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In ihrer Welt war sie nichts wert

von

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Nervös trommelten ihre schlanken, dunklen Finger in unregelmäßigen Abständen auf das Holz. Gleich müsste ihr Name aus dem Lautsprecher ertönen, der Aufruf, in den Saal zu treten und den Schwur abzulegen, nichts als die Wahrheit zu sagen.

Doch es würde nicht so sein. Der Schwur war in ihrer Welt nichts wert. So sehr sie sich auch bemühte, ein guter Mensch zu sein, ihre eigenen moralischen Ansichten nicht mit den Füßen zu treten- sie würde lügen. Sie musste.

Denn in ihrer Welt existierte kein Unterschied zwischen der Lüge und der Wahrheit.

Ihr Name hörte sich merkwürdig verzerrt an, als sie aufgerufen wurde. Er schien ihr fremd, obwohl er sie schon 17 Jahre ihre Lebens begleitete. Einmal durchatmen noch, dann betrat sie denn Saal, durchquerte diesen gefolgt von unzähligen fremden, neugierigen Augenpaaren und setzte sich dem Richter gegenüber.

Gemurmel zog durch die besetzten, hölzernen Reihen. Ihr Blick schweifte nicht ein einziges mal ab, erhaschte nicht für den Bruchteil einer Sekunde den Angeklagten. Sie schaute ihn nicht an, den Menschen, den sie liebte. Bedingungslos lieben musste. Denn es war ihr nicht anders gelehrt.

Während sie die Fragen nach Alter, Wohnort und Beschäftigung des weißen Richters knapp und sachlich beantwortete, zupfte sie die ohnehin schon langen Ärmel ihres Shirts noch weiter herunter. Sie durften die Einstiche nicht bemerken. Unzählige, kleine Narben, die zuvor Tore zu ihren Adern gewesen waren, um den Stoff zu empfangen, der in ihr Vergessenheit, Glücksgefühle und Unbeschwertheit auslösten. Die Gefühle, die sie nicht anders in ihr Leben zu holen vermochte.

Ihre dunkle Hand strich über ihr Gesicht. Hatte sie das Make-Up auch wirklich dick genug aufgetragen? War ihr blaues Auge verdeckt, ebenso die anderen Auswirkungen der rohen Gewalt, die sich in ihrem Gesicht zeichneten?

Sie räusperte sich nervös, ehe sie begann zu erzählen. Ihre Geschichte sitzte perfekt. Wie könnte es auch anders der Fall sein?

Er hatte ihr sie eingeprügelt. Wort für Wort.

Dabei musste sie es so glaubwürdig wie möglich rüberbringen, wenn sie nicht noch mehr Schlägen kosten wollte. Dass ein weißer Richter einer schwarzen Zeugin glaubte war schwer genug, wenn dieser auch noch merkte, dass sie abhängig und misshandelt war?

Doch sie lächelte. Erzählte die Geschichte, die Lüge. Für ihn. Ein schönes Gefühl war es, dass er sie brauchte.

Und in ihrer Welt, waren schöne Gefühle selten. Denn in dieser Welt war sie nichts. Nichts in diesem Gerichtssaal, nichts auf der Straße, nichts für ihn. Normalerweise. Nun war sie von Bedeutung, wenn auch nur für die kurze Dauer ihrer Aussage. Folglich zog sie den Karren aus der Scheiße, den er perfekt hineinbugsiert hatte. Doch er war es ihr wert. Sie liebte ihn.
 

Aufgelesen auf der Straße, die Spritze im Arm. Sie hatte es zuspät bemerkt, dass der Stoff nicht sauber war. Doch die Flüssigkeit, die ihr für ein paar Stunden das Leben erhellen würde, pochte schon wilder in ihren Adern, als es üblich war, brannte.

Was sollte sie anderes tun? Sie brauchte diesen Stoff. Was hatte sie denn schon in ihrem Leben erreicht? Wo war der Hoffnungsschimmer, den sie erblickte, kaum öffnete sie ihre Augen am Morgen? Der sie vor diesem Unheil schützte? Vor diesen Dämonen dosiert in einer einfachen Spritze?

Niemand packte sie in Watte. Ihr Vater schlug sie und ihre Mutter, diese spuckte auf sie herab, sie bereite nur Probleme. Den Schulabschluss machen? So etwas brauchte man auf der Straße nicht. Sie konnte nichts erreichen. Sie war schwarz, wie alle anderen in ihrem Viertel und keiner von ihnen hatte etwas erreicht. Warum also sie?

Dann war ER gekommen. Hatte sie von der Straße geholt, ihr die Spritze aus dem Arm genommen.

Sie hatte sich gefühlt wie in einem kitschigen Hollywood-Film. Ihr Retter in der Not. Auf den ersten Blick schien er ihr wie der märchenhafte Ritter auf dem weißen Schimmel. Zuspät bemerkte sie, dass ihr Leben nicht "Pretty Woman" war und nie werden würde.

Er lächelte, küsste sie und konnte sie für einen kurzen Moment ihr Leben vergessen machen. Flucht aus ihrer Welt, in der selbst sie nichts war.

Ohne Zukunft, ohne Hoffnung. War sie bei ihm, war er der sprichwörtliche Strohhalm, an den sie sich klammerte.

Tatsächlich. Er holte sie weg vom Heroin. Auch wenn unzählige Narben, verursacht im Rausch, der langsam zu abnehmen drohte, geboren in Angst, sie würde wieder fühlen, was für ein Nichts sie war und geleitet von der Sturheit der Spritze, die nach einer brauchbaren Ader suchte, es nicht verleugneten.

Dank ihm schaffte sie es tatsächlich, clean zu bleiben. Sie fühlte sich rein, für einen kurzen Augenblick ihres Lebens.

Nicht grundlos hatte sie oft gen Himmel geschaut, Gott und die Engel gebeten, ihr die Frage zu beantworten, warum es so war, wie es war.

Was hatte sie in einem vergangenen Leben getan, um gehasst, verspottet, geschlagen und bespuckt zu werden? Wo war das Verständnis, die Liebe gelieben? Hatte sie dergleichen nicht verdient?

Doch seit sie ihn kannte, wusste sie, dass sie den ersehnten Hoffnungsschimmer nicht jeden Morgen nach dem Aufwachen zu suchen brauchte. Endlich wusste sie, wo die Liebe geblieben war. Und sie war ihm unglaublich dankbar. Er hatte sie vor dem Unheil beschützt, sie vor den Dämonen bewahrt.

Bis er ihnen selbst verfallen war, plötzlich und grundlos.

Schläge, Aufforderungen, dass sie ihm Geld geben sollte, egal wie oder wo sie es herbekam. Wüste Beschimpfungen, Drohungen. Es schien fast so, als hätten die Dämonen Gestalt angenommen, nur um ihr das letzte Gute entgültig zu nehmen. Ihr das zu entreißen, was sie Liebe nannte, zum ersten mal in ihrem verkorsten Leben.

Doch sie erduldete. Tat, was er verlangte. Er hatte sie gerettet und sie würde dasselbe tun, denn sie konnte nicht aufhören ihn zu lieben.

Dann ging er zu weit.

Sie stand daneben, schaute sich nervös um, als er mit dem Dealer in einem "Geschäftsgespräch" vertieft war, rieb sich die schmerzenden Knochen, die roher Gewalt ausgeliefert waren.

Bis die Situation plötzlich eskalierte. Er zückte ein Messer, rammte es ihm in die Brust, sah zu wie er keuchte, litt und zu Boden sank. Dabei lachte er. Wie konnte der Bastard es nur wagen, ihn übers Ohr zu hauen zu wollen?

Dann schleifte er sie mit, zog sie an den Haaren, redete wirr. Er bräuchte mehr Geld für "guten Stoff" und hätte so seine Ideen, wie sie ihm dabei helfen konnte. Eins, zwei Freunde von ihm, hätten da so ihre "Bedürfnisse".

Doch war es von Belangen? Er hatte sie befreit, ihr für einen kurzen Moment in ihrem Leben Glück zuteil werden lassen, welches sich nicht in eine Kanüle füllen ließ. Dafür liebte sie ihn und duldete.

Was war schon Mord? Wenn er büßen müsse, hätte sie niemanden mehr. Dann hatte sie ihren Ritter verloren, auch wenn er selbst Hand gegen sie erhoben hatte. Was waren die Erniedrigungen schon? Ihre Dankbarkeit überstieg alles.

Da war eine Lüge vor Gericht eines der kleinsten Opfer, die sich für ihn auf sich nahm. Sie liebte ihn.
 

Und ja, wieder lächelte sie, während sie sprach. Sie war die einzige Zeugin. Der Schlüssel des Verfahrens.

"Glauben sie mir, Herr Richter, er war es nicht! Wir waren die ganze Zeit zusammen, wie sollte er dann die Möglichkeit haben, jemanden umzubringen?! Das würde ich doch niemals zulassen! Denn wissen Sie, ich liebe ihn.."

Sie lächelte, auch wenn es schmerzte.

Doch Schmerz war in ihrer Welt nicht von Bedeutung, sie würde die Zähne zusammenbeißen, aushalten.

Denn sie liebte ihn.



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von:  dat_vege
2009-11-27T17:56:12+00:00 27.11.2009 18:56
Echt typisch Animexx das solch eine tolle Kurzgeschichte einfach übergangen wird und lieber schlecht geschriebene Fanfictions vorgezogen werden.

Also mich hat die Geschichte echt sehr berührt. Der Text war angenehm zu lesen und sich in die Emotionen der Frau hinein zu versetzen fiel auch gar nicht schwer, wohl das Gegenteil, ich denke keinem aufmerksamen Leser konnten diese Gefühle zwischen den Zeilen entgehen.
Diese Abhängigkeit die, die arme Frau gegenüber ihrem gewalttätigen Lebenspartner hat, sie so "naiv" wirken lässt kommt sehr gut rüber. Im Glauben das sie diesem Mann irgendwann helfen könnte und er ihr dann die Liebe wieder erwiedern würd, trägt sie Scheuklappen, welche ich ihr beim Lesen so gerne abgenommen hätte.
Ich hatte wirklich den Drang diese Frau einfach durchzuschütteln und ihr zu sagen das sie sehr wohl etwas erreichen kann, das sie nicht Wertlos ist und das sie ihre Augen öffnen soll...

Hach ja, alles in allem eine sehr gut gelungene Geschichte! Mach weiter so!
Von:  Fio-chan
2009-01-06T15:51:16+00:00 06.01.2009 16:51
Ich kann mich Honigdiebin eigentlich nur anschließen.
Sie hat es eigentlich überaus treffend formuliert.
Die Geschichte hat eine tiefe Dramatik, die sich wirklich beklemmend auswirkt. Es liest sich sehr flüssig und auch der Übergang zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart ist angenehm und klar genug von einander getrennt um nicht durcheinander zu kommen.
Schön geschrieben.
Von: abgemeldet
2009-01-02T21:27:03+00:00 02.01.2009 22:27
Es zeigt von bemerkenswerter, mexxtypischer Ignoranz, dass deine Geschichte noch keine Kommentare hat. Dabei ist sie wirklich sehr gut geschrieben. Du entwickelst zwei glaubhafte und vollkommen nachvollziehbare Charaktere, lässt eine Frau erzählen, die mit allen Mitteln ihr gewohntes Leben, ihre Liebe zu retten versucht und die dafür doch nur Strafe erhalten wird.
Eine tiefe Dankbarkeit, die niemand anderes nachvollziehen könnte fesselt die Beiden aneinander. Und es kommt zu einem beklemmenden, aber dennoch sehr stimmigen Schluss.
Herzlichen Glückwunsch zum dritten Platz.


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