Anfang und Ende
Ein Schatten huscht dort unbemerkt
fort durch Königsgärten,
passiert die Pforte unverwehrt,
wird Eins dann mit der Nacht.
Wie jeden Tag schlenderte Lysop am Rande des Dorfes vorbei, auf dem Weg zu Kaya. Ein kleines Liedchen pfeifend überlegte er bereits, was er ihr heute wohl für eine Geschichte erzählen sollte. Vielleicht etwas von einem tyrannischen König, der alles aufaß, was ihm nicht gefiel und sich schließlich an einem Gewehr verschluckte. Oder aber von einem großen Sägefisch, der jeden tyrannisierte und schließlich vom großen Kapitän Lysop die Nase gebrochen bekam...
Der Schütze kam an der Villa an. Leise schlich er an den Torwächtern vorbei bis zu jener Stelle der Hecke, wo er sich immer auf das Grundstück schlich.
Der Königssohn, der sich verzehrt
eilt hin zu der Verehrten,
die ihn die Kunst der Liebe lehrt,
die ihn so glücklich macht.
Unter dem Fenster von Kayas Zimmer angekommen, hob er einen kleinen Kieselstein auf und warf ihn gegen die Scheibe. Dann kletterte er geschickt und schnell auf den Baum hinauf und blickte direkt in große Augen, welche ihn erwartungsvoll ansahen.
„Hallo, Lysop!“, begrüßte das Mädchen den Langnasigen.
„Hi, Kaya!“, antwortete er zurück.
„Und? Welche Geschichte erzählst du mir heute?“ Sie konnte einfach nicht anders. Sie liebte diesen Jungen und seine lustigen Lügengeschichten. Er brachte sie immer zum lachen, selbst wenn ihr zum Weinen zu Mute war. Immer war er für sie da und hörte auch mal ihr zu, wenn sie jemanden zum Aussprechen brauchte.
Mit jedem Tag liebt er sie mehr,
und hütet das Geheimnis
der täglich neuen Wiederkehr,
der Quelle seiner Lust.
„Lass mich mal überlegen...“ Lysop runzelte kurz die Stirn. „Ah, ich hab’s!“
Und er begann zu erzählen. Allerdings weder vom König, noch von dem Sägefisch. Er begann von einer Stadt zu erzählen. Einer Stadt des Wassers.
„Stadt des Wassers? Warum heißt sie denn so?“ Fragend sah Kaya zu ihrem Gegenüber.
„Weil lauter Kanäle und kleine Flüsse durch sie hindurch fließen. Die Leute, die da wohnen müssen sogar mit kleinen Bötchen fahren, wenn sie nur kurz einkaufen gehen wollen. Aber das ist noch nicht alles. Einmal im Jahr kommt immer eine große Flutwelle, die alles überschwemmt und mit jedem Mal wird diese Welle immer größer und stärker, sodass die Stadt immer mehr im Wasser versinkt.“
„Ach herrje.“ Das blonde Mädchen setzte einen leicht entsetzten Gesichtsausdruck auf. Solche Grimassen liebte Lysop. Kaya war keine gute Schauspielerin, aber das hatte sie auch nicht nötig. Sie sah für ihn immer bezaubernd aus, egal was sie machte.
Doch bald beugt sie sich tränenschwer
und ahnt schon das Verderbnis
des neuen Lebens, das sie schwer
trägt unter ihrer Brust.
Lysop erzählte weiter seine Geschichte, lauschte nebenbei dem bezaubernden Lachen der Blonden. Als die Erzählungen geendet hatten, war der Schütze jedoch gezwungen, wieder zu gehen. Immerhin gab es einen gewissen Butler, der es missbilligte, dass Kaya mit dem Piratensohn ihre Zeit verbrachte.
„Auf Wiedersehen, Lysop!“, sagte sie noch.
„Ja, bis morgen, Kaya!“, verabschiedete der Langnasige sich noch, ehe er davon stürmte. Zurück blieb eine Kaya, die sich, kaum war er verschwunden, wieder einsam fühlte.
Schon lange war es ihr bewusst. Immer, wenn sie den Schützen sah, klopfte ihr Herz wie wild. Jeden Tag zählte sie schon die Minuten bis zu dem Moment, in dem ein Stein gegen ihr Fenster flog. Länger konnte sie es sich einfach nicht mehr selbst verleugnen. Sie hatte sich in Lysop verliebt!
"Meine Braut sollst du sein,
golden wie der Sonnenschein,
so wie ich dich einst sah,
ein Geschöpf dem Himmel nah!
Meine Braut sollst du sein,
golden wie der Sonnenschein
und wir fliegen fort von hier!"
Seufzend saß Lysop an der Klippe. Und wieder war ein Tag, ein Treffen mit Kaya vorüber und wieder hatte er sich nicht getraut, es zu sagen. Warum nur fiel es ihm so schwer, diese drei kleinen Worte zu sagen? ‚Ich liebe dich!’ Das war doch leicht und schnell gesagt. Aber wieso stellte sich Lysop diese ganzen Fragen überhaupt selbst? Er wusste die Antwort auch so: Er war ein Feigling. Ein einfacher Feigling, der sich nicht traute, dem Mädchen seines Lebens, den Schlüssel zum Tor seines Herzens zu geben. Immerhin war die Wahrscheinlichkeit, eine Abfuhr zu kriegen, verdammt groß. Sie war eine reiche Dame mit Manieren und Hauspersonal und einem großen Vermögen. Und er? Er war nur ein einfacher, verwaister Dorftrottel und Sohn eines Piraten, mit einem großen Talent, zu lügen und Ärger zu machen. Der Unterschied war einfach viel zu groß.
"In Samt und Seide sollst du gehen.
Zur Braut will ich dich nehmen.
Der Vater wird erhören mein Flehen",
spricht er und eilt fort.
Am nächsten Tag war Lysop erneut auf den Weg zu seiner Geliebten. Die gesamte Nacht über, war er wach geblieben und hatte sich innerlich auf ein Liebesgeständnis vorbereitet. Heute würde er es machen, heute würde er endlich den Mut dazu finden! Wie immer schlich er sich auf das Grundstück, schmiss einen Stein gegen die Fensterscheibe und kletterte auf den Baum.
„Lysop! Du hast dich verspätet. Welche Geschichte wirst du mir denn heute erzählen?“ Kaya schien noch mehr als sonst zu strahlen und das ließ Lysops Herz nur noch schneller klopfen. So laut, wie es war, hatte er schon die Befürchtung, Kaya könnte es hören.
„Miss Kaya?“ Kurahadol (Nebenbemerkung: ich hab den deutschen Namen von Käpt'n Black vergessen ><“) war in den Raum getreten. Sofort fanden seine Augen Lysop und schienen ein wenig finsterer zu werden. „Der Lügenbold des Dorfes! Was machst du hier?“
Auch Lysops Blick wurde finster.
„Kurahadol! Ich bitte dich, lass Lysop in Ruhe!“
er König hört das, was geschehen
und laut erklingt sein Höhnen.
Er straft den Sohn für das Vergehen
und sperrt ihn ein sofort.
Kurahadol richtete wieder seine Brille. „Miss Kaya, ihr seid krank und dieser Junge ist nicht gut für eure Gesundheit!“
Jetzt hatte Lysop genug. „Ich bin sehr wohl gut für ihre Gesundheit! Es wird immer gesagt, lachen ist gesund und ich bringe Kaya zum Lachen. Ich helfe ihr lediglich!“ Kurahadol lachte kurz und knapp auf.
„Sehr lustig! Als ob ein Dorfjunge wie du Miss Kayas Gesundheit helfen könnte. Der Sohn eines Piraten weiß doch noch nicht einmal, wie man eine richtige Dame anständig behandelt!“
Das reichte Lysop. Wenn man ihn für seine Angst oder etwas Anderes beleidigte, hatte er nichts dagegen, aber niemals durfte man seinen Stolz verletzten! Und Lysop war sehr stolz darauf, einen Piraten als Vater zu haben. Um ja nicht die Beherrschung zu verlieren, sprang der Schütze einfach vom Baum herab und lief davon. „Lysop!“ Doch der Langnasige ignorierte Kayas Ruf einfach.
„Kurahadol, es war fies von dir, so etwas zu Lysop zu sagen!“
Des Königs Henker, der da schleicht
im eisgen Hauch der Nacht.
Als er die holde Maid erreicht
ist sie nie mehr erwacht,
ist sie nie mehr erwacht...
Lysop saß, wie so oft wenn er aufgewühlt war, an der Klippe und starrte aufs Meer hinaus. Irgendwo dort war sein Vater und erlebte wahrscheinlich gefährliche Abenteuer, sah vielleicht echte Wasserstädte und Sägehai-menschen. Und was machte sein Sohn? Ging den Dorfbewohnern auf die Nerven und kämpfte mit der großen Liebe. Warum verteidigte er seinen Vater überhaupt so? Was war eigentlich so toll daran, ein Pirat zu sein? Dieser Kurahadol missbilligte das ja sehr.
Nicht, dass Lysop dem Beachtung schenkte, was dieser Butler sagte, nein, das nicht! Aber vielleicht dachte Kaya im Stillen dasselbe und war nur zu höflich, dies zu sagen. Mochte sie seine Geschichten überhaupt wirklich?
Der Schütze seufzte. Das waren alles Fragen, die er sich nie trauen würde, zu fragen. Ebenso, wie er sich wahrscheinlich nie trauen wird, Kaya seine Liebe zu gestehen. „Ach, hör auf, so Trübsal zu blasen. Wenn dich deine Crew so sehen würde... Du bist doch der große Kapitän Lysop!!!“ Und mit diesen Worten stand der Langnasige auf und ging nach Hause. Morgen würde wieder ein neuer Tag sein. Morgen würde er sich trauen, diese drei bedeutsamen Worte auszusprechen!
Woher sollte Lysop auch ahnen, dass morgen der vorletzte Tag sein würde, den er hier in Syrop verbringen würde...
"Meine Braut sollst du sein,
golden wie der Sonnenschein,
so wie ich dich einst sah,
ein Geschöpf dem Himmel nah!
Meine Braut sollst du sein,
golden wie der Sonnenschein
und wir fliegen fort von hier!"