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Valentine - überarbeitet

Kaiba im Wald
von

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2. Moyen Age, 1. L'introduction

Kapitel 2 – Moyen Âge
 

Kapitel 2.1 – L’Introduction
 

Sehr geehrter Herr Kunststoff,
 

ich nehme Stellung zu der beabsichtigten Vertragsänderung und –verlängerung.
 

Ich bin sehr enttäuscht von dir (… Ihnen sehr dankbar). Trotz der schönen Zeit (… widrigen Umstände) war die Tragödie unaufhaltbar (…es uns immer möglich, die Preise stabil zu halten). Aber irgendwann kommt der Zeitpunkt, wo wir Dinge verändern müssen. Ob wir nun gezwungen (… von Gesetzeswegen gezwungen) werden oder ob wir es freiwillig tun, weil uns die äußeren und inneren Umstände dazu treiben ( …weil wir die Existenz unseres Unternehmens nicht gefährden wollen), kommt irgendwann der Moment, in dem wir uns von alten Dingen ( … Ansichten) trennen und neue begrüßen müssen. Dieser Zeitpunkt ist, auch wenn ich es sehr bedauere, (…nun) gekommen. Ich habe gründlich (… unter Berücksichtigung aller möglichen Fakten) darüber nachgedacht und meinen Entschluss aufgrund folgender Argumente getroffen:
 

Ich vermisse dich. Ich weis nicht, ob du das hören möchtest, aber vor ein paar Monaten, davon gehe ich aus, hättest du es gern gewusst. Wenn du es hören oder lesen könntest, würde es dich mit Sicherheit erfreuen. Ich vermute, nicht, weil es in dir ein positives Gefühl auslöste, mich leiden zu sehen. Nein, so ein Mensch warst du, davon gehe ich aus, nicht. Auch wenn du das andere Leute vielfach Glauben machen wolltest. Doch ich habe vor ein paar Monaten die harte Schale, die dich umgab, durchbrochen, genauso wie du meine durchbrochen hast. Ich habe DICH gesehen. Und es freute dich sicher zu hören, dass du jemandem doch etwas bedeutest. Du hast mir oft erzählt, dass es niemandem etwas ausmachte, wenn du einfach weg wärest, weil alle Menschen in dir nur den Dieb sähen, welcher ihnen etwas stiehlt. Aber ich habe dich kennengelernt und ich weis, dass du nur in einem Punkt Recht hattest: du bist ein Dieb. Du stiehlst den Leuten Gegenstände. Aber meistens sind sie ihnen gar nicht so wichtig, wie sie scheinen. In vielen Fällen sind sie nur sauer, weil du es gewagt hast, ihnen etwas zu tun, ohne das sie es wollten, egal ob es schlussendlich gut für sie war oder nicht. Aber so sind die Leute. Oberflächlich und teilweise unheimlich gefühlvoll. Sie fühlen alles, Wichtiges und Unwichtiges. Aber das weist du sicherlich, vermute ich, darüber haben wir oft geredet, damals. Damals… am Haus … mitten im Wald … auf einer Lichtung … es scheint mir heute sehr komisch, fast unglaubwürdig, wenn ich mich an unsere erste Begegnung erinnere.
 

Es begann alles damit, mich Mokuba in den Urlaub schickte. Ja, das klingt witzig, und als du es zum ersten Mal hörtest, habe ich ein Grinsen in deinem Gesicht gesehen, aber es war nötig. Ich war total überarbeitet. Die Kaiba Cooperation ist mein Lebenswerk. Ich wollte und will sie keinesfalls verlieren. Und dafür arbeitete ich Tag und Nacht. Ich weis gar nicht mehr, wie es angefangen hatte, aber ich glaube es war das Zerplatzen der letzten Ausläufer der „Bubble“, der künstlich angetriebenen Wirtschaft. Auf einmal waren alle, Unternehmer, Kunden, Zulieferer, panisch und stürzten in die Krise. Auch die KaibaCorp hatte viele Probleme und nur mit viel Mühe konnte ich sie wieder aus den roten Zahlen retten. Mir wurde dabei bewusst, dass die KaibaCoorp immer auf in Gefahr sein würde, und dass wir nicht allein verantwortlich für das Unternehmen sind, sondern auch viele äußere Einflüsse, wie das neue Einfuhrgesetz. Alle unsere Arbeit würde irgendwann vergebens sein, dachte ich, und dieser Gedanken wird mir auch heute immer wieder bewusst. Aber ich bin kein Mensch, der resigniert, ich schreite lieber zur Tat und tue alles, um die Firma so gut wie möglich auf die nächste Krise vorzubereiten. Und deshalb arbeitete ich damals Tag und Nacht. Ich war morgens um sechs Uhr im Büro und habe es erst weit nach Mitternacht verlassen. Nebenbei habe ich mich noch um Mokuba gekümmert, mit ihm Hausaufgaben gemacht, er ist immer zu mir in die Firma gekommen, er ist sehr beliebt bei allen. Ich habe fast den ganzen Tag gearbeitet und am Anfang konnte ich meine Pause noch genießen; ich habe für fünf Minuten nicht an die Firma gedacht, es hat mich sogar interessiert, was in Yamis Clique passiert, ich war bestens informiert über Wheeler und seine zum Scheitern verurteilten Annäherungsversuche May gegenüber. Aber mit der Zeit verkürzten sich meine Pausen stetig. Ich habe das zuerst gar nicht realisiert, doch sie waren immer häufiger von den Gedanken an die Firma bestimmt. Ich konnte niemals abschalten, die Augen schließen. Immer öfter begannen selbst meine geschlossenen Lider zu flimmern. Ich konnte nicht mehr richtig schlafen, meistens bin ich nach der Arbeit noch eine Runde in den Stadtpark gegangen, in der Hoffnung, ich würde Ruhe finden, ich könnte die kühle Abendluft genießen. Aber sie war nicht mehr kühl, sie war genauso stickig wie die verbrauchte Luft im Büro. Das Rascheln der Blätter, welches mich als Kind sehr fasziniert hatte, wurde von dem Lärm in meinem Kopf übertönt. Die Fetzen der Gespräche, das Piepsen des Computers, das Rattern der Drucker und Kopierer, das mir bei der Arbeit fast lautlos vorkam, weil ich mich schon so sehr daran gewöhnt hatte, war, nach deren Ausschalten unheimlich laut und raubte mir den Schlaf. Am Anfang dachte ich, dies würde wieder verschwinden, ich wäre einfach nur etwas überarbeitet, aber es wurde immer schlimmer. Und während ich abends wach lag, hatte ich vormittags das Bedürfnis zu schlafen. Aber ich musste meine Firma retten! Der Gegensatz zwischen den Anforderungen und meinen Fähigkeiten wurde für mich immer unerträglicher. Aber am schlimmsten von alledem war das Licht. Ich hasste es: der Sonneaufgang, welcher mich aus dem wenn überhaupt leichten Schlaf riss und einen neuen, grausamen Tag ankündigte, die gleißende Mittagssonne, die mich blendete und mir die Konzentration raubte, der Sonnenuntergang, der mir anzeigte, es wäre Zeit zu schlafen, was ich nicht konnte! Und dann das künstliche Licht! Das war das schlimmste: die Lampen stachen mir in die Augen, das Flimmern des PCs war im ganzen Raum zu sehen, selbst wenn es dunkel war, all diese kleinen Lämpchen auf Anzeigen und so weiter leuchteten und leuchteten ständig. Sie sorgten dafür, dass es niemals Nacht wurde. Sogar im Winter, wo es ja schon sehr früh dunkel wird, war es hell. Aber nicht nur in meinem Büro, in der ganzen Stadt! Tausende Ampeln, Millionen von Straßenlaternen, Milliarden von Leuchtreklamen, alles. Ich versuchte, diese Bilder- und Lichterflut zu verdrängen, ich zog die Gardinen zu, ich schloss die Augen. Aber selbst dahinter konnte sie dringen. In der tiefsten Dunkelheit war alles hell erleuchtet. Ich bemerkte das, habe es aber nie richtig realisiert. Bis Mokuba eines Morgens in mein Büro kam und zu mir sagte:

„Seto, so geht es nicht weiter! Du brauchst Urlaub! Du arbeitest den ganzen Tag und siehst total krank aus!“.

Ich habe mich sehr gewundert, so erwachsen hatte er noch nie mit mir gesprochen. Aber er hatte Recht und fügte wieder normal hinzu:

„Ich will nicht, dass du irgendwann so tot in der Ecke liegst wie mein Hamster!“

„Ok“, antwortete ich und ich fühlte mich erlöst. Es kam mir ein paar Minuten später sehr komisch vor, was ich in diesem Moment getan hatte. Es kommt sehr selten vor, dass ich Angelegenheiten so vorbehaltlos zustimme, besonders, wenn sie mein Bruder erklärt. Ich hielt ihn für naiv und traute ihm keine richtigen Entscheidungen zu. Vielleicht hatte mich Mokubas erwachsene Art zu sprechen dazu gebracht, redete ich mir ein. Heute, aus der Ferne betrachtet, weis ich, dass das nur der Anfang vieler Situationen war, in denen ich handelte und mich kurze Zeit später fragte, was ich da getan hatte. Aber innerhalb dieser fünf Minuten erfüllte ein Gedanke meine wirklich kranke Seele, dem ich nur zustimmen kann: Er sagt die Wahrheit. Und manchmal braucht es einen Anstoß von außen, weil man ihn sich selbst nicht geben kann. Es ist wirklich ungewöhnlich; ich habe so viele Entscheidungen von mir aus getroffen, ich habe so viele Hürden allein übersprungen, aber für diese brauchte ich Hilfe. Aber das war gut. Mokuba hatte offensichtlich nicht damit gerechnet, dass ich so schnell zustimmen würde und antwortete verdattert:

„Ja?“ und ich wiederholte meine Zustimmung:

„Ja.“.
 

Eine Stille trat ein und es war für mich sehr amüsant, sein Gesicht zu sehen: die Mundwinkel gerade, die Augen leicht aufgerissen, die Stirn in Falten. Das ist sein typischer Gesichtsausdruck, wenn er nicht weis, was er sagen soll. Egal, ob er mir mal wieder eine schlechte Note beichten will, ob ich ihn trotz Hausarrest beim Treffen mit seinen Freunden erwischt habe oder eben in solchen Situationen, wenn ich ihn mit meinen Reaktionen überrasche. Nachdem ich ihn eine Weile so dastehengelassen habe, fragte ich ihn belustigt:

„Und, wohin willst du mich schicken, Herr Reiseleiter?“, denn ich ging davon aus, dass er sich darüber sicherlich Gedanken gemacht hatte. Wenn Mokuba mir in einem ähnlich ist, dann in diesem Punkt: was er macht, macht er richtig.

„Äh .. ja natürlich …“, sagte er langsam aus seiner Verblüffung erwachend, „Wir haben ein Haus organisiert, mitten im Wald, total idyllisch. Weit und breit keiner, der dich bei deiner Entspannung stören wird!“.

„Was?!“, antwortete ich leicht verärgert, „Ihr wollt mich in die Pampa schicken?“, ich hatte zwar mit nichts gerechnet, aber wiederum auch nicht mit einem verlassenen Häuschen mitten im Nirgendwo!

„Nein, nicht in eine baumlose Grassteppe!“, sagte er lachend. Schule ist ja so schlimm!, „Dort sind ganz viele Bäume, alles ist sehr grün, hat Yamis Großvater gesagt!“

„Yamis Großvater? Was hat dieser schleimige Besserwisser damit zu tun?“, fragte ich sauer. Das ist jawohl die Höhe!

„Ihm gehört das Haus.“, erwiderte Mokuba und bereitete den Hundblick vor. Das kann doch nicht sein!

„Was will er dafür?“, fragte ich immer noch sauer.

„Gar nichts, wirklich. Yami hat nur zufällig gesehen, dass es dir nicht gut geht, und da hat er mich gefragt, was los ist und da habe ich ihm erzählt, dass du nur noch arbeitest.“, erklärte Mokuba.

Was geht es diesen besserwisserischen Schleimer an, wie es mir geht?

„Schön Mokuba, hast du vielleicht dem Rest der Belegschaft auch schon davon erzählt?“, fragte ich nun etwas wütend und überlegte fieberhaft, was Yami wohl dazu bringen würde, seinen Großvater um das Ferienhaus zu bitten.

„Seto, Yami will dir doch nur helfen, früher habt ihr euch doch immer so gut verstanden.“, versuchte Mokuba die Wogen zu glätten und da mir immer noch kein Grund eingefallen war, antwortete ich trocken:

„Ich muss dich korrigieren: wir haben uns noch nie gut verstanden, ich war nur früher etwas weicher!“

„Aber Seto…“, erwiderte er. Mokuba ist manchmal so kindlich, so naiv … aber ist eben noch jung und leitet keine Firma, dachte ich und dann fiel mir ein: Firma leiten, natürlich, das ist es, das will Yami!

„Mokuba,“, fragte ich, „Du hast doch sicher daran gedacht, die Prokura umtragen zu lassen?!“

„Was? Nein, habe ich nicht, warum sollte ich?“, wunderte er sich und schien nicht zu verstehen, was ich meinte.

„Weil er während meiner Abwesenheit, die sicher mindestens eine Woche dauern wird, die absolute Macht über die KaibaCoorp hat! Er kann machen, was er will!“

„Aber Seto, er wird schon nichts Schlimmes machen! Außerdem hat er gar nicht die „absolute Macht“, das hast du mir doch gestern für die Schule erklärt, erinnerst du dich nicht mehr: als Prokurist darf Yami fast alles machen, Waren einkaufen, Waren verkaufen, Kredite aufnehmen usw. er darf nur keine Grundstücke verkaufen – aber was sollte es für einen Sinn haben, unsere Geschäftsgrundstücke zu verkaufen? Außerdem hast du ihn doch extra im Handelsregister eintragen lassen und Frau Salute hat gesagt, dass Behörden immer ganz lange brauchen…“

Mist, er hat Recht, aber der Gedanke, Yami an der Spitze MEINER Firma zu haben, gefällt mir trotzdem nicht! Wenn ich da bin, habe ich ihn wenigstens unter Kontrolle… überlegte ich und erwiderte schließlich geschlagen:

„Gut, dann bleibt er eben Prokurist, aber du passt gut auf, dass er nichts macht, was ich nicht verlangt habe!“

„Toll Seto!“, sagte er und fügte schnell und fast beiläufig hinzu: “Du wirst übrigens morgen früh abreisen, die Koffer packen wir, du musst nichts machen, nur da sein! Und jetzt…“, er sah mich mit einem leichten Grinsen an und legte den Finger auf die Taste, mit der man den Computer herunterfahren kann, „wirst du Schluss machen und dich nur noch Yami widmen!“, er drückte die Taste nach unten.

„Was?! Was machst du da?“, fragte ich verdutzt. Das ist jawohl die Höhe! Dass mich mein eigener Bruder quasi rausschmeißen will! Mal ganz abgesehen davon, dass er einfach eine Reise organisiert, ohne es mir auch nur anzukündigen!, dachte ich. Wenn ich damals nicht so am Boden gewesen wäre und mein Bruder vor mir gestanden hätte, ich weis nicht …. Auch wenn Du natürlich weist, dass ich ihm nichts getan hätte, aber in diesem Moment …

„Du musst Yami noch erklären, was er machen muss, er kennt sich doch gar nicht so gut aus und du musst ihm zeigen, wo welche Ordner stehen!“, erklärte Mokuba ernst.

„Mokuba, ich habe zu tun, ich habe noch einen Haufen Arbeit vor mir, ich habe keine Zeit für diesen Besserwisser!“, sagte ich laut.
 

„Danke für das Kompliment!“, hörte ich plötzlich eine Stimme an der Tür. Yami! Dieser Schleimer! War ja klar!

„Was machst du denn hier? Willst du mich eigenhändig aus meiner Firma schmeißen?“, fragte ich wütend.

„Nein, das hatte ich nicht vor.“, meinte er beschwichtigend und ich traue ihm zu, dass das nur gespielt war, „ Kaiba, du denkst immer gleich das Schlechte…“

„Was in deinem Fall eindeutig berechtigt ist!“, dieser Typ bringt mich auf die Palme!

„Kaiba, ich bin hier, weil Mokuba gesagt hat, dass du mir noch wolltest, womit ich mich in den nächsten Wochen beschäftigen soll. Meine letzte Vertretung ist doch schon länger her…“, erklärte er.

„Glücklicherweise.“

„Kaiba, jetzt hör doch mal einen Moment auf, nur an mich zu denken, sieh dich doch mal an:“, er kam näher und beugte sich über den Tisch: „Du bist total überarbeitet. Hast du in letzter Zeit mal in den Spiegel geguckt? Deine Augen“, er fuhr mir mit seinem Finger meine Augenhöhlen entlang, „sind total eingefallen, du siehst aus, als würdest du gleich umfallen. Und deine Lippen..“, er fuhr mir mit dem gleichen Finger über mein Lippen, erst oben, dann unten, „sind total spröde, merkst du das nicht? Und der Rest deines Körpers ist auch total ausgemergelt…“, ich sah ihm verblüfft in die Augen. Was machte er da? Wollte er mich demütigen, was das eine Anmache oder machte er sich womöglich wirklich Sorgen um mich? Eine Weile war ich sprachlos. Aber irgendwann hatte ich sie wieder gefunden und funkelte ihn böse an: „Fass mich nicht an! Heb dir die Fummelei für deine kleine Freundin auf!“.

Yami sagte nichts und grinste mich nur an. Idiot! Das ist der Grund, weshalb ich ihn so hasse! Mokuba mochte diese gespannte Stimmung überhaupt nicht, er ist ein Mensch, der keine Konflikte mag, egal ob er involviert ist oder nicht, und er versucht immer, mit allen Mitteln sie zu verhindern:

„Seto, Yami will dir doch nur helfen! Und jetzt genieß deinen letzten Arbeitstag – und ich will nichts hören, wenn ich draußen bin!!!“, sagte Mokuba und ging zur Tür. „Und denk daran: morgen um sechs geht es los!“

Ich sah Yami mit einem einschüchternden Blick an und verbrachte den Rest des Tages damit, ihm zu erklären, was er wo findet. Wie groß so ein Büro ist! Ich habe Dinge, Kulis, Akten gefunden, die ich schon längst verschollen glaubte! Es eröffnet doch ganz neue Ansichten, wenn man mal nicht alles selber macht. Yami war ein erstaunlich cleverer Mensch, er verstand und versteht schnell und viel. Mittlerweile ist unser Verhältnis besser, ich glaube, das habe ich auch dir zu verdanken, du hast mir

die Augen geöffnet und mir klar gemacht, dass man jeden nicht gleich verurteilen soll. Irgendwann am Nachmittag waren wir dann fertig und Yami schaffte mich nach Hause. Ich habe erst vehement protestiert, ich dachte, dass war wieder einer dieser nicht ganz eindeutigen Annäherungsversuche, aber Mokuba überzeugte mich, dass er nur verhindern wollte, dass ich zurück in die Firma fuhr. Obwohl ich trotzdem denke, dass es Berechung war, denn wie der Zufall es wollte, hatte mein eigener, fürsorglicher Bruder keine Zeit, mich nach Hause zu bringen …
 

Am nächsten Morgen wachte ich auf und hatte schon so ein komisches Gefühl. Ich wusste nicht, was mich erwartete, und wenn ich heute so darüber nachdenke, ich hätte nie gedacht, dass das passieren würde, was passiert ist. Dass ich dich treffe. Aber soweit bin ich noch nicht. Das ist auch eine Eigenschaft, die du mir hinterlassen hast: die Dinge nicht schnell abzuhandeln, sondern sie wirken zu lassen, sie zu genießen. Und ich hoffe, du genießt den Weg, den ich gehe, und der irgendwann auf dich trifft … Ich hatte jedenfalls keine Ahnung, ich wusste auch nicht viel, nur, dass es ein Haus im Wald war, dass man ein paar Minuten laufen muss, um es zu erreichen und dass dort weder fließend Wasser noch Strom vorhanden war. Es war also ganz abgeschieden. Einerseits freute ich mich darauf, einmal etwas anderes zu sehen, andererseits waren meine Gedanken immer noch bei Yami und meiner Firma. Würde er sie wirklich leiten können? Würde er sie leiten können, ohne mich zu hintergehen? Würde sich Mokuba allen versorgen können? Aber trotz dieser Fragen, die in meinem Kopf herumflogen, war ich fröhlich. Das Tageslicht war immer noch grell, aber ich konnte es leichter ertragen und der Lärm in meinen Ohren war auch leiser. Ich duschte und roch zum ersten Mal seit langem, dass mein Duschgel einen Duft hatte. Ich wusste nicht, welchen, aber es roch. Mokuba hatte mir Frühstück gemacht, sonst mache ich das immer für ihn. Er hatte mir eine große Schale Müsli mit Milch auf den Tisch gestellt, meine Lieblingsbrötchen – Wallnussbrötchen – vom Bäcker geholt und sogar Orangen frisch ausgepresst. Und das morgens um fünf! Um die Zeit träumt er sonst immer. Sehr erlebnisreich, ich höre ihn rufen. Aber das ist mein Bruder – der mich mit einem fröhlichen „Guten Morgen, Seto!!!“ begrüßte. „Guten Morgen!“, lächelte ich zurück und strubbelte ihm liebevoll durch seine Haare. Gemeinsam setzten wir uns an den Tisch, aßen und sprachen eine lange Zeit kein einziges Wort. Es war so still. Einfach still. Es war komisch, weil mein Bruder am Frühstückstisch sonst immer ohne Pause redet und mir erzählt, was er am Tag zuvor erlebt hat. Wer sich mit wem streitet, welche Lehrer er nicht leiden kann, welche Arbeiten heute geschrieben werden … Aber an diesem Morgen sagte er erstmal nichts. Vielleicht war er noch zu müde, oder er wollte mir den Morgen so angenehm wie möglich machen. Vielleicht fand er aber auch die Stimmung schön. Nach einer Weile, ich hatte gerade mein Müsli aufgegessen, fragte er dann vorsichtig:

„Seto?“

„Ja?“, antwortete ich ruhig und irgendwie freudig.

„Freust du dich schon?“

„Naja … tja …“, zögerte ich, „wenn ich nicht wüsste, dass meine Firma für die nächsten drei Tage in den Händen dieses schleimigen Besserwissers Yami Muto sein wird, unsere Auftragslage schwierig ist und der Mantel-Konzern mit seinen fünfzig Milliarden Yen immer noch nicht die die Pfoten von MEINEM Unternehmen lassen kann …“

„Seto, jetzt lenk nicht vom Thema ab! Yami schafft das schon! Also: mal abgesehen von all diesen Dingen, die sicher nicht passieren werden - freust du dich?“

„Naja .. die Fahrt … der Stau … aber wenn ich es mir recht überlege: ganz allein, niemand, der mich mit seinen ständigen Anrufen nervt, keine unfähige Sekretärin, kein Straßenlärm … ich glaube, ich freue mich.“

„Echt?“

„Ja.“

„Das ist schön, Seto.“

Ich lächelte ihn an und wir schwiegen wieder. Es kam mir damals so komisch vor, wie sehr sich mein Bruder um mich sorgte. Er machte sich wirklich Gedanken darüber, wie es mir ging. Ich denke, ich bin in diesem Moment langsam aus einem Schlaf erwacht, ohne, dass ich es wirklich realisierte. Nicht nur ich war für meinen Bruder verantwortlich sondern auch er für mich. Das war beruhigend. Ich hatte zwar vorher gewusst, dass unter der Kletterbrücke im Kindergarten nicht die unendliche Tiefe lauerte, aber erst in diesem Moment bemerkte ich, dass nur zwei Meter unter mir eine Sandgrube lag, die mich auffangen würde, wenn ich fiele. Aber wirklich loslassen, dass konnte ich damals noch nicht, das habe ich erst durch dich gelernt.

Jedenfalls haben wir nach diesem kleinen Dialog wieder geschwiegen und uns angelächelt. Einfach nur angelächelt und kein einziges Wort mehr gesprochen. Es war ein schöner Morgen, der beste Morgen seit langem. Kein Laut war zu hören, kein Piepen irgendwelcher technischen Geräte, kein Telefonklingeln, nicht mal das Ticken der Uhr. Wir saßen einfach nur da und haben uns angelächelt. Mokuba hat sich so gefreut. Und ich habe mich gefreut. Ich hatte sogar richtig Appetit und habe alles aufgegessen. Er hat ganz große Augen gemacht. Bei dir war es ähnlich: wir haben auch dagesessen und uns angelächelt. Aber ich habe kaum einen Bissen heruntergekriegt. Du hast mich einfach so fasziniert, dass ich nichts essen konnte. Du hast mich nur durch deine Liebe ernährt. Komisch, damals konnte ich nichts essen, weil du DA warst, jetzt kann ich nichts essen, weil du NICHT DA bist. Ich vermisse dich.
 

Irgendwann war es halb sechs und Mokuba stand auf, um meine Koffer zu holen. Ich zog meinen Mantel an und knöpfte ihn zu. Dann trafen wir uns in der Vorhalle und er gab mir ein Stück Papier. „Eine Zugfahrkarte?“, fragte ich verwundert. „Naja, wenn man eine Reise macht, muss man mit dem Zug fahren, das gehört dazu, Seto! Wenn wir mit der Klasse wegfahren, fahren wir auch immer mit dem Zug!“, erklärte mir mein kleiner Bruder. Kein Taxi, Mist. „So,“, fuhr er nach einer Weile fort, „Hast du auch wirklich alles? Den Koffer, das Zugticket und ein Handy für den Notfall, NOTFALL, Seto!“, ist mein Bruder wirklich noch so jung?, fragte ich mich. Er wirkte so alt … „Ja, habe ich“, erwiderte ich und umarmte ihn, „Mache keinen Unsinn, schreibe gute Noten und passe auf Yami auf, ok?“, sagte ich lächelnd. „Und du erhole dich gut!“, gab er zurück. Das war ein sehr emotionaler Moment. Ich hatte das Gefühl, weinen zu müssen, aber ich tat es nicht. Mokuba umso mehr. Schon seine Umarmung war so fest, dass er mich fast erdrückt hätte. In ihr waren seine ganze Hoffnung, seine Freude und sein Schmerz vereint, und als er nach einigen Minuten seinen Kopf von meinem Mantel löste, hinterließ er einen großen, nassen Fleck. Man sieht ihn heute noch, das Salz in seinen Tränen hat die Farbe etwas verblassen lassen. Damals habe ich meine Gefühle in einer kleinen Schatulle eingeschlossen und versucht, mir nicht viel anmerken zu lassen, aber durch dich sind sie alle nach draußen geflogen und aus heutiger Sicht betrachtet war es einer der schönsten Momente meines Lebens. Eine Umarmung kann soviel sein und stellt zwischen zwei Menschen eine Vereinigung her, ohne, dass sie wirklich vereint sein müssen. Es gibt viele Arten sich zu vereinigen, aber ich glaube, die Umarmung ist von all diesen Arten die universellste und gleichzeitig die gefühlvollste. Und für mich war jede Vereinigung mit dir, ganz gleich welcher Art, wunderschön.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Varlet
2009-04-05T19:05:58+00:00 05.04.2009 21:05
Hach, es ist wirklich gut, dass du das nun in Kapitel unterteils. Das macht das Lesen einfacher und wirkt auch besser so.
Wieder einmal ein guter Schreibstil und sehr gute beschreibungen, zum Thema Mokuba und Seto hab ich ja schon was gesagt gehabt, deswegen wiederhole ich es nun nicht.

Ich fand es gegen Ende so lustig, wo Mokuba so erwachsen war und Seto mehr der kleine Junge war. Das war wirklich witzig gewesen, sich das vorzustellen.
Und jetzt bin ich mal auf Kaibas Urlaub gespannt.


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