß darüber Sorgen zu machen, dass ich nun nass werde.
Und stutze.
Und schweige.
Und rufe mir ins Gedächtnis, wie Vater und er, nachdem wir nach Hause angekommen waren, immer als erstes ins Badezimmer gerannt sind.
Plötzlich, in diesem Bruchteil der Sekunde, wird mir alles klar.
Wie konnte ich nur so naiv sein?
„Mama, aus deinen Augen kommen ja auch Regentropfen.“
Die Magie des Regenschirms nannte sich Liebe.
So einfach war das.
So einfach.
* * *
„Mama, wirst du auch nicht nass?“
Ich frage mich, ob ich mich vor so langer Zeit auch so besorgt angehört hatte, als ich Vater fragte, ob er nass wurde.
„Nein, Schatz, Mama wird nicht nass. Und willst du auch wissen, warum?“
Die großen Augen leuchten aufgeregt.
Na schön.
Dann werde ich ihm jetzt die wichtigste Lektion des Lebens in Form einer Geschichte erteilen.
Die Lektion darüber, wie man liebt.
Und ich fange an, ihm die Geschichte vom magischen Regenschirm zu erzählen.
* * *
Ende