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Kaltes Wasser

~Eine Geschichte um God~
von

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Inspirationsmusik zum Anmachen:
 

Sylver - Turn The Tide

Serial Experiments Lain (Cyberia Mix) - Cloudy, with occasional rain
 

Es war später Nachmittag, die Häuser warfen bereits lange Schatten und das grelle Mittagslicht hatte sich längst in den rötlichen Abendsonnenschein verwandelt, der allen Konturen etwas von ihrer Schärfe nahm.

Gerade kam ein Junge den Bürgersteig hinauf. Er war blond, mochte vielleicht zehn oder elf Jahre alt sein. Die Mütze, die er auf dem Kopf trug, und seine Schuluniform verrieten, dass er von der Chairman High kam, eine der besten und teuersten Privatschulen Aucklands. Tatsächlich war er gerade erst vor wenigen Wochen eingeschult worden.
 

Obwohl die Schule schon seit einer ganzen Weile aus sein musste, hatte er es anscheinend nicht sonderlich eilig, nach Hause zu kommen. Während er ganz allein langsam die Straße entlang schlenderte, hielt er mit beiden Händen die Riemen seines allem Anschein nach ziemlich neuen Schulranzens umklammert. Er sah zu Boden, kickte ab und zu einen kleinen Kieselstein weg, und schien ansonsten recht wenig von seiner Umgebung wahrzunehmen.

Erst das helle Geräusch eines kleinen Steins in Lack riss ihn aus seinen Gedanken. Im Abendsonnenlicht sah er einen winzigen silbernen Kratzer auf der Motorhaube des schwarzen Mercedes blinken, an dem er soeben vorbeigelaufen war.

Einen Moment lang runzelte der Junge die Stirn, dachte dann anscheinend: Was soll's, und wandte wieder den Kopf, um weiterzugehen. Der nächste kleine Kieselstein flog durch die Luft, als ein Geräusch von der anderen Straßenseite ihn abermals veranlasste, stehen zu bleiben.
 

"Sag bloß, du hast es schon wieder nicht dabei?"
 

Überrascht wandte er den Kopf. Rein zufällig gerade hinter einem Auto verborgen, sah er über die Schulter auf die andere Straßenseite, wo drei nicht gerade freundlich aussehende Jugendliche einen Grundschüler von vielleicht acht oder neun Jahren umringten, der gehetzt irgend etwas stammelte, zitternd um sich spähte, auf der Suche nach einem vermeintlichen Fluchtweg, den es nicht gab.
 

"Was soll das heißen, morgen bringst du es? Es ist zu spät dazu!"
 

Einer der Drei trat vor und packte den Grundschüler fest am Arm, ein anderer entriss ihm kurzerhand die bei der bevorstehenden Aktion nur hinderliche Schultasche und warf sie beiseite, wo sie krachend auf das Kopfsteinpflaster fiel.
 

Dieses Geräusch riss ihn aus seinem Starren. Unwillig schüttelte er den Kopf, rückte seine Mütze zurecht. Das alles ging ihn nichts an, und er schickte sich an, weiterzugehen.
 

Den Tränen nahe, murmelte der Grundschüler irgend etwas, das er weder verstehen konnte noch wollte, während die drei Anderen bloß lachten.
 

Er zwang sich zu vorübergehender Taubheit und machte einen Schritt.
 

Jetzt verstand er die Worte des Jungen. "Aber soviel hab ich doch gar nicht!" jammerte er, und es hörte sich sehr hilflos und verloren an. "Bitte, lasst mich in Ruhe. Ich habe euch doch gar nichts getan, warum macht ihr das?"

"Das ist dein Problem," lachte der andere, während sein Freund ausholte und seine Faust in das Gesicht des Grundschülers sausen ließ, der erschrocken beiseite sprang und dabei das Gleichgewicht verlor. Mit einem klatschenden Geräusch fiel er zu Boden, krümmte sich zusammen und verschränkte schützend die Hände über dem Kopf. Ein Häufchen Elend inmitten von Riesen.

Er machte einen zweiten Schritt vorwärts und verwünschte sich. Was hatte er auch stehen bleiben müssen. Dadurch, dass er hingesehen hatte, war er von einem unbeteiligten Passanten zu einem - wenn auch unfreiwilligen - Beobachter des Geschehens geworden, der handeln musste. Entweder er wandte sich ab und ging schnell weiter, oder er tat irgend etwas, um dazwischen zu gehen, aber handeln musste er.

Ein leiser Seufzer stieg aus seiner Kehle, einer verzweifelten Eingebung folgend sah er sich um, überblickte die ganze Straße auf der Suche nach noch jemandem, irgend jemandem, den er um Hilfe für den Jungen hätte bitten können, um sich damit aus der Affäre zu ziehen, aber es war, wie er fast schon geahnt hatte: Da war keiner, die Straße war menschenleer, außer ihm, dem Jungen und dem Schlägertrupp war absolut niemand zu sehen.

Er hatte es ja gewusst, heute war sein Glückstag.

Er kniff die Augen zu Schlitzen, biss die Zähne zusammen und machte noch einen dritten Schritt. Nun war er fast hinter dem Auto hervorgetreten, wenn dieser Sichtschutz weg war, würde er schneller gehen müssen, um nicht entdeckt zu werden.

Hinter ihm erklang ein leiser Schmerzensschrei und unterdrücktes Schluchzen. Sie hatten ihn geschlagen.

Er machte einen vierten, einen fünften Schritt, er konnte nicht anders, noch einen sechsten, kam hinter dem Auto hervor, trat auf die drei Älteren zu und rief: "Ihr da! Lasst ihn los!"
 

Sie brauchten eine Weile, bis sie ihn bemerkten, und in diesen paar Sekunden war er schon wieder versucht, davonzulaufen, unterließ es aber, blieb fast unmerklich zitternd stehen. Es war ohnehin zu spät. Er hätte etwas besser nachdenken sollen. Das ließ sich nun auch nicht mehr ändern.

Der Größte und Breiteste der Jugendlichen ließ kurz von dem kleinen Grundschüler ab, wandte sich langsam um und grinste dann auf einmal. Die Hände in die Hüften gestemmt, meinte er leise und mit funkelnden Augen: "Ach, wie nett."
 

Die Typen waren mindestens Sechzehn, dieser Kleiderschrank wahrscheinlich eher älter. Und sie waren zu dritt. Er schluckte, ignorierte das langsam aufsteigende höhnische Grinsen auf den Gesichtern der drei und stammelte: "Lasst ihn in Ruhe, hört ihr!"

"Sicher. Wir hören dich." meinte locker der andere Kleiderschrank, ohne jedoch irgendwelche Anstalten zu machen, den Jungen loszulassen. Der daneben rief spöttisch: "Einer von den reichen Söhnchen von der Chairman High, was für 'ne Überraschung! Was willst du denn, Kleiner?"

Er schluckte unwillkürlich, musste sich gehörig anstrengen, überhaupt noch in verständlichem Ton weiter zu sprechen. Der Grundschüler schielte ängstlich, aber irgendwie auch hoffnungsvoll aus dem festen Griff des dritten Schlägers zu ihm hinüber. Glaubte der denn wirklich, er könne ihm helfen? Fast musste er lachen, wenn, dann aber nur aus Galgenhumor.

Er richtete sich auf, vergrub die Hände in den Hosentaschen und wiederholte: "Dass ihr ihn loslasst."

"So?" rief jetzt der Dritte, der bis dahin noch kein Wort gesagt hatte. Seinem Auftreten nach schien er der Anführer zu sein. "Wir haben mit dem Zwerg hier noch eine Rechnung zu begleichen, und egal wie bescheuert du auch bist, klug genug zu kapieren, dass dich das einen feuchten Dreck angeht, solltest du allemal sein." Der andere machte Anstalten, ihm notfalls die nötige Klugheit einzuhämmern, doch eine einzige Handbewegung des Chefs hielt ihn zurück. Stattdessen packte er den Grundschüler fester am Kragen, der daraufhin leise keuchte.

"Ich gebe dir fünf Sekunden. Wenn dir deine Haut lieb ist, dann hau ab und sie zu, dass du Land gewinnst, klar?"

Drohend hob er die Faust.

Ihm brach der Schweiß aus. Noch einmal sandte der Junge ihm einen flehenden Blick, dem er auswich, zu Boden sah. Er scharrte ein wenig mit den Füßen, rührte sich aber nicht von der Stelle. Verhaltenes Gelächter drang an seine Ohren.

Zu seiner Rettung hatte er jetzt nur noch eine letzte Hoffnung: Dass der Kleiderschrank nicht bis fünf zählen konnte.
 

"Du stehst immer noch hier? Ich dachte eigentlich, dass ihr feinen, feigen Bürschchen schlauer wäret."

Seine Knie begannen, ganz sacht zu zittern. Er biss sich auf die Lippen, starrte den Grundschüler an. Dieser Idiot, eben hätte er doch Zeit genug gehabt, wegzulaufen. Schließlich waren die drei abgelenkt gewesen. Jetzt war es zu spät. Verdammt zu spät für sie beide.

"Du bist also auch auf eine Abreibung scharf. Na fein. Dann wollen wir mal sehen." Der Anführer brachte die Worte gemächlich heraus, dehnte jede Silbe wie Kaugummi und kam dabei ganz bequem auf ihn zu geschlendert. Mit einer Schnelligkeit, die er dem Koloss gar nicht zugetraut hätte, sprang er dann plötzlich nach vorne, flog eine Faust und ließ ihn nach Luft schnappen. Die Mütze fiel ihm vom Kopf, sein Ranzen folgte alsbald, als die Riemen zerrissen. Er keuchte, schmeckte Blut. Dann wurde ihm einen Moment lang schwarz vor Augen, als ein Stoß von hinten ihn gegen den Grundschüler warf, der daraufhin allen Ernstes noch die Stirn hatte, schüchtern "Entschuldigung" zu murmeln. Er stemmte sich vom Boden hoch, wollte antworten, kam aber nicht mehr dazu, da ein Schlag in den Magen ihm schon wieder jegliche Lust zum Sprechen nahm. Und gründlicher als bei jeder Ganzkörperuntersuchung folgten in rascher Folge Nase, Stirn, Hals, Rücken, zerriss und verdreckte seine nagelneue Schuluniform, bis er irgendwann zu zählen aufhörte und spürte, wie ihm die Tränen ins Gesicht schossen. Vielleicht war es aber auch nur Blut.
 

Als es endlich vorbei war, fühlte er sich, gelinde gesagt, beschissen.

Jeder Knochen im Leibe tat ihm weh. Stöhnend hob er ein wenig den Kopf und versuchte, sich aufzurichten, allerdings nur mit mäßigem Erfolg.

So blieb er in dieser Halbhorizontalen liegen, auf die aufgeschürften Ellenbogen gestützt und stumm den kleinen Grundschüler neben sich musternd, dessen lädiertes Aussehen ihm ein Spiegelbild seines eigenen Zustands zu sein schien.

Blut, Dreck und Tränen verklebten das verheulte Gesicht des Jungen. Auf seiner Stirn klaffte eine beachtliche Platzwunde, die er einem vermutlich nicht sonderlich sanftem Sturz auf das Pflaster zu verdanken hatte. Und die Art, wie der Grundschüler seinen Fuß in der zerrissenen Jeans angewinkelt hielt, machte auch keinen sehr gesunden Eindruck. Der Kleine schniefte und versuchte kraftlos, sich aufzurichten. Mit dem gleichen mäßigen Erfolg.

Er rieb sich das Gesicht, tastete ebenfalls Blut und ließ die Hand wieder sinken. Suchend blickte er sich um, entdeckte schließlich seine Schultasche in ein paar Schritten Entfernung. Sie war aufgegangen und Hefte, Bücher und Stifte wild durcheinander herausgequollen, einiges davon kaputt, zertrampelt von achtlosen Füßen. Sein Geodreieck lag zerbrochen auf dem Asphalt.

Er robbte hinüber, um es aufzusammeln. Dabei dröhnte sein Kopf, als wolle er gleich platzen. Eine Ader an seiner Schläfe pochte heftig, kündigte einen nicht zu verachtenden Bluterguss an.

Außerdem spürte er, wie ihm schon wieder die Tränen kamen.

Er wischte sie beiseite, zog seinen demolierten Schulranzen zu sich heran und begann, alles was herausgefallen war, ohne Rücksicht auf Ordnung wieder hineinzustopfen.

Als er den Kopf wandte, sah er, dass auch der Grundschüler inzwischen seine Sachen zusammengerafft hatte. Der Junge bemerkte seinen Blick, wandte sich ihm zu, sagte: "Du hast deine Mütze verloren," und deutete auf seinen Kopf.

"Wie?", er tastete. "Ach so. Ja. Die haben sie wohl mitgenommen." Er zog seinen Ranzen zu sich heran, schickte sich an, aufzustehen.

"Vielen Dank, dass... du mir geholfen hast." fuhr der Grundschüler fort.

Im Klartext hieß das wohl: Vielen Dank, dass du blöd genug warst, dich gemeinsam mit mir zusammenschlagen zu lassen.

Er ließ seine Tasche zurücksinken, blinzelte und fragte: "Wie heißt du, Idiot?"

Der Grundschüler schien ihm die Bezeichnung nicht übel zu nehmen. Er lächelte zaghaft, was bei dem Zustand seines Gesichts etwas deplaciert wirkte. Ein bisschen schüchtern kratzte er sich am Kopf, meinte dann:

"Will Conly. Aber alle nennen mich Snake."

"Donivan Charteris." Es war ihm nun gelungen, auf die Beine zu kommen. Er unterdrückte einen Schmerzenslaut und hielt dem Jungen die Hand hin.

Kurz verunsichert, wusste Snake im ersten Moment nicht, was das sollte, ergriff sie dann und meinte etwas unbeholfen: "Ja, also... das war echt nett von dir."

Gern geschehen?

Er nickte nur. Er fühlte sich so elend.
 

Erwartungsvoll blickte Snake ihn an. Er erwiderte den Blick stumm.

"Auf welche Schule gehst du?" fragte er dann.

"Auf die Wakefield Primary School," antwortete Snake und sah ihn immer noch mit großen Augen an.

"Ich bin auf der Chairman High", meinte er knapp, fluchte innerlich ein bisschen, gab sich einen Ruck und versprach: "Bis morgen."

"Bis morgen," entgegnete Snake etwas überrascht, aber irgendwie schwang ein leises Aufatmen in seiner Stimme mit. Er hob die Hand und winkte ihm leicht hinterher.
 

Aber er drehte sich nur noch ganz kurz nach dem kleinen Grundschüler um, dann beschleunigte er seine Schritte und ging nach Hause.
 

Er war spät dran, mindestens eine Stunde. Außerdem brauchte er für den Heimweg länger als sonst. Es war bereits Abend, die Sonne neigte sich schon dem Horizont zu, als er das Gartentor aufstieß.

Da auf sein Klingeln niemand öffnete, ließ er vorsichtig seinen Ranzen zu Boden gleiten (dabei fielen schon wieder ein paar Stifte heraus, weil er ihn einfach nicht zu bekam), hockte sich hin und nestelte seinen Haustürschlüssel aus der Tasche.

Ihm war flau im Magen, als er geräuschvoll die Türe des großen Hauses aufschloss. Entgegen - oder gemäß?! - seiner Hoffnungen war sein Vater nicht im Arbeitszimmer.

Während er herein taumelte, sah er ihn im Wohnzimmersessel sitzen und Zeitung lesen. Bei dem Geräusch seiner Schritte blickte er jedoch auf.

Wortlos blieb er stehen, wartete auf die Frage: "Warum kommst du so spät?", oder: "Wie siehst du denn aus?", oder auch auf etwas ganz anderes, jedenfalls auf eine Reaktion. Er wusste selbst nicht einmal, worauf er eigentlich wartete, warum er am Treppenabsatz verharrte.

Doch die erwartete Frage blieb aus. Sie erübrigte sich, als sein Vater langsam sein Gesicht, dann ihn von oben bis unten musterte.

Wortlos zog er eine Augenbraue hoch.

Er schluckte, stand aber still. Er wollte irgend etwa sagen, erklären, wusste aber nicht, was. Genau in diesem Moment begann die Ader an seiner Schläfe wieder so schmerzhaft zu klopfen. Ihm war heiß.
 

Erst schien es, als wolle der Vater sich wieder in seine Zeitung vertiefen, dann aber wandte er doch noch einmal seine Aufmerksamkeit ihm zu, fragte:

"Hast du wenigstens gewonnen?"

Er blickte ihn an, aber nicht direkt, sondern sah ein wenig an ihm vorbei, denn die Antwort kannte er längst.

Die Kehle wurde ihm eng. Er senkte den Blick und schwieg. Ein kleiner Blutstropfen fiel zu Boden, er folgte ihm mit den Augen, sah, wie er den Teppich rot färbte.

Das geräuschvolle Umblättern einer Seite verriet ihm, dass sein Vater sich wieder den Nachrichten des Tages zugewandt hatte und er entlassen war.

Langsam drehte er sich um und stapfte leise, seinen offenen Schulranzen fest umklammernd, die Treppe hinauf.
 

Er machte das frisch geputzte Waschbecken schmutzig, als er den Wasserhahn aufdrehte, um sich das Gesicht zu waschen und seine Nase wieder zu bluten begann. In Ermangelung eines Taschentuchs wischte er sie einfach am Ärmel ab, die Schuluniform war sowieso nicht mehr zu retten. Auf der Ablage entdeckte er einen Waschlappen, noch sauber. Gut, dachte er, rieb ihn mit Seife ein und begann, sich damit das Gesicht zu waschen. Als er sich nach vorne beugte, stach ihn etwas kurz in die Brust, so dass er zusammenzuckte. Er konnte nur hoffen, dass sie ihm keine Rippe gebrochen hatten.

Das Seifenwasser brannte auf der Haut, aber so bekam er wenigstens den Dreck heraus und verhinderte damit, dass eine der Schürfwunden sich entzündete. Dann legte er den nassen Lappen bei Seite, schöpfte klares kaltes Wasser in seine Handflächen und kühlte Stirn und Wangen. Eine ganze Weile ließ er es einfach nur über seine Gesicht laufen, wieder und wieder, wusch Staub, Schmutz und Tränenspuren fort. Für einen Moment schloss er die Augen, war froh, als das bohrende Kopfweh ein wenig nachließ. Danach krempelte er seine Ärmel hoch, um auch die Arme und die aufgescheuerten Ellenbogen zu waschen.

Kurz überlegte er, wo seine Mutter wohl sein mochte, dann fiel es ihm ein: An solchen Tagen war sie ja immer in der Stadt.

Er wrang den Waschlappen aus und warf einen Blick in den Spiegel. Er sah ziemlich furchtbar aus, musste er sich eingestehen. Über dem linken Auge prangte ein riesiger Bluterguss, der jetzt schon Anstalten machte, sich tiefblau zu verfärben. Seine Stirn war bedeckt mit Schürfwunden und Kratzern, und seine Nase schon wieder blutverschmiert, obwohl er sie doch eben erst so gründlich gewaschen hatte.

Im Haus war es still, wie sollte es auch anders sein. Sein Vater saß noch immer in seinem Sessel und las die Zeitung, sein kleiner Bruder war wohl wie üblich in seinem Zimmer und er selbst stand hier im großen, weiß gefliesten Bad, ohne seine Straßenschuhe ausgezogen zu haben, den Ranzen achtlos in die Ecke geworfen, und betrachtete sich im Spiegel.

Er seufzte leise, und das vertrieb die Stille. Etwas unbeholfen schälte er sich aus seinen Klamotten, knotete seine Krawatte auf, warf sie einfach in die Ecke, in der schon sein Ranzen lag. Das gleiche machte er mit den Schuhen. Auf Strümpfen schlich er hinüber in sein Zimmer. Um an das Schrankfach über ihm heran zu kommen, musste er sich auf die Zehenspitzen stellen. Einen Augenblick lang sehnte er sich danach, einen Schlafanzug anzuziehen, verwarf den Gedanken aber schnell wieder. Es war noch nicht einmal halb sieben, außerdem gab es noch Abendessen. Er holte sich eine Hose und ein sauberes T-Shirt heraus und zog sie über. Danach ging er noch einmal ins Bad, um seinen Schulranzen zu holen, den er vergessen hatte, außerdem eine Rolle Klopapier, weil das Nasenbluten schon wieder angefangen hatte und einfach nicht aufhören wollte. Seine Kleider ließ er liegen, verzog sich in sein Zimmer und schloss die Tür hinter sich.

Matt ließ er sich auf sein Bett sinken, der aus dem Leim gegangene Schulranzen entglitt seiner Hand.

Es war Zeit, dass er sich an die Hausaufgaben machte. Er hatte viel auf heute, und schon lange genug herum getrödelt. Wenn er bis zum Abendessen fertig sein wollte, sollte er jetzt wirklich anfangen.

Während er das dachte, saß er da auf seiner Bettkante, hielt die Hände im Schoß gefaltet und betrachtete still seine Schulsachen, die schon wieder herausgefallen waren - sollten sie liegen bleiben - mit einer Abwesenheit, die verriet, dass er höchstwahrscheinlich noch eine ganze Weile brauchen würde, ehe er sich mit ihnen befasste.

Seine Gedanken schweiften ab, unwillkürlich musste er an den kleinen Grundschüler denken - Will hieß er, oder Snake, wirklich ein komischer Spitzname - und er fragte sich, ob er wohl gut nach Hause gekommen war und wie man ihn empfangen hatte. Ob ihm das schon öfter passiert war. Ob er wohl wusste, in welchem Schrank bei ihm zuhause das Jod stand.

Er wusste es nicht, sonst hätte er sich welches auf die Stirn getupft, eine Schürfwunde brannte dort nämlich wie Feuer.

Draußen ging allmählich die Sonne unter, es wurde immer dunkler im Raum, aber er hatte keine Lust, das Licht anzumachen. Er mochte es ganz gern so dunkel.

Am liebsten wäre er einfach nur hier auf der Bettkante sitzen geblieben, hätte den Kopf in die Hände gestützt, vielleicht ein bisschen vor sich hin gedämmert.

Am liebsten wäre er einfach nicht mehr aufgestanden, hätte sich schlafend gestellt, falls seine Mutter hereingekommen wäre, hätte auch seinem Vater nicht mehr beim Abendessen in die Augen sehen müssen.

Am liebsten hätte er den Rolladen herunter gemacht, sich in seine Decke gekuschelt und in sein Kissen geschluchzt. Am liebsten hätte er sich einfach gar nicht mehr gerührt.
 

Aber das ging nicht, da gab es nichts zu wollen.
 

Also stand er auf, angelte nach dem Klopapier, einem Heft und einem Stift und schleppte sich zum Schreibtisch. Mit der anderen Hand knipste er die Schreibtischlampe an, strich sich kurz über die Stirn. Dann machte er sich an die Hausaufgaben.
 

© by Amber 2001
 

Für Willow (Isa-chan)



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Kommentare zu diesem Kapitel (12)
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Von: abgemeldet
2007-05-17T20:42:42+00:00 17.05.2007 22:42
Wuuuuuuuuuuuuuuuuunderschön... das Thema das du mit deiner Story aufgegriffen und dargestellt hast ist ebenso brisant wie traurig. Und du hast es verstanden genau das in die richtigen Worte zu packen und damit zum Nachdenken an zu regen, genauso wie es einfach auf sich wirken zu lassen. Mit zu fühlen.

Ich würde mich freuen mehr davon lesen zu können.

Alles Liebe,

deine Melody ^-^ *hug*
Von: abgemeldet
2003-05-19T15:58:03+00:00 19.05.2003 17:58
Hallo Amber!

Ich komme spät, aber das ist immerhin besser als nie...
Also ich finde die Story ja soooo süß ^-^ richtig goldig der kleine God und die Charakterzüge sind dir richtig gut gelungen!
Snake ist auch voll lieb und er gefällt mir immer besser *knuddel* Aaaach voll GOLDISCH eben !!!
Also schreib noch mehr über Jura Tripper das kannst du nämlich hervorragend o,O ^-^
Cailin

Ps.: Ne kleine Frage hätt ich allerdings noch: Ist Gods Vater deinem Vater ähnlich oder kommt mmir das nur so vor?
Von:  Miaka
2003-04-24T14:54:19+00:00 24.04.2003 16:54
Hi ^^
Ja, God ist von allen der beste ^^ und deswegen hab ich auch interessiert deine Fic gelesen, sie ist echt toll geschrieben, aber auch total melancholisch... der arme Junge..!
Von:  Kohibari
2003-03-11T17:19:26+00:00 11.03.2003 18:19
hallo amber!
die story ist wirklich extrem gut-schreibst du eine fortsetzung?büdde,büdde!
ich finde god ist sowieso von allen der beste *g* und hab noch keine ff gefunden die von ihm handelt.und deswegen bin ich von deiner auch total begeistert!!!!

urd ^^
Von: abgemeldet
2002-09-24T15:51:11+00:00 24.09.2002 17:51
EINE STORY VON DIR ! ! ! !
Genial! Die hab ich noch gar nicht gesehen ;-;
Da ist heute wirklich der glücklichste Tag in meinem Leben !
Wieso sagt mir denn keiner bescheid ?
Mal wieder super geschirben, wie alle deine Storys ! ! !
Von:  Sushi
2002-02-14T20:08:17+00:00 14.02.2002 21:08
Ich mag deinen Schreibstil einfach! Du hast TAlent! Mädel, werd Schriftstellerin -wenn nicht kriegst dus mit mir zu tun!!! Im Ernst, diese Story ist einfach wunderschön! (klingt das jetzt albern?!) Jedenfalls sehr einfühlsam erzählt!!!
(Damit melde ich mich zurück. Mission erfüllt. Befehl der Stimme ausgeführt!)
Von:  Leaf_van_Genova
2002-02-03T20:36:25+00:00 03.02.2002 21:36
Ich finde den auch toll! Der Anfang war schon klasse und trotz der hohen Seitenazahl habe ich mit Spannung weitergelesen! *.*
Von: abgemeldet
2002-01-28T17:13:18+00:00 28.01.2002 18:13
Hi Amber,
zwar hatt ich noch nicht das vergnügen dich kennenzulernen, aber die Fic ist gaaaaaaaanz doll große Klasse, ehrlich! Weiter so!
Angel Access
Von: abgemeldet
2001-11-05T17:37:39+00:00 05.11.2001 18:37
Hi Amber
Die Story ist echt klasse!!!!!!!Ma was anderes als man von dir gewohnt is.Mach weiter so(was nich heißen soll das deine anderen nich genauso gut sin!!).Ich hoffe du bekommst noch viele nette Komentare damit du nich mehr so unsicher bist.
Von: abgemeldet
2001-10-01T14:40:58+00:00 01.10.2001 16:40
Hey, schreib unbedingt weiter hörst du?? Ich fand deine Story nämlich ganz toll. Ist denn eine Fortsetzung geplant???


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