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A Dreamless Carroll

von

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Reflexion

Der vorläufige Abschluss der M&Ms - und es hat gar nich mehr soviel mit M. zu tun - ich liebe den Text einfach :D
 

Die Blätter der Eiche flattern hin und her. Es regnet. Und die Sonne scheint an diesem Sonntagmorgen. Das Gras strahlt grüngelb um unsere schwarze Kuhle. Meine Schritte klackern. Der Kies knirscht unter deinen Schuhen. Das Geräusch ist laut. Unerträglich. Erst, als wir auf die Wiese treten, hört es auf. Stattdessen quietzscht es leise. Du kamst aus Norden und ich aus Süden. Es ist lange her, dass wir uns gesehen haben. Die Regentropfen fallen von meinem Schirm herunter. Deine Haare scheinen fast trocken. Ich sehe dich an. Dein Gesicht ist ausdruckslos. Deine buschigen Augenbrauen zeigen nicht nach unten. Deine Lippen sind weder gekräuselt noch hängen sie nach oben oder unten. Du siehst mich an. Mein Gesicht ist ausdruckslos. Meine Lippen sagen nichts. Meine Augen verraten weder Melancholie noch Nostalgie. Ich stehe vor der Kuhle. Und du stehst vor der Kuhle. Jeden Tag waren wir da und haben abwechselnd gegraben. Du. Und ich. Du. Und ich. Ich und du. Jeden Tag. Ich weiß nicht, ob wir gemeinsam gegraben haben. Oder jeder einzeln. Vielleicht du abends und ich morgens. Oder wir haben alle 2 Stunden gewechselt. Ich weiß es nicht. Ich kann mich auch nicht erinnern, dass wir jemals gegraben haben. Aber irgendjemand muss es getan haben. Und wer gräbt schon fremden Leuten ein Grab? Wir sehen auf die Kuhle. Sie ist nicht perfekt viereckig. Wir können beide nicht graben. Aber sie ist tief. Schwarz wie die Nacht. So anders als das quietzschgrüne Gras. Es ängstigt mich, unser kleines Etwas dort hinein zu werfen. Aber irgendwann, wenn viel Zeit vergangen ist, werden die fröhlichen Halmchen auch unsere Kuhle erobert haben. Blumen werden darauf wachsen, vielleicht Margriten. Oder Studentenblumen. Rote Gänseblümchen vielleicht. Nur keine Rosen. Unser Etwas taugt nicht für Rosen. Noch stehen wir vor der Kuhle und blicken in die Tiefe. Ob du auch Angst hast? Wir könnten weggehen. Wir könnten unsere Schuhe wieder über den Kies knirschen und den Regen Regen sein lassen. Wir könnten an einem anderen Tag wiederkommen. Der Wind hätte unser Kuhle nicht zugeweht. Wir könnten übermorgen wiederkommen und sie wäre noch da. Was meinst du? Du sagst nichts. Ich stehe da und du stehst da. Wir stehen nebeneinander. Dann kramst du aus deiner Manteltasche ein paar Bröckchen. Ich öffne meine Tasche und hole ein kleines Kästchen hervor. Es ploppt leise, als ich es öffne und die Scherben auf meine Hand kippe. Irgendjemand muss etwas sagen, auch wenn es nicht notwendig ist. Wir könnten es tun. Wir könnten unser Häufchen einfach in die Kuhle werfen. Wir müssten sie nichtmal zuschaufeln. Die Natur würde ihr Werk tun. Aber das hat es nicht verdient. Es hat verdient, dass wir zumindest an diesem Sonntagnachmittag das einsetzen, was uns gegeben wurde und klare Worte sprechen. Die Wahrheit. Und sei es nur ein ‚Tschüss‘
 

„Da stehen wir nun“, ergreife ich schließlich das Wort.

„Da stehen wir nun“, sagst du.
 

Wir schweigen. Du siehst nach vorn und ich sehe nach vorn. Wir schweigen. Der Regen prasselt immer noch. Die Blätter rascheln. Wir schweigen.
 

„Wir haben es ziemlich versaut“, sagst du und lächelst.

„Ja“, antworte ich.
 

Wir schweigen wieder. Dein Lächeln war falsch. Aber es kam zum richtigen Zeitpunkt. Ich habe nicht gelächelt. Das war richtig. Die Sonne scheint. Das Gras quietzscht grün. Wir schweigen.
 

„Wir hätten es nicht verhindern können“, sagst du.

„Nein.“, antworte ich, „Nichts hätte es verhindern können“

„Es hatte von Anfang an keine Überlebenschance“, sagst du.

„Gar keine“, stimme ich zu.
 

„Wir haben es einfach zu schnell geformt.“, erkläre ich.

„Was man mit Eile tut, wird nicht gut.“, stellst du fest.

„Sein Kopf war einfach zu groß.“, sage ich.

„Seine kleinen Beinchen hätten ihn niemals tragen können“, führst du fort.

„Es wäre einfach nach vorne gekippt“, schließe ich.
 

„Wir hätten es länger im Ofen lassen sollen“, sagst du.

„Oder bei einer höheren Temperatur brennen sollen“, überlege ich.

„Eine Glasur hätte auch geholfen“, meinst du.

„Eine durchsichtige, sodass es gar nicht auffällt“, stimme ich zu.

„Aber wir wollten das nicht.“, sagst du.

„Ja. Du wolltest das nicht. Und ich auch nicht.“, erkläre ich.
 

Wir starren nach vorne. Vor uns die schwarze Kuhle. Wir müssen es tun. Wir wollen es tun. Es ist eine Notwendigkeit. Für dich. Für mich. Wir müssen.
 

„Es tut mir leid.“, sagst du.

„Mir auch.“, sage ich.
 

Du streckst deine Hand nach vorne. Ich strecke meine nach vorne. Ich atme ein und du atmest ein. Dann werfen wir die Scherben und Krümel in die Kuhle. In der Luft treffen und vermischen sie sich. Das, was einst eins war, wird wieder zusammengefügt und fällt nach unten. Du schlägst die Hände aneinander, um die letzte Körnchen abzuklopfen. Ich drehe meine Schachtel und kippe die letzten Reste in unser Grab. Dann werfe ich sie hinein.
 

Es ist vorbei. Die Spannung ist weg. Alles ist weg. Nicht vernichtet. Aber tief unten in der Dunkelheit. Wenn Gras über die Sache gewachsen ist, können unsere Scherben das Grün bewundern. Vielleicht werden sie auch von einem Keimling wieder an die Sonne getragen. Ich weiß es nicht.
 

Du lächelst mich an. Das ist richtig so. Ich lächle auch. Es ist ehrlich. Deine stahlblauen Augen strahlen. Zum ersten Mal seit langer Zeit. Meine braunen nehmen deines auf und geben Wärme zurück. Wir sind irgendwie glücklich. In diesem einen Moment spielt weder die Zukunft noch die Vergangenheit noch die Vor-Vergangenheit eine Rolle. Die Sonne scheint und der Regen platzscht auf das quietzschgrüne Gras. Nichts geht mehr. Nichts zählt. Wir sind glücklich.
 

Dann umarmst du mich. Und ich erwidere es. Ein letztes Mal fühle ich den Stoff deines Mantels, der mir einst so vertraut war. Ich rieche ein letztes Mal die Mischung aus Deo, Regen und deiner Haut. Ein letztes Mal spüre ich deine Wärme. Sie ist nur noch da. Einst hat sie mich geschützt, dann in Kälte verbrannt, jetzt ist sie nur da. Du spürst ein letztes Mal den Größenunterschied. Ein letztes Mal musst du aufpassen, dass du mich nicht erdrückst. Der Duft, den du einst so gemocht hast, zieht ein letztes Mal durch deine Nase.
 

„Ich wünsche dir ein schönes Leben“, flüsterst du in mein Ohr. Der Wind trägt es fort.

„Alles Gute!“, erwidere ich. Der Regen wäscht es in die Erde.
 

Ein letzter Blick. Ein letztes Lächeln. Dann gehen wir. Der Kies knirscht unter deinen Füßen. Meine Schuhe klackern über die Steinchen. Die Sonne lacht. Der Regen tröpfelt. Du wirst mit deinen Kumpels eine Party feiern. Und ich werde mit meinen Mädels mein neues Leben begrüßen. Wie bei einer Hochzeit, nur umgekehrt.
 

Wir gehen.
 

Vielleicht werden wir uns irgendwann wiedersehen.



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